Albträume sind keine seltene Erfahrung; fast jeder zwanzigste Deutsche quält sich nachts regelmäßig mit ihnen herum. Doch nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche sind betroffen.
Falls Sie zu den Betroffenen gehören: Was geht in Ihnen vor, wenn Sie schweißgebadet, mit Herzrasen, in Panik oder einem bleiernen Gefühl auf der Brust aus einem Albtraum aufwachen? Versuchen Sie, die schrecklichen Traumbilder so schnell wie möglich zu vergessen? Oder kommen Sie von den Albtraumbildern gar nicht los und bemühen sich, deren Botschaft zu entschlüsseln? Und wie beeinflusst ein Albtraum Ihr Handeln und Ihren Alltag?
Albträume können uns verstören, nicht nur während der Nacht, sondern auch am folgenden Tag, sei es durch eine depressive, eine gereizte oder auch eine gestresste Stimmung. Verständlicherweise wollen wir Albträume erst gar nicht erleben und, falls sie auftauchen, sie so schnell wie möglich wieder loswerden.
Doch wie kann es uns gelingen, von Albträumen weniger geplagt zu werden? Wie sollen wir mit ihnen umgehen?
Wenn wir einen Albtraum als eine aufrüttelnde, beängstigende oder beunruhigende Frage betrachten, ginge es darum, eine passende Antwort zu finden. Die große Variationsbreite der Albträume entspräche unter diesem Blickwinkel den unterschiedlichsten Fragestellungen und würde zu vielfältigen Antworten führen.
Kleine Kinder fragen häufig noch ganz unverblümt: »Mama, ist der Mann dort drüben der Teufel?«, »Wieso bist du so dick?« oder: »Warum fällt der Mond nicht herunter?« Staunende Kinder stellen den Erwachsenen erstaunliche Fragen. Sie sind neugierig, unvoreingenommen und nehmen kaum Rücksicht auf Konventionen – wie unsere Träume. Mit dem Schuleintritt werden dann umgekehrt vermehrt Fragen an die Kinder gerichtet, um deren Wissen und Können zu überprüfen. Während die guten Schülerinnen und Schüler eher gelassen bleiben können, hoffen andere inständig, von den Fragen der Lehrerinnen und Lehrer verschont zu bleiben. Und bereits Schüler spüren, dass Fragen nicht nur berühren, sondern unangenehm eindringlich sein können. Solche Fragen fliegen wie Geschosse auf sie zu. Sie schmerzen, verletzen oder beschämen.
Auf ähnliche Weise können Albträume rücksichtslos in unser Bewusstsein eindringen und uns erzittern, verstummen oder versteinern lassen. Doch wenn sich der erste Schock gelegt hat, ist es häufig möglich, sich oder den Albtraum zu fragen: »Wieso träume ich derart Furchtbares? Was hat das mit meinem Leben und meinen Beziehungen zu tun?« Wenn wir mit Interesse und so unvoreingenommen wie möglich das Destruktive hinterfragen, bleiben wir selten ohnmächtig zurück, sondern entdecken Antworten. Dabei zeigt die Erfahrung: Wer eine stimmige Antwort auf seinen Albtraum findet, wird wieder besser schlafen können.
Beiläufig hat der ungarische Regisseur Bence Fliegauf – Gewinner des Silbernen Bären auf der Berlinale 2012 – anlässlich der Preisverleihung von seinem Umgang mit Albträumen erzählt: »Immer, wenn ich aus einem Albtraum aufwache, weiß ich, dass ich einen Film machen muss.« Bence Fliegauf hat die persönliche Antwort auf seine Albträume gefunden: Für ihn geht es darum, sich künstlerisch mit einem Thema – vielleicht dem Schwerpunktthema des Traumes – auseinanderzusetzen und dadurch einen Film zu schaffen. Seine Albträume scheinen ihm einen Arbeitsauftrag zu geben und sind quasi seine ganz persönliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, der er sich mit Eifer und Ernsthaftigkeit stellt.
Ganz anders war Ende der Neunzigerjahre die Antwort des Reck-Olympiasiegers Andreas Wecker auf seine Albträume. Wiederholt wachte er schweißgebadet auf und erinnerte Albtraumbilder, die ihn gelähmt im Rollstuhl zeigten. Nachdem er sich zudem bei einer Übung am Reck schwere Prellungen und Blutergüsse zugezogen hatte, fällte er ohne langes Zögern den Entschluss, seine Karriere als Athlet zu beenden. Damit löste er einiges Unverständnis bei Trainern und Kollegen aus. Andreas Wecker antwortete auf seine Albträume mit einer existentiellen Entscheidung, die seine Zukunft radikal veränderte.1 Hatte Andreas Wecker richtig entschieden und reagiert? Zumal niemand je wissen wird, ob sich ein folgenschwerer Unfall ereignet hätte, wenn er weiter Profisportler geblieben wäre.
Sobald eine Albtraumserie stoppt, sich die Seele also beruhigt, dann hat der Träumer oder die Träumerin in der Regel die persönlich »richtige Antwort« gefunden. Für uns Außenstehende ist das jedoch nicht immer nachvollziehbar, denn die Eindrücklichkeit und Intensität bedrohlicher Albtraumbilder können wir nicht miterleben. Wir alle träumen für uns alleine und können anderen Menschen lediglich von unseren Traumerfahrungen erzählen, aber wir können sie nicht in unsere Traumwelt mit hineinnehmen, um sie hautnah von der dramatischen Relevanz unserer Bilder zu überzeugen. Jeder, der auf der Grundlage seiner Albträume weitreichende Entscheidungen trifft, ist in letzter Konsequenz auf seine subjektive Einschätzung der Albtraumbilder zurückgeworfen. Wer dabei sein intuitives, instinktives Gespür zu Rate zieht oder auf das seit vielen Jahrtausenden von Menschen gesammelte Wissen über Träume und ihre Deutung vertraut, hat gute Werkzeuge für einen konstruktiven Umgang mit den eigenen Albtraumbildern.
Von einer weiteren Antwortmöglichkeit auf Albträume berichtet die Psychiaterin Wanda Póltawska. Ihre Albträume meldeten sich immer dann, wenn sie überarbeitet und sehr erschöpft war. Sobald sie sich mehr Ruhe gönnte, verschwanden die Albträume wieder. Doch viele Jahre zuvor machte sie eine ganz andere Erfahrung mit ihren Albträumen, die erstmals in der Nacht des 8. Mai 1945 aufgetreten waren. An jenem Tag war sie aus dem Konzentrationslager Ravensbrück nach Hause zurückgekehrt und begann sofort, von ihren schrecklichen Erlebnissen im Lager zu träumen. Aufgrund dieser unerträglichen Albträume fürchtete sie sich zunehmend vor dem Schlafengehen. In ihrer Verzweiflung griff sie zu Bleistift und Papier. Nachdem sie im Sommer 1945 alle schlimmen Erinnerungen aus dem Lagerleben niedergeschrieben hatte, blieben die Albträume sofort aus. Wanda Póltawska konnte wieder ungestört schlafen, und in späteren Jahren kehrten die Albträume nur dann zurück, wenn sie sich zu viel zugemutet hatte. 2
Drei Menschen haben ihre persönlich passende Antwort auf ihre Albträume gefunden. Sie haben erlebt, wie nächtliche Schreckensbilder sich ungerufen aufdrängen, aber auch wieder gehen, sobald ihre Botschaft entschlüsselt ist.