4. Mit Albträumen umgehen – sich selbst entdecken, erkunden und verstehen

Während sich in der Behandlung von Albträumen Antidepressiva als nicht wirksam erwiesen haben, scheint eine aktive Auseinandersetzung häufig förderlich zu sein. So hat der Arzt Michael Schredl61 bei einem 5-jährigen Jungen beobachtet, wie rasch die bewusste Beschäftigung mit den Traumbildern das Albtraumgeschehen verändern kann. Der Junge war in seinen Albträumen von Gespenstern, Schatten und schrecklichen Monstern bedroht. Unmittelbar nach dem Aufwachen rief er nach seiner Mutter und konnte meist stundenlang nicht mehr einschlafen. Von seinem Therapeuten zum Malen ermuntert, zeichnete der Junge, wie sein kleines Traum-Ich in den Albträumen zwei großen Gespenstern gegenüberstand. Auf die Frage, was ihm angesichts seiner Angst helfen könnte, setzte er zwischen sich und die bedrohlichen Gespenster eine große Spinne. Der Junge suchte also nicht die direkte Konfrontation oder den Kampf mit den bedrohlichen Figuren, sondern schuf sich eine Art Schutzwall. Die Spinne war den zwei Gespenstern gewachsen. Eine Spinne, vor der sich manche Kinder und Erwachsene fürchten, vermochte Gespenster zu erschrecken oder in Schach zu halten. Analog dem homöopathischen Prinzip hat er Gleiches mit Gleichem behandelt. Im Malen fand der Junge seine ganz persönliche kreative Antwort auf den Traum. Indem er die schrecklichen Traumbilder weiterentwickelte, veränderte sich auch sein seelisches Gleichgewicht. Obwohl er noch ein Jahr später thematisch ähnliche Albträume erinnerte, fühlte er sich deutlich weniger belastet. Die Albträume waren seltener geworden und nach dem Aufwachen konnte er wieder alleine einschlafen. Er bestand allerdings darauf, dass seine Mutter die Träume weiterhin in sein Traumbuch schrieb, und im Malen gestaltete er weiterhin spielerisch seine Traumszenen um. Er behielt also bei, was sich als wirkungsvoll erwiesen hatte.

Wer instinktiv Widerstände gegen das Aufschreiben oder Malen seiner Albträume spürt, fragt sich vielleicht, wieso er etwas festhalten soll, das er vielleicht gar nicht anschauen, sondern vor allem loswerden will. Schreiben oder Malen vergegenständlicht schließlich ein Albtraumerlebnis und lässt es in der Außenwelt sichtbar werden. Wird der Schrecken also nicht eher verdoppelt, wenn die inneren Albtraumbilder nun auch konkret vor uns liegen und für uns oder andere wirklich werden? Die Erfahrung zeigt, dass es sich gerade umgekehrt verhält. Das Veräußerlichen der Traumbilder wirkt häufig seelisch beruhigend. Sobald die Träume, in welcher Form auch immer, dokumentiert sind, scheinen sie innerlich nicht mehr so überwältigend zu wirken.

Für den Umgang mit Albträumen bleibt es entscheidend herauszufinden, was Wirkung zeigt, unabhängig davon, ob es für andere hilfreich oder plausibel ist. Was wirkt, hat recht. Und in der Regel kommt laut C. G. Jung immer etwas heraus, wenn man einen Traum lange genug mit sich herumträgt. Wenn man ihn bei sich behält, wird man irgendwann auf irgendeine Art und Weise etwas mit ihm anfangen können. Was dann herauskommt, ist allerdings nicht unbedingt ein wissenschaftliches Resultat, mit dem man prahlen kann oder das sich rationalisieren lässt, sondern ein Wink des Unbewussten, der zeigt, wohin der eigene Lebensweg gehen könnte. Vorrangiges Ziel der Beschäftigung mit den eigenen Träumen ist also, dem Leben wieder mehr Strömung zu verleihen.62

Was ist Traumdeutung?

Ein Traum, der nicht gedeutet wird, ist laut Talmud ein ungelesener Brief.63 Traumdeutung wäre nach dieser Metapher das Lesen einer Botschaft. Einen Brief oder eine Botschaft kann man aber nur lesen, wenn man die Zeichen der Sprache erkennt und versteht. Die Traumsprache scheint jedoch eine phylogenetisch sehr alte Sprache zu sein, nämlich die Sprache der Gleichnisse und Parabeln, 64 deren Bedeutung nicht immer offensichtlich ist. Man könnte Traumdeutung deshalb auch als Dechiffrierung eines schwer lesbaren Textes bezeichnen, der zudem häufig nicht bloß einen einzigen Sinn hat, sondern der vieldeutig und vielschichtig ist.

Doch bevor ein Brief überhaupt vom Empfänger gelesen werden kann, muss er zunächst einmal geschrieben und anschließend auch losgeschickt werden. Briefeschreiben und Briefelesen ist ein mehrstufiges Phänomen. Beim Schreiben eines Briefes suchen wir passende Formulierungen für unsere Anliegen oder Gefühle. Und nicht immer schicken wir einen fertigen Brief ab.65 Doch falls wir ihn losschicken, kann der Empfänger entscheiden, ob er ihn liest, ungeöffnet in eine Schublade legt oder sogar in den Papierkorb wirft. Der beim Briefeschreiben intendierte Dialog kann also auf verschiedenen Ebenen stecken bleiben.

Wenn wir diese Alltagserlebnisse auf das Phänomen Träumen übertragen, werden die unterschiedlichen Wirkungsebenen der Träume deutlich. Solange wir uns an Träume überhaupt nicht erinnern, ist – metaphorisch gesprochen – der Traumbrief gar nicht losgeschickt worden. Aber alleine die Tatsache, dass der »Traumbrief« geschrieben wurde, zeigt Wirkung. Träume tragen nämlich, wie bereits erwähnt, schon durch ihre bloße Existenz auf vielfältige Art und Weise zu unserer seelischen sowie körperlichen Gesundheit bei. Selbst wenn wir also Träume nicht deuten wollen oder können, ist es hilfreich, dass sie geträumt werden. Doch wer es dabei nicht belassen will, wird – um nochmals in der Metapher zu bleiben – den Traumbrief öffnen und lesen. Traumdeutung bedeutet dann zu versuchen, auf die unbewussten Bilder eine Antwort zu finden und den Dialog zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein zu fördern. Es geht darum, eine Brücke zwischen Wachwelt und Traumwelt zu bauen.

Eine gute Deutung wirkt belebend und kann Traumängste oder innere Blockaden lösen. Meistens macht es dabei beim Träumer »klick« und er erspürt Zusammenhänge, die ihn weiterbringen. Träume sind also keine einfachen Rätsel, die man löst, sondern irrationale, akausale Wirklichkeit, die mit dem Leben verbunden werden will. Traumdeutung ist deshalb ein Dialog mit der eigenen Seele und geschieht in der Regel im Gespräch mit einer anderen Person oder in einer Gruppe. Wer seine Träume alleine deuten möchte oder muss, kann sie fragend umkreisen, um den Bezug zu der persönlichen Lebenssituation zu finden. Welche Fragen helfen, um dem Traumsinn näher zu kommen? Stellen wir uns einmal vor, wir hätten folgenden Traum:

Ich bin in meiner Wohnung. Sie hat – anders als in der Realität – einen Holzfußboden. Der Boden hat nicht nur Lücken, sondern ist zudem teilweise »lose« verlegt. Auch die Treppe zur Galerie ist sehr wackelig. Plötzlich sehe ich ein Tier, zunächst allerdings nur den Schatten. Es ist ein Igel. Er kommt näher und ich erkenne, dass der Igel gleichzeitig ein kleiner Mensch ist, ein Baby. Der kleine Igelmensch will vor mir fliehen.

Löst dieser Traum ein Gefühl aus? Nehmen wir zunächst an, der Traum hinterlässt ein Gefühl von Verwunderung. Dann können wir uns fragen: In welchen konkreten Situationen habe ich dieses Traumgefühl schon einmal erlebt? Spielen diese Gefühle auch derzeit eine Rolle in meinem Leben? Das Ziel wäre, durch passende Fragen die Traumgefühle mit Alltagserlebnissen zu verknüpfen, also die Relevanz der Traumgefühle für das Hier und Jetzt zu klären.

Weiter können wir fragen: Welches Traumbild ist am eindrücklichsten? Nehmen wir weiter an, es wäre der Igel. Dann können wir überlegen, was uns zu einem Igel einfällt, der im Traum halb Mensch, halb Igel ist. Vielleicht wissen wir bereits etwas über das Wesen von Igeln oder lesen einfach nach, wie Igel leben, um ein Gespür für die Qualität des Traumbildes zu bekommen. Es geht darum herauszufinden, für was der Igel steht, was er also symbolisiert. Der Igel ist ein scheues, nachtaktives Tier, und aufgrund seiner Stacheln können wir ihn nicht streicheln oder mit ihm kuscheln. So symbolisiert der Igel häufig Menschen, die sich wie ein Igel mit einem eher aggressiven, »stacheligen« Verhalten Distanz verschaffen. Dahinter verbergen sie häufig ihre Empfindsamkeit und Sensibilität. Jetzt können wir fragen, ob wir einen Igelanteil besitzen, also manchmal ruppig oder aggressiv reagieren, um unsere Empfindsamkeit zu verbergen. Konkrete Situationen, in denen wir niemanden an uns heranlassen, könnten die Brücke zum Traumverständnis bilden.

Die subjektstufige Deutung

Sobald wir einen Aspekt im Traum als Anteil von uns selbst, als innerseelisch wirksame Persönlichkeitsfacette begreifen, sprechen wir von der sogenannten subjektstufigen Traumdeutung. Bei der Traumdeutung auf der Subjektstufe werden alle Traumfiguren als personifizierte Charakterzüge des Träumers oder der Träumerin verstanden. Der ganze Traum handelt dann als inneres Drama von uns selbst. Fragen zu den Traumbildern sind dann zunächst immer Fragen nach uns selbst. Wer etwa einen lose verlegten Holzboden oder eine wacklige Treppe subjektstufig anschauen möchte, muss danach fragen, wie es um den eigenen seelischen Boden bestellt ist. Fühle ich mich seelisch gut verankert? Wie stabil ist mein Selbstvertrauen? Auch der Boden im konkreten Leben ist gemeint: Wie stabil ist meine derzeitige Lebenssituation? Könnte etwas ein- oder zusammenbrechen, das mich stolpern oder straucheln lässt? Diese Beispielfragen können lediglich andeuten, wie das Traumthema mit der seelischen und äußeren Wirklichkeit verknüpft werden kann. Es ist ein kreativer Prozess, seine persönlichen Schlüsselfragen zu finden, die zum relevanten Lebensthema führen und quasi den »Nagel auf den Kopf« treffen.

Eine Traumdeutung auf der Subjektstufe ist immer dann besonders naheliegend, wenn wir von fremden oder uns fernstehenden Menschen oder Figuren träumen. Allerdings kann die subjektstufige Traumdeutung ziemlich unangenehm sein. Falls etwa ein unbekannter Dieb in unseren Träumen auftaucht, wäre zu überlegen, ob wir auf irgendeine Art und Weise vielleicht andere bestehlen oder dazu neigen, uns selbst ausrauben zu lassen. Es geht darum, sich bewusst zu machen, ob wir vielleicht anderen die Kraft rauben, ihre Ideen stehlen oder ob wir umgekehrt zum Diebstahlsopfer werden. Ein innerer Räuber könnte deutlich machen, dass wir uns häufig von anderen ausnehmen lassen, weil wir vielleicht gutmütig oder ängstlich sind. Doch Räuber ist nicht gleich Räuber. Manche sind brutal, andere nehmen wie Robin Hood von den Reichen und geben den Armen. Die drei Räuber in Tomi Ungerers gleichnamigem Buch66 beenden sogar ihre kriminelle Karriere und werden zu Wohltätern, als sie von ihrer Beute ein Schloss kaufen, das Waisenkindern ein neues Zuhause bietet. Abhängig davon, wem unser Traumräuber nun am meisten ähnelt, wird die Bedeutung des Traumes erheblich variieren. Es macht einen großen Unterschied, ob wir einen Traumräuber eher sympathisch oder ausschließlich destruktiv charakterisieren können.

Nicht ausschließlich unsere persönlichen Erlebnisse und Einfälle, sondern auch Geschichten können dazu beitragen, die Bedeutung der Traumsymbole zu entschlüsseln. Der Traumgeschichte wird eine Geschichte, die wir gelesen oder aus einem Film kennen, zur Seite gestellt. Wozu sind Geschichten gut? Der afrikanische Schriftsteller Helon Habila67 hat erzählt, wie ihm durch Geschichten alles völlig klar geworden sei. Durch Geschichten habe er gelernt, die Welt zu verstehen. Fasziniert habe er zugehört, wenn die älteren Frauen im Kreis der Großfamilie abends erzählt hätten.

Helon Habila hat wahrscheinlich von jenen Geschichten gesprochen, in denen existentielle Konflikte oder Krisen thematisiert werden, die Menschen durch alle Zeiten hindurch und in allen Kontinenten erlitten haben. Diese Geschichten werden nicht vergessen, weil sie als Gleichnisse, Märchen oder Mythen spannende Erkenntnisse für die nachkommenden Generationen aufbewahren.68 Es geht dabei um Grundlegendes: Wie kommt ein Mensch in eine schwierige Notlage und wie kann er sie überwinden? Was braucht es, um erwachsen zu werden? Was geschieht, wenn wir lieben? Und was ist das Geheimnis von Gut und Böse? Aus solchen Geschichten lernen wir Menschheitstypisches – in der Jung’schen Terminologie sprechen wir vom Archetypischen.

Archetypische Grundfragen des Menschseins werden auch von Märchen aufgegriffen. In symbolischer Form beschreiben Märchen typische Lebensprozesse, und manche Märchenmotive sind auf der ganzen Welt verbreitet. Deshalb hat C. G. Jung die Märchensprache als die internationale Seelensprache der ganzen Menschheit bezeichnet. Manche Zeitgenossen finden Märchen heutzutage überholt, insbesondere weil sie zu viele Grausamkeiten beschreiben. Doch Menschen brauchen eine Phantasie für das Schreckliche, sonst bleiben sie naiv oder unvorbereitet, denn ständig ereignet sich Schreckliches auf der ganzen Welt. Es verschwindet schließlich nicht durch Wegsehen.

Auch zum erwähnten Traummotiv des Igels gibt es Märchen. Wer von einem Igel träumt, kann beispielsweise die Grimm’schen Märchen Der Hase und der Igel oder Hans mein Igel nachlesen und schauen, ob ihn eine der beiden Geschichten irgendwie anspricht. Wer aktuell in einer Konkurrenzsituation steckt, in der mit ungleichen oder unfairen Mitteln gekämpft wird, kann unter Umständen einiges von Der Hase und der Igel lernen. In diesem Märchen geht es um Konkurrenz und gemeinschaftliche List beziehungsweise Betrug. Der Hase verliert trotz seiner langen, flinken Beine und seines unermüdlichen Kampfgeistes ein Wettrennen gegen den Igel. Doch der Igel rennt gar nicht, weil er von vorneherein seine Chancenlosigkeit erkennt. Ein faires Rennen könnte er nie gewinnen. Stattdessen überredet er seine Frau zu einer List. An einem Ende des Feldes wartet der Igel und am anderen Ende seine Frau auf den herbeieilenden Hasen. Was ist nun beeindruckender, die Dummheit des Hasen oder die schlauen Igel, die vor einem gemeinschaftlichen Betrug nicht zurückschrecken? Empören wir uns über die Tricks des Igelpaars, oder können wir über die beiden schmunzeln, da sie letztlich gewinnen, weil sie zusammenhalten? Oder ergreifen wir etwa Partei für den Hasen, der sich redlich und mit aller Kraft um den Sieg bemüht? Wem fühlen wir uns also seelisch eher verwandt? Sollten Hase und Igel menschliche Charakterfacetten darstellen, dann würden wir erfahren, dass ein tüchtiger, fähiger Mensch in einer Konkurrenzsituation unterliegt, wenn er keine Phantasie für die List seines Gegners hat und nicht wahrnimmt, zu welchen Mitteln der Konkurrent greift.

Ein ganz anderes Problem wird im Märchen Hans mein Igel geschildert. Da es um einen abgelehnten Jungen geht, ist dieses Märchen interessant für Männer, die sich von Kindesbeinen an als ungewollt oder ungeliebt erlebt haben, weil sie nicht so sind, wie die Eltern es gerne hätten. Deshalb ist dieses Märchen besonders aktuell für Jugendliche, die sich aufgrund von ADHS oder aggressivem Verhalten als Störenfriede erleben. Wer durch einen Igeltraum auf dieses Märchen stößt und gefühlsmäßig berührt wird, kann erfahren, was es braucht, um das Abgelehntsein zu überwinden.69

Geschichten oder Filme sind für das Verständnis der eigenen Träume hilfreich, wenn sie unsere Phantasie zu einem Traummotiv bereichern und wir auf ein relevantes Lebensthema stoßen. Durch die Geschichten erfahren wir, wie andere vor uns ähnliche Situationen gemeistert haben. Wir sind also nicht alleingelassen mit unserem Problem.

Die objektstufige Deutung

Doch jede Traumdeutung ist nur eine Hypothese und ein bloßer Versuch, einen unbekannten Text zu lesen.70 Wir können nie ganz sicher sein, welche Betrachtungsweise am besten passt. Wie erwähnt, spiegeln fremde Traumfiguren und -szenen häufig die eigene seelische Situation wider. Anders ist es dagegen, wenn wir von vertrauten Orten und Umständen, von Familienangehörigen, Freundinnen, Kollegen oder anderen nahestehenden Menschen träumen. Häufig ist es nämlich stimmig, solche Träume auf konkrete Beziehungssituationen zu beziehen. In der sogenannten objektstufigen Deutungsart werden die Beziehungsmuster im Traum mit realen Beziehungserfahrungen verglichen. Besonders interessant können die Unterschiede zwischen Traum- und Wachbeziehung sein. Eine solche Diskrepanz befremdete die Studentin Mara, als sie schweißgebadet aufwachte:

Mein Freund Leon fährt ein Auto, ich bin Beifahrerin. Wir können uns nicht über das Fahrtziel einigen. Leon hat etwas anderes vor als ich und ist nicht bereit, seine Pläne zu ändern. Ich werde sehr wütend und sage: »Halt an, ich gehe zu Fuß, egal wie lange das dauert.«

Mara und Leon sind seit 18 Monaten ein Paar, und aus Maras Sicht läuft die Beziehung ganz gut. Was sie konkret erlebt, passt nicht zu ihren Traumbildern. Traumbild für Traumbild lässt sie deshalb auf sich wirken, um die mögliche Bedeutung der Symbole zu erspüren. Der Traum startet mit einer gemeinsamen Fahrt. Das entspricht der äußeren Realität, denn in einer Partnerschaft reisen wir zusammen durchs Leben. Das Traumauto wird von Leon gelenkt, weshalb sich Mara fragt, wie es um das »Lenken« in der Lebenswirklichkeit steht. Wer entscheidet in der Beziehung? Wer gibt die Richtung vor? Geschieht das im Konsens oder eher einseitig? Mara erkennt, dass überwiegend Leon die Impulse setzt und sie sich fast immer anschließt. Seine Ideen und Vorschläge gefallen ihr, weshalb sie sich gerne mitziehen lässt. Ihr wird durch den Traum erstmals bewusst, dass Leon viel aktiver und unternehmungslustiger ist als sie.

In der Realität hatte Mara bisher keinen Grund, auf Leon richtig wütend zu sein. Könnte sie eine Verärgerung vielleicht nicht wahrgenommen oder unterdrückt haben, um Konflikte zu vermeiden? Oder hat sie einfach Angst vor einem massiven Richtungsstreit, der zu einer Trennung führen könnte? Spürt sie im Hintergrund bereits leichte Dissonanzen, die auf den Tisch kommen sollten? Mit solchen und ähnlichen Fragen umkreist Mara den unangenehmen Traum und versucht, ihr Beziehungsmuster besser zu verstehen. Dabei verursacht ihr das Traumende ein ziemliches Unbehagen, weil sie sich in Realität auf keinen Fall derart zornig abgrenzen möchte. Aber was ein Traum erzählt, muss nicht Realität werden. Der Traum spielt mit unseren Möglichkeiten, zeigt uns Handlungsoptionen, die wir durchaus verwerfen oder gegen die wir uns sträuben können. Der Traum zwingt uns nichts auf.

Die Kraft der Imagination

Da Mara mit dem Ende ihres Traums gar nicht zufrieden ist, nimmt sie die Schlussszene und imaginiert von da aus weiter, beobachtet also, wohin ihre Phantasien und Vorstellungen sie tragen. Der Traum ist nämlich kein fertiges Produkt, das man hinnehmen muss, sondern kann Ausgangsbasis einer Fortsetzungsgeschichte sein. Besonders bei Albträumen, die ohne Schluss abbrechen und mitten in einer bedrohlichen Szene stecken bleiben, kann es sinnvoll sein, in die eigene Phantasiewelt einzutauchen, um eine Lösung oder einen Ausweg zu suchen. Wer beispielsweise wie Max am Ende eines Albtraums weder vorwärts- noch zurückgehen kann, weil vor ihm ein Abgrund liegt und hinter ihm ein Monster den Rückweg versperrt, kann die Szene imaginativ bearbeiten.

In der Imagination werden alle Sinne auf ein Traumbild gerichtet. Wir konzentrieren uns auf das Bild, lauschen auf Geräusche, nehmen vielleicht sogar Gerüche oder einen Geschmack auf der Zunge wahr. Gelegentlich können wir etwas ertasten oder werden berührt. Wer sich in einen solchen Phantasieraum hineinwagt, wird bemerken, dass sich etwas bewegt. Irgendetwas geschieht immer und verändert die Situation. Was aus Sicht der Vernunft noch so abwegig, klein oder unbedeutend scheinen mag, kann seelisch wichtig sein. Als Max das gerade beschriebene Traumende am Abgrund imaginativ aufgreift, taucht neben ihm ein Schmetterling auf. Plötzlich spürt er Freude und wünscht, dass sich der Schmetterling auf seine Hand setzt. Gerne würde Max wie dieser Schmetterling einfach aus der bedrohlichen Traumsituation wegfliegen können, denn seine verstörenden Träume haben in den letzten Monaten seine Stimmung erheblich belastet. Deshalb erstaunt es ihn, dass er in seiner Phantasie fähig ist, sich zu freuen und etwas zu ersehnen. Gefühle, die ihm kaum mehr vorstellbar waren, sind möglich geworden. Und er weiß, dass er sich die Freude nicht »eingebildet«, sondern erlebt hat. Die Freude war wirklich vorhanden. Das zeigt, wie in der Imagination als einem Raum der Freiheit die vermeintlich unumstößlichen Grenzen und die Logik der Realität aufgebrochen werden können.71

Imaginationen entreißen den Menschen aus der Gebundenheit und machen ihn zu einem Spielenden. Und der Mensch ist laut Schiller »nur da ganz Mensch, wo er spielt«72 . Jeder, der sich auf Imaginationen einlässt, beginnt mit sich selbst zu experimentieren, und nichts ist mehr hoffnungslos versteinert. Alles ist im Werden, darf sich verändern oder wandeln. Wer sich auf Imaginationen einlassen kann, gibt der Überraschung eine Chance. Etwas anderes oder Neues darf ins Leben treten, insbesondere auch Sehnsucht und Hoffnung. Dadurch wird ein Albtraum nicht ausgelöscht, aber es werden andere Perspektiven und Kräfte danebengestellt. Imaginationen wirken, sind also keine »Luftnummer«.

Wer das nicht glaubt oder noch nie erlebt hat, kann es beispielsweise beim Autogenen Training erfahren. Bei dieser Entspannungsmethode stellt sich ein Übender in den ersten beiden Einheiten imaginativ vor, wie sein Körper angenehm schwer und ruhig wird. Anschließend lenkt er seine Aufmerksamkeit auf die Herz- und Atemtätigkeit, später auf den Bauch und die Stirn. Längst ist medizinisch erwiesen, dass die hier vorgegebenen Vorstellungen das vegetative Nervensystem beeinflussen. Veränderungen der Durchblutung, des Blutdrucks und der Herzfrequenz sind messbar, und zwar häufig bereits nach sechs Wochen Übung. Das zeigt, wie rasch unser Geist eine Wirkung entfaltet, die seelisch spürbar, aber auch körperlich messbar ist!

Vorstellungen wirken suggestiv in unser autonomes Nervensystem hinein. Was wir seelisch als Entspannung wahrnehmen, zeigt sich körperlich an abnehmenden Stressparametern. Viele, die Yoga, Meditation oder Ähnliches praktizieren, erleben, dass Phantasien, Gefühle und der Körper sich wechselseitig beeinflussen. Deshalb kann man sich einem Albtraum auch zunächst körperlich annähern, indem man beispielsweise einzelne Traumszenen tanzt.73 Ein Traumthema oder -gefühl wird dadurch leibhaftig. Insbesondere wenn eine Traumatmosphäre schwer fassbar ist, oder Worte nicht in der Lage sind, auszudrücken, um was es geht, kann der Körper zur nonverbalen Verständnisbrücke werden.

Die für manche vielleicht erstaunliche Wirkkraft unserer Imaginationen auf Emotionen und Körper lässt die in der Antike beschriebene Heilkraft der Träume in einem anderen Licht erscheinen. Sobald Suggestionen oder Traumbilder uns emotional tief erschüttern, reagiert auch das autonome Nervensystem, weshalb Symptome entstehen, aber auch verschwinden können.

Die Einschlafsituation bewusst gestalten

Albtraumszenen können so schrecklich und die Angst, erneut überwältigt zu werden, so groß sein, dass eine Beschäftigung mit den Bildern ausgeschlossen scheint. Wer sich instinktiv Distanz zu den Traumbildern wünscht, sollte sich diese nehmen und abwarten, was passiert. Die jüdische Überlieferung empfiehlt jedem, der seine schlimmen Traumbilder nicht anzuschauen wagt, einen Fastentag einzulegen,74 um den üblichen Lebensrhythmus zu unterbrechen.

Ein singulärer Albtraum, der nur eine Nacht stört, ohne weitere Beschwerden nach sich zu ziehen, muss auch nicht unbedingt Aufmerksamkeit bekommen. Gewiss ist auch, dass, solange wir leben, wir nach jedem Albtraum wieder aufwachen werden. Der Schlaf ist nur die eine Hälfte des Lebens, und nach dem Aufwachen kann das Leben durchaus anders als im Traum sein. Es kann tröstlich sein zu wissen, dass es mehr als die Albtraumwelt gibt. Manche tröstet eine alte Weisheit, die auffordert bei Furcht oder in einer schlimmen Krise an die Geburt eines Kindes zu denken.75 Hier folgen nämlich Wehen auf Wehen, aber am Ende kommt das Kind heraus. Die Situation bleibt also nicht auf ewig schrecklich, sondern verändert sich irgendwann, nachdem die Schmerzen lange genug ausgehalten und durchlebt worden sind.

Bei wiederkehrenden oder häufig auftretenden Albträumen werden solche Hinweise kaum beruhigen. Passives Abwarten oder Erdulden bringt meistens nicht weiter. Wer aber die Traumbilder trotzdem nicht direkt anzuschauen wagt oder sowieso ohne Erinnerung ist, kann seinen Gefühlen im Alltag mehr Achtsamkeit schenken. Welche Gefühle erlebe ich im Laufe des Tages? Wann spüre ich unangenehme oder sogenannte schlechte Gefühle? Und wie gehe ich damit um? Habe ich den Eindruck, dass es mir gut gelingt, oder fühle ich mich unsicher und weiche meinen Gefühlen aus? Ähnlich der Traum-Affekt-Spiel-Therapie von Eckhart Rüther76 können wir abends vor dem Schlafengehen ein Gefühlstagebuch schreiben, um uns die Palette und Intensität unserer Gefühle des vergangenen Tages nochmals zu vergegenwärtigen. Da Bewusstsein und Unbewusstes eng aufeinander bezogen und miteinander verschränkt sind, wird die Beschäftigung mit den eigenen Emotionen im konkreten Alltag nicht ohne Auswirkung auf die Träume bleiben. Was sich verändert, können wir aber nicht voraussagen.

Manchen erscheint das zu ungewiss, zu kompliziert oder es dauert ihnen einfach zu lange. Wer schnell etwas Konkretes gegen seine Angst vor möglichen Albträumen unternehmen will, kann ebenfalls die Kraft der Imagination nutzen. Vor dem Einschlafen können wir nach beruhigenden Vorstellungen suchen. Als Anregung kann Das Traumfresserchen dienen, eine märchenartige Geschichte von Michael Ende aus Schlummerland.77 Wie im richtigen Leben zählt in Schlummerland nicht die Länge, sondern die Qualität des Schlafes. Und in Schlummerland ist immer derjenige König, der am besten schlafen kann. Doch während der König in dieser Geschichte immer erholsam schlafen kann, leidet seine Tochter an bösen Träumen! Obwohl der besorgte König keine Mühe scheut, um der kleinen Prinzessin zu helfen, und bis ans Ende der Welt wandert, trifft er niemanden, der irgendein Heilmittel gegen Albträume kennt. Als sich der König zuletzt an einen dunklen, kalten Ort verirrt, trifft er ein stacheliges Männchen, das sich als Traumfresserchen zu erkennen gibt. Es ernährt sich ausschließlich von schrecklichen Träumen, doch es kommt nicht ungerufen vorbei. Jeder, der seine Albträume fressen lassen will, muss das Traumfresserchen einladen.

Der Spruch, mit dem man das Albtraumfresserchen herbeirufen kann, klingt wie ein Gebet. Wer das blasphemisch findet, sei daran erinnert, dass im Hebräischen das Wort »beten« identisch ist mit »relativieren« und »sich einlassen«.78 Das Gebet soll eine Verbindung und somit nichts anderes als eine Brücke schaffen zwischen unserem Bewusstsein und den helfenden Kräften im Unbewussten. Michael Endes Geschichte erinnert nicht nur an die hilfreiche Wirkung von Ritualen und Vorstellungen, sondern auch daran, dass wir innere Helfer aktiv mobilisieren müssen. Es ist wichtig, sich Mühe zu geben und die Hoffnung zu bewahren, auch wenn der Weg langwierig oder mühsam sein sollte. Dabei bleibt es uns manchmal nicht erspart, uns an die Grenzen des für uns Erträglichen heranzutasten.

Sich hineinversetzen versus sich distanzieren

Das kann auch bedeuten, sich im Wachen erneut in geträumte Traumbilder hineinzubegeben. Als ein Pastor ganz unspektakulär träumt: »Eine Tomate wird weggeworfen«, nimmt er die Rolle der Tomate ein.79 Dabei spürt er, wie sie unter den Sonnenstrahlen rot, reif und saftig wird. Das spielerische Hineingehen in das zentrale Traumbild erinnert ihn, was ihm Wärme und Sinnlichkeit bedeuten und wie schmerzlich er das in seiner aktuellen Lebenssituation vermisst – vielleicht kein Wunder, denn im Traum wird die Tomate ja weggeworfen.

Ein solches Rollenspiel kann also zu relevanten persönlichen Erkenntnissen hinführen. Allerdings sollten wir uns bei destruktiven Traummotiven nicht überfordern und uns nur dann erneut in den Albtraum hineinwagen, wenn wir uns stabil genug fühlen. Sobald wir von Gefühlen oder aufsteigenden Bildern überschwemmt zu werden drohen, ist es wichtig, die Traumszene sofort zu verlassen, sich kräftig zu schütteln und eventuell die Hände zu waschen oder sich einem anderen körperlichen Reiz auszusetzen, um Distanz zu bekommen. Manchmal ist es hilfreich, sich selbst imaginativ aus dem Traumbild zu entfernen, einen Stellvertreter in den Albtraum zu schicken und das Geschehen zu beobachten. Das Einnehmen der Beobachterposition kann die notwendige Distanz schaffen, um sich nochmals heranzutasten. Es geht dabei um die Bilder und Empfindungen, die auftauchen, wenn eine andere Person in die gefährliche Traumsituation verwickelt wäre. Manchmal ermöglicht der Stellvertreter einen Perspektivwechsel und enthüllt eine zuvor unbeachtete Ressource oder Handlungsoption. Letztlich geht es darum, sich nicht dem Albtraumgeschehen auszuliefern, sondern in persönlich passender Form aktiv zu werden.

Eine etwas andere Zugriffsmöglichkeit ermöglicht das luzide Träumen.80 In luziden Träumen erkennt die träumende Person, dass sie träumt. Manche nutzen dieses luzide Bewusstsein, um in den Traumablauf einzugreifen. So kann ein luzid träumender Mensch im Traum aktiv eine unangenehme Situation verändern oder kontrollieren. Dieses luzide Träumen kann eingeübt werden, erhöht aber bei Menschen, die sich bereits im Alltag übermäßig stark disziplinieren, gelegentlich die Albtraumaktivität oder Ängstlichkeit. Anscheinend stellt eine Ausweitung eines kontrollierenden Lebensstils auf den Schlaf eine Einseitigkeit dar, die nicht immer zuträglich ist. Der Versuch, Unkontrollierbares kontrollierbar zu machen, scheint nicht unbedingt resilienzfördernd zu sein. Da Resilienz unsere Fähigkeit beschreibt, mit Belastungen und Herausforderungen umzugehen, wird sie in der Auseinandersetzung mit Albträumen vor allem dann erhöht, wenn die Befähigung zum Umgang mit dem Schrecklichen vergrößert wird.