5. Albtraummotiv Natur: Naturgewalten, gefährliche Tiere und Pflanzenwelt

Die Natur ist mächtiger und viel älter als der Mensch. Und solange wir leben, sind wir von Natur umgeben und gleichzeitig ein Teil von ihr. Die Natur, um die es hier geht, ist unsere Mutter Erde. Von ihr handelt auch Georgs Albtraum:

Vor mir bricht die Erde auf, die Erde öffnet sich und ich stürze in eine Erdspalte. Die Erde ist eine Wüste.

Stürzen und Fallen

Im Traum ist Georg mutterseelenallein und stürzt. Fallen oder Abstürzen sind häufige Albtraummotive. Welche Vorstellung löst eine solche Fallszene in Ihnen aus? Macht es Ihnen vielleicht Angst, dass Fallen überhaupt möglich ist, wenn man oben ist? Es ist ja eine Binsenweisheit: Je weiter oben wir sind, desto tiefer können wir fallen. Wenn Sie einen solchen Falltraum hätten, könnte er Sie ganz einfach daran erinnern und zu einer Stellungnahme ermuntern: Unter welchen Umständen könnten Sie den inneren Halt verlieren oder psychisch abstürzen? Was passiert, wenn »alle Stricke reißen«? Wäre ein depressiver Absturz, ein »Nervenzusammenbruch« oder der Absturz aus Ihrer sozialen Stellung möglich? Und wenn Sie den Traum weiterimaginieren: Wo könnten Sie landen? Wäre die Landung eher hart oder weich?

Während einige Fallträume in einem leeren Raum oder in der Natur stattfinden und sich die Traumszenen auf das Fallen konzentrieren, ist in anderen Träumen der Ort relevant:

Ich falle durch immer mehr Böden, und zwar von oben nach unten in meinem Elternhaus.

Dieses Traumbild erinnert daran, dass mit dem Fallen häufig auch die Frage des Bodens berührt wird. Wir würden nicht fallen, wenn wir getragen wären, sei es durch einen konkreten, sicheren Untergrund oder unseren stabilen inneren Boden. Als Kind geben uns die Eltern einen solchen Boden, sowohl ganz konkret als auch seelisch.81 Ihre Liebe und Unterstützung, aber auch ihre Wertvorstellungen weben unseren seelischen Boden. Doch während ein junger Mensch physisch und psychisch den tragenden elterlichen Boden braucht, kann in einer späteren Lebensphase der elterliche Boden hinderlich werden. Brechende elterliche Böden können also von einem gefährdenden, destabilisierenden, aber auch von einem notwendigen Bruch erzählen. Notwendig wird ein Bruch, wenn Traditionelles nicht mehr weiterbringt. Wer etwa vom Zusammenkrachen der eigenen Bücherregale träumt, kann sich fragen, ob vorgelebte Erfahrungen oder früheres Wissen nun überholt sind und mehr eigenes gefunden werden will – somit der eigene Boden.

Abgründe, Kargheit und Wüsten

Georgs Fallen im Traum ereignet sich in der Natur. Wer wie er vor einem Abgrund, einer Fels- oder Gletscherspalte steht, ist mit einem Abbruch konfrontiert: Eine Ebene endet abrupt und bricht häufig scharfkantig ab. Ein solcher Niveauwechsel kommt in der Natur grundlos, »aus heiterem Himmel« vor. Das nennen wir Zufall. Kennt Georg solche inneren Abgründe oder Abbrüche? Wo gibt es seelische Untiefen oder Löcher? Als Chef ist er bei seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht sehr beliebt, denn er ist ein zwanghafter, detailversessener Kontrollfreak, der ständig informiert werden möchte. Bei ihm gibt es null Fehlertoleranz, alles muss planmäßig laufen. Er kann nicht ausgelassen feiern, entspannt sein oder über die Stränge schlagen. Georg wirkt souverän und scheint die Dinge im Griff zu haben. Doch er scheint sich manchmal »auf dünnem Eis« zu bewegen. Wegen einer Bagatelle hatte er sich hemmungslos betrunken und war zwei Tage lang arbeitsunfähig: Sein Absturz war ein Alkoholabsturz. Georg ist mit Unvorhersehbarem überfordert, sobald ihm dabei die Kontrolle entgleitet. Kontrollverlust ist für ihn das Grauen und der wahre Abgrund. Sein Traumbild zeigt ihm unvermittelt, dass solche inneren Abgründe ganz natürlich sind und zu unserem Leben gehören, das dadurch immer mal wieder aus der Bahn gerät.

Den menschlichen Lebensweg von der Geburt bis zum Tod könnte man bildlich mit einer Wanderung vergleichen, die an einem Ort beginnt, den wir uns nicht aussuchen können. Manche Menschen starten auf einer Ebene und wandern ruhig und gleichmäßig dahin, andere müssen oder wollen Gipfel meistern, in Täler steigen oder fallen in Abgründe. Es gibt steinige, mühsame, aber auch leicht gangbare Wege. Jeder geht seinen eigenen Weg. Man kann geradeaus gehen, Abzweigungen oder Umwege nehmen. Einige suchen das Abenteuer, andere brauchen Sicherheit, scheuen Risiken und wandern sehr umsichtig. Sowenig wir den Ausgangspunkt unserer Lebensreise bestimmen können, so wenig wissen wir in der Regel, wo wir überall vorbeikommen werden und wo der Lebensweg enden wird. Das ist für einen Sicherheitsfanatiker ein Albtraum, für den Abenteurer hingegen faszinierend. In der Begegnung mit einer übermächtigen Natur als Mensch bestehen zu können, in potentiell tödlichen Winkeln der Erde den Gefahren zu trotzen und zu überleben, wirkt für sie besonders vitalisierend.

Georg spürt im Traum, dass er in die Erdspalte gefallen ist, aber noch lebt. Wie ist es dort? Eng, dunkel, kalt oder alles zusammen? Wie erlebt er die Einsamkeit oder die fehlende Nahrung? Georg befindet sich in einer Grenzsituation. Hier helfen weder Ansehen, Geld noch altbewährte Strategien. Es wird nun existentiell, und das ist grausam. Er ist ganz auf sich allein gestellt, wird sich dabei so intim und so gut kennenlernen wie nie zuvor. Dominiert nun Hoffnungslosigkeit oder Kämpferwille? Verzweiflung oder Wut? Und wie geht er damit um?

Wer sich als Kämpfernatur einschätzt, kann sich seine eigene Ideen und Ressourcen vergegenwärtigen. Was wäre hilfreich? Was passt am besten?

Ein Kämpfer kann sich auch vom Dokudrama Sturz ins Leere82 für die Bewältigung der eigenen Abgrunderfahrung anregen lassen. Diese wahre Geschichte erzählt, wie der 25-jährige Bergsteiger Joe Simpson 1985 in den Anden in eine Gletscherspalte stürzt. Trotz großer Verzweiflung, gebrochenem Bein und schlimmster Schmerzen gibt er nicht auf. Da es ihm nicht gelingt, in der Spalte nach oben zu klettern, seilt er sich nach unten ab und findet tatsächlich einen Ausgang. Er motiviert sich immer und immer wieder für die jeweils nächsten zwanzig Minuten und robbt mühsam vorwärts, bis er nach sieben Tagen in der Nähe des Basislagers gefunden wird. Joe Simpson hat gekämpft, in kleinen Schritten das ihm Mögliche versucht – und auch eine gute Portion Glück gehabt. 83 So konnte er nicht wissen, dass die Gletscherspalte einen unteren Ausgang hat, und er konnte nicht sicher sein, dass jemand noch im Basislager wartete oder seine Hilferufe gehört werden. Auch konnte er nicht ahnen, dass er so viele Tage ohne Wasser und Essen überhaupt durchhalten kann. Trotz dieser Unwissenheit und Unsicherheit hat er einfach weitergemacht und hat schließlich überlebt.

Doch Erfahrungen mit einem Abgrund – sei er nun konkret oder psychisch – nehmen natürlich nicht immer ein derart gutes Ende. Manchmal müssen wir realisieren, dass eine Sache nicht gut ausgeht und dass wir uns oder die Situation nicht retten können. Was dann? Buddhas Parabel von der Beere84 lehrt, welche Haltung in einer Ausweglosigkeit möglich sein kann: Ein Reisender kommt bei seiner Flucht vor einem Tiger an einen Abgrund. Notgedrungen schwingt er sich über die Kante und findet Halt an der Wurzel eines wilden Weinstocks. Während der Tiger ihn von oben beschnuppert, schaut der Reisende in den Abgrund und erkennt, wie unten bereits ein zweiter Tiger darauf wartet, ihn zu fressen. Nur die Wurzel hält den Reisenden. Doch zu seinem Entsetzen sieht er, wie eine schwarze und eine weiße Maus beginnen, die Wurzel abzunagen. In dem Moment sieht der Reisende eine saftige Brombeere neben sich. Er löst eine Hand vom Weinstock und pflückt damit die Brombeere. Sie schmeckt köstlich! Bis zur letzten Minute des eigenen Lebens, selbst wenn es offensichtlich nicht mehr zu retten ist, kann die Natur etwas Köstliches bereithalten. Doch wir müssen es wahrnehmen, zugreifen und genießen. Noch im äußersten Moment des Ausgeliefertseins kann es Spielräume geben, die wir nutzen können oder auch nicht.

Weder das Traummotiv Abgrund noch die Wüste sind heimelige Orte für Menschen. Die Natur ist in der Wüste keine überschwängliche Gastgeberin, der Tisch nicht reichlich gedeckt, und die extremen Temperaturen sowie der Sand gefährden das Leben. Doch in Wüsten, wie auch in anderen menschenfeindlichen Winkeln und Gegenden, leben zahlreiche Tiere und Pflanzen. Es kommt also bei der Beurteilung des Ortes immer auf die Perspektive an. Was für eine bestimmte Tier- oder Pflanzenart ein idealer Lebensort ist, kann für eine andere Art oder den Menschen tödlich sein. Die Erde ist immer dann eine gute Mutter, wenn sie uns ernährt, wärmt und wachsen lässt – in einer sicheren Umgebung. Sobald sie uns das verweigert, wenn sie uns etwa in der Wüste verhungern oder verdursten lässt, ist sie eine schlechte, todbringende Mutter. Sie hat immer diese beiden Gesichter: Auf der einen Seite schenkt sie das Leben und auf der anderen Seite nimmt sie es wieder weg. Zudem verteilt die Natur ihre Gaben ganz ungleich: Der eine bekommt mehr, der Nächste etwas weniger, ein mancher geht fast leer aus; ihn bezeichnen wir manchmal als »Stiefkind der Natur«.

Die Erde ist in diesem Fall eine Stiefmutter. Die Vorsilbe »stief« bedeutet »berauben«.85 Dieser Raub bezeichnet den Gegensatz zwischen einer Potenz und ihrem Mangel oder Verlust wie etwa: sehend – blind, gesund – krank, lebend – tot. Auch in dem Verhältnis Mutter und Stiefmutter liegt ein solcher Gegensatz vor. In diesem Sinne ist die Stiefmutter eine Mutter, der die Mütterlichkeit fehlt, die dem Kind das Mütterliche vorenthält oder raubt. Und das gilt unabhängig davon, ob wir es mit der Mutter Erde oder einer menschlichen Mutter zu tun haben, denn die Erde ist als übergeordnete große Mutter ein Vorbild für jede menschliche Mutter. Jede menschliche Mutter übernimmt auf einer persönlichen Ebene die Aufgaben der großen Mutter Erde und ist quasi ihre Stellvertreterin. Mensch und Natur sind manchmal und mancherorts eine gute Mutter und andersmal und andernorts eine Stiefmutter. Jeder kennt das »Stiefmütterchen«. Diese Blume trägt ihren Namen zu Recht. Die fünf Blütenblätter haben unterschiedlich viel Platz zur Verfügung. Das mittlere wird bevorzugt und hat Platz für zwei, die beiden Blätter daneben sitzen normal, und die beiden letzten müssen sich den fünften Platz teilen. Sie sind die zu kurz gekommenen Stiefkinder. Diese Blume ist für den Philosophen Franz Vonessen ein Symbol für die Launen der Natur. 86

Der bedrohliche Charakter der Wüste erreicht auch den Protagonisten Raimund Gregorius in dem Roman Nachtzug nach Lissabon, als er über mehrere Wochen träumt, wie heißer persischer Wüstensand die Gläser seiner Brille zum Schmelzen bringt und sich in seine Augen frisst.87 Der Traum wird zum Anlass, die geplante Lehrerstelle in Isfahan nicht anzutreten, nachdem in der immer gleichen Albtraumszene der Wüstensand ihm das Wertvollste, nämlich sein Augenlicht raubt. Das Traumbild war ihm eine Warnung.

Die Wüste ist aber nicht nur gefährlich, sondern gleichzeitig atemberaubend schön. Gerade die natürliche Kargheit der Wüste, das Licht und die Stille üben bis heute auf einige Menschen eine starke Faszination aus. Ohne weltliche Ablenkung, in der Einsamkeit und Reduktion auf das Wesentliche war die Wüste bereits für frühchristliche Mönche der ideale Ort, um sich auf die innere Welt und Gott zu konzentrieren. Könnte es auch für uns heutige Menschen Lebensabschnitte geben, in denen wir mehr denn je die Einsamkeit mit uns selbst wie die Luft zum Atmen brauchen?88 Wer von faszinierenden Aspekten der Wüste träumt, könnte sich das fragen. Und löst diese Idee eher Sehnsucht oder Angst aus? Wer sich ständig mit äußeren Angelegenheiten verausgabt, könnte im Traumbild Wüste die Aufforderung sehen, sich selbst neu zu finden. Vielleicht braucht es dazu mehr Rückzug aus dem Alltäglichen, mehr Introversion und Besinnung auf die eigene Seele. Aber es könnte auch um Vereinfachung, mehr Konzentration oder Stille gehen – je nachdem, welche Qualität der Wüste im Traumbild betont wird und welche Assoziationen eine innere Resonanz auslösen.

Wetter, Stürme und Vulkane

Die Sonne wärmt die Mächtigsten, aber auch die Schwächsten, Gesunde und Kranke. Wenn sie scheint, sind zwar nicht wir persönlich gemeint, aber persönlich angesprochen. So ist das Wetter fast täglich und überall ein beliebtes Gesprächsthema. Manchmal erfreut es uns und häufig gibt es Anlass zur Klage, vielleicht auch deshalb, weil wir es nicht beeinflussen können, sondern permanent hinnehmen müssen. Dabei haben wir unterschiedliche Vorlieben: Einige lieben den Sommer und es kann ihnen nicht heiß genug sein, andere bevorzugen die Farben und Temperaturen des Herbstes. Für viele ist der Frühling mit dem aufbrechenden Leben die schönste Jahreszeit, aber auch die Winterstimmung mit dem ruhenden Leben, der Kälte und dem wenigen Licht ist bei einigen Menschen beliebt.

Wir Menschen haben fast immer eine Meinung über das Wetter. Wetter und Natur haben aber keine Meinung über uns. Wetter und Natur sind einfach da, sind gegeben. Wir können uns darauf einstellen, etwa indem wir nach draußen oder drinnen gehen und uns angemessen kleiden. Wir können aber auch vor dem Wetter fliehen, indem wir an einen Ort reisen, an dem wir bessere Wetterverhältnisse erwarten. Ähnlich ist es mit unseren Stimmungen, Gefühle und Affekten – sie sind unser inneres Wetter. Auch sie kommen ungefragt daher, und wir müssen sie ertragen. Manchmal lassen wir uns auf unsere Gefühle ein, doch wenn wir sie als lästig oder störend empfinden, kann es vorkommen, dass wir vor ihnen fliehen, sie also verdrängen wollen.

Träume, die von Wetterlagen sprechen, können also eine emotionale Befindlichkeit symbolisieren, sei es unsere eigene oder eine in unserer Umgebung. Und entsprechend unseren persönlichen Vorlieben und Umgangsweisen mit äußeren Temperaturen unterscheiden sich auch unsere Einstellungen zu Stimmungen und Emotionen.

In einem Traum ist Felix einem sehr stürmischen Wetter ausgeliefert:

Ich sitze direkt am Meer, leicht erhöht, und esse in einer Taverne. Ich erblicke einen Tornado, der sich vom Meer her nähert. Ich springe auf und will andere warnen. Es ist zu spät. Ich werde vom Tornado erfasst und mit großer Wucht hochgerissen.

Felix erinnert sich daran, dass in seiner Jugend ein Zigarettenhersteller noch mit dem Slogan werben durfte: »Wer wird denn gleich in die Luft gehen? Greife lieber zu HB.« Rauchen sollte intensive Affekte besänftigen oder gar nicht erst aufkommen lassen und verhindern, dass man im Affekt den Bodenkontakt verliert. Bis heute benutzen wir das Wettervokabular für gewisse Verhaltensweisen: Wir können aufbrausen, toben, stürmisch oder ein Wirbelwind sein. Unsere seelischen Stürme können mit ihren gewaltigen elementaren Kräften wie Wut, Zorn oder Panik einiges zermalmen. Manche spüren, wie solche Affekte aus der Tiefe des Bauchraums hochsteigen und sich anschließend entladen. Das kann man mit einem ausbrechenden Vulkan vergleichen, der seine heiße Lava aus dem Erdinneren auswirft. Auch alte Mythen kennen den Zusammenhang zwischen einem Vulkanausbruch und einer Zornentladung. Sie erzählen, dass in Vulkanen Drachen leben. Erst wenn sie zornig werden und streiten, speit der Vulkan sein Feuer, aber sobald sich die Drachen wieder vertragen, erlischt der Vulkan. Was in der Erdtiefe geschieht, wäre eine Metapher für Vorgänge in unserem Körperinneren und der Seele.

Träume von Vulkanen oder Vulkanausbrüchen können also auf eine mögliche Eruption unserer Affekte hinweisen. In welchem Kontext sind Affekte problematisch und wann hilfreich oder vielleicht sogar notwendig? Das wäre die nächste Frage. Manche Menschen neigen dazu, ihre Wut oder ihren Zorn zu sammeln, sie unterdrücken also über lange Zeit ihren Ärger oder Groll und wirken äußerlich friedlich. Wenn dann innerlich kein Raum mehr ist für eine neu aufkommende Wut, explodiert und entlädt sich alles Angestaute mit einem einzigen gewaltigen Schlag. Das kann bestenfalls als sehr heftige Reaktion, aber auch als Amoklauf enden. Es lohnt sich also, einen Affekt nicht zu unterschätzen. Wer beispielsweise träumt, am Rand eines Vulkans ein fröhliches Picknick abzuhalten, und dabei den beginnenden Rauch- und Feuerausstoß belustigt zur Kenntnis nimmt, verkennt wahrscheinlich den Ernst der Lage und überschätzt sich.89 Nicht umsonst wird vorm Tanz auf dem Vulkan gewarnt.

Wenn ein Vulkanausbruch oder ein brachialer Sturm im Traum unsere Affekte symbolisiert, dann wird deutlich, dass wir selbst mit dem Affekt nicht identisch sind, sondern der Affekt eine naturgegebene innere Kraft ist, die uns ergreifen kann.90 Die Formulierung »Da hat ihn die Wut gepackt« erinnert daran, dass uns zunächst die Wut im Griff hat und nicht wir die Wut. Menschen, die sehr leicht, vielleicht zu leicht aufbrausen, könnten sich damit auseinandersetzen, ob es angemessen ist, ständig die Affekte auszuleben, oder ob sie es sogar heimlich genießen, ihre Umgebung einzuschüchtern. Vielleicht entfachen sie aber auch zu häufig »einen Sturm im Wasserglas«.

Doch manchmal brauchen wir die überbordende Energie einer solchen vulkanischen Wut, weil sie das leidenschaftliche Feuer und die übermenschliche Kraft liefert, mit der wir uns aus verkrusteten äußeren oder inneren Gefängnissen befreien können. Besonders wer sich gern im Griff hat, könnte durch einen Traum mit Vulkanen oder Gewittern darauf stoßen, dass ihm genau dieser Sturm und Drang jetzt zur Verfügung steht und gebraucht wird. Dabei könnte die glühende Lava auch eine wilde, archaische Sexualität mit exzessiven sinnlichen Erlebnissen symbolisieren, die hochkommt. Mit der Lava melden sich Urkräfte und Urinstinkte. Zorn, Leidenschaft oder Furcht sind hier nah beieinander, woran auch Erich Frieds Gedichtband Es ist was es ist. Liebesgedichte – Angstgedichte – Zorngedichte91 erinnert. 92

Das Tier in uns

Bei der Aussage »Da werd’ ich zum Tier« schwingt mit, dass Vernunft, Erziehung, Moral oder gesellschaftliche Konventionen abgestreift werden und der nackte animalische Instinkt die Oberhand gewinnt. Wenn Menschen träumen, dass sie ein Tier sind, können sie sich fragen, ob eine solche Enthemmung gemeint sein könnte. Alles, was wir unserem Kopf zuschreiben, könnte verloren gegangen sein. Der Träumer oder die Träumerin kann auch fragen, wie es sich überhaupt anfühlt, in dieses Tier verwandelt zu werden. Welche Vorstellungen löst es aus, sich zu bewegen und zu leben wie das Tier? Was ist die Eigenart des Traum-Tieres? Ist es ein Einzelgänger oder Herdentier? Fühle ich mich dem Tier irgendwie verwandt und nahe oder löst es Ekel aus?

Es macht einen großen Unterschied, ob man als Adler sehen und fliegen kann, als Löwe der König der Tiere ist oder ob man zum Schwein wird. Adler und Löwe sind erhabene, königliche Tiere, so dass es eher leichtfällt, sich mit ihnen zu identifizieren, wenn man nicht gerade Angst vor dem Fliegen hat oder nicht gerne im Mittelpunkt steht. Schwein, Kakerlake oder Ratte will kaum jemand sein. Das hat nicht allein mit der Natur des Tieres zu tun, sondern damit, dass Tiere etwas symbolisieren. Wir schreiben den Tieren etwas zu. So sprechen wir von der List der Schlange, dem schlauen Fuchs oder dem König der Lüfte. In Sprichwörtern, Mythen oder Liedern erfahren wir etwas vom symbolischen Wesen der Tiere. Und diese tierische Symbolik schreiben wir wiederum einzelnen Menschen zu. Wenn es in einem Lied aus den Neunzigerjahren heißt: »Du musst ein Schwein sein in dieser Welt«, wissen wir, was sinnbildlich gemeint ist, und wer sich davon ansprechen lässt, sucht gewissermaßen, ob er ein solches inneres Schwein hat.

Auch die Chinesen glauben, dass wir seelisch mit einigen Tieren verwandt sind. Alle zwölf Jahre wird ihrer Ansicht nach ein ähnlicher Menschentyp geboren, der jeweils mit einem von zwölf Tiersymbolen beschrieben werden kann. Das jeweilige Tier im Horoskop symbolisiert Charakterzüge, die dem Menschen immanent und mitgegeben sind. Doch was in einem Kulturkreis plausibel ist, kann in einem anderen auf Verwunderung oder Ablehnung stoßen. Da beispielsweise Kühe bei uns als dumm gelten, in Indien aber heilig sind, macht es somit einen Unterschied, ob ein Europäer oder ein Inder träumt, eine Kuh zu sein.

Sobald ein Tier im Zentrum des Albtraumerlebnisses steht, ist es lohnenswert, sich seine Natur und kulturelle Symbolik zu vergegenwärtigen. Wer versteht, was ein Tier zur Bedrohung werden lässt oder warum es in einer Kultur verachtet wird, kann überlegen, ob gerade dieser Aspekt für die eigene Lebenssituation aktuell relevant ist. Wer damit nicht weiterkommt, kann positive Aspekte des Tiersymbols suchen. Ein Symbol hat nämlich immer helle und dunkle Eigenschaften, doch wir neigen häufig dazu, zunächst einmal einseitig zu schauen. Wenn jemand wie ein Löwe kämpft, kann das positiv kraftvoll, aber auch brutal und somit negativ sein. Und neben vielen negativen Aspekten wird der Schlange auch eine wertvolle Regenerationskraft zugeschrieben, unter anderem, weil sie sich häuten kann. Auch das natürliche Wesen eines Tieres, vor dem wir uns fürchten, ist nicht ausschließlich negativ. Vielleicht ist es unter schwierigen Bedingungen ein Lebenskünstler oder hat erstaunliche Fähigkeiten, die als Ressource in uns schlummern und für das eigene Leben hilfreich sein könnten.

Insgesamt ist es eher selten, dass man träumt, selbst ein Tier zu sein, weit häufiger kommt es vor, dass man im Traum Tieren begegnet, wie etwa bei der 50-jährigen Iris:

Im großen Becken eines Hallenbades schwimmen mehrere Haifische. Es stehen viele Leute drum herum, überwiegend aus meinem Kollegium. Ich habe große Fleischstücke, die ich verfüttern will. Zwei Kolleginnen wollen mir das Fleisch entreißen, um es selbst ins Wasser zu werfen. Doch ich lasse nicht locker, dabei fällt das Fleisch ins Wasser, und wenn wir nicht aufpassen, stürzen wir gleich hinterher.

Was löst das Bild eines Hais aus? Kommt Ihnen zunächst die Bedrohlichkeit für Menschen in den Sinn? Oder lockt Sie die Faszination im Umgang mit der Lebensgefahr? Ein Perlentaucher, ein Meeresbiologe oder ein Tourist werden wahrscheinlich unterschiedliche Empfindungen gegenüber Haien haben. Haie verängstigen viele Menschen, werden aber auch gelegentlich zum Lebensinhalt und Beruf. Es gibt wohl keine Tierart, für die sich nicht irgendwelche Menschen begeistern können. Manche erforschen ihr Leben, andere kämpfen für die Erhaltung ihrer Art, wiederum andere interessieren sich für ihren medizinischen und pharmazeutischen Nutzen. Je nachdem, wie viel wir mit einem Tier zu tun haben und wie nahe es uns steht, wird der Traum zu verschiedenen Deutungen führen.

Haie machen Iris Angst, denn sie können Menschen töten. In der Realität würde sie sich niemals freiwillig an ein offenes Becken mit Haien wagen, geschweige denn diese Tiere füttern. Es erschreckt sie, wie leichtsinnig sie im Traum agiert, das passt so gar nicht zu ihr. Lediglich das Gezerre mit ihren beiden Lehrerkolleginnen kommt ihr ziemlich vertraut vor. Iris fühlt sich in letzter Zeit von den vielen Konflikten im Kollegium zunehmend zermürbt. Ständig wird debattiert, wer anstehende Projekte übernehmen soll und wie die Aufgaben verteilt werden. Sie fühlt sich häufig übergangen und hat den Eindruck, dass ihre Meinung zu wenig zählt. Es fehlt ihr die Fähigkeit, sich durchzusetzen.

Falls der Traum konkrete Beziehungserfahrungen im Kollegium widerspiegelt, dann wäre Iris jedoch gar nicht so ausgeliefert, wie sie sich real fühlt. Im Traum ist sie nicht Opfer der Situation, sondern am Disput aktiv beteiligt. Hat sie vielleicht nicht wahrhaben wollen, wie tatkräftig sie in der Realität im Streit mitmischt? Der Konflikt hat im Traum zwei Bildebenen: die menschliche und die animalische. Oben befinden sich die Kolleginnen und unten im Wasser warten die Haie auf ihr Futter. Die Beteiligten scheinen alle daran interessiert, die Fleischfresser mit Nahrung zu versorgen. Es wird sogar darum konkurriert, wer die gefährlichen Tiere zuerst füttern darf. Könnte die unterschwellige Atmosphäre im Kollegium derzeit einem rivalisierenden Haifischbecken ähneln? Füttern einige Kollegen eine kaltblütige Raubfischseite, die in jedem Menschen schlummert, und zerstören dadurch ein gutes Arbeitsklima? Falls dieses gefährliche Spiel weitergeht – so der Traum –, könnten die Betroffenen im Haifischbecken landen und schwer verletzt werden. Doch der Traum zeigt auch, dass weder Iris noch ihre Kolleginnen zum Hai geworden sind. Der Killer- oder Raubtierinstinkt hat sie noch nicht ganz geschluckt. Sie haben die Freiheit, die Haie zu füttern oder nicht. Noch scheint eine Deeskalation des Konflikts möglich.

In menschlichen Konflikten kann also eine unbewusste tierische Seite beteiligt sein. Je nachdem, welche Tierart im Traum den Konflikt am Leben hält, wirkt unbewusst eine unterschiedliche Qualität in uns. So sprechen wir etwa von Streithähnen, die aufeinander losgehen, oder vom Raubtierkapitalismus, in dem Menschen wie Tiere um ihre Vorherrschaft und Macht kämpfen.

Die Schlange

Haie sind wilde Tiere, die wir nicht zähmen können. Ein Hai im Traum ist die Konfrontation mit einer unkontrollierbaren seelischen Kraft. Solchen autonomen Instinktkräften begegnen wir auch in Schlangenträumen. Sie können uns verängstigen, wie der folgende Traum von Brigitte, den sie in der Nacht nach der ersten Begegnung mit einem Mann träumt, den sie neu kennengelernt hat:

Ich bin in meiner Wohnung. Die Tür zur Terrasse ist offen. Im Garten ringelt sich eine fette Schlange. Ich schreie und verschließe mit zitternden Händen sofort die Tür. Die Schlange kriecht heran, bäumt sich auf und schaut mich wütend durch die Scheibe an. Sie züngelt und will herein.

Welche Vorstellung löst das Bild einer Schlange aus? Wie wäre es, eine Schlange zu berühren oder sie im Haus zu haben?

Die Schlange ist in nahezu allen Kulturen ein bedeutendes Symbol. In der christlichen Kultur gilt sie als die große Verführerin: Sie stiftet Eva dazu an, von den verbotenen Früchten zu essen und Gottes Tabu zu missachten. Die enge Beziehung zwischen Schlange und Frau zeigt sich bis heute unter anderem daran, dass Handtaschen und Damenschuhe aus Schlangenleder gefertigt werden, wir aber auch Frauen gelegentlich als falsche Schlange bezeichnen. Für Männer verwenden wir diese Metapher nicht.93 Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Adam sich nicht direkt, sondern erst durch Eva verführen ließ, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Die Folgen der Tat sind bekannt; die beiden wurden aus dem Paradies vertrieben. 94

Die biblische Schlange steht für die Lust des Menschen auf die Erkenntnis von Gut und Böse, was einen gravierenden Ortswechsel zur Folge hat: Sie mussten den Garten Eden verlassen. Auch in Indonesien gilt in manchen Gegenden, dass eine Schlange im Haus einen baldigen Umzug ankündigt. Ähnlich kann eine Schlange im Traum auf eine einschneidende Veränderung hinweisen. Dabei geht es häufig um einen Bruch oder eine erschütternde Erfahrung, die das Leben in Bewegung bringen könnte – analog der Vertreibung aus dem Paradies. Die Schlange will zu Bewusstsein, aber auch zu Lust und Sexualität verführen.

Brigitte träumt den Schlangentraum nach dem ersten Treffen mit einem Mann, den sie via Internet kennengelernt hat. Bereits beim ersten Blick ist ein Funke übergesprungen, und nach einer Stunde im Café hat sie das Gefühl, als ob sie diesen Mann bereits lange kennen würde. Sie vereinbaren, sich am nächsten Wochenende wiederzusehen. Auf dem Nachhauseweg beginnt sie jedoch zu zweifeln: Ist er überhaupt ernsthaft interessiert an ihr, zumal er weit weg wohnt? Wird auch er sie enttäuschen? Im Traum begegnet sie nicht dem potentiellen Partner, sondern einer Schlange. Die Schlange will rein zu ihr, aber sie weist sie ab. Ist es die Sexualität, vor der Brigitte sich fürchtet? Oder die Veränderungen, die eine Beziehung mit sich bringen könnte? Hat sie eine Tendenz, lieber alleine zu bleiben, um sich zu schützen? Das Beziehungsproblem liegt gemäß Traum zunächst einmal bei ihr. Diese Idee verwundert sie, denn sie sehnt sich nach einer Beziehung und möchte in einer Partnerschaft leben. Aber was wir uns wünschen, können wir unbewusst auch fürchten. In einer intimen Beziehung sind wir verletzlich und, sobald wir uns einlassen, auch abhängig. Damit meine ich, dass wir uns etwas bedeuten, dass wir »aneinander hängen« und uns der andere nicht gleichgültig ist. Das ist ganz natürlich, aber heute ist uns gleichzeitig unsere Unabhängigkeit sehr wichtig. Wir wollen auch frei sein, und so tarieren wir diese beiden gegensätzlichen Bedürfnisse immer wieder neu aus. Eine große unbewusste Angst vor intimer Nähe kann dazu führen, dass wir uns wie Brigitte verschließen, die Tür also zumachen und niemanden an uns heranlassen. Dadurch entgehen uns Erlebnisse, gleichzeitig ersparen wir uns eine mögliche Enttäuschung.

Im Traum will die Schlange – und somit alles, was sie symbolisiert – etwas anderes als die Träumerin. Instinkt und Träumerin sind uneins, denn während das Tier die Nähe sucht, will die Träumerin Distanz. Doch nicht immer gelingt es dem Träumer oder der Träumerin, ein Tier, das im Traum den Kontakt sucht, von sich fernzuhalten. Manchmal gelingt es einem Tier, uns sanft zu berühren, nicht mehr loszulassen, zu beißen oder zu töten. Dabei können sich die Tiere auf scheue, stürmische oder aggressive Weise nähern.

Im folgenden Traum kann Maria nicht verhindern, dass ihr eine Schlange viel zu nah kommt:

In einem Schwimmbecken vor mir springen Schlangen auf der Wasseroberfläche wild hin und her. Plötzlich springt mich eine Schlange an und saugt sich auf meinem Kopf fest. Ich spüre die Schlange ganz körperlich im Traum und will sie abschütteln, und zwar nach hinten, aber ich kriege sie nicht los. Eine Stimme sagt: »Du musst sie nach vorne abschütteln!«

Die Schlange am Kopf ist für Maria ein grauenhaftes Erlebnis. Was auch immer diese Schlange beabsichtigt und bedeuten mag, Maria will sie unbedingt loswerden. Falls es ihr gelingen würde, die Schlange hinter ihren Rücken abzuschütteln, wäre sie nicht mehr sichtbar. Und sobald wir etwas nicht mehr sehen oder anschauen müssen, haben wir manchmal die Illusion, dass es gar nicht mehr existiert. Wenn etwas im eigenen Rücken sein soll, kann das eine Metapher für einen seelischen Verdrängungswunsch sein. Alle Menschen verdrängen lebenslang, das ist ein natürlicher und häufig auch gesunder seelischer Mechanismus. Verdrängung ist grundsätzlich weder ungewöhnlich noch schädlich. Doch Verdrängung wird destruktiv, wenn seelische oder körperliche Symptome die Folge sind.

Im Traum scheint Maria etwas verdrängen zu wollen. In der Realität hat Maria den Eindruck, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Seit einigen Monaten denkt und grübelt sie zu viel nach. Die immer gleichen Gedanken quälen und verfolgen sie. Sie kleben quasi in ihrem Kopf – ähnlich der Schlange. Nun möchte sie das Gedankenkreisen mit Psychopharmaka loswerden. In der Nacht vor dem Arztbesuch kam der Traum. Nimmt er etwa Stellung zu ihrem Wunsch nach einem Medikament? Im Traum rät eine Stimme zu einem Strategiewechsel: Die Schlange soll nicht wie von Maria beabsichtigt nach hinten, sondern nach vorne geworfen werden. Dadurch würde die Schlange ins Blickfeld kommen und könnte nicht weiter hinterrücks im Verborgenen wirken.

Anschauen bedeutet aber das Gegenteil von Verdrängung, nämlich Konfrontation und Bewusstwerden, und das können Medikamente nicht leisten. Es geht um einen seelisch-geistigen Prozess des Menschen. Doch auch wenn der Traum diesen seelisch-geistigen Prozess der bewussten Auseinandersetzung favorisiert, heißt das nicht, dass er Maria die Einnahme von Psychopharmaka verbietet. Es liegt an ihr zu entscheiden, ob sie die Medikamente zur Erleichterung braucht. Vielleicht geben ihr erst die Medikamente den inneren Boden, sich bewusst mit den Grübeleien zu beschäftigen. Vielleicht kann sie durch den Traum aber auch spüren, dass sie sich auf ihre Fähigkeit zur bewussten Auseinandersetzung verlassen kann. Mit dieser Ressource könnte sie auf Medikamente verzichten.

Pferd und Esel

Eine Berührung durch ein Tier hat natürlich eine ganz andere Qualität als ein Biss, der schmerzhaft ist und meistens bedrohlich erlebt wird:

Ich gehe spazieren. Auch andere Leute sind unterwegs. Plötzlich kommt ein temperamentvoller Hengst angerannt. Er rennt geradewegs auf mich zu und beißt sich in meiner Hand fest. Ich schreie vor Schmerz. Einige Leute schreien und rennen in Panik weg. Der Hengst lässt meine Hand nicht los, egal wie fest ich schüttle.

Ute beschreibt, wie wunderschön und wild ihr Traum-Hengst gewesen ist. Wieso hat ihr das rassige Tier solche Schmerzen zugefügt?

Im Gegensatz zu Schlange oder Hai ist das Pferd ein Säugetier und steht dem Menschen viel näher als ein Reptil oder Fisch, die nicht gezähmt werden können. Das Pferd kann wie auch Katze oder Hund eine emotionale Bindung mit dem Menschen eingehen und ihm zum Gefährten werden. Heute wollen viele Mädchen zu Beginn ihrer Pubertät Reiten lernen. Sobald allerdings Jungs und Sexualität interessant werden, sind die Pferde häufig nicht mehr wichtig. Da könnte ein wesentlicher Aspekt der uralten symbolischen Bedeutung des Pferdes durchschimmern, denn es versinnbildlicht den körperlichen Trieb, Sexualität und Zeugungskraft. Sobald ein junges Mädchen reiten lernt, kommt es in körperlichen Kontakt mit diesem Animalischen und erlebt, wie es ist, wenn zwei Körper eine gemeinsame harmonische Bewegung finden. Dadurch kann sich unbewusst auch die Angst vor der Sexualität verändern.

Während Pferde wie alle Tiere einen natürlichen sexuellen Instinkt haben, ist das beim Menschen nicht so. Mit anderen Worten: Frei lebende Tiere sind nicht unnatürlich. Dies kann nur der Mensch sein, weil er sich gegen seine natürlichen körperlichen Bedürfnisse wie Hunger, Sexualität oder Schlaf auflehnen und sie abnorm steuern kann. Das heißt zunächst, dass die natürlichen Bedürfnisse und insbesondere die Sexualität für den Menschen nicht so einfach gelebt werden können, sondern viel komplizierter und leichter zu irritieren sind als beim Tier.95 Und deshalb kann die Begegnung mit einem Pferd zur Brücke hin zur eigenen Sexualität und natürlichen Triebhaftigkeit werden.

Auch Ute ist als Jugendliche gerne geritten, hat aber seit vielen Jahren keine Gelegenheit mehr dazu. Ihre Arbeit als Sachbearbeiterin macht ihr wenig Freude, und der Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen ist ziemlich oberflächlich. Privat lebt sie sehr zurückgezogen allein mit ihrer Katze und beschäftigt sich in ihrer Freizeit mit Philosophie und Religion. Die letzte Männerbeziehung ist einige Jahre her, und Sexualität interessiert sie nicht mehr. Doch im Traum beißt sie der vitale Hengst. Beißen muss nicht immer destruktiv, sondern kann auch erotisch sein. Und wenn der Biss des Pferdes wehtut, so kann das auch auf die Verknüpfung von Lust und Schmerz hinweisen. Der schmerzhafte Pferdebiss könnte das Mittel sein, zu dem der Traumregisseur greift, damit die Träumerin endlich spürt, was in ihr Leben drängt: Körperlichkeit und Sexualität. Falls uns nämlich im Traum etwas verfolgt oder angreift, will es manchmal einfach nur mit uns leben und nicht länger ausgeschlossen bleiben.

Das hat auch eine junge Musikerin auf einer Gastspielreise erlebt. Zwischen den Proben ist sie häufig mit einem sehr attraktiven Kollegen ausgeritten. Da sie ihrem Ehemann aus Prinzip treu ist, hatten sie anderslautende Gerüchte sehr empört. Eine Affäre kommt für sie nicht in Frage. Da träumt sie:

Eine Stimme sagt zu mir: »Du hast enorm viel Kraft.« Ich frage erstaunt: »Was ist das für eine Kraft?« Da antwortet die Stimme: »Die Kraft mit Pferdefuß.«

Die Träumerin weiß beim Aufwachen sofort, dass der Pferdefuß zum Teufel gehört. Was sie verteufelt, nämlich Erotik und Sexualität außerhalb des Erlaubten, regt sich auch in ihr. Dieser christliche Teufel ist der Nachfahre des antiken Gottes Pan, dem die moralischen Gebote nichts bedeuteten, sondern nur die spontane Lust.

Spontane natürliche Bedürfnisse können wir in der Regel nicht ständig unterdrücken oder vernachlässigen, wenn wir körperlich und seelisch gesund bleiben wollen, und es ist erstaunlich, wie häufig Träume auf diese Tatsache hinweisen. Sie warnen uns, die Natur nicht zu vergessen. Das kann wie erwähnt durch eine Verfolgungsszene geschehen, aber auch ganz direkt, wie bei Elke: Die selbstständige Architektin, Ende vierzig, kann sich sehr selten an Träume, geschweige denn an Albträume erinnern, bis sie eines Nachts schweißgebadet und zitternd aufwacht:

Ich bin in einer Wohnung, es ist mein Zuhause. Ein Freund sagt: »Was machst du mit dem Esel? Der verhungert! Hast du den vergessen?« Ich sage: »Um Gottes Willen, den habe ich tatsächlich vergessen. Er hat seit einem Monat nichts mehr zu essen bekommen und ist fast verhungert!« Der Esel kann kaum laufen, er schaut mich vorwurfsvoll an, leidet stumm.

Elke bemerkt, dass die Traumwohnung, anders als ihre reale Wohnung, weder gemütlich noch aufgeräumt ist. Der freundlich nachfragende Freund ist ihr fremd, und in einer Ecke kauert der zottelige, abgemagerte und ungepflegte Esel. Elke weiß im Traum, dass der stumm vor sich hinleidende Esel ganz knapp mit dem Leben davonkommen wird, ist aber entsetzt und irritiert über ihr eigenes Verhalten. In der Realität würde sie nie ein Tier verhungern lassen. Instinktiv fragt sie sich, ob sie unbewusst in den letzten Wochen etwas Wesentliches vernachlässigt haben könnte. Die Arbeit sicherlich nicht, denn seit Monaten ist sie mit Aufträgen mehr als eingedeckt und sitzt am Wochenende oft im Büro. Aufgrund der beruflichen Belastung nimmt sie allerdings kaum Rücksicht auf ihre körperlichen Bedürfnisse. Sie schläft zu wenig, isst unregelmäßig und hat keine Zeit mehr, Sport zu treiben. Seit einigen Wochen spürt sie einen bohrenden Dauerschmerz im Magen. Die Beschwerden sind ihr lästig, ja manchmal ärgert sie sich sogar darüber.

Pferd und Esel tragen als Lasttiere auch den Menschen. Das Traumbild eines Pferdes oder Esels kann daran erinnern, dass der Körper unser Ich, unsere Seele und unseren Geist trägt: ähnlich einem Esel, geduldig und meist stumm. In gesunden Tagen wirkt unser Körper nahezu diskret im Hintergrund und wir können ihn fast vergessen oder wenig beachten. Unsere üblichen Verpflichtungen, Freuden und Anstrengungen stört er nicht. Wenn wir ihm manchmal viel und gelegentlich zu viel zumuten, gehen wir davon aus, dass er das nicht bemerkt, toleriert oder schnell wieder vergisst. Doch wir sind in einem wissenden Körper geborgen, woran uns ein Gedicht von Robert Gernhardt96 erinnert:

Noch einmal: Mein Körper

Mein Körper rät mir:

Ruh dich aus!

Ich sage: Mach’ ich,

altes Haus!

Denk’ aber: Ach der

sieht’s ja nicht!

Und schreibe heimlich

dies Gedicht.

Da sagt mein Körper:

Na, na, na!

Mein guter Freund,

was tun wir da?

Ach gar nichts! sag’ ich

aufgeschreckt,

und denk’: Wie hat er

das entdeckt?

Die Frage scheint recht

schlicht zu sein,

doch ihre Schlichtheit

ist nur Schein.

Sie läßt mir seither

keine Ruh:

Wie weiß mein Körper

was ich tu?


Der Körper weiß nicht nur, was mit uns los ist, sondern er spricht auch zu uns, sei es durch Symptome oder im Albtraumerlebnis. Das sind seine Möglichkeiten, unsere Aufmerksamkeit zu bekommen. Und ähnlich einem Esel kann unser Körper ziemlich stur sein und uns in seiner Sprache immer wieder daran erinnern, dass er autonom und zuverlässig arbeitet, aber auch unsere Fürsorge braucht. Eigentlich haben wir heute aber kaum noch Zeit für die Bedürfnisse des Körpers, wenn wir unsere Leistungsfähigkeit und Effizienz weiter steigern möchten. Einige wären deshalb froh, wenn das Körperliche noch besser beherrschbar oder sogar überwindbar wäre. Aber ohne das Fundament unseres Körpers stirbt auch unser geistiges und seelisches Leben, wie wir es kennen.

Das Pferd im Traum als Symbol für den Körper und die animalische Instinktwelt hat vor etwa 100 Jahren eine Diagnose erhärtet, als die heutigen neurologischen Untersuchungsmethoden noch nicht zur Verfügung standen. Ärzte waren sich nämlich uneins gewesen, ob eine junge Frau an einer beginnenden tödlichen Muskelatrophie oder einer psychischen Störung litt. Als C. G. Jung97 die Frau untersuchte, erzählte sie ihm einen Traum, in dem ein Pferd in der häuslichen Wohnung umherraste, anschließend durch ein Fenster auf die Straße sprang und dort zerschmettert liegen blieb. Die Traumbilder gaben Jung die Gewissheit, dass es sich um eine schwere organische Erkrankung handelte, bei dem der Körper sich selbst zerstören würde.

Der Mensch als Feind des Natürlichen

Ein Albtraum ist nicht nur, wenn der Mensch von den Kräften der Natur bedroht wird, sondern auch umgekehrt, wenn der Mensch die Natur zerstört. Das gilt für die Realität und den Traum. So wie uns Tiere angreifen können, ist auch der Mensch zur Brutalität gegenüber Tieren fähig, wie etwa Richard, der mit Herzrasen aus folgendem Traum aufwacht:

Auf meiner Terrasse sitzt eine Ratte. Zuerst will ich sie wegscheuchen, doch dann gebe ich ihr mit einer Metallschaufel eins über den Schädel. Ich befürchte, dass sie nur betäubt ist, deshalb setze ich die Schaufel im Nacken an, um sie zu köpfen. Sie ist sehr schwer verletzt, der Kopf hängt weg, aber sie rennt weg und das Blut spritzt.

Richard leidet an Minderwertigkeitsgefühlen. Als klein gewachsener Mann, »kleiner« Angestellter und mit seiner schüchternen Art fühlt er sich unattraktiv für Frauen. Nach dem Traum liegt er lange wach und grübelt über seine kaltblütige Brutalität nach, bis er plötzlich spürt, dass die Ratte ein Teil von ihm ist, den er vernichten möchte. Zwar mag er Ratten nicht, aber er ist sich unsicher, ob es richtig war, die Ratte zu erschlagen.

Als Plünderer der Nahrungsvorräte und Überträger von Seuchen sind Ratten bei vielen Menschen unbeliebt. »Du Ratte!« wird dementsprechend in unseren Breitengraden gelegentlich als Schimpfwort benutzt für einen hinterhältigen, verschlagenen Menschen. Und wenn »die Ratten das sinkende Schiff verlassen«, wissen wir, dass entweder die Verursacher eines Debakels sich vor der Verantwortung drücken wollen oder sich Schmeichler und Profiteure abwenden, um nicht mit in den Untergang zu geraten. Doch die Nager sind als Allesfresser auch enorm anpassungs- und widerstandsfähig. Diese Zähigkeit könnte in den Begriffen »Leseratte« oder »Wasserratte« enthalten sein. Der Eifer und die Intensität, mit der sich Menschen dem Lesen oder dem Element Wasser verschreiben, ist häufig ein positiver Charakterzug. Und derart positive Konnotationen überwiegen in der symbolischen Bedeutung der Ratte in Asien. Dort gilt sie als Glück bringendes und Reichtum schenkendes Tier.

Was bedeutet das nun für Richard? Richard mag sich selbst nicht besonders und wäre gerne ein ganz anderer Mann. Was er an sich ablehnt, könnte diese Ratte versinnbildlichen, die er umbringen will. Falls er sie vernichtet, tötet er allerdings auch etwas von seiner Vitalität, und das ist problematisch.

Die Tötung eines Tieres im Traum ist häufig eine destruktive, aber unter Umständen eine notwendige Handlung. Wer im Traum ein Tier tötet, sollte sich vergegenwärtigen, welche Beziehung er zu seiner Triebhaftigkeit hat und wie er mit seinem Körper umgeht. Vereinfacht formuliert gibt es auf der einen Seite das Extrem eines zu vergeistigten Lebens, in dem der Körper als lästiges Übel wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die unreflektiert und unbewusst nur ihren körperlichen Trieben nachgeben und ihre geistig-seelische Entwicklung schwer vernachlässigen. Ausgehend von diesen beiden Extremen muss mythologisch gesprochen der zu vergeistigte Mensch das Tierische in sich besser schützen und nähren, während im anderen Fall das Tier überwunden und geopfert werden muss. Letzteres wird in der mythischen Traum- und Märchensprache gelegentlich als Tötung dargestellt. Menschen, die sich wieder mit ihren Instinkten und der eigenen Natur verbinden müssen, um gesund zu bleiben, dürfen also das Tier auf keinen Fall töten. Das wäre lebensfeindlich. Andere, die dem Tier in sich zu viel Platz einräumen, müssen es töten, um mehr Mensch zu werden. Die beiden Positionen veranschaulichen, dass wir das Instinkthafte in uns sowohl unter- als auch übertreiben können und darauf angewiesen sind, eine gute Balance zu finden.

Hund und Katze

Hund und Katze sind beliebte Haustiere. Gegenseitig mögen sie sich allerdings nicht besonders, weshalb wir zwei Menschen, die sich nicht gut vertragen, gelegentlich bescheinigen, sich »wie Hund und Katz’« zu benehmen. Das Sprichwort vermutet also, dass wir etwas von einem Hund oder etwas Katzenhaftes in uns haben können. Als Martin von einem Hund träumt, bezieht er das allerdings nicht auf seinen Charakter, sondern auf eine Entscheidungssituation:

Ich gehe mit meiner Frau und Freunden spazieren, an einem Zaun entlang. Wir sind guter Dinge. Auf den Wiesen blühen viele Blumen, es ist Frühsommer und angenehm warm. Ganz plötzlich gehe ich allein weiter und wenig später hört der Zaun einfach auf. Dort wartet ein großer Hund. Er steht vor mir und fletscht die Zähne. Ich habe fürchterliche Angst.

Das Traumende zeigt eine Konfrontation zwischen Martin und einem fremden Hund. Ohne trennenden Zaun stehen sich die beiden gegenüber. Was könnte diese Begegnung bedeuten?

Der Hund ist ein gefühlvoller und sehr treuer Freund des Menschen. Wer ihn trainiert, wird erleben, wie zuverlässig und gehorsam ein Hund Regeln befolgt. Ein Hund kann lernen, ein Haus zu beschützen, mit seinem guten Geruchssinn gezielt Drogen oder andere Stoffe aufzuspüren sowie blinde Menschen sicher zu führen. Andererseits erlebt jeder Hundebesitzer, wie sehr er gebraucht wird, denn der Hund muss gefüttert und regelmäßig spazieren geführt werden. Loyalität, Verbindlichkeit und gegenseitiges Führen sind somit Kernthemen zwischen Mensch und Hund, die auch für die Traumdeutung relevant sein können.

In Martins Traum scheint ein weiteres Motiv wichtig zu sein. Der Hund taucht an einer Grenze auf, nämlich genau in dem Moment, als der Zaun endet und Martin ganz alleine ohne Frau und Freunde dasteht. Das erinnert daran, dass der Hund in der griechischen Mythologie zum Heilgott Asklepios und dem Übergangsbereich zwischen Leben und Tod gehört. In diesem Kontext symbolisiert der Hund den Ort, an dem zwei gegensätzliche Richtungen eingeschlagen werden können: Auf der einen Seite gibt es den Weg zur Gesundheit und zurück ins Leben. Auf der anderen Seite wartet das Totenreich, dessen Wächter der Hund ist.

An diesem Scheideweg befindet sich Martin tatsächlich, denn mit Anfang dreißig leidet er an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung, und die Ärzte sind unsicher, ob er noch lange leben wird. Interessanterweise ist der Traum sehr präzise, wenn er vom Frühsommer spricht, denn diese Jahreszeit »passt« gut zum jugendlichen Alter des Träumers, denn die Zeit nach dem Renteneintritt bezeichnen wir gelegentlich als Lebensherbst. Martin kommt so gesehen vorzeitig mit der Grenze des Todes in Berührung. Der Traum greift diese bedrohliche Schwellensituation auf, ohne eine Prognose anzudeuten. Er lässt offen, welche Richtung der weitere Lebensweg nehmen wird.

Katzen können andere Themen ins Bewusstsein holen, was an Lenas Traum deutlich wird:

In einem großen, hellen, leeren Raum mit Holzdielen sitzt ein Mann und füttert eine gelb getigerte Katze. Ich kenne den Mann – er ist ein langjähriger guter Freund. Er füttert die Katze langsam aus der Hand. Dann höre ich leise, sanfte Knackgeräusche. Ich sehe, dass mein Freund beide Hände am Maul der Katze hat und ihr die Kieferknochen bricht. Langsam bricht er der Katze alle Knochen im Leib. Die Katze ist ruhig, sie schreit nicht und wehrt sich nicht.

Eine Katze kann im Gegensatz zum Hund nicht erzogen werden. Als freiheitsliebendes Wesen ist sie nur bedingt bereit, sich dem Menschen anzupassen oder unterzuordnen. Sie hat also längst keine derart abhängige Beziehung zum Menschen wie ein Hund. Ihr Bindungsverhalten hat eine andere Qualität: Erst wenn sie ein Bedürfnis hat, kehrt sie von den Streifzügen in ihrem Revier zum Menschen zurück. Sie ist also zuallererst sich selbst verpflichtet und sich selbst treu. Und sobald sie Hunger hat oder gestreichelt werden will, versucht sie, auf sich aufmerksam zu machen, um ihre Wünsche durchzusetzen. Dabei ist sie eine wählerische Genießerin und signalisiert ihr Wohlbefinden durch Schnurren. Dieser Hang zur Lust und ihr Anspruch auf ein selbstbestimmtes Dasein mögen mit dazu beigetragen haben, dass sie ab dem Mittelalter verteufelt und als Begleiterin von Hexen verunglimpft worden ist. Als Hexen wurden damals vor allem jene Frauen denunziert, die sich ähnlich einer Katze ein Stück Eigensinn, Eigenständigkeit und Lebenslust zu bewahren suchten, anstatt sich patriarchalen Strukturen zu fügen.

In Lenas Traum tötet ein Freund auf barbarische Art eine Katze. Wäre es möglich, dass die Katze ein gefährdetes Seelentier von Lena oder von ihrem Freund symbolisiert? Wessen innerer Katze könnte also die Zerstörung drohen? Ihr Freund hatte viele tolle Pläne für seinen Ruhestand, aber die mit der Pensionierung gewonnene Freiheit kann er irgendwie nicht gut nutzen. Diese scheint ihn eher zu überfordern, und in den letzten Monaten verhält er sich zunehmend passiv und wirkt freudlos. Interessanterweise wird im Traum nicht er, sondern eine Katze zum Opfer. Sollte Lenas Traum eine Wahrnehmung der seelischen Realität ihres Freundes sein, dann wäre er ein Täter, der ein Stück seiner eigenen Seele tötet. Er zerstört eine instinktive Kraft, die weiß, wie man das Leben selbstbestimmt führen und genießen kann. Der Traum könnte den Freund auffordern, sich mit seiner Katzennatur zu verbinden, um sein Leben wieder aktiv und selbstbestimmt zu gestalten.98

Pflanzen in Albträumen

Bereits Sprüche wie »Das ist aber ein zartes Pflänzchen …« oder »Was für eine Mimose!« zeigen, dass wir symbolisch betrachtet auch mit Pflanzen wesensverwandt sein können. Auf der körperlichen Ebene entsprechen die Stoffwechselprozesse in unseren Zellen, die zelluläre Aufnahme und Verwertung von Sauerstoff sowie das vegetative Nervensystem den biologischen Lebensprozessen einer Pflanze. Analog dem Pflanzenwachstum aus der anorganischen Materie gibt es somatische chemische Reaktionen im menschlichen Körper. Diese physiologischen Vorgänge können wir nicht bewusst wahrnehmen, so wie es auch nicht möglich ist zu spüren, ob eine Pflanze überhaupt Freude oder Schmerz empfinden kann. Erst äußere Anzeichen wie vertrocknete Blätter oder Schädlingsbefall zeigen uns, dass es einer Pflanze nicht gut geht.

Auffallend gut gedeihen Pflanzen in der Umgebung von Menschen mit einem »grünen Daumen«, obwohl sie nicht unbedingt den Eindruck haben, besonders geschickt mit Pflanzen umgehen zu können. Ob ihr gutes Gedeihen durch die liebevolle Hand gefördert wird, wissen wir nicht, sondern können es nur vermuten. Die Pflanze kann uns dazu keine direkte Auskunft geben. Pflanzenbilder in Träumen können aber metaphorisch sprechen und auf seelische oder körperliche Zusammenhänge verweisen. Wer etwa von einem verdorrten Zweig träumt, kann sich fragen, ob in ihm etwas Lebendiges vertrocknen und absterben könnte. Und was löst die Vorstellung aus, dass Wasser fehlt, ohne das kein Leben sein kann? Wem Pflanzen nichts bedeuten oder wer sogar eine Abneigung gegen Pflanzen hat, wird ein solches Traumbild vielleicht gar nicht beachten, während Pflanzenliebhaber eher aufhorchen. Albträume hingegen lassen fast niemanden unberührt:

Ich bin in einer schönen Gegend. Plötzlich kommt ein starkes Gewitter. Ich sehe drei Birken; in eine von ihnen schlägt der Blitz ein.

Monika ist von der Wucht des Blitzschlages aufgewacht. Der mittlere der drei Bäume ist völlig zerbrochen und verkohlt. Das Feuer hat ihn zerstört. Er ist tot.

Redewendungen wie »Das ist ein Kerl wie ein Baum« oder »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm« sowie »Einen alten Baum verpflanzt man nicht« vergleichen das menschliche Leben mit einem Baum. Und der sogenannte Sympathiebaum, der bei der Geburt eines Kindes gepflanzt wird, galt in früheren Zeiten als Doppelgänger des Kindes und eng verbunden mit seinem Schicksal. Falls sich dieser Baum gut verwurzelt, schlägt auch der Mensch seelische und weltliche Wurzeln und kann stürmischen Zeiten standhalten. Menschen, die dagegen ihre äußere oder seelische Heimat verlieren, nennen wir entwurzelt. Und wie bei einem Baum sind auch die menschlichen Wurzeln nicht direkt sichtbar. Was uns letztlich trägt, wie es genau um unseren Urgrund bestellt ist, ist nicht ganz offensichtlich, sondern ein – vielleicht göttliches – Geheimnis.

Unversehrt bleibt das Wurzelgeflecht eines prächtigen Baums im Albtraum des biblischen Königs Nebukadnezar, als ein himmlischer Wächter herabsteigt, um den Baum zu fällen, der bis an den Himmel reicht.99 Gedeutet wird dem König, dass er selbst dieser Baum ist und ihm durch Gottes Beschluss die Herrschaft genommen werden soll. Allerdings garantiert der intakte Wurzelstock, dass Nebukadnezar seine Macht erhalten kann, falls er sich nicht weiterhin über Gott stellt. Als er zwölf Monate später erneut vergisst, dass selbst er ohne göttliche Unterstützung nichts zu erreichen vermag, wird er tatsächlich entmachtet und verliert vorübergehend seinen Verstand. Ihm wird gezeigt, dass menschliche Bäume tatsächlich »nicht in den Himmel wachsen«.

Das Höhenwachstum der Bäume kann also das menschliche Streben nach geistiger Reife, Höherem, aber auch einen Herrschaftsanspruch bis hin zur Rivalität mit Gott symbolisieren. Wer sich in seiner Potenz, Machtfülle und seinem Einfluss unangreifbar wähnt, wird manchmal durch das Traumbild eines gefällten Baumes an eine solche Selbstüberschätzung erinnert.

Die Zerstörung vegetativen Lebens im Traum kann laut der Jung’schen Analytikerin Marie-Louise von Franz aber auch auf den physischen Tod hinweisen. In zahlreichen Pflanzenträumen fand sie Hinweise auf das körperliche Lebensende. Drastische Bilder wie: der Lieblingsbaum im eigenen Garten wird gefällt, ein Weizenfeld wird von Wildschweinen zertrampelt oder ein Feuer legt einen Wald in Schutt und Asche, können den physischen Tod ankündigen.100

So ist auch die 60-jährige, an Krebs erkrankte Monika sicher, dass der vom Blitz zerstörte Baum auf ihren Tod anspielt. Der Traum sagt allerdings nichts über einen möglichen Todeszeitpunkt, sondern deutet an, dass er plötzlich »vom Himmel geschickt« eintreten kann. Der Tod wird als natürliches Geschehen vorgestellt, egal wie bitter er für uns Menschen sein mag.

Nicht nur Pflanzen, sondern auch Pflanzenschädlinge können im Zentrum eines Albtraums stehen:

Ich mache Großputz. Meine Schwester Amelie schläft in einem Bett. Ich will neben diesem Bett am Kopfende putzen, da bemerke ich an ihrem Hals einen Schwarm kleiner Tiere. Es sind lebende Schildläuse, die ein Nest bauen. Ich erschrecke zutiefst.

Eine Kolonie von Schildläusen tut das, was sie immer tut, nämlich ihren Wirt aussaugen. Das Opfer ist aber nicht wie üblich eine Pflanze, sondern die Schwester der Träumerin. Und da sie schläft, kann sie nicht bemerken, was mit ihr geschieht. Die Träumerin hat eine sehr gute Beziehung zu Amelie und erzählt ihr den Albtraum. Amelie fühlt sich zwar etwas müde, aber nicht ausgesaugt oder ausgelaugt. Sie kann sich nicht vorstellen, dass der Traum auf sie anspielen könnte, bis drei Monate später eine Krebsdiagnose gestellt wird.

Der Traum könnte tatsächlich eine Vorahnung der körperlichen Erkrankung von Amelie gewesen sein. Es dauert nämlich durchschnittlich drei bis sieben Jahre, bis ein bösartiger Tumor groß genug ist, um nachweisbar zu sein. Davor können wir die Krebszellen nicht wahrnehmen – bildlich gesprochen schlafen wir. Und in diesem Anfangsstadium haben wir häufig keinerlei Beschwerden, die uns stutzig machen. Das Traumbild der Schildläuse wäre ein Hinweis, dass Amelies Körperzellen geschwächt wurden – vergleichbar den Pflanzen, die einem Massenbefall dieser Insekten ausgesetzt sind. Metaphorisch wird die Krankheit Krebs manchmal mit kleinen Krabbeltieren verglichen, die unsere Organe befallen und zerfressen. Solche Vorstellungen sind nicht lediglich volkstümlich, gibt doch das Oxford English Dictionary als Definition von Krebs an: »Alles, was langsam und insgeheim nagt, aushöhlt, verdirbt oder auszehrt.«