Von Beginn an ist unser reales Leben auf vielfältige Art und Weise bedroht. Was uns jedoch mehr als alles andere zu traumatisieren scheint, ist das, was uns andere Menschen an Gewalt und Leid zufügen. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass Albträume, die von menschlicher Aggression oder Brutalität handeln, extreme Angst auslösen können, wie etwa der folgende Traum der 40-jährigen Petra:
Ich liege im Bett. Plötzlich beugt sich ein schwarz gekleideter fremder Mann über mich und will mich erwürgen. Er setzt bereits mit den Händen an, als ein zweiter Mann ihn unmittelbar angreift und brutal mit einem festen Schlag tötet.
Die Träumerin kommt in Todesgefahr. Doch ohne Zögern tötet ein unbekannter Helfer den Angreifer. Angriff, aber auch Rettung geschehen blitzschnell. Petra erwacht schweißnass und aufgewühlt. Gleichzeitig fühlt sie sich erleichtert, im Traum noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein. Doch sie ist auch verstört über die gezielte Tötung, der sie ihr Überleben verdankt. Wieso träumt sie von solchen brutalen Szenen?
Wenn man vom eigenen Tod oder einer Todesgefahr träumt, geht es selten um den physischen Tod, sondern meistens um einen Tod innerhalb des eigenen Lebens, um eine radikale Trennung. Wenn wir etwa sagen »Dieser Mensch ist für mich gestorben«, dann meinen wir, dass wir mit dieser Person zukünftig nichts mehr zu tun haben wollen und unsere Beziehung nun zu Ende ist. Auch ein radikaler Sinneswandel ist ein Tod, denn eine Einstellung oder Meinung ist in uns gestorben und hat einer anderen Sichtweise Platz gemacht. Tod im Traum kann insofern auch eine kreative Veränderung ankündigen, weil Platz für etwas Neues geschaffen wird. Auf unterschiedlichen Ebenen stirbt innerhalb unseres Lebens fast ständig etwas, denn immer wieder müssen wir hinnehmen, dass etwas aufhört zu existieren, oder wir bringen bewusst und gezielt etwas zu Ende. Metaphorisch gesprochen müssen wir in dem einem Fall einen Tod hinnehmen und im anderen führen wir ihn aktiv herbei.
Sowohl der physische Tod als auch ein symbolischer Tod treten auf vielfältige Art und Weise ins Leben. Ein Tod kann sanft, schleichend, schmerzlos, aber auch brutal daherkommen. In Petras Traum hören wir von Letzterem, es geht um Mord und Totschlag. Und wo getötet wird, gibt es Täter und Opfer.
Ein Traum mit Tätern und Opfern führt zu Fragen wie: Gibt es Situationen, in denen ich schon einmal Opfer gewesen bin, oder könnte ich zum Opfer werden? Mit welchen Mitteln setze ich mich üblicherweise zur Wehr, sobald ich bedroht werde? Unter welchen Umständen wäre ich fähig zu töten?
In der Realität haben wir in der Regel eine ungeheure Angst, Opfer zu werden. Paradoxerweise ist es für die meisten von uns jedoch leichter, sich als Opfer zu erleben anstatt als Täter. Sich als Opfer wahrzunehmen, scheint gesellschaftskonform, dagegen ist es meistens verpönt oder sogar beschämend, sich als Täter oder Täterin zu erleben. Wie kann das möglich sein?
Nun, Tätern und Opfern begegnen wir nicht nur in der konkreten Außenwelt, sondern auch als potentiellen Wirkkräften in uns selbst, da wir alle von Kindesbeinen an Erfahrung als »Opfer« und »Täter« sammeln. In der frühen Kindheit erfahren wir uns häufig als klein, hilflos oder ausgeliefert, etwa wenn eine stärkere Person – in der Regel ein Erwachsener – Gehorsam, Anpassung oder Bravsein fordert. Als schwaches Kind geraten wir immer mal wieder in eine Opferrolle, insbesondere wenn wir die mächtigeren Erwachsenen als Bremser, Unterdrücker oder Aggressoren – eben als Täter – erleben.
All diese Täter-Opfer-Erlebnisse werden vollständig von unserem Gedächtnis gespeichert und thematisch geordnet in den Komplexen abgelegt. Dabei ist in jedem Komplex sowohl die Handlung des Erwachsenen als auch die Erfahrung des Kindes gespeichert. Man kann von den zwei Polen eines Komplexes sprechen, dem Erwachsenenpol und dem Kindpol beziehungsweise dem Täterpol und dem Opferpol. Ein Komplex entspricht also unmittelbar einer Opfer-Täter-Konstellation.101 Es mag übertrieben oder brutal erscheinen, den Begriff des Täters für den Erwachsenenpol eines Komplexes zu benutzen. Doch im ursprünglichen Sinn des Wortes meint Aggression: sich an einen Ort begeben, an etwas herangehen, anfangen oder in Angriff nehmen. Aggression hat also zunächst mit Bewegung und Intention zu tun. Und ein solches Tun kann auf friedliche oder auch auf destruktive Weise geschehen. Auch die Erfahrung von Ohnmacht auf der Seite des Kind- und Opferpols variiert zwischen förderlicher Abhängigkeit und destruktiver Unterdrückung.
Da in unserem Unbewussten somit immer beide Pole des Komplexes, beide Seiten einer Täter-Opfer-Dynamik vorhanden sind, können wir alle grundsätzlich als Täter handeln oder zum Opfer werden, je nachdem, mit welchem Pol wir uns identifizieren.
Interessanterweise identifizieren sich in der Realität viele Menschen leichter mit dem Kindpol eines Komplexes, also mit der Opferseite, anstatt mit dem Erwachsenenpol, der Aggressor und Täter ist. Vielleicht ist uns dieser Opferpol, der in den ersten Lebensjahren unsere Erfahrung dominiert, einfach vertrauter als der Täterpol. Vielleicht erwarten wir am Opferpol auch einfach mehr Zuwendung und Fürsorge durch andere. Auch unser christliches Erbe könnte eine Rolle spielen, denn ein Opfer gilt doch eher als guter Mensch, dem etwas zusteht, dem man etwas schuldet, während der Täter eher als der oder die Böse wahrgenommen wird und durch sein Tun Schuld auf sich lädt. Doch manchmal ist es angemessen, selbst zum Täter, zur Täterin zu werden. Es gibt Situationen, in denen man sich aus Lähmung, Ohnmacht und Passivität – also der Kindposition – nur lösen und den eigenen Handlungsspielraum nutzen kann, wenn man sich beherzt und aggressiv zur Wehr setzt.
Wie hilfreich, ja sogar überlebensnotwendig eine aggressive Handlung sein kann, zeigt Petras Traum. Auf ihrer innerseelischen Traumbühne konkurrieren in einer Dreiecksgeschichte zwei aggressive Täter um sie. Einer will sie töten, der andere kann sie retten. Für was könnten die beiden Männer stehen? Beim Erzählen wird Petra intuitiv klar, dass die beiden Fremden zwei gegensätzliche Ansichten repräsentieren. Als sie nämlich vor wenigen Tagen mit ihrer Krebsdiagnose konfrontiert wurde, hatte sie sich ohne Zögern gegen eine schulmedizinische Behandlung entschlossen. Die Vorstellung, sich den Qualen einer Chemotherapie oder Bestrahlung auszusetzen, war ihr unerträglich. Sie wollte ausschließlich naturheilkundliche Methoden zulassen, weil sie davon überzeugt war, dass auch durch einen sanften Weg Krebskranke geheilt werden können. Doch der Traum brachte Petra ins Grübeln. War ihre erste Idee, die Schulmedizin zu verwerfen, wirklich angemessen oder nicht doch lebensgefährlich? Müsste sie quasi die Idee, nur Alternativmedizin anzuwenden, radikal verwerfen, um zu überleben?
Zwar sind die Traumbilder brutal, aber der Traum geht für Petra gut aus. In diesem oder in ähnlichen Träumen geht es darum, das Hilfreiche in gefährlichen Situationen zu identifizieren. Allerdings ist das Rettende nicht immer da, wo man es vermutet, wäre eine mögliche Quintessenz dieses Traumes. Für einige mag es ungewohnt oder sogar inakzeptabel sein, dass Hilfe auch in einem brutalen Gewand daherkommen kann oder sogar muss.102
Petras Traum spricht von potentiell destruktiven Tendenzen oder Anteilen in der Träumerin. Jedoch ist die Träumerin selbst – das sogenannte Traum-Ich – nicht brutal. In Sarahs Traum ist das anders:
Ich schneide mir mit einem scharfen Messer aus der rechten Hüftseite Fleischstücke heraus und esse sie gierig. Es blutet nicht. Dann schneide ich mir die linke Hand, anschließend den linken Unterarm ab. Als ich davon etwas in den Mund stecken will, empfinde ich plötzlich Ekel. Ich will das Abgeschnittene nicht anschauen und werfe es unbesehen in die Mülltonne.
Sarahs Traum ist ein Ein-Personen-Stück. Ihr Traum-Ich handelt brutal, beginnt sich selbst zu verstümmeln, eigene Fleischteile zu essen, aber auch wegzuwerfen. Die Aggression geht vom Traum-Ich aus und richtet sich gegen sie selbst. Täterin und Opfer sind hier identisch.
In Realität lebt Sarah seit vielen Jahren als Vegetarierin. Merkwürdigerweise hat sie aber wenige Tage vor dem Traum plötzlich Lust auf ein Steak verspürt, obwohl ihr der Appetit auf Fleisch völlig fremd geworden war. Ohne Traum hätte sie diesen kurzen Moment der Lust nicht weiter beachtet. Doch der Traum spricht nicht von einer längst verloren geglaubten Lust, sondern einer regelrechten Gier auf Fleisch, und zwar auf das eigene Fleisch.
Seit einer Trennung lebt Sarah alleine und geht völlig auf in ihrem Beruf als Oberärztin an einer Universitätsklinik. Ihre Kompetenz, ihr Pflichtbewusstsein sowie ihre Einsatzbereitschaft werden geschätzt. Es fehlt ihr nicht an Anerkennung. Irgendwie funktioniert ihr Leben, das meiste läuft reibungslos und geordnet. Aufregendes gibt es nicht und sie ist eigentlich ganz zufrieden. Erst der Traum hat ihre Ruhe gestört, denn er steht in krassem Widerspruch zur äußeren Realität, in der Gier oder Ekel nicht vorkommen. Er könnte also etwas kompensieren.
Was könnte das sein? Sarah kommt spontan der Werbespruch »Fleisch ist ein Stück Lebenskraft« in den Sinn. In der Tat ist Fleisch ein Sinnbild unserer Lebendigkeit und Vitalität. Dabei geht es viel weniger um das Fleisch auf dem Teller, als um das Fleisch unseres Körpers. Wer beispielsweise »vom Fleisch fällt«, also abmagert, wird körperlich schwach und kraftlos. Ganz ohne Fleisch bleibt nur das Skelett übrig und dann sind wir unweigerlich tot. Ohne Fleisch können wir weder Sinnlichkeit noch Gefühle erleben. Auch im Karneval geht es um Fleisch und Fleischeslust. »Carne vale« kann übersetzt werden mit dem doppeldeutigen: »Fleisch, lebe wohl!« Dem Körper darf es im Karneval gut gehen. Bis Aschermittwoch darf er seiner Lust folgen, dann wird die Fleischeslust mit einem Lebewohl verabschiedet. In diesem uralten Brauch folgt auf eine Zeit der Fleischeslust eine Zeit des Verzichts.
Wenn Sarah also von der Gier auf Fleisch träumt, könnte sie an ihre verlorene körperliche Lust, somit auch an ihre Lebenslust erinnert werden. In den letzten Jahren sind ihr nämlich die Lebenslust und Leidenschaft, aber auch die Lust auf Sexualität abhandengekommen. Das hat sich unbemerkt und schleichend einfach so ergeben. Wenn aber etwas Vitales und sehr Wichtiges im Leben entschwindet oder unterdrückt wird, kann der Hunger immer größer werden und ein seelischer Stau entstehen. Doch die Dämme halten nicht ewig, sondern brechen irgendwann. Sobald uns die ungestillten Bedürfnisse überschwemmen, können wir unter Umständen gierig werden. In der Gier meldet sich ein angestautes, ungezügeltes Nachholbedürfnis. Wenn wir also etwas untertreiben, kann es kompensatorisch als Übertreibung wiederkehren.
Heutzutage werden viele in ihrem Leistungskomplex zur Übertreibung verführt. Die eigene Leistungsfähigkeit zu erleben, sich immer wieder neu herausfordern zu lassen und seine Grenzen zu erweitern, fühlt sich gut an und macht uns auch für andere attraktiv. Doch nicht für alle ist eine solche Lebensweise auf Dauer stimulierend und gesund. Manche »zerfleischen« sich dabei, lassen sich »durch die Arbeit auffressen«, beschädigen also ihre Lebendigkeit, wenn Leistung die höchste Priorität hat und Lebenslust und Lustgefühle zu kurz kommen.
Wie jeder Komplex hat auch der Leistungskomplex zwei Pole: Am Erwachsenenpol identifizieren wir uns mit Kompetenz, Leistung und Disziplin. Am Kindpol liegen die Gegengewichte wie Nichtstun, »Chillen«, Tagträumen aber auch Spontaneität. Hier sträuben wir uns, verplant zu werden oder alles durchzustrukturieren, hier haben wir kein Bedürfnis nach Effizienz, sondern wollen einfach sein. Wenn dieser Kindpol gar keinen Raum hat, können sich Seele und Körper nicht nur erschöpfen, sondern das Leben kann schal oder sogar sinnlos werden. Ein zu mechanisches und zu monoton funktionierendes Leben empfinden wir häufig als wertlos. Doch wenn wir uns bildlich gesprochen selbst zerfleischen, sollten wir nicht uns selbst, sondern unseren Lebensstil auf den Müll werfen. Nicht die Lebenslust ist das Problem, sondern das ungelebte Leben.
Erst die drastischen Traumbilder haben Sarah vor Augen geführt, wie sie als »gut funktionierende Hochleistungsmaschine« lebt. Da der Traum sie als Täterin und Opfer beschreibt, liegt es primär in ihrer eigenen Verantwortung, zukünftig darauf zu achten, ob sie nur funktioniert oder auch lebt. Eine solche Achtsamkeit auf die eigene Lebendigkeit ist nicht nur für Sarah, sondern beispielsweise auch für die Prophylaxe eines Burnout-Syndroms wichtig. Wenn wir nämlich erst gar nicht in eine Opferrolle geraten wollen, dann sollten wir unsere Gefühle nicht verraten. Wir lassen uns nämlich unter Umständen verführen, etwas zu tun, obwohl wir spüren, dass an einer Sache irgendetwas nicht stimmt. Wir bürden uns etwas auf, weil wir uns das zutrauen, von anderen dazu ermuntert werden oder Karrierechancen winken. Ein unangenehmes Gefühl wird dann leicht zugunsten rationaler Überlegungen geopfert.
Selbstverständlich ist es nicht angemessen, bei jedem »schlechten« Gefühl vor Anforderungen zurückzuweichen. Doch falls wir wagen, uns mit solchen »schlechten« Gefühlen auseinanderzusetzen, anstatt sie gleich zum Schweigen zu bringen, können wir unter Umständen frühzeitig vermeiden, Opfer unserer eigenen Ansprüche oder einer Überforderung zu werden. Es geht darum, sich dem inneren Konflikt zwischen einem schlechten Gefühl und positiven Verlockungen zu stellen, also beides zu berücksichtigen.
In den Träumen von Elke und Sarah war jeweils das Traum-Ich bedroht. In Markus’ Traum ist das anders, gefährdet ist seine 12-jährige Tochter:
Ich muss zuschauen, wie ein fremder Mann langsam mit einem Messer in den Bauch meiner Tochter sticht, um sie zu töten. Ich will schreien, es kommt aber kein einziger Ton aus mir heraus.
In der Realität ist Markus Vater eines erwachsenen Sohnes und der Tochter, die im Traum zum Opfer wird. Könnte seine Tochter tatsächlich in irgendeiner Form bedroht sein oder geht es um eine Gefahr für sein inneres Kind, seine innerseelische Tochter?
Seit Menschengedenken haben Eltern wohl Vorstellungen über die eigenen Kinder. Vielleicht wünschen sie ihrem Kind gewisse Begabungen, Interessen oder einfach ein besseres Leben. Solche elterlichen Hoffnungen oder Erwartungen können ein Kind herausfordern und die Entwicklung seiner Anlagen fördern, aber auch gefährden. Nichts kann nämlich ein Kind mehr von sich selbst entfremden, als die Anstrengungen der Eltern, sich in ihrem Kind zu verkörpern, wenn sie nicht beachten, dass jedes Kind ein neues, individuelles Wesen darstellt, das ihnen unter Umständen kaum ähnelt, ja schlimmstenfalls sogar erschreckend fremd scheint.103 Doch was kann es für die Eltern bedeuten, wenn ihr Kind so radikal anders ist als das, was sie an sich selbst kennen und vielleicht auch schätzen? Für manche Eltern ist das ein Schock. Das Andersartige passt nicht ins Weltbild und (ver)stört.
Wenn das Kind derart fremd ist, kann es passieren, dass Eltern dieses Unerwünschte unbewusst in ihrem Kind zerstören – symbolisch gesprochen – töten wollen. Stellen wir uns einmal etwas klischeehaft eine Familie vor, deren Kinder seit Generationen geschickte Handwerker sind. Was könnte passieren, wenn ein Kind mit »zwei linken Händen« in diese Familie hineingeboren wird? Vielleicht sind die Eltern enttäuscht, vielleicht aber auch wütend oder einfach ratlos, weil es ihnen nicht vorstellbar ist, dass jemand handwerklich so unbegabt sein kann. Leicht kann ein solches Kind zum »schwarzen Schaf« der Familie werden. Was letztlich als »schwarz« gilt, entscheidet sich innerhalb der Familie, ist allerdings auch abhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Wertvorstellungen.
Auch Markus hat ziemlich genaue Vorstellungen über seine Kinder. Aus seiner Sicht ist sein älterer Sohn auf einem guten Weg, doch seine Tochter bereitet ihm einige Sorgen. Was soll nur aus ihr werden? Während alle in der Familie Schule und Studium mit Leichtigkeit gemeistert haben und beruflich erfolgreich sind, hat seine Tochter kein Interesse an der Schule. Sie lernt nicht gern, sondern verbringt jede freie Minute auf dem Bauernhof der Nachbarn. Er findet das nicht gut, aber weder Anreize noch Strafen konnten bisher ihre Motivation für die Schule steigern. Doch der Traum erschüttert ihn. Könnte ein Teil von ihm – nämlich der fremde Mann – seine Tochter unbewusst zerstören wollen? Könnte der Teil in ihm, der in der Realität sichtbar wird, wenn er die Tochter aggressiv entwertet, sie emotional schwer verletzen, ihre seelische Lebendigkeit bedrohen? Glücklich ist sie nämlich nicht in der Schule, sondern bei den Tieren und in der Scheune. Markus kann das zwar nicht nachvollziehen, aber er wünscht seiner Tochter Glück, auch wenn sie es an anderen Orten findet als er.
Markus sträubt sich gegen die Traumbilder. Er will nicht, dass seiner Tochter ein Leid geschieht. Ihre Lebendigkeit kann er wohl nur schützen, wenn er ihr nicht weiterhin sein Lebensmodell überstülpt, sondern mehr Raum zur Entfaltung ihrer Eigenart ermöglicht. Vielleicht kann er sogar neugierig werden auf ihre Andersartigkeit und dies als Erweiterung seiner Lebensperspektive begreifen. Bildhaft gesprochen kann so aus dem schwarzen Schaf vielleicht der bunte Vogel der Familie werden.
Bei Markus ist ein Kind zum schwarzen Schaf geworden, weil es den Ansprüchen nicht genügt hat. Das Gleiche kann aber auch passieren, wenn ein Kind zu gut ist, also Interessen oder Begabungen hat, die es über die familiäre Tradition hinauswachsen lassen könnten. Wenn eine Familie ein solches Kind von seinen Potentialen abschneidet und seine Entfaltung unterdrückt, kann es sinnbildlich gesprochen ebenfalls seelisch getötet werden.
Markus hat seinen Traum objektstufig betrachtet, also den Blick auf die Beziehung zu seiner Tochter gelenkt. Das war für ihn stimmig. Das schließt jedoch nicht aus, dass derselbe Traum darüber hinaus einen subjektstufigen Wink enthält und ihn auf sein bedrohtes inneres Kind, seine bedrohte innere Tochter verweist. Ein Kind im Traum deutet häufig auf etwas Neues hin, auf ein Zukunfts- und Entwicklungspotential. Wer beispielsweise von einem unbekannten dreijährigen Kind träumt, kann überlegen, ob vor circa drei Jahren etwas Neues in sein Leben getreten ist: eine neue Liebe, ein neuer Job, eine neue Wohnung oder etwas anderes. Das könnte die Brücke vom Traumkind zum realen Leben sein.
Das Alter des Traum-Kindes kann also auf den Zeitpunkt hinweisen, seit dem etwas Neues in uns lebt und wirkt. Wer damit nicht weiterkommt, kann in seiner persönlichen Lebensgeschichte bis zum Alter des Traumkindes zurückgehen. Wie war das damalige Lebensgefühl? Gab es zum damaligen Zeitpunkt ein Erlebnis, das für die aktuelle Lebenssituation relevant sein könnte? Welche Erinnerungen und Bilder tauchen dabei auf? Als der 42-jährige Simon von einem Jugendlichen träumt, der ihm Angst einjagt, denkt er unwillkürlich an seine eigene Jugendzeit:
Ich stehe vor einem circa 14 oder 15 Jahre alten »schwarzen« Jungen, der traurig, abgrundtief traurig ist. Er weint. Grund seiner Trauer ist ein Verlust. Ich empfinde diesen Jungen als große Bedrohung. Plötzlich bilden sich an seinem Körper weiße Stellen, die sich flächenhaft auf seinem Körper ausbreiten.
Simon ist ein eher vorsichtiger Mensch. Ein Leben in geordneten, sicheren Bahnen ist ihm sehr wichtig, und privat und beruflich lebt er mittlerweile sorgenfrei in stabilen Verhältnissen. Intensive Gefühle und Affekte spielen in seinem Leben derzeit keine Rolle. Über den Traum konfrontiert er sich allerdings mit einer Lebensphase, in der seine Gefühle Achterbahn gefahren sind. Die damaligen traurigen Momente kommen ihm wieder in den Sinn, etwa, wie er heimlich geweint hatte, als er unglücklich verliebt war.
Macht Simon die jugendliche Trauer auch heute noch Angst? Oder droht ihm ein Verlusterlebnis, das alte Wunden aufreißen könnte? Was verbindet er mit schwarzer Haut und der Farbe Schwarz? Und welche Beziehung hat er zu dunkelhäutigen Menschen? Abhängig von den persönlichen Erfahrungen mit bzw. Vorstellungen über dunkelhäutige Menschen, der eigenen Hautfarbe sowie der persönlichen Vorliebe oder Abneigung für die Farbe Schwarz wird der Bedeutungskern des Traumes ganz unterschiedlich sein.
Ergänzend zu den subjektiven Assoziationen kann auch der kulturelle Kontext der Traumbilder weiterhelfen. So gehören in unserer westlichen Kultur Verlust, Trauer und die Farbe Schwarz zusammen. Verwitwete Menschen oder Trauernde auf einer Beerdigung tragen bis heute meist schwarze Kleidung und zeigen damit auch äußerlich ihre Situation. Bis vor wenigen Jahrzehnten galt für Hinterbliebene traditionell ein Trauerjahr als angemessen, anschließend wurde das Tragen schwarzer Kleidung nicht mehr erwartet. Ab diesem Zeitpunkt wurde den Betroffenen gestattet, sich dem Leben neu zuzuwenden, und Witwen oder Witwer durften wieder heiraten. Trauer war somit nicht nur ein individuelles Erlebnis, sondern in einen gesellschaftlichen Verhaltenskodex sowie eine zeitliche Ordnung eingebettet.
Simon träumt nicht von einem schwarz gekleideten trauernden Jungen, sondern einem Jungen mit schwarzer Haut. Im Gegensatz zu Kleidung kann man die eigene Haut jedoch nicht einfach ablegen oder wechseln. Der schwarze Junge könnte in Simons Seelenraum deshalb eine alte Trauererfahrung symbolisieren, die seit mehr als zwanzig Jahren unbewusst und bis vor kurzem unverändert in ihm weiterlebte. Aber Simon sieht, dass sich das Schwarze lichtet. Die Haut des Jungen bleibt nicht vollständig schwarz, sondern wird an immer mehr Stellen weiß. Es geschieht eine Verwandlung, ohne dass der Traum die Hintergründe andeutet. Simon hat diesen Traum während einer Psychotherapie geträumt, die er aufgrund eines Arbeitsplatzkonfliktes begonnen hatte. Seine Jugenderfahrungen waren bisher kein Thema gewesen. Er verstand den Traum als Hinweis, dass es bei der Auseinandersetzung mit sich selbst auch um verdrängte Verlustängste und Trauergefühle geht. Hinschauen anstatt Wegschauen kann helfen, dass Verlust und Trauer nicht ausschließlich düster bleiben. Dunkle Seelenbereiche können sich aber auch als eine Art Nebeneffekt aufhellen, wenn man sich intensiv einer Situation stellt, die auf den ersten Blick gar nichts mit frühen Erfahrungen zu tun hat.
Nicht immer führt ein Kind im Traum zu einem Knotenpunkt in der Kindheit oder Jugend. Ein Traumkind kann auch für das Kindliche stehen, das in uns lebt: etwas Kleines, Unscheinbares, vielleicht noch nicht ganz Fassbares, das sich weiter entfalten will. Oder etwas Kindliches, das aus unseren Komplexen und aus der Vergangenheit heraus in uns wirkt. Dem Symbol dieses inneren Kindes kommen wir näher, wenn wir überlegen, was Kindsein im Allgemeinen bedeutet. Je kleiner ein Kind ist, desto abhängiger ist es und desto mehr ist es auf elterliche Fürsorge und Zuwendung angewiesen. Doch das bleibt nicht so: Beim Heranwachsen wird ein gesundes Kind zunehmend an Selbstständigkeit, Stärke und Autonomie gewinnen. Wenn wir also von einem Kind träumen, kann dieser Fürsorgeaspekt wichtig sein. Wo könnten wir analog einer realen Säuglingspflege rund um die Uhr gefordert sein? Wo brauchen wir viel Energie und Zeit, können wenig schlafen und werden ganz absorbiert von etwas Neuem? Eine neue Beziehung, ein neuer Job, ein Umzug, aber auch eine seelische Entwicklung könnte uns unter Umständen derart fordern. Doch ähnlich einem realen Kind kann das, was uns beansprucht, durch unsere Mühe kräftiger und stabiler werden.
Kindsein bedeutet aber auch eine gewisse Lebensweise, die Erwachsene häufig verloren haben. Die spielerische Leichtigkeit, mit denen Kinder auch ernste Fragen stellen, die Offenheit oder die Fähigkeit zu Liebe, Freude und Genuss sind im Erwachsenalter nicht mehr selbstverständlich. So hat sich der Psychiater Helmut Barz104 angesichts des beneidenswerten Ausmaßes an Phantasie, Kreativität und Spontaneität vieler Kinder gefragt, was das eigentlich für eine Erziehung ist, die aus derart verheißungsvollen kindlichen Anlagen so dürftige Erwachsene schafft, wie man selbst geworden ist. Ein Kind im Traum kann deshalb die Frage aufwerfen, ob diese kindliche Seinsweise verschüttet ist und vielleicht neu belebt werden will.
Besonders in Zeiten der Unzufriedenheit oder Stagnation, aber auch, wenn wir nicht mehr weiter wissen und alte Rezepte nicht mehr taugen, brauchen wir etwas ganz anderes, symbolisch gesprochen: ein inneres Kind als neue Möglichkeit. Ähnlich dem realen Baby kann solch ein inneres Baby einige Unruhe ins Leben bringen und Gewohntes auf den Kopf stellen. Ein inneres Kind kann ähnlich Erstaunliches bewirken wie reale Kinder, die alte Menschen in einem Altersheim besuchen. Häufig blühen Senioren nämlich auf, wenn Kinder zu Besuch kommen. Die kindliche Energie überträgt sich und aktiviert verschüttete Lebensfreude oder längst verloren geglaubte Ressourcen.105 Diese Dynamik ist grundsätzlich altersunabhängig, weshalb ein inneres Kind zu jeder Zeit das Potential hat, uns seelisch zu beleben, vermeintlich Unveränderbares oder Verkrustetes aufzubrechen – wenn wir es zulassen.
Doch ein Kind im Traum symbolisiert nicht zwangsläufig ein neues kreatives Potential, sondern unter Umständen auch eine nicht mehr altersgemäße, kindische Verhaltensweise. Vielleicht gibt es in uns etwas Unreifes, Unselbstständiges oder Rückständiges, das wir überwinden sollten. Wer etwa von einem trotzigen Kind träumt, kann sich fragen, ob er sich manchmal trotzig verhält und ob das tatsächlich noch hilfreich ist oder nicht. Wenn jemand sagt, er fühle sich innerlich längst nicht so alt, wie er biologisch sei, wäre deshalb zu differenzieren: Hat sich die Person etwas kindlich Ursprüngliches bewahrt und die Fähigkeit zu Weiterentwicklung behalten oder ist sie eher seelisch stehen geblieben?
Wo ein Kind ist, muss es Eltern geben. Und solange wir leben, ist unsere Fähigkeit, als Kind zu empfinden oder zu reagieren, auf Personen bezogen, die wir als mütterlich und väterlich erleben. Doch nicht nur unser leiblicher Vater, auch ein Großvater, Lehrer, der Vater Staat oder eine Behörde »füttern« beispielsweise unseren Vaterkomplex. Diese Erfahrungen sind innere Bilder, die wir immer wieder unbewusst auf verschiedene Personen projizieren, also auf andere Menschen oder Situationen übertragen. Projektion bedeutet auch, dass wir gewissermaßen unbewusst erwarten, dass sich unsere altbekannten Vorstellungen bestätigen. Und das gilt auch für den Vaterkomplex und unsere Vaterbeziehung. Sie können im Traum angesprochen sein, selbst wenn weder ein Kind noch ein Vater im Traum erscheinen. Das wird an Katharinas Traum deutlich:
Ich bin in meinem Schlafzimmer, liege im Bett und will schlafen. Plötzlich steht da ein fremder Mann, ein großer uniformierter Schaffner, er kommt zur Fahrkartenkontrolle. Ich erschrecke furchtbar, will die Fahrkarte holen und stelle entsetzt fest, dass ich gar keine Fahrkarte habe, worauf der Mann etwas aufschreibt. Ich bekomme Angst.
Kontrollen erleben wir immer mal wieder, sei es durch einen Schaffner, Zöllner, Polizisten oder auch durch das Finanzamt. Welche Vorstellung löst eine solche Überprüfung tendenziell in Ihnen aus? Fühlen Sie sich sicher, weil Sie die Regeln einhalten und demnach nichts zu befürchten haben? Ist es Ihnen dabei unwohl, obwohl Sie ehrlich sind? Wie ist es für Sie, wenn Sie bei einem Regelverstoß ertappt werden? Oder ärgert es Sie, dass jemand Sie überhaupt kontrollieren darf? Vielleicht neigen Sie auch in gewissen Situationen zur Unehrlichkeit oder haben insgeheim Spaß daran, Institutionen und ihre Vertreter auszutricksen? Abhängig von der jeweiligen Einstellung gegenüber Autoritätspersonen wird der Traum ganz Unterschiedliches bedeuten. Wer etwa regelmäßig im Bus oder Zug schwarzfährt und stolz ist, nicht erwischt zu werden, könnte sich fragen, ob ihn nicht doch irgendwelche heimlichen Ängste oder Gewissensbisse plagen. Vielleicht ist das Schwarzfahren oder ein anderes unehrliches Verhalten unbewusst doch nicht ganz so lässig, wie es in Realität erscheinen mag.
Wer aber wie die Träumerin in der Realität nie »schwarzfährt«, wird sich fragen, wieso ein Schaffner ins Schlafzimmer eindringt. Ein Schlafzimmer ist nämlich ein ganz intimer, nicht öffentlicher Ort, an dem ein Schaffner überhaupt nichts zu suchen hat. Üblicherweise kontrolliert er ja im Zug, ob ein Reisender eine Fahrkarte gelöst hat, und darf Schwarzfahren sanktionieren.
Katharina assoziiert zu ihrem Traum George Orwells Roman 1984, der von einem Überwachungsstaat erzählt. Um Intimität, Individualität und persönliche Ansichten auszurotten, werden die Menschen in 1984 ständig und überall beobachtet, ähnlich der Fernsehshow Big Brother. Vergleichbar ist Katharinas Traum-Schlafzimmer nicht mehr privat, sondern für eine Autoritätsperson zugänglich und überprüfbar. Und durch die Fahrkartenkontrolle entsteht zudem der Eindruck, dass Katharina eine Berechtigung braucht, also für Schlafengehen, Erholung oder ihr bloßes Dasein bezahlen muss.
Welches Verhalten erlaubt ist und was nicht, bestimmen in der über 3000 Jahre alten, patriarchalen jüdisch-christlichen Tradition die Väter.106 Bereits eine der ersten Amtshandlungen des biblischen Vatergottes in der Schöpfungsgeschichte ist der Erlass eines Verbots, das Eva und Adam allerdings nicht beachten. Bekanntermaßen wird ihr Ungehorsam bestraft. Doch wer Gesetze erlässt, braucht die Macht, sie durchzusetzen. Autorität ist ohne Macht nicht denkbar. Alle, die Regeln einhalten sollen, müssen schwächer und weniger einflussreich sein als der Gesetzgeber.
Ein solches Machtgefälle erleben Kinder, wenn der eigene Vater oder etwa ein Lehrer auf die Einhaltung von Regeln pocht. Von klein auf machen Kinder die Erfahrung, dass Vaterfiguren mächtig genug sind, ihre Vorgaben durchzusetzen. Das kann Kinder einen verlässlichen Rahmen und eine gute Orientierung geben, sie aber auch verängstigen, zornig oder rebellisch werden lassen. Lebenslang beeinflussen solche Erlebnisse mit Vater- und Führungsfiguren unbewusst unsere Erwartungen in persönlichen Beziehungen, unser Verhältnis zu Obrigkeiten sowie den Umgang mit uns selbst, obwohl die ehemals natürliche Ungleichheit der Kräfte nicht mehr dieselbe ist.
Erst einige Tage nach dem Traum ärgert sich Katharina über sich selbst, denn sie hatte wie ein kleines Mädchen reagiert und sich vom Schaffner einschüchtern lassen. Ihr unterwürfiges Verhalten behagt Katharina gar nicht und ist ihr eigentlich fremd. Als Einzige der Geschwister wagte sie nämlich in ihrer Jugend, gegen den Vater aufzubegehren. Sie erinnert noch gut ihre Triumphgefühle, wenn sie einen Machtkampf gewinnen und sich gegen ihren Vater durchsetzen konnte. Hat sie hier vielleicht einen blinden Fleck? Katharina spürt, dass sie im Traum versäumt hat, den Schaffner aus dem Zimmer zu werfen. Sie hätte ihre Intimsphäre verteidigen müssen. Doch die Angst vor Strafe, falls sie keine Fahrkarte vorweisen kann, hat sie dermaßen eingeschüchtert, dass sie ihre Beschämung gar nicht wahrgenommen hat. Bei der Frage, ob wir uns im Recht oder im Unrecht befinden, geht es nämlich manchmal nicht nur um Schuld, sondern auch um Beschämung. Und diese Verbindung von Schuldigwerden und Scham wird bereits in der Bibel offensichtlich. Nachdem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, erkannten sie ihre Nacktheit und bedeckten sich mit einem Feigenblatt. Es braucht also das Bewusstsein für Gut und Böse, um überhaupt schuldig und beschämt werden zu können. Und so sind Schuld und Scham das Privileg des Menschen. In der Natur existieren sie nicht.
Das Wort »Scham« bedeutet »verschleiern«, und dementsprechend wecken Schamgefühle in uns das Bedürfnis, unseren Körper sowie intimste Gedanken und Gefühle vor den Blicken anderer Menschen zu verhüllen. Verbergen wollen wir uns aber auch, wenn wir etwas Unrechtes tun wie etwa Schwarzfahren. Solange wir nämlich unentdeckt bleiben, kann uns niemand bestrafen. Da geht es um Schuld und Schuldgefühle, also Gewissensfragen. Falls wir erwischt werden, kann es aber auch passieren, dass wir uns nicht nur schuldig, sondern auch bloßgestellt fühlen. Sobald zu viel von uns sichtbar wird, empfinden wir Scham. Und vor lauter Scham haben wir weniger die Angst vor Strafe, sondern vielmehr die Furcht, vor den Menschen nicht bestehen zu können, weshalb wir »in den Boden versinken« möchten. Wir wollen uns vernichten und auslöschen. Beschämung bedroht uns also existentiell und kann nicht wie Schuld abgetragen werden. Beschämung können wir nur vermeiden, wenn wir einen intimen Raum haben, dessen Tür niemand ungefragt öffnen darf. Wir allein bestimmen, wer herein darf und wer nicht. Auch unser Körper ist ein solcher Raum, dem niemand ungefragt zu nahe kommen darf und dessen Grenzen von anderen respektiert werden müssen, damit wir unsere Würde bewahren können – und nicht beschämt werden.
Falls Katharina den Schaffner subjektstufig als eine innere Vaterfigur versteht, kann sie sich fragen, ob sie sich in Autoritätskonflikten gelegentlich beschämen lässt, ohne es wahrzunehmen. Vielleicht gibt sie manchmal zu viel von sich preis oder lässt sich beurteilen und kritisieren, wo es nicht angemessen ist. Mit dem Thema Autorität und Scham ist Katharina allerdings nicht allein. Teilnehmerinnen und Teilnehmer von TV-Shows wie Deutschland sucht den Superstar lassen sich auf der Bühne von Experten bewerten und nehmen dabei manchmal wenig Rücksicht auf ihre Schamgrenze.
Wenn wir im Traum von Experten beurteilt werden, ein Abschlussexamen erneut ablegen müssen oder einen Streit mit Autoritäten austragen, können also unser Vaterkomplex und dazugehörige kindliche Ohnmachtsgefühle zum Thema werden. Doch ist es überhaupt zutreffend, dass Männer und Väter die Gesetze festlegen? Sollten Frauen und Mütter etwa keine Macht haben, Regeln zu erlassen und sie durchzusetzen? Symbolisch betrachtet gibt es eine weibliche und eine männliche Kategorie von Gesetzen und Macht. Der auf wahren Begebenheiten beruhende Film Die Hebamme – Auf Leben und Tod verdeutlicht, wie diese beiden qualitativ unterschiedlichen Gesetze in Konflikt geraten können. Der Film spielt um 1815 und erzählt vom Leben der Hebamme Rosa Kölbl. Einige Fälle von infektiösem Kindbettfieber bringt sie mit dem Weihwasser in Verbindung, das sie einer Schwangeren vaginal verabreichen muss, sobald das Leben des Ungeborenen gefährdet ist. Die Kirche besteht auf dieser Nottaufe, weil sie verhindern will, dass es als Heidenkind stirbt. Als sich Rosa bei einer schwierigen Geburt dieser Anordnung widersetzt, um der werdenden Mutter eine Entzündung zu ersparen, ist das aus Sicht der katholischen Kirche eine schwere Verfehlung. Sie darf deshalb ihren Beruf nicht mehr ausüben.
Um welche Gesetze geht es bei Rosa und der Kirche? Rosa steht auf Seiten der Mutter Erde, die mit ihren Naturgesetzen alle Lebewesen in eine festgefügte Ordnung stellt. Dazu gehören auch die Abläufe von Krankheiten. Wer wie Rosa weiß, dass Keime in der Vagina einer Gebärenden ein Kindbettfieber auslösen können, dient dem Leben, wenn er das berücksichtigt. Wer dagegen der Nottaufe den Vorrang gibt, sieht sich primär einem übergeordneten geistigen Prinzip, dem vermeintlichen Gesetz Gottes, verpflichtet und will verhindern, dass es gebrochen wird.107 Für Mann und Frau gelten beide Regelwerke, Naturgesetze wie auch Kulturgesetze. Doch könnte es sein, dass uns aufgrund unseres biologischen Geschlechts die eine Kategorie nähersteht als die andere? Was bedeuten also die väterlichen Gesetze und patriarchalen Machtstrukturen für den Mann und was für die Frau?
Nicht nur die Macht des Vaters, auch seine Ohnmacht kann uns bedrohen wie im Traum des 30-jährigen Klaus:
Ich liege entspannt auf dem Sofa. Vater lehnt sich an mich, wird dabei immer schwerer, obwohl er gleichzeitig immer schwächer wird. Ich habe kaum noch die Kraft, ihn zu tragen, er wird wie ein Kind. Plötzlich dringt er in mich ein, fängt an, mit mir zu verschmelzen. Ich bekomme Panik.
Einem schwachen Vater gegenüber ist man überlegen, es droht keine Gefahr mehr, von ihm bevormundet oder gegängelt zu werden. Wer sehnsüchtig auf den Generationenwechsel wartet und etwa hofft, dass sich der Vater endlich aus dem Geschäft auf sein Altenteil zurückzieht, könnte also aufatmen. Doch wir wissen, wie schwer es mächtigen Männern fällt, auf ihre Ämter zu verzichten und ihren jüngeren Nachfolgern Platz zu machen. Wenn beispielsweise Ausbildungsanforderungen immer höher werden, dann hat das nicht unbedingt nur mit der Sorge um die Qualität der Ausbildung des Nachwuchses zu tun, sondern es sichert auch die Position der Elterngeneration. Solange Schülern und Studierenden immer mehr aufgebürdet wird, ist dafür gesorgt, dass sie in der Kindrolle bleiben. Erst das Examen erlaubt, die Vorgeneration irgendwann abzulösen. Macht und Autorität werden also zyklisch vergeben. Der starke Vater dominiert zunächst das schwächere Kind. Während das Kind zunehmend an Stärke gewinnt, wird der Vater langsam schwächer und kann irgendwann entmachtet werden.
Diese natürliche Abfolge wird manchmal verdreht. Wenn etwa ein Vater alkoholabhängig oder beruflich gescheitert ist, kann sich ein Kind überlegen fühlen. Doch diese Überlegenheitsgefühle kommen zeitlich zu früh und wecken häufig Schamgefühle. Das Kind schämt sich für den Vater, weil er nicht fähig ist, die übliche Vaterrolle einzunehmen.
Wenn nämlich ein kleiner Junge sagt: »Wenn ich groß bin, werde ich Journalist wie der Papa«, dann identifiziert er sich mit der beruflichen Rolle des Vaters. Doch eine solche Phantasie ist nur möglich, wenn der Vater als toller und starker Vater bewundert werden kann. Und mit dem Satz »Wenn ich groß bin, heirate ich die Mama« wagt es der Sohn in Gedanken, mit dem Vater zu konkurrieren und ihn als Ehemann zu ersetzen. Solche Vorstellungen sind für einen gesunden Jungen üblich und hilfreich. Der Vater zeigt als Vorbild, wie man zum Mann werden und als Mann leben kann. Das kann eine Mutter nicht. Wenn ein Vater allerdings zu schwach ist, kann ihm ein Junge nicht nacheifern. Er kann ihn nicht bewundern, sondern wird sich schämen und ihn unter Umständen sogar verachten oder hassen.
Klaus erlebt in seinem Traum keinen Beziehungskonflikt mit seinem Vater, sondern wird mit ihm zu einer Einheit. Welche Vorstellung löst eine solche Verschmelzungsszene aus? Was heißt es, völlig die Distanz zu verlieren? Wie fühlt es sich an, sich mit einem geliebten, bewunderten Vater zu vereinen, und wie wäre es bei einem sadistischen brutalen Vater?
Insgesamt ähneln wir zwar körperlich und seelisch unseren Eltern mehr oder weniger, sind aber nie mit ihnen identisch. Es gibt immer einen Unterschied, und der wird im Traum zunichtegemacht. Besonders Menschen, die auf keinen Fall wie der eigene Vater werden wollen, scheinen ihm unbewusst besonders seelenverwandt zu sein. Und wer wie Klaus seinen Vater von Kindesbeinen an hasst, hat manchmal die Illusion, dass Abneigung der beste Schutz vor Nähe ist. Doch Hass bindet uns – manchmal mehr als Liebe oder Zuneigung, spätestens wenn wir an nichts anderes mehr als an Rache denken können.
Klaus weigert sich, das Wort »Vater« in den Mund zu nehmen, obwohl dieser längst verstorben ist. Stattdessen spricht er von seinem Erzeuger. Als Jugendlicher hatte er sich geschworen, nie auch nur einen einzigen Tropfen Alkohol anzurühren, um keinesfalls so tief wie der alkoholabhängige Vater zu sinken. Aus den desolaten Familienverhältnissen hatte er sich mit viel Disziplin und Ehrgeiz befreit und arbeitet nun erfolgreich in der Immobilienbranche. Bis heute rufen die Erinnerungen an den früher ständig betrunkenen Vater nur Ekel und Abscheu hervor. Genau diese Gefühle waren im Verschmelzungstraum und beim Aufwachen präsent. Mit Anfang fünfzig hätte Klaus nicht gedacht, dass ihn diese Vergangenheit noch mal einholen könnte. Der Abstand zu seinem Vater, um den er ein Leben lang gekämpft hat, ist im Traum zusammengebrochen.
Klaus kann sich fragen, ob er sich gerade in einem Alter befindet, in dem ihn die Schwäche seines Vaters wieder etwas angeht. Fühlt er sich selbst körperlich oder seelisch nicht mehr ganz fit? Lässt seine Leistungsfähigkeit nach? Ist er gelegentlich impotent? Hat er zwar kein Alkoholproblem, aber andere Suchttendenzen entwickelt, die er bisher vor sich leugnet? Falls er eigene Schwächen entdeckt, besteht die Gefahr, dass er sich dafür zu verachten beginnt, so wie er früher seinen Vater verachtet hat. Wer Schwäche als sehr bedrohlich erlebt und sie prinzipiell nicht tolerieren kann, schwebt beim Älterwerden in der Gefahr, sein Leben als wertlos zu empfinden. Es besteht aber auch die Gefahr, Familienmitglieder, Freunde oder Kollegen zu schnell zu verachten, wenn sie in irgendeiner Form Schwäche zeigen.
Einswerden mit dem Vater heißt hier also, dass man seine Einzigartigkeit verliert oder opfert. Es wird nicht das eigene Leben gelebt, sondern die väterliche Tradition bewahrt – seelisch und ganz konkret. Doch es macht einen Unterschied, ob ein Mann sich mit seinem Vater identifiziert und dessen Tradition streng fortführt oder ob das eine Frau versucht.
Was könnte es heißen, wenn eine Frau im Traum zu einer Vaterperson wird und damit auch das Geschlecht wechselt, wie etwa bei Christine? Sie träumt:
Da ist irgendein seltsamer, schrulliger alter Mann: dünn, Bart, grau gekleidet. Um ihn herum bauen sich Goldmassen in rasender Geschwindigkeit zu einer Höhle auf. Die Goldhöhle ist nun fertig. Eine Stimme sagt, der Alte könne die Höhle mit flüssigem Gold polstern. Ich bin dieser Alte. Nun ist nur noch der Höhleneingang offen. Der Alte/ich will die Höhle ganz verschließen. Die Stimme auch. Sie macht einen Vorschlag und lässt zwei Baumstämme wachsen, die den Höhleneingang zusperren. Nun muss der Alte, also ich, mit einer Schaufel Gold aufladen und in die Zwischenräume der Baumstämme knallen. Die Stämme sind ganz braun, sonst glitzert alles goldgelb. Der Alte, also ich, schafft es nicht. Die Goldmauern, die in den Zwischenräumen entstehen, stürzen immer wieder ein. Der Alte/ich sagt immer wieder, völlig versessen: »Ich muss vorsichtiger sein, ich muss vorsichtiger sein!« Nur, wenn er/ich es schafft, sich vollständig zuzumauern, bleibt die Goldhöhle bestehen.
Szenenwechsel. Der alte Mann/ich steht da, immer noch in graue Lumpen gekleidet. Die Goldhöhle ist verschwunden, alles weg. Er/ich schaufelt weiter. Die bizarren Baumstämme sind noch da. Statt Gold wirft der Alte nun Dreckklumpen dagegen. Er sagt immer und immer und immer wieder, wie wahnsinnig, völlig besessen und fiebrig: »Ich muss vorsichtiger sein, ich muss vorsichtiger sein, ich muss vorsichtiger sein.« Er wirft und wirft den Dreck zwischen die Stämme. Die Mauer aber hält nicht. Die ganze Landschaft ist nun karg und öde, braungrau. Es stehen nur kahle Bäume herum, es gibt nichts Grünes, nichts Lebendiges. Auch das Gold ist weg. »Ich muss vorsichtiger sein, ich muss vorsichtiger sein, ich muss vorsichtiger sein.«
Christine hat während des gesamten Traums ihre weibliche Identität verloren. Stattdessen ist das Traum-Ich zu einem »schäbigen«, »verlumpten« Alten geworden. Unbewusst wird Christine von dieser Vaterfigur beherrscht. Wie ist es, als Frau zum Vater zu werden? Verlockend, abstoßend oder keins von beidem?
Biologisch kommen wir als Mann oder Frau zur Welt, obwohl jeder Embryo zunächst die Möglichkeit für beide Geschlechter in sich trägt. Zugunsten einer eindeutigen Entwicklung verkümmert während der Schwangerschaft jeweils die gegengeschlechtliche Anlage, von der allerdings kleine körperliche Reste zurückbleiben.108 Unsere psychische Identität ist in der Regel entsprechend dem körperlichen Geschlecht weiblich oder männlich. Doch das uralte Bild von Yin und Yang zeigt, wie in jedem Mann und in jeder Frau immer auch ein kleiner körperlicher und seelischer Teil des anderen Geschlechts vorhanden ist: Das tropfenförmige weiße Yang, das männliche Prinzip, umschließt einen schwarzen Mittelpunkt, so wie umgekehrt das schwarze Yin, das weibliche Prinzip, einen weißen Mittelpunkt beinhaltet.
Seelisch kann der gegengeschlechtliche Teil jedoch so dominant werden, dass die ursprünglichen, natürlichen Verhältnisse verkehrt werden. Das ist jeweils der Fall, wenn eine Frau psychisch völlig von ihren inneren männlichen Anteilen, dem sogenannten Animus109 , oder der Mann von seinen weiblichen Anteilen, der sogenannten Anima, beherrscht wird. Aber ist das eine Problem? Darf heute nicht jede Frau und jeder Mann leben, wie sie/er will?
Zumindest Christine erfährt in ihrem Traum, was es heißen kann, wenn das Patriarchal-Väterliche in einer Frau dominiert. Im Traum baut sich von ganz allein um Christine herum eine goldene Höhle. Das ist wunderbar, denn Höhlen können Schutz und Geborgenheit bieten, und solange sie eine Öffnung haben, kann sich ein Mensch darin zurückziehen, aber auch wieder in die Welt hinausgehen. Und wer wäre nicht froh über das Gold, dessen Wertbeständigkeit wir seit der Finanzkrise mehr denn je schätzen? Wenn eine Frau sich also mit der geistig-männlichen Vaterwelt identifiziert, sich für Ideen, Geistreiches und Wissenschaft interessiert, kann ein wertvoller Seelenraum entstehen.
Doch dann kommt es zur Übertreibung: Der Alte will die Höhle vollständig verschließen. Die Höhle würde dadurch zu einem goldenen Käfig, in dem die Träumerin eingesperrt und ohne Beziehung leben müsste. Als Frau männlich zu sein, führt also nicht unbedingt in die Freiheit, sondern kann zum Gefängnis werden. Und dass Gold nicht nur positive Aspekte hat, wissen wir seit dem antiken König Midas, der alles, was er berührte, in Gold verwandeln konnte. Doch diese Gunst der Götter hatte ihre Tücken: Die Nahrung wurde ungenießbar. Im Übermaß kann auch Reichtum zum Fluch werden.
Letztlich scheitert der Alte in seinem Bauvorhaben und das Gefängnis – so wertvoll und glänzend es auch wäre – bleibt Christine erspart. Doch im Traum endet das Ganze in einer trostlosen, beklemmenden Alternative. Die Mutter Erde, die weibliche Natur ist öde, unlebendig.
Das im Traum gezeigte Dilemma ist häufig relevant für Frauen, die vieles, was mit ihrer Weiblichkeit zu tun hat, ablehnen und die Welt ihres Vaters und der Männer bedeutend attraktiver finden. Frauen können heute viel mehr wie Männer leben als in früheren Zeiten, nicht nur, weil dies gesellschaftlich akzeptierter geworden ist, sondern auch, weil sie von den natürlichen Vorgängen des weiblichen Körpers unabhängiger geworden sind, beispielsweise durch Schwangerschaftsverhütung. Auch die Aufgaben als Mutter können bereits weitgehend delegiert werden. Das und anderes schenkt Frauen nie da gewesene Möglichkeiten und Freiheiten, aber auch neue Unfreiheiten, wie etwa einen übervollen Terminkalender.
Was die Identifikation mit dem patriarchalen Geist für eine Frau im Extremfall bedeuten kann, zeigt die Magersucht. Die Weiblichkeit wird bedrohlich erlebt. Und mit dem Hungern gehen tatsächlich die weiblichen Attribute wie Busen, Hüftrundungen und die Menstruation verloren. Der Körper wird vermännlicht und ist nicht mehr in der Lage, schwanger zu werden. Das kann im Bild einer kargen, unfruchtbaren Landschaft symbolisiert werden. Doch mit der Bekämpfung des weiblichen Körpers entwickelt eine magersüchtige Frau häufig ihre intellektuellen Fähigkeiten. Dieser Intellekt ist für eine Frau jedoch nur dann destruktiv, wenn die geistig-patriarchale Welt zur inneren Fluchtburg wird und dazu verführt, die Bedürfnisse des Körpers und der Weiblichkeit zu zerstören. Geistige Bildung ermöglicht der Frau seelischen Reichtum – im Traum wäre es das Gold –, aber die eigene weibliche Identität darf dabei nicht geopfert werden. Der Traum warnt vor einem solchen Opfer und dem Kampf zwischen Körper und Geist, zwischen Natur und Kultur, der ohne Versöhnung in der Trostlosigkeit enden kann. Nur wenn Geist und Körper einander leben lassen und miteinander leben, wird das Leben fruchtbar.
In Christines Traum gibt es ein Motiv, das sich wiederholt und das also zentral ist: das Vorsichtigsein. Welche Vorstellungen weckt das Thema Vorsicht? Und welchen Stellenwert hat das Vorsichtigsein im realen Leben? Wo ist Christine vorsichtig und wo nicht? Wo geht sie Risiken ein und wo nicht? Erlebt sie sich als mutige Frau, die auch forsch oder draufgängerisch handeln kann? Oder kennt sie sich als zögerliche, angepasste, eventuell sogar gehemmte Frau? Mit solchen Fragen kann das Motiv umkreist werden. Doch neben persönlichen Aspekten könnte der Traum auch eine grundsätzliche Warnung vor Extremismus enthalten. Vorsicht ist immer dann geboten, wenn unbewusst eine Frau sich vollständig mit ihrer inneren Männlichkeit, aber auch ein Mann sich mit seiner inneren Weiblichkeit identifiziert.
Insofern hat dieser Traum auch mit den Lebensentwürfen zu tun, die Frauen in der Gesellschaft einnehmen dürfen. War es beispielsweise in den Sechzigerjahren noch selbstverständlich, als Mutter zu Hause für die Kinder zu sorgen, ist das heute nicht nur verpönt, sondern wird fast schon geächtet. Es scheint, dass wir auch heute nicht frei von Vorurteilen sind, sondern zeitgeistbedingt einige wenige Lebensmodelle favorisieren und andere vehement ablehnen. Das ist schade. Würden wir beispielsweise die griechischen Göttinnen des olympischen Zeitalters als Rollenvorbilder zulassen, wären wir weniger festgelegt und würden uns an einer größeren Vielfalt von Daseinsmöglichkeiten erfreuen. Da gäbe es beispielsweise Frauen, die wie Athene und Artemis ohne schlechtes Gewissen auf Kinder verzichten, die ständig eifersüchtige Hera dürfte mit ihrem Zeus streiten, Demeter sich als Mutter voll verwirklichen und die sinnenfrohe Aphrodite ihre Affären haben. Ein solcher Variationsreichtum an Weiblichkeit wäre eine echte Emanzipation und würde ermöglichen, dass manch ein Lebensentwurf, den die derzeitige Gesellschaft ablehnt, nicht länger mit schlechtem Gewissen gelebt werden müsste. Einige der sogenannten neurotischen Fehleinstellungen sind nämlich nicht Ergebnis einer ungünstigen seelischen Entwicklung, sondern eines Lebensentwurfes, den der Zeitgeist verwirft.
Wer die griechischen Götter- und Heldensagen liest, wird auch mit dem Vorurteil aufräumen, dass Frauen und Mütter meistens fürsorglich, schwach oder masochistisch sind. Trotzdem ist der 43-jährige Klaus entsetzt über die Brutalität seiner Mutter im Traum:
Ich bin in meiner Wohnung, als meine Mutter mit zwei Hammerschlägen die Eingangstüre mitsamt der Zarge herausschlägt.
Der Traum handelt vom Eindringen. Insofern hat er allgemein Ähnlichkeit mit Vergewaltigungsträumen und Träumen mit Grenzverletzungen.
Wie könnte eine Mutter in der Realität sein, die sich im Traum mit derart massiven Mitteln Zutritt verschafft? Einige Mütter mischen sich ständig in die Angelegenheiten ihre Kinder ein oder müssen überall das letzte Wort haben. Wer das als lästig empfindet, aber mehr oder weniger zähneknirschend erträgt, kann einen solchen Traum haben. Der Traum dramatisiert dann das Verhalten der realen Mutter, scheint also kompensatorisch zu übertreiben, während wir in der Realität zum Bagatellisieren tendieren. Das könnte eine Aufforderung sein, sich besser abzugrenzen. So hat Klaus’ Mutter bis heute einen Schlüssel zu seiner Wohnung, damit sie aufräumen und sich um seine Wäsche kümmern kann. Als geschiedener Mann ist es für ihn zwar sehr praktisch, dass er sich um den Haushalt nicht kümmern muss. Aber vielleicht ist diese Bequemlichkeit nicht mehr angemessen und er sollte sie aufgeben. Doch ein solcher Schritt wäre schwierig. Es scheint ihm brutal, die Hilfe und Unterstützung seiner Mutter zurückzuweisen. Sie erledigt das alles gerne und freiwillig und meint es eigentlich nur gut mit ihm.
Da wir Fürsorge meistens als etwas Positives erleben, fällt es schwer, dazu Nein zu sagen. Ein solches Nein gehört aber zu einem fortwährenden natürlichen Abnabelungsprozess, bei dem wir immer unabhängiger von unserer Mutter werden. Manche Mütter erschweren diese Autonomietendenz durch mehr oder weniger offene Vorwürfe: Sie erinnern an ihre Opfer und lassen spüren, wie viel Dankbarkeit sie dafür erwarten. Dankbarkeitswünsche sind an sich ganz natürlich, können aber als Forderung eine Beziehung vergiften. Als Pflicht wird Dankbarkeit leicht unecht und kann aggressive Phantasien wecken. Und je gebundener wir uns an eine Person erleben, desto eher können heimliche Todeswünsche zunehmen. Darin verbirgt sich die Hoffnung, dass uns ein gnädiges Schicksal zur erhofften größeren Unabhängigkeit verhelfen könnte. Man bräuchte lediglich abzuwarten und würde keine Schuld auf sich laden, weil eine höhere Macht das Problem löst. Solche Todeswünsche können eine Metapher für Trennungswünsche sein und werden konstruktiv, wenn es gelingt, sie als inneren Appell zu mehr Eigenständigkeit zu verstehen. Die Metapher der Abnabelung hilft aber auch zu verstehen, dass eine gewisse Portion Aggressivität notwendig ist. Ohne Schnitt geht es nicht. Das kann für beide Beteiligten schmerzhaft sein.
Wer es schafft, solche heimlichen Todeswünsche lebenslang zu verdrängen, hat manchmal nach dem Tod der Mutter Albträume, in denen sie gesund und munter erscheint. Die Furcht vor ihrer Wiederkehr und eine irrationale Angst, dass sie vielleicht gar nicht gestorben sein könnte, kann die Psyche beunruhigen und träumerisch verarbeitet werden. Erst das Aufwachen bringt die erlösende Gewissheit. Doch ganz unrecht hat ein solcher Traum nicht. Zwar ist die Mutter in der Realität tot, aber im Mutterkomplex lebt sie weiter und beeinflusst unsere Beziehungen. Wer wie Klaus von einer martialisch eindringenden Mutter träumt, kann sich fragen, ob eine solche mütterliche Qualität auch in ihm wirkt und seine Beziehung zu sich selbst und anderen beeinflusst. Gehört er etwa zu den sogenannten Curling-Eltern, die in allzu großer Fürsorgehaltung ihren Kindern vorauslaufen, dabei so viel wie möglich Hindernisse aus dem Weg räumen, um ihnen freie Fahrt zu ermöglichen? Dann würde er wiederholen, was er in ähnlicher Form mit seiner Mutter erlebt hat, nämlich eine übertriebene Fürsorge mit einem hintergründig aggressiv-destruktiven Aspekt.
Noch verstörender hat der 20-jährige Norbert geträumt:
Ich bin im Badezimmer, sitze auf dem WC und betätige die Spülung. Meine Mutter kommt aus der Toilettenschüssel hoch und grinst.
Hier dringt die Mutter heimlich und unsichtbar von »unten« ganz dicht an den Unterleib ihres Sohnes heran. Welche Vorstellung löst es aus, wenn irgendetwas aus der »Unterwelt« der Kanalisation in der eigenen Toilette hochkommt? Ist es etwa ein Dämon, ein Mensch oder ein Tier? Einige Personen schließen aufgrund solcher Phantasien immer ihren Toilettendeckel.
Norbert hat neben dem Schrecken auch furchtbaren Ekel empfunden. Jedes Tier, selbst eine Schlange oder Ratte im Abfluss hätte er seiner Mutter vorgezogen. Die Vorstellung, dass die Mutter seine Geschlechtsorgane sehen, vielleicht sogar manipulieren oder hineinbeißen kann, ist unerträglich. Er empfindet Scham, Ohnmacht, aber auch Wut. Seine Männlichkeit und Sexualität könnten von der Mutter vereinnahmt oder zerstört werden.
Als erste Frau im Leben prägt die Mutter unbewusst die inneren Vorstellungen ihres Sohnes über Weiblichkeit. An ihr erfährt er, wie man als Mutter und Frau sein kann und was das für einen Mann bedeutet. Und am Anfang ist die Beziehung zwischen Mutter und Sohn körperlich sehr intim. Jede Mutter berührt in der Säuglings- und Kleinkindzeit ihren Sohn im Genitalbereich, während sie ihn wäscht, eincremt oder ihm den Hintern abputzt. An diese frühe Sinnlichkeit mit dem anderen Geschlecht erinnert sich zwar kein Mann explizit, aber unbewusst wirken diese Erfahrungen im Gedächtnis weiter.
Beim Heranwachsen nimmt der Sohn dann zunehmend mehr die weiteren Beziehungen seiner Mutter wahr. Geht sie ganz in ihrer Mutterrolle auf oder ist sie berufstätig? Welche Interessen und Freundschaften hat sie? Lebt sie allein, in einer guten Partnerschaft oder ist sie unzufrieden, enttäuscht und vorwurfsvoll? Je unglücklicher oder verbitterter eine Mutter ist, desto schwerer kann es ihr fallen, ihren Sohn loszulassen. Und sobald er sich für eine andere Frau interessiert, steht sie nicht mehr im Mittelpunkt seines Lebens, sondern wird gezwungen, ein Stück zur Seite zu treten. Um die innere Leere zu überdecken, bindet eine Mutter dann unter Umständen ihren Sohn manipulativ an sich, etwa indem sie die Partnerin entwertet oder Schuldgefühle im Sohn verstärkt. Doch eine zu enge Bindung an die Mutter kann auch von einem Sohn ausgehen, der seine Mutter unbewusst idealisiert, so dass sie für ihn rundum die beste aller Frauen bleibt.
Den Traum erlebt Norbert als Aufforderung, über die Beziehung zu seiner Mutter nachzudenken. Noch in der Grundschulzeit bestand sie darauf, gemeinsam mit ihm in die Badewanne zu steigen, obwohl ihm das längst unangenehm war. Und irgendwie kommt sie ihm noch heute bei jeder Begrüßung körperlich zu nahe. Vielleicht ist ihre Zuwendung insgesamt ein größeres Problem, als er bisher wahrhaben wollte.
Doch wann wird mütterliche Fürsorge problematisch? Andrea träumt dazu:
Meine Mutter steht an zwei Orten gleichzeitig. Eine Mutter ist falsch und böse, ich weiß aber nicht genau, welche von beiden. Das ist schrecklich.
Alexander Solschenizyn ist überzeugt, dass die Linie, die Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, Klassen oder Parteien verläuft, sondern quer durch jedes Menschenherz.110 Demnach ist kein Mensch ausschließlich gut, sondern besteht aus einer guten und einer bösen Hälfte. Allerdings beschreibt der Traum nicht nur diese Spaltung, sondern die Schwierigkeit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Was ist nämlich eine böse Mutter und was ist eine gute Mutter? Das ist besonders schwer ersichtlich, wenn eine Mutter als sehr fürsorglich erlebt wird. Im Übermaß kann aber jede positive Eigenschaft destruktiv werden. Zu viel Fürsorge engt ein und macht abhängig. Zu viel Unterstützung kann träge machen oder das Minderwertigkeitsgefühl verstärken, weil die eigenen Fähigkeiten zu wenig spürbar werden. Und wenn wir diese Beispiele umdrehen, wird deutlich, dass auch vermeintlich Schlechtes einen positiven Aspekt haben kann. Etwas zu wenig Fürsorge schenkt Freiheiten und ist eine Herausforderung, an der ein Kind auch wachsen kann. Doch Gut und Böse sind nicht immer derart versteckt, sondern häufig offensichtlich wie etwa bei einer gewalttätigen Mutter. Aber auch sie hat etwas Gutes in sich verborgen, das sie allerdings zu wenig lebt.
Wie Andreas Mutter sind wir also alle gut und böse. Ein Mann hätte bildlich gesprochen einen inneren bösen Bruder und eine Frau eine innere böse Schwester. In Träumen treten diese bösen Hälften häufig als gleichgeschlechtliche Personen auf und zeigen unsere destruktiven Möglichkeiten. Andreas’ Mutter erinnert uns daran, dass wir mit unseren guten und schlechten Hälften widersprüchliche Wesen sind, weshalb wir uns selbst und anderen Menschen gegenüber selten eindeutige Gefühle entwickeln können, obwohl wir uns das häufig sehnlich wünschen.