7. Albtraummotiv Kultur und Technik: wenn Dinge zerbrechen oder bedrohlich werden

Wenn man ein Bett aus Weidenholz in der Erde vergräbt, dann wächst daraus kein Bett, sondern ein Weidenbaum. Mit diesem berühmten Beispiel versuchte Aristoteles111 einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Natur und Technik aufzuzeigen. Die Natur erneuert sich selbst, die Technik dagegen braucht dazu den Menschen. Zuerst war die Natur, anschließend trat der Mensch auf die Bühne und erst danach die Technik. Einst war das Mächtigste die Natur und der Mensch mächtiger als die Technik. Heute ist die Natur größtenteils immer noch mächtiger als der Mensch, aber die Technik in gewissen Bereichen mittlerweile auch. Der Mensch scheint eingekeilt.

Kultur, Riten und Technik sollten ursprünglich das Leben des Menschen erleichtern und schützen, aber auch die Natur verbessern. Mikroskop oder Fernrohr könnte man dementsprechend als optimierte Augen bezeichnen, mit denen wir das für Menschen eigentlich Unsichtbare sichtbar werden lassen. Auch mit Ultraschalluntersuchungen, Kernspin- und Computertomographie sowie Endoskopie vertreiben wir die natürliche Dunkelheit. Technik setzt häufig da an, wo die Natur aufhört, so dass wir naturgegebene Beschränkungen überwinden können, anstatt sie schicksalhaft oder gottgegeben hinzunehmen. Wir erobern mit der Technik neue Lebensräume, etwa mit den Flugzeugen den Himmel oder mit den Schiffen das Meer. Doch das ist mit Gefahren verbunden, wie der Traum von Anette zeigt:

Mit meinem Bruder stehe ich abends vor einem Fabrikgebäude und warte auf den Bus. Plötzlich stürzt hinter dem Gebäude ein Linienflugzeug ab. Ich höre heftige, laute Explosionen, Schreie und sehe Rauch und Feuer. Trümmer fliegen durch die Luft. Wir werfen uns auf den Boden.

Flugzeugträume

Der Mensch ist eigentlich ein Erdbewohner, im Wasser und in der Luft kann er sich nur mit technischen Hilfsmitteln aufhalten. Um in diesen menschenfeindlichen Gebieten überleben zu können, braucht es Konstruktionen, die allerdings fragil sind und zu Bruch gehen können. »Was stürzt ab, zerbricht und könnte mich verletzen?«, fragt sich dementsprechend Anette. Sie erlebt einen Falltraum, mit dem Traum-Ich in der Beobachterrolle.

Himmel und Luft sind im erdnahen Teil der natürliche Lebensraum von Insekten und Vögeln, und weit darüber liegt der Ort, an dem gemäß vieler Religionen Gott wohnt. Im antiken Griechenland sitzen die Götter auf dem Olymp, und der christliche Gott weilt mit seinen himmlischen Heerscharen hoch oben im Himmel. Was oder wer Gott ist, wissen wir nicht, was allerdings die Menschen seit Urzeiten und in allen Kulturen nicht davon abgehalten hat, sich Bilder über Gott zu machen. Nüchtern gesagt sind diese Bilder Projektionen, an die wir glauben oder eben auch nicht. Menschen haben immer Theorien und Hypothesen über Gott entwickelt. Und bei einem epochalen Wandel ändern sich die Gottesbilder häufig radikal. Bildlich gesprochen kann da etwas aus kosmischer Höhe herabfallen und zerbrechen. Wenn in einem Traum aus den Weiten des Alls etwas herunterfällt, könnte es also sein, dass religiöse Überzeugungen oder überwertige Ideen an der irdischen Realität zerschmettern.

Letztlich sind aber nicht nur unsere metaphysischen Vorstellungen, sondern alle wissenschaftlichen Theorien und Hypothesen Konstruktionen unseres Geistes, die in der Regel nicht ewig halten. So musste die Menschheit mit der kopernikanischen Wende die Idee opfern, dass sich die Sonne um die Erde dreht, und mit der Einstein’schen Relativitätstheorie weitere physikalische Gewissheiten. Auch hier würde die Metapher herabstürzender Gefäße passen, denn überholte Theorien sind zerbrochene Theorien. Solange sie aber gelten, stellen sie ein intaktes Gefäß dar, in dem wir Orientierung und Geborgenheit erfahren. Luft und Himmel symbolisieren also den Ort unseres Geistes, rationaler und irrationaler Gedanken und Überzeugungen. Dazu gehören auch unsere jeweiligen Lebenskonzepte und Ideologien. Und in Flugzeugträumen kann es um solche Konzepte oder Strategien gehen, die uns allerdings nicht immer bewusst sind.

Anette ist seit einigen Tagen zu Besuch bei ihrem Bruder und hat am Abend vor ihrem Traum heftig mit ihm gestritten. Er ist verärgert über ihr sehr teures Hobby, denn dadurch kann sie sich für ihre Urlaubstage kein Hotel leisten, sondern wohnt nun bei ihm. Seiner Ansicht nach finanziert sie ihr Hobby auf seine Kosten. Sie empört sich über die Unterstellung, seine Gastfreundschaft auszunutzen. Der Streit eskaliert, jeder sucht mit neuen Argumenten den anderen von der Richtigkeit der eigenen Sichtweise zu überzeugen. Der Ton wird heftiger, bis sich Anette empört in das Gästezimmer einschließt. Sie schwört sich, ihren Bruder nie mehr zu besuchen.

Wie im Traum ins Bild gebracht, ist tatsächlich durch den heftigen Streit etwas zerbrochen, und zwar hinterrücks. Unbewusste Idealisierungen könnten zerschellt sein. Ist der Bruder vielleicht gar nicht so erfreut über ihren Besuch, wie Anette dachte, sondern neidisch? Und könnte Anette egoistischer sein, als sie zugeben möchte? Herabfallende Flugzeugteile könnten die Scherben oder der Trümmerhaufen versinnbildlichen, die nach einem Streit manchmal übrig bleiben. Und solche Trümmer verletzen unter Umständen alle Beteiligten. Wenn unsere Überzeugungen abstürzen, kann das also ein sehr schmerzhafter Prozess, aber manchmal auch notwendig, befreiend und sogar befriedend sein.

Nach meiner Erfahrung ist das Traum-Ich bei Flugzeugabstürzen häufiger in der Beobachterposition als selbst Insasse des Flugzeugs. Das könnte damit zusammenhängen, dass wir eine Überzeugung oder Theorie haben, sie aber nicht selbst sind. Viele Menschen sind fähig, Überzeugungen aufzugeben und loszulassen. Wer allerdings im Traum selbst in einem abstürzenden Flugzeug sitzt, kann sich fragen, ob er so stark mit einer Idee identifiziert ist, dass er mit deren Untergang selbst in den Abgrund gerissen und zerstört wird.

Nicht immer, aber manchmal lohnt es sich, in Flugzeugträumen auf die feinen Nuancen zu achten. Was macht es beispielsweise für einen Unterschied, ob ein Linienflugzeug wie bei Anette, ein Privatjet, Raumschiff, Militärflugzeug oder Hubschrauber abstürzt? Ähnlich einem Linienflugzeug, das prinzipiell allen Menschen zugänglich ist, teilen viele Menschen in einer Gesellschaft die gleichen Überzeugungen und prägen den Zeitgeist. Ein Privatjet gehört einer Person allein, so wie wir ganz individuelle Vorstellungen haben können. Mit dem Raumschiff können wir die irdische Realität verlassen und zu neuen Planeten und neuen Welten vordringen. Falls das abgestürzte Militärflugzeug vom Feind abgeschossen worden ist, könnte ein Konkurrenzkampf Aufmerksamkeit fordern. Und falls ein Polizei- oder Rettungshubschrauber abstürzt, könnten die inneren Ordnungshüter oder die Gesundheitsfürsorge ein Thema sein. Ein kreisender Hubschrauber könnte aber auch einen Hinweis zur Beziehung zwischen Eltern und Kindern geben. Neuerdings spricht man nämlich von sogenannten Helikopter-Eltern, die ihre Kinder ständig beobachten und überwachen. Sie verwehren ihnen Freiräume, weil sie immer wissen wollen, wo und was die Kinder unternehmen.

Das Schiff

Bei vielen technischen Erfindungen dient die Natur als Vorbild. Ein Flugzeug ahmt den Vogel nach, und Schiffe könnte man als vergrößerte und verbesserte Nussschalen betrachten. Beides sind zerbrechliche Gefäße, was auch in Margots Traum zum Thema wird:

Inmitten einer großen Gesellschaft bin ich auf einem Dampfer auf einem großen Fluss. Wir sind vergnügt. Plötzlich herrscht große Aufregung. Das Schiff zerbricht und ich muss auf ein kleines Floß umsteigen. Hinter dem Floß entdecke ich ein großes Krokodil. Das Wasser fließt immer spärlicher. Voll Schrecken wird mir klar, dass das Krokodil nur darauf lauert, bis das Wasser ganz versiegt, um dann zuzupacken.

In jeder Kultur haben sich die Menschen Gefäße gebaut, um etwas darin aufzubewahren. Vom Lebensbeginn bis zum Tod benutzen wir sie, wie beispielsweise Wiege, Bett, Schüssel, Schrank oder Sarg. Selbst Wohnung, Haus und Kleider haben in diesem Sinn Gefäßcharakter. Was macht nun den Unterschied aus, ob ein Mensch im Traum von einem Esel oder einem Schiff getragen wird? Grundsätzlich ist der Esel natürlich und das Schiff menschengemacht. Wenn im Traum der Esel, den man reitet, zusammenbricht, könnte man fragen, welche Natur den Dienst verweigert. Ist es Eigensinn, Sturheit oder der eigene Körper, der die Belastung nicht mehr aushält? Bei einem brechenden Schiff wird etwas kulturell Tragendes zerstört. Welcher gesellschaftliche Rahmen könnte brechen? Wo gehört man nicht mehr dazu? In der Gesellschaft wohnen wir – nicht immer ganz streng getrennt – in unterschiedlichen kulturellen Welten: etwa in der Welt des Kindes oder des Erwachsenen, der Welt der Wohlhabenden oder Bedürftigen, der Welt der Berufstätigen oder Rentner, der Welt der Gesunden oder Kranken. Wer im Traum von Bord geht, wird manchmal unsanft daran erinnert, dass er aus einem dieser Bezüge herausfallen könnte. Und wie Margot müssen wir manchmal auf unserem Lebensweg umsteigen und uns mit etwas Notdürftigem oder Provisorischem durchschlagen.

Margot ist durch eine schwere Erkrankung aus der Welt der Gesunden herausgefallen. Wie es um die Krankenwelt bestellt ist, erleben wir bereits bei einer heftigen Magen-Darm-Grippe oder einem Migräneanfall. Schwäche oder Schmerz schließt uns vom alltäglichen Leben aus. Wir können uns nicht an den Tisch setzen, um mit anderen gemeinsam zu essen, wir können vielleicht nicht einmal duschen und arbeiten schon gar nicht. Wir sind Verbannte. Doch sobald wir uns erholt haben, scheint das vergangene Elend manchmal unwirklich oder kaum noch vorstellbar.

Auch der Soziologieprofessor Helmut Dubiel hatte kurz nach Mitteilung der Diagnose Parkinson mehrfach einen Schiffstraum.112 Er träumte von einem Dampfer auf hoher See voller lachender, glücklicher Menschen. In der Nacht warf es ihn plötzlich über Bord. Mit hoher Geschwindigkeit fuhr der Dampfer weiter, während er zurückblieb. Dieses Bild zeigt, wie eine schwere Erkrankung den Kranken isolieren kann. Während die Gesunden weiterfahren, dabei fröhlich ihren Kurs halten, ist der Kranke nicht nur von Naturkräften bedroht, sondern auf sich allein gestellt. Sowohl das Floß in Margots Traum als auch das Schwimmen von Helmut Dubiel erinnern zudem daran, dass eine Krankheit das Lebenstempo deutlich verlangsamt. Vieles kann nicht mehr so schnell wie in gesunden Tagen erledigt werden, aber auch die Krankheit selbst fordert Aufmerksamkeit und Zeit.

Ein anderes Bedrohungsszenario auf einem Schiff schildert Elviras Traum:

Ich renne auf einem Schiff umher, welches dabei ist unterzugehen. Es sind Bomben unter Deck, die explodieren können. Es ist beängstigend.

Elvira weicht Konflikten meistens aus. Weder zu Hause noch am Arbeitsplatz mag sie Streitereien. In der Regel ist sie bemüht, Spannungen zu beschwichtigen oder zu bagatellisieren. Obwohl Elvira ihre Schwiegertochter überhaupt nicht mag, hat sie ihr am Abend vor dem Traum eine Schachtel »Mon Chéri« – »Mein Liebling« – geschenkt.

In einer Bombe befinden sich Sprengstoff und Sprengkraft. Sie ist für Kampf und Krieg bestimmt. Einige Sprichwörter bringen uns das Wesen der Bomben näher. Wenn beispielsweise etwas »bombenfest« ist, kann es jedem Angriff widerstehen. Sobald allerdings »eine Bombe einschlägt« oder »eine Bombe geplatzt ist«, wissen wir, dass etwas unerwartet Heftiges geschieht. Andererseits feiern wir den »Bombenerfolg«, das »Bombenfest« oder »Bombengeschäft«, die alle außergewöhnlich sind.

Auch in unserer Psyche können Bomben entstehen, unter anderem, wenn Ärger ständig hinuntergeschluckt und verdrängt wird. Man bekommt ihn dabei nicht los, sondern er sammelt sich unbewusst und verdichtet sich dabei zu Wut. Irgendwann braucht es nur eine harmlose Kleinigkeit und die Bombe zündet. Mit der Explosion entlädt sich die gesamte alte Aggression auf einen Streich.

Das kennt auch Elvira. Bereits seit Jahren schluckt sie ihren Unmut und Groll gegenüber ihrer Schwiegertochter hinunter und versucht so gut es eben geht, höflich und nett zu bleiben. Und wie üblich verlief das gemeinsame Abendessen äußerlich unauffällig. Doch könnte es sein, dass sie mit ihrem kleinen Pralinengeschenk übertrieben hat? »Mon Chéri« steht in extremem Gegensatz zu ihren wahren Gefühlen, das Geschenk ist also absolut unauthentisch. Die Spannung zwischen dem inneren Gefühl und dem äußeren Verhalten könnte kaum größer sein, und unter solchen Umständen entstehen gerne Bomben. Elvira möchte den Traum schnell vergessen, aber sie würde damit die Chance verpassen, sich mit einer Aggressivität auseinanderzusetzen, die außer Kontrolle geraten könnte.

Unterwegssein und Reisen

Das ganze Leben ist eine Reise, weshalb es nicht verwundert, dass wir auch in Träumen oft unterwegs sind, sei es zu Fuß oder mit modernen Verkehrsmitteln wie etwa Waltraut:

Ich bin in einem total überfüllten Zug und suche die Toilette. Ich gehe durch ganz viele Waggons und nirgends ist eine Toilette. Ich gerate in Panik.

Was verbinden Sie mit Zugfahren? Schätzen Sie das bequeme Reisen oder sind Sie genervt, etwa weil die Züge oft überfüllt, schmutzig oder unpünktlich sind? Benutzen Sie den Zug nur ausnahmsweise oder gar nicht, weil Sie mit dem Auto individualistischer reisen können? Abhängig von Ihren realen Fortbewegungsgewohnheiten wird ein Traum Unterschiedliches beleuchten.

Ganz allgemein gilt, dass wir mit dem Auto flexibel sind, während der Zug als kollektives Verkehrsmittel auf vorgegebenen Schienen unterwegs ist, die er nicht verlassen kann. Im übertragenen Sinne kann deshalb das Zugfahren im Traum mit geregelten Abläufen, Richtgrößen oder gesetzten Normen zu tun haben. Doch Normalität ist nicht nur üblich, sondern häufig auch vorteilhaft. Wir gehören dann nämlich zur Mitte der Gesellschaft, da die Norm definitionsgemäß der Durchschnittswert ist. Und wenn wir uns wie alle anderen normal verhalten, gewinnen wir zudem den Eindruck, dass es schon seine Richtigkeit und Ordnung haben wird.

Im Traum weiß Waltraut, dass alle Mitfahrenden im Traum so schnell wie möglich an den gleichen Ort wollen. Könnte sie demnach ein persönliches Ziel haben, das sie mit vielen anderen teilt? Gibt es einen gesellschaftlichen Trend, dem sie sich angeschlossen hat? Verunsichert durch die Finanzkrise und aus Angst vor der Geldentwertung möchte Waltraut ihr geerbtes Geld in eine Eigentumswohnung investieren. Die Sorge um die Geldstabilität teilt sie tatsächlich mit vielen Menschen, ebenso die Idee, das Vermögen in eine Immobilie zu investieren. Dadurch sind allerdings attraktive und bezahlbare Objekte rar geworden, besonders in gesuchten Lagen.

Falls sich Waltrauts Traum auf ihre Wohnungssuche bezieht, dann fällt auf, dass es ihr derzeit damit nicht gut geht. Tatsächlich sucht sie bereits seit zwei Jahren intensiv, aber ohne Erfolg. Und im Traum findet sie ebenfalls keinen Platz, um ihre natürlichen Bedürfnisse loszuwerden. Das WC ist der Ort, den wir aufsuchen, wenn wir etwas ausscheiden müssen. Das können wir zwar für eine gewisse Zeit aufschieben, aber irgendwann gelingt das nicht mehr, weil die Natur sich durchsetzt. Wir verlieren dann die Beherrschung und Kontrolle. Was nun? In ihrer Phantasie sucht Waltraut vom Traumende her eine passende Lösung ihres Problems. Eine gewisse Zeit lang könnte sie weitere Abteile nach einer Toilette durchsuchen und die Hoffnung einfach nicht aufgeben. Vielleicht kommt auch bald der nächste Bahnhof, um auszusteigen. Schlimmstenfalls könnte sie vom fahrenden Zug abspringen oder die Notbremse ziehen.

Zwei Tage vor dem Traum ist Waltraut gestolpert und hat sich eine Unterarmfraktur zugezogen, weshalb sie einen Besichtigungstermin für eine Wohnung nicht wahrnehmen konnte. Der Zufall hat sie ausgebremst, und ihre Frustration über diese verzwickte Wohnungssuche wird immer größer. Den Traum empfindet sie als Spiegel ihrer unbefriedigenden Situation, aber auch als Aufforderung, etwas innezuhalten. Geht es darum, einfach noch mehr Geduld aufzubringen, also weiterzumachen wie bisher? Wäre es sinnvoll, ihre Suchkriterien wie Wohnungslage und Wohnungsgröße zu überdenken? Entspricht das bisher Gesuchte wirklich ihren persönlichen Bedürfnissen? Oder wäre es sogar besser, überhaupt nicht in eine Wohnung zu investieren, obwohl es eben derzeit viele tun? Manchmal springen wir »auf den fahrenden Zug auf«, weil wir bei einer guten Sache dabei sein wollen, aber genauso gut kann es notwendig werden, von einem Zug wieder abzuspringen, um einen anderen, stimmigeren Weg zu finden.

Züge und Zugfahren sind häufige Traummotive. Wer verzweifelt, aber erfolglos versucht, aus einem Zug auszusteigen, kann sich fragen, in welchem kollektiven Trend er gefangen sein könnte. Wer dagegen einen Zug verpasst, kann überlegen, in welchem gesellschaftlichen Bereich er nicht mehr mitkommen oder den Anschluss verpassen könnte. Durch dieses Traummotiv realisierte ein 60-jähriger Mann seine Angst vor einem Arbeitsplatzverlust. Im Gegensatz zu seinen jüngeren Kolleginnen und Kollegen kam nämlich er mit den ständigen Umstrukturierungen in der Firma nicht mehr gut zurecht. Mit seiner Langsamkeit und Umständlichkeit erlebte er sich zunehmend überfordert und verunsichert, während seine Kollegen ihm quasi davonfuhren.

Zurückzubleiben, anstatt vorwärts- und mitzukommen, wäre somit ein Thema des Traummotivs vom verpassten Zug. Und das fühlt sich häufig schlimm an. Doch in der Realität erfahren wir gelegentlich auch von Personen, die aus unvorhersehbaren Gründen ihren Zug verpassen und dadurch einem Unglück entgehen. Deshalb kann sich die Frage lohnen, unter welchen Umständen es vorteilhaft sein könnte, im Traum den Zug nicht zu erreichen. Vielleicht entpuppt sich das Verpassen als günstig, obwohl es auf den ersten Blick schrecklich scheint. So träumte eine Frau, dass sie es nicht mehr schafft, rechtzeitig vor der Abfahrt in einen Zug einzusteigen, obwohl ihr Mann bereits drin sitzt. Nach dem ersten Schock über die Idee, nicht mehr gemeinsam in der gleichen Spur zu fahren, spürte die Träumerin etwas Befreiendes. Sie hatte ihren Mann viele Jahre beim Aufbau seines Geschäfts unterstützt, aber jetzt war es an der Zeit, die eigenen beruflichen Interessen neu zu beleben.

Wenn wir ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen, steuern wir es nicht selbst, wie etwa beim Fahrrad- oder Autofahren. Dazu der Traum von Bettina:

Ich bin unterwegs, mal zu Fuß, mal mit dem Auto und dann im Bus. Dieser fährt ganz nah an das Meer heran, die Wellen sind stark und kommen in die Nähe des Busses. Manche sind beunruhigt, ich habe aber das Gefühl, der Busfahrer weiß, was er macht. Die Wellen laufen unter dem Bus durch, das Meer ist unberechenbar, plötzlich steht mir das Wasser bis zum Hals, dann über meinem Kopf und ich wache in Panik auf, hole tief Luft.

Im Traum wechselt Bettina das Verkehrsmittel. Zunächst geht sie aus eigener Kraft zu Fuß, anschließend fährt sie mit dem eigenen Auto, bevor sie in den Bus wechselt. Nun lenkt sie nicht mehr selbst, sondern vertraut sich dem Busfahrer an und geht wie jeder Busreisende davon aus, dass dieser ausgeschlafen, kompetent und umsichtig fährt. Doch sie schätzt ihn falsch ein und er scheint das Meer zu unterschätzen. Wenn Bettina den Busfahrer als einen inneren Persönlichkeitsanteil versteht, dann geht es darum, wem oder was sie sich anvertrauen kann, wenn sie in die Nähe von Naturgewalten kommt.

In der Realität hatte sie nämlich eine Affäre, von der ihr eifersüchtiger und jähzorniger Mann auf keinen Fall etwas erfahren darf. Er wäre zu allem fähig, weshalb sie ihre Liebschaft sehr umsichtig und geschickt verheimlichte. Der Traum spielt nun mit der Möglichkeit, dass sie überflutet werden könnte. Thematisiert der Traum lediglich verdrängte Ängste, oder könnte ihr tatsächlich etwas gefährlich werden? Was könnte als Welle über sie hereinbrechen? Geht es um gewaltige Gefühle von ihr selbst, um die ihres Freundes oder ihres Ehemanns, die sie unterschätzt?113 Seit längerem fühlt sich Bettina in ihrer Dreiecksbeziehung ganz wohl und möchte daran eigentlich nichts ändern. Durch den Traum hat sie nun den Eindruck, dass sie sich vielleicht zu gut eingerichtet hat und nicht wahrhaben möchte, wie explosiv die Situation sein könnte. Zwar spricht der Traum von der Kraft des Wassers, aber Bettina erscheint das Motiv Feuer passender, weshalb sie sich fragt, ob sie derzeit mit dem Feuer spielt. Die Lösung, auf die der Traum hinweist, wäre: tief Luft holen und neu bewerten. In dieser Hinsicht wäre der Traum eine Warnung vor allzu großer Naivität und Selbstüberschätzung.

Räume und Gebäude

Nicht nur auf Reisen, sondern auch im Haus sind wir gelegentlich unterwegs, wie etwa Sigrid:

Ich gehe in meinen Keller, um Altpapier und Kartonage aufzuräumen. Als ich nach unten komme, entdecke ich Vater, er hat mir Holz gebracht und stapelt es. Er verhält sich ganz leise, da er unbemerkt bleiben will. Ich erschrecke, als ich ihn sehe. Eine Kelleretage tiefer befindet sich ein magerer, verwilderter, schwarzer Bär, der versucht, nach oben zu kommen. Vater möchte ihn mit dem Gartenrechen nach unten drücken, doch es ist fast aussichtslos. Von noch weiter unten höre ich Geschrei und komische Geräusche. Ich will weg, nach oben, komme aber nicht von der Stelle.

Bis vor wenigen Jahrzehnten sind ungehorsame Kinder zur Strafe im Keller eingeschlossen worden. Selbst einige Erwachsene steigen nur ungern in einen Keller hinunter, weil es dort feucht, kalt und dunkel ist. Andere fürchten sich vor Mäusen, Spinnen und Ratten. Der Keller ist also ein Ort, an dem man sich gruseln kann, jedoch nicht allein wegen solcher realen Gegebenheiten, sondern weil er unsere Phantasie mächtig anregt. Was könnte dort unten nicht alles versteckt sein, von dem wir nichts wissen? Erwarten uns Monster, Tote oder Tiere? Vermuten wir etwas Gefährliches oder etwas Geheimnisvolles? Gerade weil der Keller viele ängstigt, kann er wiederum gut für geheime Treffen oder als Versteck genutzt werden. Zudem verwahren wir bis heute im Keller alte oder selten benutzte Sachen, Gerümpel, aber auch Vorräte und gelegentlich etwas Wertvolles auf. Ähnlich ist es mit unserem Unbewussten. Dort liegen neben Vergessenem und Verdrängtem – manchmal sprechen wir von den »Leichen im Keller« – unter Umständen auch Ressourcen, von denen wir zehren könnten. Und so ist es kaum verwunderlich, dass Kellerräume im Traum häufig unser Unbewusstes und manchmal auch den Unterleib symbolisieren – und was sich dort abspielt, ist uns nicht immer ganz geheuer.

Bereits die Beschaffenheit der Kellerräume kann einige Hinweise über unsere unbewussten Seelenräume geben. Wer auf Luftschutzräume oder Bunker stößt, könnte überlegen, wovor er Schutz benötigt. Vielleicht sind es die unerträglichen Kämpfe und Streitereien im Alltag, die eine Sehnsucht nach Rückzugsmöglichkeiten wecken. Auch verstaubte, uralte Räume aus dem Mittelalter oder noch früheren Epochen können plötzlich vorhanden sein. Dann könnten wir zu einer Tiefenschicht der Psyche vorgedrungen sein – dem sogenannten kollektiven Unbewussten –, die über das persönliche Gedächtnis hinausreicht, in längst vergangene Menschheitserfahrungen. Wer schließlich ganz neue Kellerräume findet, kann sich fragen, welche bisher ungesehenen Aspekte im Unbewussten nun ins Blickfeld rücken. Doch während manche auf solche Räume neugierig werden, reagieren andere verängstigt – je nachdem, ob uns Unbekanntes bereichernd oder suspekt erscheint.

Falls wir im Traum-Keller etwas Erschreckendes erwarten und uns weigern, tiefer zu steigen, ist es häufig einfach noch zu früh, sich diesen verdrängten Erfahrungen oder dem Unbekannten zu stellen. Anstatt weiterzugehen und uns dabei zu überfordern, kehren wir besser um. Gelegentlich können wir uns aber gar nicht wegbewegen, sei es, weil unsere Beine plötzlich gefesselt sind oder wir feststecken wie Sigrid. Sie will zunächst auf der ersten Kelleretage aufräumen – ein Traummotiv, das häufig auf einen inneren Klärungs- und Bewusstwerdungsprozess hinweist. So wie wir in der Realität einen Keller von Altpapier entrümpeln, können wir bewusstseinsnahe verdrängte Erfahrungen sortieren, bewerten und unnötige Altlasten entsorgen. Dabei kommt gelegentlich etwas Unerwartetes hoch.

Bei Sigrid tauchen der Vater und ein vernachlässigter Bär auf, wobei sie sich zunächst mit keiner der beiden Figuren auseinandersetzen möchte. Der Traum vereitelt allerdings die Flucht vor einem Vater, der sie aufgrund ihrer Legasthenie in der Kindheit als Dummerchen bezeichnet und beschämt hat. Vielleicht ermutigt der Traum dazu, diese Fluchttendenz aufzugeben, denn Sigrid ist längst kein ohnmächtiges Kind mehr und eigentlich fähig, sich ihren altgewohnten Lebensmustern zu stellen. Zudem kann sie nicht wirklich vor dem Vater fliehen, da sie ihn und seine Entwertungstendenz längst unbewusst verinnerlicht hat. Ohne physisch anwesend zu sein, wirkt er als innerer Vater und hat sie wahrscheinlich über viele Jahre von ihren »Bärenkräften« abgeschnitten. Jetzt scheint dieser innere Vater nicht mehr die passenden Mittel zu besitzen, um den vernachlässigten Bären wegzusperren. Hier könnte Sigrid gefordert sein: Der innere Bär muss gefüttert und gepflegt werden, damit er wieder zu Kräften kommt und ihr als innere Vitalität zur Verfügung stehen kann. Das ist nicht ganz ungefährlich, denn die wilde Stärke des Bären könnte in ihrem Leben für einigen Wirbel sorgen. Auch ihr einseitiges Vaterbild scheint Sigrid revidieren zu müssen. Während sie bisher nur seine destruktiven Seiten wahrgenommen hat, zeigt der Traum eine verborgene fürsorgliche Haltung. Mit den Holzvorräten stellt er ihr natürliche Energien zur Verfügung, von denen sie profitieren kann.

Weiterkommen und Weitergehen ist ein häufiges Thema beim Traummotiv »Treppe«. Vielleicht wagen wir einfach nicht, eine Treppe zu betreten, vielleicht ist sie auch verschüttet oder baufällig. Ihre Länge, der Steilheitsgrad, die Art der Stufen und des Geländers entscheiden darüber, ob wir sie überhaupt benutzen wollen oder können. Manchmal bricht im Traum eine Treppe auch plötzlich ab, hat kein Geländer oder bewegt sich im Raum. Wer sich in derart ungemütliche Traumbilder hineinversetzt, kann überlegen, ob er sich in einer schwierigen Übergangssituation befindet. Treppen und Leitern sind ja Verbindungswege, mit denen wir die Höhenunterschiede zwischen Orten überwinden. Auf einer Treppe sind wir nicht heimisch, sondern befinden uns in einem Zwischenraum, sind bereits weg vom alten Ort und noch nicht am neuen Ort angekommen. Wenn nun eine Treppe oder Leiter auf dem Weg nach oben abbricht, könnte sich das beispielsweise auf eine geplante Sprosse der Karriereleiter, irgendeine Aufwärtsbewegung oder Entwicklung beziehen, die derzeit nicht möglich ist. Und wer auf einer Treppe oder Leiter steht, die einige Meter vor dem Erdboden endet, könnte sich fragen, wie es derzeit um den eigenen Bodenkontakt oder Realitätssinn bestellt ist. Während in einer solchen Situation allerdings einige nach unten springen sollten, um wieder auf den Boden der Tatsachen zu kommen, könnte für manche Realisten der Wink lauten: Konkrete Tatsachen sind nicht alles. Erkunde die Welt der Phantasien, Wünsche oder Sehnsüchte!

Doch selbst eine intakte Treppe kann zum Problem werden, etwa wenn wir hinauf- oder hinunterlaufen, ohne irgendwo anzukommen. Das kann die Frage aufwerfen, ob wir überhaupt ein Ziel kennen oder finden. Für einige Menschen ist das leidvoll, andere empfinden es dagegen angenehm, nirgends verweilen zu müssen. Unter Umständen müssen wir aber auch zu viele Stufen gehen, so dass sich unsere Kräfte erschöpfen, bevor wir ans Ziel kommen. Da es dieses Problem auch in der Realität gibt, haben Techniker Aufzüge erfunden, die uns bequem und schnell transportieren. Dieser Vorteil gegenüber Treppen überzeugt jedoch nicht alle. In der Realität fahren einige Menschen nur ungern Aufzug, weil sie die Vorstellung des Steckenbleibens etwa bei einem Stromausfall abschreckt. Bequemlichkeit und Schnelligkeit haben ihren Preis: Für kurze Zeit müssen wir uns einsperren lassen und sind der Technik ausgeliefert. Leonies kurzer Traum verdeutlicht das:

Ich bin im Fahrstuhl eingesperrt. Ich schreie, aber niemand hört mich.

Der Aufzug in Leonies Traum fährt in einem großen Verwaltungsgebäude – ihrem Arbeitsplatz – nach oben. Gefangen ist sie also da, wo es um ihre berufliche Stellung und ihre beruflichen Beziehungen geht. Hier scheint sie isoliert und ohne Handlungsspielraum oder Unterstützung. Niemand wird auf sie aufmerksam, und ihre Schreie verhallen: eine klassische Mobbingsituation mit einem hilflosen, ausgegrenzten Opfer. Da im Traum noch keine Problemlösung ersichtlich ist, könnte Expertenwissen notwendig sein, um Lösungen für die ausweglose Situation zu erarbeiten. Leonie würde dadurch – bildlich gesprochen – befähigt werden, die Fahrstuhltür zu öffnen und ihre Bewegungsfreiheit zurückzugewinnen.

Im Traum können Türen auch vollständig fehlen, so dass ein Ort eventuell gar nicht verlassen oder betreten werden kann. Als Träumerin oder Träumer kann man sich angesichts eines solchen Traummotivs fragen, ob es eine seelische oder konkrete Situation geben könnte, aus der man nicht herauskommt oder wohin der Zutritt verwehrt ist. Türen im Traum thematisieren nämlich häufig Verbindungs- und Begegnungsmöglichkeiten. Von einem »offenen Haus« sprechen wir etwa, wenn jemand seine Türen gerne für andere öffnet und sich als gastfreundlicher Mensch zeigt. Auf der anderen Seite signalisieren Häuser mit verriegelten Türen und verschlossenen Fensterläden, dass jemand ungestört oder unbehelligt bleiben möchte. Hier können auch Sicherheitsbedürfnisse ein Thema sein.

Wer sich im Traum durch zu weit geöffnete oder nicht verschließbare Türen bedroht erlebt, könnte auf zu geringe oder fehlende Abgrenzungsmöglichkeiten in seinem Leben aufmerksam werden und sich mit seinem Schutzbedürfnis auseinandersetzen. Ähnlich kann es sein, wenn ein Türschlüssel fehlt oder gestohlen wird: Die »Schlüsselgewalt« und somit auch Macht und Einfluss über Räume gehen verloren. Ohne Schlüssel haben wir weder Zutritt zu Räumen noch können wir sie verschließen. Auch Andreas ist angesichts seines realen Beziehungskonflikts nicht fähig, eine Traumtür zu öffnen:

Ich bin in einem Zimmer mit einer weißen Tür. Dahinter ist meine Frau. Ich versuche, die Tür aufzudrücken, um zu ihr zu kommen. Sie stemmt sich dagegen. Die Tür wird immer höher. Ich schreie: »Lieber Gott, hilf mir!«, und drücke weiter gegen die Tür. Je mehr ich mich anstrenge, desto größer und schwerer wird sie. Plötzlich beginnt die Tür von oben auf mich draufzufallen.

Im Traum möchte Andreas zu seiner Frau, von der er lediglich durch eine Tür getrennt ist. Die beiden richten jedoch in einem unerbittlichen Beziehungskampf ihre Kräfte gegeneinander. Das könnte eine Warnung sein: Andreas’ Art und Weise, die Beziehung retten zu wollen, ruft enorme Widerstände bei seiner Partnerin hervor. Unabhängig davon, ob er zu bedrängend, zu fordernd oder mit einem anderen Muster ihr gegenüber reagiert: Wenn er bei seinem Verhaltensstil bleibt – so der Traum –, wird er seine Partnerin nicht erreichen. Er verliert zudem nicht nur den Machtkampf, sondern wird sich mit seinen Anstrengungen sogar selbst schädigen, denn die zunehmend schwerer werdende Tür droht ihn zu erschlagen.

Was könnte das für Andreas, der seine Ehe unbedingt retten möchte, konkret heißen? Wahrscheinlich wäre es hilfreich, wenn er diesen Traum seiner Frau erzählt und sie fragt, ob sie in den Traumbildern ihre derzeitige Beziehungssituation erkennt. Vielleicht ist sie verblüfft, wie das Unbewusste von Andreas die Partnerschaft darstellt. Falls der Traum aus ihrer Sicht stimmig ist, könnte sie eventuell die Ursachen ihrer Gegenwehr benennen und unter Umständen sogar sagen, welche Haltung und Schritte von Andreas ihr erlauben würden, die Tür zu öffnen. Vielleicht gesteht sie ihm aber auch, dass sie die Beziehungstür verschlossen halten wird, weil sie bereits an Zukunftsplänen schmiedet, in denen Andreas keinen Platz mehr hat. Ein Gespräch über den Traum könnte dem Paar also ermöglichen, ihren Beziehungskonflikt in einer symbolischen Sprache zu beschreiben und die Vorstellungen über eine gemeinsame oder getrennte Zukunft jeweils in metaphorischen Türbildern zu formulieren.

Verbindungen zwischen Menschen werden nicht nur durch Türen, sondern unter anderem auch durch Telefone, Smartphones oder Computer ermöglicht. Träume, in denen solche Geräte defekt, gestohlen oder verloren sind, hinterlassen oft das schreckliche Gefühl, abgeschnitten oder isoliert zu sein. Wer dieses Traummotiv kennt, könnte sich überlegen, inwiefern der Kontakt und Informationsaustausch mit anderen Personen gestört sein könnte. Doch manchmal ist eine subjektstufige Sichtweise angemessener, weil die Verbindung zur eigenen Innenwelt abgebrochen ist. Sobald wir den Zugang zu unseren eigenen Gefühlen, Phantasien oder Bedürfnissen verloren haben, ist sinnbildlich eine Leitung nach innen gestört.

Der Fluss an Informationen kann also entweder Richtung Außenwelt oder Richtung Seelenwelt versiegen. Allerdings zeigen erst die konkreten Lebensumstände der träumenden Person, ob eine solche Kontaktunterbrechung nachteilig oder hilfreich ist. Wer nämlich von äußeren oder inneren Eindrücken überflutet wird, braucht manchmal für eine gewisse Zeit abgeklemmte Leitungen, um sich regenerieren zu können. Das würde beim Traummotiv »Tür« zudem heißen, dass nicht jede Tür geöffnet werden sollte. Hinter Türen kann sich auch etwas Zerstörerisches oder Schreckliches verbergen, wie Lenas Traum zeigt:

Ich bin im Dachgeschoss mit zwei direkt nebeneinanderliegenden Räumen. In jedem befindet sich ein Gasherd. Der eine Gasherd, der meiner Großmutter gehört, brennt, aus dem anderen, einem moderneren Herd, strömt Gas aus. Sobald die Verbindungstür geöffnet wird, kommt es zu einer Explosion.

Vergleichbar dem Keller können auch andere Räume ein Symbol unseres Seeleninneren oder Körpers sein. Dabei entsprechen die Stockwerke eines Gebäudes manchmal unseren unterschiedlichen seelischen Schichten oder körperlichen Ebenen. Dachgeschoss oder Speicher haben häufig mit dem zu tun, was sich im Kopf abspielt, und versinnbildlichen die Welt der Gedanken, der Vernunft oder Spiritualität. Falls sich Lenas Traum auf ihr geistiges Leben bezieht, könnte sich dort etwas Gefährliches zusammenbrauen.

Das Gas im Traum ist wie unsere Gedanken primär unsichtbar. Es ist zudem brennbar, so wie wir auch von einer zündenden Idee sprechen, die uns befeuert oder beflügelt. Und im Christentum wird der Heilige Geist nicht nur im Symbol des Windes, sondern auch im Symbol des Feuers beschrieben. Diese Bilder deuten an, dass geistige Phänomene ein Energie- und Kraftpotential besitzen, das wir etwa in Form von Begeisterung deutlich spüren können. Sobald wir begeistert sind, erleben wir die energetisierende Wirkung einer Idee oder Ideologie. Erregen und befeuern kann uns also nicht nur ein körperlicher Trieb, sondern auch Geist, Verstand oder Spiritualität. Und wie jedes Feuer kann auch ein geistiges Feuer wärmend oder zerstörerisch wirken, was auf kollektiver Ebene der Blick in die Geschichte beweist. Nicht wenige Führer haben Nationen für ihre Ideen begeistert, aber sowohl in den Seelen der Menschen als auch ganz konkret viel verbrannte Erde hinterlassen.

Ideen können also eine ganze Nation oder einen einzelnen Menschen befeuern, wie es in Lenas Traum mit den beiden Gasherden angedeutet wird. Da der brennende Gasherd ihrer Großmutter gehört, kann sie sich fragen, ob Überzeugungen ihrer Großmutter – insbesondere zu den Themen Weiblichkeit, Frausein und Mütterlichkeit – unbewusst in ihr wirken. Falls sie solche Vorstellungen in sich entdeckt, würde der Traum ihr Selbstbild korrigieren und verdeutlichen, dass sie als moderne Frau die Ansichten ihrer Eltern oder Großeltern noch längst nicht überwunden hat. Es gäbe in ihr dann einen Raum, in dem die geistigen Werte ihrer Großmutter leben, und einen zweiten Raum, dessen moderner Herd eher für die Werte des aktuellen Zeitgeistes steht.

In Lena scheint das Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Wertvorstellungen einigen Zündstoff zu besitzen. Ein solches Aufeinanderprallen von nicht kompatiblen Werten erlebt sie aktuell aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft: Muss ich das Kind austragen, weil das Lebensrecht des Ungeborenen etwa aus christlicher Sicht nicht verhandelbar ist, oder darf ich abtreiben, weil ein Kind meine Zukunftspläne stört? Wie egoistisch darf ich also sein? Wer die Spannung solcher gegensätzlichen Positionen an sich heranlässt, wird manchmal innerlich fast zerrissen.

Lenas Traum zeigt, dass es sich lohnen kann, darauf zu achten, ob in Träumen irgendwelche Möbel oder Gegenstände von Vorfahren stammen und somit deren Lebensentwürfe für uns seelisch relevant bleiben. Wir besitzen quasi nicht nur eine konkrete Wohnungseinrichtung, sondern sind sozusagen auch seelisch möbliert. Es braucht manchmal einen Traum, um bewusst zu realisieren, in welchem Ausmaß und in welcher Art uns Traditionen seelisch beeinflussen. Wer sich etwa im Badezimmer oder Bett der Eltern oder Großeltern befindet, wird vielleicht in seiner Intimität oder Sexualität weit mehr von deren traditionellen Werten geprägt, als er sich eingestehen mag. Aber auch elterliche Schränke, Autos oder bestimmte Utensilien können bislang verborgene seelische Einflussbereiche der Eltern auf das aktuelle Leben enthüllen.

Maschinen, Geräte und Apparate

Viele Maschinen und Geräte erleichtern unser Leben, etwa wenn wir Körperkraft oder Zeit sparen. Doch diese Errungenschaften haben auch Schattenseiten, wie etwa Helgas Traum beschreibt:

Ich lenke einen LKW, mein kleiner Sohn Julian sitzt auf dem Beifahrersitz. Plötzlich reißen ihn zwei Männer aus dem Auto. Ich erstarre vor Schreck, bleibe regungslos sitzen. Als Julian plötzlich wieder da ist, hat er fünf Kilogramm abgenommen und ist zottelig wie ein Tier, weil er in der Waschmaschine gewaschen und geschleudert wurde. Das war Folter.

Helga wacht erschüttert und beschämt auf, weil sie im Traum ihren einzigen, mittlerweile vierjährigen Sohn nicht vor den Entführern beschützen kann. In der Realität ist sie zudem noch nie LKW gefahren und wundert sich deshalb, wie problemlos und sicher sie einen derart großen Wagen im Traum steuert. Da sie aber beruflich in einer eher männlichen Domäne sehr erfolgreich, zudem häufig unterwegs ist und viele Freiräume nutzen kann, ist das Lenken des LKW durchaus eine passende Metapher für ihre berufliche Kompetenz und Arbeitssituation. Dabei kommt allerdings nicht sie, sondern ihr Sohn in Gefahr. Er wird Opfer einer Entführung. Falls die unbekannten Entführer innere Anteile von Helga repräsentieren, wäre zu fragen, welche unbewussten räuberischen Kräfte in ihr wirken und was es heißen könnte, etwas oder jemanden in eine Waschmaschine zu stecken.

Julian ist tagsüber in einer Krippe und fühlt sich dort recht wohl. Problematisch ist lediglich seine morgendliche Müdigkeit und Langsamkeit beim Frühstück, Waschen und Anziehen. Häufig sieht sich Helga gezwungen, sein Trödeln mit ziemlich rabiaten Methoden zu beenden. Und sie ärgert sich, dass sie wegen Julians Verhalten bereits morgens in zeitlichen Stress gerät, obwohl es ihr in der Regel nicht schwerfällt, sich selbst straff zu organisieren. Aufgrund der Verspieltheit ihres Sohnes schafft sie es meistens nur mit großer Mühe, das Haus pünktlich zu verlassen.

Für kleine Kinder ist es nicht immer einfach, bereits am frühen Morgen zügig in den Tag zu starten. Die straffen Zeitpläne und Zeiteinteilungen der modernen Arbeitswelt können dem natürlichen kindlichen Zeitrhythmus zuwiderlaufen. Während viele Erwachsene solche Anforderungen nicht nur verinnerlicht, sondern für sich selbst längst akzeptiert haben, wird Kindern dadurch etwas weggenommen, quasi gestohlen – im Traumbild wären das die Entführer, die nicht den Erwachsenen, sondern nur das Kind rauben.

Ein für Erwachsene ökonomisch vorteilhaftes Zeitmanagement wird für ein reales, aber auch für unser sogenanntes »inneres Kind« zur Belastung, wenn aufgrund ökonomischer Bedingungen etwa Spiel, Spontaneität oder Muße viel zu kurz kommen. Symbolisch kann diese ökonomische und effiziente Zeitstruktur im Bild einer Waschmaschine dargestellt werden. Mit ihren normiert ablaufenden (Wasch-) Programmen verkörpert eine Waschmaschine unter anderem das Prinzip von Zeitersparnis und Effizienz. Helgas Traum könnte sagen, dass diese kulturellen Errungenschaften ihren Sohn zwar nicht existentiell zerstören, aber doch ziemlich belasten können, denn durch den Waschvorgang wird er »verzottelt« anstatt wie gewünscht gepflegt. Julian profitiert also ganz sicher nicht von dem Einsatz der Waschmaschine, sondern nimmt Schaden.

Die Waschmaschine könnte für Helgas Versuch stehen, Julian klarzumachen, dass er sich morgens mehr beeilen muss, denn die Traummotive Waschen und Putzen thematisieren häufig unsere Bemühungen um Ordnung und Klärung. Ähnlich der geputzten Fensterscheibe, die eine klare Sicht ermöglicht, kann ein Seelenputz innere Phänomene klarer erscheinen lassen. Wenn wir beispielsweise sagen, dass uns etwas »klar« wird, sprechen wir von gewonnenen Einsichten oder geklärten Zusammenhängen.

Das Putzen ist auch ein wichtiges Motiv in Charlottes Traum:

Eine Frau weckt mich und will, dass ich sofort ihre Geschäftsräume putze. Es ist aber mitten in der Nacht, gegen 1 Uhr. Ich gehe in das Geschäftshaus, zunächst in die Kantine; da ist ein ganz grelles Licht. Der Raum ist eiskalt, wie in einem Kühlschrank. Der Raum scheint fast noch im Rohbau zu sein, an den Fenstern sind weiße »Eisblumen«. Mehrere Fernsehapparate laufen, sie sollen Wärme geben. Das ist eine ganz unheimliche, gruselige Atmosphäre.

Das Motiv Schlaf im Traum erinnert uns daran, dass wir eigentlich rhythmisch wiederkehrenden Naturphänomenen ausgeliefert sind, wie etwa Ebbe und Flut, aber auch dem Menstruationszyklus, den Mondphasen oder Jahreszeiten. Noch im 15. Jahrhundert hat Paracelsus empfohlen, bei Anbruch der Dunkelheit ins Bett zu gehen und bei Sonnenaufgang wieder aufzustehen, weil die Beachtung des Tag-Nacht-Rhythmus gesundheitsförderlich sei.

Eine solche Einstellung ist uns völlig fremd geworden, nachdem uns die Technik von diesen periodischen Naturabläufen weitgehend befreit hat. Heute können wir beispielsweise mit dem elektrischen Licht die Nacht zum Tag machen oder mit Medikamenten den hormonellen Zyklus sowie den Schlaf-wach-Rhythmus nach unseren Wünschen modifizieren. Jedoch ist es uns bis heute nicht gelungen, den Schlaf abzuschaffen, obwohl in Zeiten zunehmender Zeitverknappung hier wertvolle Zeitreserven schlummern. Wer nämlich acht Stunden schläft, steht für ein Drittel des Tages weder für produktive Tätigkeiten noch dem wissenschaftlichen Denken zur Verfügung. Träume, in denen das Schlafen oder Schlafstörungen eine zentrale Rolle spielen, können deshalb mit dem Konflikt zwischen den naturgegebenen Regenerationsbedürfnissen und dem Wunsch nach Verfügungsmacht über den Schlaf zu tun haben. Dass wir nicht Herr über den Schlaf sind, ist laut Peter von Matt114 nämlich die subtilste und älteste Kränkung der Menschheit.

Schlafen ist aber auch ein Zustand der Unbewusstheit. Wenn wir etwa zu einer Person sagen: »Wach endlich auf!«, dann fordern wir sie auf, bewusster hinzuschauen oder hinzuhorchen. Die Person soll endlich erkennen, was geschieht. Dazu muss sie wach, präsent und aufmerksam werden. Und wie ein realer Mensch uns auffordern kann, bewusst zu werden, kann das auch ein Traum tun. In Charlottes Traum ist die fremde Frau wahrscheinlich ein innerer Persönlichkeitsanteil, der sie aufweckt und den Auftrag zum Putzen der Geschäftsräume gibt. Da Putzen, wie erwähnt, häufig ebenfalls Bewusstwerdung und Klärung versinnbildlicht, könnte Charlotte motiviert werden, ihre berufliche Situation zu reflektieren. Der Traum führt sie in die Kantine, somit dahin, wo die Kolleginnen und Kollegen in der Pause gemeinsam essen und auch ihre Beziehungen pflegen. Selbst in einem Betrieb ohne reale Kantine kann es – symbolisch betrachtet – eine Kantine geben: Es wäre der nährende »Ort«, den ein Arbeitgeber bereitstellt und häufig auch subventioniert. Im Traum ist diese Betriebskantine ungemütlich kalt und wenig einladend. Ausgehend von diesen Bildern kann sich Charlotte fragen, welche im weitesten Sinne nährenden und mütterlichen Qualitäten die Firmenleitung zeigt. Ist die Chefetage eher knauserig und frostig gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern? Schürt sie sogar ein Klima der Angst oder des Misstrauens? Vergiftet sie die kollegialen Beziehungen? Und was könnte es für Charlottes Arbeitsplatz heißen, dass Wärme durch etwas völlig Unpassendes wie Fernsehgeräte erzeugt werden soll?

Doch die unangenehme Situation ist nicht ausweglos. Es gibt Hoffnung, weil die Kantine im Traum noch im Rohbau und somit im Werden ist. Vergleichbar dem Neu- oder Umbau eines konkreten Hauses gibt es seelische Aufbau- und Umgestaltungsprozesse. Ein Neubau oder Umbau in der Innenwelt oder in zwischenmenschlichen Beziehungen weist häufig auf ein Veränderungspotential hin. Die Situation ist nicht festgefahren, sondern kann neu- oder umgestaltet werden. Solche Baustellenträume sind besonders dann ermutigend, wenn ein Wandel herbeigesehnt wird oder bitter notwendig ist.

Apparate, Geräte und Technik sind auch im medizinischen Bereich nicht mehr wegzudenken, weil wir mit ihnen Naturgegebenes und Schicksalhaftes überwinden können. Einige Vorteile der medizinischen Errungenschaften sind allerdings seelisch nicht immer leicht verkraftbar. So beschreibt der Soziologieprofessor Helmut Dubiel in seinem autobiographischen Bericht Tief im Hirn115 , wie ihm aufgrund seiner fortgeschrittenen Parkinsonerkrankung eine Tiefenelektrode in das Gehirn implantiert wurde. Der Operationsvorgang löste Albträume sowie eine albtraumartige Phantasie aus: Helmut Dubiel sieht sich als Hund, der den Angriff einer Kettensäge auf seine Hundehütte erdulden muss. Dieses brutale Bild versinnbildlicht, was es heißt, den eigenen Körper einem Chirurgen und seinen Werkzeugen auszuliefern, selbst wenn es vernünftig, vorteilhaft und gewollt ist.

Darüber hinaus muss das Ergebnis jeder gelungenen Operation verkraftet werden, was dann besonders anspruchsvoll ist, wenn eine Operation unsere bisherige Identität verändert. Das erlebt Helmut Dubiel, da er mit einem Sender seine implantierte Tiefenelektrode im Gehirn ein- und abschalten kann. Sobald er die Gehirnregion elektrisch reizt, werden sein parkinsonbedingtes Zittern und seine Bewegungsstörung deutlich gelindert. Gleichzeitig beeinträchtigt der Stromimpuls seine Fähigkeit zu sprechen so stark, dass er keinen Vortrag mehr halten kann. Erst durch das Abschalten der Elektrode wird diese Nebenwirkung wieder aufgehoben und Helmut Dubiel erneut fähig zu unterrichten. Allerdings ist er dann nicht mehr in der Lage zu gehen.

Dies ist ein Beispiel dafür, dass wir nicht mehr uneingeschränkt unsere angeborene biologische Identität behalten müssen, sondern ein Mischwesen aus Lebendigem und Maschine – ein Cyborg (cybernetic organism)116 – werden können. Sobald aber etwas Fremdes ein Teil von uns wird, müssen wir es körperlich und seelisch integrieren und mit unserem veränderten Wesen irgendwie klarkommen. Dabei kann die Integration von Fremdem im eigenen Körper seelisch ähnliche Reaktionen auslösen wie die Integration von Fremdem in der äußeren Welt: Wir können gelassen bis desinteressiert sein oder fasziniert, verängstigt beziehungsweise überfordert reagieren. 117 Bereits ein Herzschrittmacher fordert uns heraus, einen kleinen Apparat in uns willkommen zu heißen, um ihm die Steuerung des Herzens zu überlassen. Da er lediglich die unzuverlässige Natur ersetzt und uns ansonsten aber nicht verändert, ist das für die meisten Betroffenen seelisch kaum belastend.

Wer sein Leben der Technik verdankt, wird häufig eine positive Einstellung zu technischen Möglichkeiten entwickeln. So wachte eine junge Frau regelmäßig mit angenehmen Gefühlen aus Träumen mit menschenleeren Laborräumen und Glaskästen auf. Trotz ihrer grundsätzlichen Aufgeschlossenheit gegenüber Technik erstaunten sie diese guten Gefühle. Erst die Erinnerung, dass sie ihre Geburt ohne medizinische Technik nicht überlebt hätte, erschloss ihr den Sinn. Sie spürte nun erstmals bewusst eine tiefe Dankbarkeit für die Medizintechnik, die ihr Lebensretter war, nachdem die Natur sie im Stich gelassen hatte.

Mit zunehmender Technisierung des Lebens werden wohl auch die Träume vermehrt das Thema Technik aufgreifen und uns unterstützen, deren Bedeutung für unsere individuelle Lebensgestaltung bewusster zu verstehen.

Technische Übermacht

Albträume beziehen sich nicht zwangsläufig auf persönliche Lebensumstände, wie der folgende Traum zeigt:

Ich bin in Japan und sehe eine offene, weite Landschaft. Ich bin ganz allein, es ist ruhig. Plötzlich fühle ich mich wie nach dem Krieg, es ist ein ganz schlimmes Gefühl.

Herbert wacht in großer Panik auf und kann sich tagsüber nur schlecht konzentrieren. Der Albtraum ist ihm völlig unerklärlich, zumal er keine Beziehung zum Land und den dort lebenden Menschen hat. Er hat keine Idee, was Japan für ihn selbst symbolisieren könnte. Als wenige Tage später am 11. März 2011 im japanischen Fukushima eine Nuklearkatastrophe geschieht, vermutet Herbert, dass sein Unbewusstes dieses Unglück irgendwie »geahnt« hat. Wenn das zutreffen sollte, hätte der Traum einen verschlüsselten Hinweis auf ein zukünftiges, kollektiv bedeutsames Ereignis gegeben. Obwohl es wissenschaftlich nicht beweisbar ist, wäre das einer von zahlreichen prospektiven Träumen, die kommende Ereignisse andeuten.

Ein prospektiver Traum ist vergleichbar einer Intuition, die uns im wachen Bewusstsein plötzlich eine Vorahnung beschert. Es bleibt dabei nicht nur im Ungewissen, wieso wir eine solche Ahnung bekommen, sondern wir müssen zudem abwarten, bis sich das geahnte Ereignis realisiert, weil wir erst im Nachhinein sicher sein können, dass es tatsächlich eine Intuition und kein Wunschdenken war. Doch gibt es in Herberts Traum überhaupt Hinweise auf das Reaktorunglück? Die zum Schluss erwähnte Nachkriegszeit könnte an die erste kollektive Katastrophe durch den Einsatz der Atombomben erinnern. Wesentlich erscheint aber die beschriebene Diskrepanz zwischen Herberts intensiver Panik und den harmlosen Traumbildern, die im Gegensatz zur Realität in Japan überhaupt keine konkreten Zerstörungen zeigen. Allerdings war die schlimmste Bedrohung nach dem Tsunami – nämlich die Radioaktivität – für uns alle unsichtbar. Radioaktive Strahlung können wir auch nicht riechen oder hören. Kein Sinnesorgan erlaubt uns, sie zu erkennen. Die Natur hat es also nicht vorgesehen, dass wir sie wahrnehmen können.118 Falls sich der Traum auf die in Fukushima freigesetzte Radioaktivität bezieht, wäre Herberts Panik also durchaus angemessen. Unheimlich und grauenhaft ist nämlich gerade die verborgene, geheime Wirkkraft der Radioaktivität. Ohne Messgeräte bleiben wir Unwissende, die den offiziellen Messungen und den Aussagen der Behörden glauben sollen.

Viele Menschen haben heute den Glauben daran verloren, dass die Atomtechnik beherrschbar bleibt. Fukushima hat gezeigt, dass nicht nur die Natur, sondern auch die Technik unkontrollierbar werden kann. Der Mensch kann heutzutage Opfer entfesselter Natur- und Technikkräfte werden. Somit verfügt die Technik über ein ebenso hohes Zerstörungspotential wie die Natur, wie es der folgende Traum andeutet:

Ich stehe nachts im Garten und beobachte den Sternenhimmel. Dann kommt auf der rechten Seite ein Strom leuchtender aufblitzender Punkte, es ist wie ein vielfach verstärktes Sternenfunkeln, das sich auf mich zubewegt. Der Strom kommt näher und nimmt den ganzen Himmel ein. Zwischen all dem Aufblitzen sehe ich dann eine Sternschnuppe über den Himmel ziehen und denke: »Ja, das ist eine richtige Sternschnuppe.« Das war es, wonach ich geschaut habe. Dann wird das Blitzen der Kügelchen intensiver und greller. Mir wird klar, dass diese Teilchen keine Sternschnuppen sind, sondern von Menschen gemacht und dass damit Krieg geführt wird.

Sternschnuppen sind kleine Meteore, die beim Eintritt in die Erdatmosphäre verglühen und mit ihrem Aufleuchten viele Menschen erfreuen. Dabei hat die Freude an Sternschnuppen wohl nicht nur mit dem Naturschauspiel am Nachthimmel, sondern auch mit einem alten Brauch zu tun, dem zufolge man einen Wunsch frei hat, wenn man eine Sternschnuppe wahrnimmt. Dieser Glaube verknüpft Ereignisse am Himmel mit menschlichen Sehnsüchten, die Realität werden sollen. Wenn man bedenkt, dass in vielen Religionen die Götter vom Himmel aus das Erdenleben beeinflussen oder dass Schicksalsfaktoren in den Sternbildern gelesen werden, ist diese Vorstellung eigentlich nicht ungewöhnlich. Auf den Kosmos, seine Kräfte und dortige Ereignisse projizieren Menschen seit Jahrtausenden ihre Hoffnungen, aber auch Befürchtungen. Doch der ehemals göttliche Kosmos wird mehr und mehr zu einem entzauberten Raum, den der Mensch mit seinen technischen Geräten sowohl für hilfreiche als auch für zerstörerische Zwecke erobert. So schicken wir nicht nur Satelliten auf die Erdumlaufbahn, um das Wetter zu erforschen, Nachrichten und Daten zu übertragen, sondern nutzen den Himmel auch für militärische Zwecke.

Nicht nur Letzteres muss die Träumerin am Ende ihres Traumes erkennen, sondern auch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen natürlichen Phänomenen und moderner Kriegstechnik. Das ist durchaus plausibel, denn es gibt Menschen, die fasziniert ein Wetterleuchten, eine Sonnenfinsternis oder Sternschnuppen beobachten, und es gibt Menschen, die fasziniert und mit großer Begeisterung Luftfahrzeuge für Kriegszwecke entwickeln.

Das Zerstörungspotential, das in der Technik liegt, ist nicht nur für die Träumerin, sondern für die ganze Menschheit relevant. Es scheint, dass wir mit solchen Albträumen an dem Schrecklichen mittragen, das tagtäglich in dieser Welt geschieht.