Piccola Roma, im römischen Dorf
Mein italienisches Auto, sizilianische Winter gewöhnt, stand mehrere Monate zugedeckt in einer Scheune, unweit vom Dorf meiner Großmutter, und hielt dort, neben Traktoren, Pflügen und Pflanzenkisten, Winterschlaf.
Ich weckte es, als der Frühling anklopfte. Ein paar Tage und Landstraßen später fuhr ich mit ihm und seinem sizilianischen Kennzeichen in den Norden des Landes, auf dem Beifahrersitz mein Vater. Mit meiner Ankunft kroch ein Virus, wie wir von Italien kommend, in unsere Welt – und damit für längere Zeit die Gewissheit, Daniel, das Auto und ich waren mit die letzten Urlauber, die Italien bereisen konnten, wie wir es immer gewohnt waren – ohne Distanz, mit Wärme und Nähe.
Allen, auch den ältesten Italienern und Italienerinnen, die wir getroffen hatten, geht es gut, sie sind verschont geblieben, fortunatamente.
Zuvor hatte ich eine Sache von ihnen gelernt. In Franco Battiatos Film Perdutoamor, der von dem sizilianischen Jungen Ettore in den fünfziger Jahren erzählt, heißt es, Italien sei ein Land mit einer tödlichen Krankheit – gemeint sind Mafia, korrupte Politiker, wechselnde Regierungen, ein schwächelndes Gesundheits- und Sozialsystem – Instabilität. Doch als ich an ihren Küchentischen zu Gast war, egal ob in Sizilien, Kalabrien, in Rom oder in Turin, wurde mir deutlich, dass in einem Land, in dem das Unverlässliche das Verlässliche ist, zwei Dinge enorm an Bedeutung gewinnen, die Familie und das gemeinsame Essen, la famiglia e mangiare insieme.
Beides spendet Geborgenheit, Wärme, schafft Urvertrauen. Jeder weiß, auf das eine gemeinsame Abendessen folgt ein nächstes. Es ist identitätsstiftend, es ist Italien. Näher als am Küchentisch kann man diesem Land nicht kommen. Ein Staat kann auseinanderbrechen, ein Virus ihn bedrohen – die klassische italienische Familie wird auch dann noch gemeinsam am Tisch sitzen und darüber sprechen, was man am nächsten Tag kochen wird. Dieses Moment macht sie nicht immun, aber es stärkt sie.
Natürlich sind viele Italienerinnen und Italiener darauf angewiesen, auch fern ihrer Heimat Halt zu finden. Gleiches gilt für Menschen, die – das gibt es auch in Italien – sich mit ihren Familien überworfen haben. Sie finden das in frei zugänglichen Wohnzimmern, den italienischen Bars. Beobachten konnte ich das ein paar Wochen vor dem Beginn meiner Reise mit dem Cinquecento auf einem Hügel oberhalb des Comer Sees. Dort steht in der Mitte eines Ortes ein Gebäude: nicht die Kirche, sondern ein Haus mit einer Bar in der Via Roma. Das Herz des Dorfes, ein Ort für Menschen jedweden Alters, hier wird Lotto gespielt, Fußball geschaut, werden Zeitschriften und Bustickets gekauft, wird auf den Bus gewartet, gefrühstückt, Wein getrunken, Karten gespielt und der aperitivo zu sich genommen. Dabei wird über den Alltag und Alltägliches, Sorgen und Ängste gesprochen, mit einem Glas Lugana Ablenkung, mit einem Schluck Espresso Wärme gespendet, Tag für Tag, Morgen für Morgen, Abend für Abend. Orte wie dieser, zu tausenden in Italien, ähneln der Küche einer Nonna, einer Mamma – sie sind Treffpunkte, halten das Dorf, das Viertel, die Nachbarschaft zusammen. Kurz mit der Barista sprechen, Come stai?, wie geht’s? – und gestärkt die Vorhaben des Tages angehen.
Melissa, die ligurische Kuchenbäckerin aus Rom, schrieb mir, sie sei eigentlich nie stolz auf ihr Land, aber dieses eine Mal, als die Armee in der Altstadt von Sarzana patrouillierte, was sich für sie anfühlte, als herrsche Krieg, sei sie glücklich darüber, Italienerin zu sein; weil sie die Menschen einander helfen sah – und sei es nur bei einem gemeinsamen Abendessen, getrennt vor zwei oder mehreren Bildschirmen, an verschiedenen Esstischen in verschiedenen Küchen, aber doch vereint, die italienische Großfamilie wurde größer.
Und wir? Daniel, mein Auto, ich?
Daniel, der mir gesagt hat, natürlich sei die Fahrt ein Abenteuer gewesen, wenn auch anders, mit einem leichteren Vibe als sonst, pflanzte in dieser Zeit in seinem zweiten Zuhause, in Spanien, achtzig Olivenbäume, die Tipps dazu holte er sich bei Michele, dem Olivenbauern in Kalabrien. Während der Krise führte ihn ein Auftrag in eine Bonner Klinik, dort traf er auf einen Mann aus Bergamo, der künstlich beatmet um sein Leben kämpfte. Eines der ersten Dinge, die er, wieder zu Kräften gekommen, tat, war, einen Espresso zu trinken.
Mein Auto brachte ich im Norden des Landes an einen Ort, der einen für diesen Landstrich nicht unbedingt typischen Namen trägt, Il Motore. Dort traf unsere macchina auf Torsten, den Inhaber dieser Werkstatt, ebenfalls Baujahr 1968. Er hat in einem Fiat-Autohaus gelernt, nachdem ihm, damals sechzehn Jahre alt, erstmals diese kleinen Autos aufgefallen waren; mit neunzehn kaufte er sich seinen ersten Cinquecento, der zweite, den er über zwanzig Jahre hatte, wurde ihm in Palermo geklaut, heute fährt er seinen dritten – und bereist mit ihm auch weiterhin Italien, über hundertfünfzig Mal bereits, etwa vier Mal pro Jahr ist er dort. Die gesamten Neunziger habe er in Italien verbracht, sagt er, sich seine Urlaube dort finanziert, indem er auf italienischen Schrottplätzen Teile aufgesammelt und sie zu Hause wiederverkauft habe. In dem Jahr, als der dicke Luigi in seinem Cinquecento an mir vorbeiknatterte und ich mich mit jedem Tor bei der Fußballweltmeisterschaft mehr in den heute vergessenen Torjäger Salvatore „Totò“ Schillaci vernarrte, war Torsten, den ich daher nur mehr Totò nenne, schon ein Stück weiter, tief in Italien, stand mit drei Freunden auf einem alten Fiat Novecento, um einen Überblick über den Schrottplatz zu bekommen und danach mit dem unendlich überladenen Kleinbus, zugleich ihrer Schlafstätte, durch Turin zu kurven.
Knappe dreißig Jahre später eröffnete Totò, mittlerweile Vater geworden, Il Motore. Mir gefällt die Werkstatt auf Anhieb, in dem Haus aus braunen Backsteinen aus dem neunzehnten Jahrhundert, an dem nichts weiter als ein altes, rot-blaues Blechschild hängt, das Fiat-Emblem, vor dem sich mal zehn, mal fünfzehn Cinquecentos aufreihen, als wäre die Zeit stehengeblieben. Im Inneren findet sich eine wilde Mischung aus sechziger und achtziger Jahren, dazu Schreibtischlampen, die eher in den Siebzigern von Luigi Colani designt worden sein könnten, das Schachbrettmuster des Werkstattbodens, die Kaffeemaschinen, die große italienische Bars schmücken könnten, die angenehmen Mechaniker; ein Ort im Süden.
Nachdem ich meine Giardiniera durch das Tor der Werkstatt gerollt hatte, checkte Totò ihre Werte, beim Tuckern des Motors fiel ihm augenblicklich auf, dass sie nur auf einem Zylinder lief, ein Gebrechen, das sie im Fiat-Werk in Mirafiori schon festgestellt hatten. Allerdings musste Totò auch schmunzeln, dass sie dort zwar das Getriebe auseinandergenommen, die defekten Teile aber nicht ersetzt hatten und dass auch die Heizung nicht fertig montiert war. Ansonsten fielen Totò und seinen Mechanikern noch rostige Bremsleitungen und ein knirschender Unterboden auf, die der obersten deutschen Gründlichkeit, dem TÜV, nicht gefallen würden. Zudem bräuchte das Auto für deutsche Straßen zwar weiterhin keine Gurte, dafür aber eine Warnblinkanlage und Standlicht. Doch insgesamt, sagt Totò, hätte ich Glück gehabt. Als er zuletzt einen Cinquecento aus Rom überführt habe, blieb er alle halbe Stunde liegen.
Totò und Natascha
Zwei Tage bevor ich erstmals Totòs Werkstatt aufsuchte, hatte ich, aus dem Süden kommend, einen Abstecher über Karlsbad gemacht, Tschechien, eine spontane Idee; mein Vater saß neben mir auf dem Beifahrersitz, erzählte vom Grandhotel Pupp, in dem er in jüngeren Jahren oftmals übernachtet hatte. Das Pupp ist eine Institution, es wäre einfacher, zu sagen, wer dort noch nicht genächtigt hat, als, wer schon zu Gast war – Karl Marx und Napoleon, Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth, Helen Mirren und Claudia Cardinale, Casanova und Susan Sarandon, Sigmund Freud und Robert De Niro, Paganini und Goethe. Nicht nur ein James-Bond-Film spielte in dem Barock-, Rokoko- und Neobarockbau, sondern Wes Anderson benutzte den Zuckerbäckerstil des Hauses auch als Vorlage für sein Grand Budapest Hotel. Wir badeten in Bädern aus Marmor, vielleicht ja sogar Carrara, tranken Whiskey Sour in der Jugendstilbar und spielten Roulette, querfinanzierten uns, ähnlich wie Totò auf dem Schrottplatz, dadurch die Übernachtungen. Einer der schönsten Momente war aber gleich nach unserer Ankunft. Der Concierge an der Rezeption fragte mich nach meinem Autoschlüssel, der Wagenmeister werde den Wagen parkieren. Ich antwortete ihm, ich würde mein Auto besser selber parken, es habe seine Eigenheiten. Als ich es zwei Stunden später zum Parkplatz bringen wollte, hielt mich der Concierge, ich lief in der Lobby an ihm vorbei, auf und sagte: „Monsieur, mein Lob, das ist das außergewöhnlichste Auto, das in diesem Jahr vor unserem Haus stand.“ An diesem Tag bildeten mehrere Mercedes, Porsches, ein Bentley und ein Maserati, alle schwarzgrau, eine kleine Traube auf dem Vorplatz des Hotels. Doch nur für die Giardiniera interessierten sich die Passanten.
Totòs Aufgabe war es nun, ihre inneren Werte zum Scheinen zu bringen.
Kurz hatte ich überlegt – und mich dazu mit Elektromotorbauern zusammengesetzt –, ob ich sie umrüste; aber das war mir zu teuer und bei Gebrauchtwagen zu wenig ausgereift. Zudem verbrauchte sie auf dem Weg von Sizilien bis in den Norden weniger Sprit als ein durchschnittlicher Benziner unserer Zeit. Sie ist als Auto aus den fünfziger und sechziger Jahren, ein Fingerzeig aus der Vergangenheit, ökonomischer und platzsparender als ein durchschnittlicher Neuwagen.
Totò meinte, er könne mir einen Motor einbauen, der lediglich drei Liter auf hundert Kilometer verbraucht. Da die Reise mein Budget überschritten hatte, habe ich diesen Schritt zurückgestellt, auch wollte ich den Fiat gern so original wie möglich belassen.
Ich sei ein ungewöhnlicher Kunde, sagte Totò, die meisten verlangten nach einem stärkeren Motor, einem, mit dem man an der Ampel nicht Vollgas geben müsse, zweiunddreißig PS – so viel wie die Cinquecento-Motoren Carlo Abarths. Totò ist wie Abarth Motorenbauer, rennsportbegeistert, fuhr den Kurs in Imola und düst mit seinem Alltags-Cinquecento mit hundertachtzig über italienische Autobahnen, Tendenz steigend. Wenn ihn die Carabinieri anhalten, sagen sie ihm, das sei nicht erlaubt. Dann lassen sie ihn weiterfahren, alte Cinquecentos dürfen alles in Italien.
Totò und ich setzten uns an einen langen Holztisch hinter dem Büro seiner Werkstatt, dort, wo er und seine Mechaniker gewöhnlich Mittagspause machen, ich hatte mich mit ihm und Natascha, der Mutter seines Kindes Carl, auch genannt Carlo, verabredet. Natascha sagt über sich, die einzige Konstante in ihrem Leben sei der Cinquecento, er habe sie, seit sie neunzehn ist, begleitet. In einer Scheune nebenan steht ihr Auto und wartet darauf, wieder instand gesetzt zu werden. Es war jahrelang ihr Alltagsauto, Sommer wie Winter – eine Giardiniera. Allerdings hatten die Jahre Spuren hinterlassen, Rost. Totò, manchmal doch ein wenig Torsten, sagte spröde: „Wenn sie das Auto wieder fahren möchte, muss sie sich darum kümmern.“ Natascha murrte ein wenig, weil sie sich vermutlich etwas mehr Totò wünschte – und ich musste an Iride und Ulrich, das deutsch-italienische Paar aus Ligurien, denken, das sich wegen eines Cinquecentos verkrachte. Doch als ihr Mann sagte, der Fiat Fünfhundert habe sein Leben ausgefüllt und verändert, habe ihn dazu gebracht, jedes Jahr nach Italien zu fahren, Menschen kennenzulernen, die heute seine Freunde sind, die Werkstatt zu eröffnen und seine Freundin kennenzulernen, da verwandelte er sich wieder in Totò – und Natascha schmunzelte verknallt, als kämen sie gerade von ihrem ersten gemeinsamen Urlaub auf Elba zurück.
Totò sagte, er werde sich melden, wenn mein Auto in Schuss sei, Natascha gab mir dagegen ein Rezept in die Hand, ihr italienisches Lieblingsgericht, Risotto alla mantovana. Gigi, ein Schrottplatzbesitzer aus Mantua, südlich von Verona, ein Freund der beiden, habe es ihr gegeben, ihre Familie flippe aus, wenn sie es koche.
Das Risotto alla mantovana von Gigi, dem Schrotthändler
500 g gehacktes Schweinefleisch ∙ 2 Zweige Salbei ∙ 2 Zweige Rosmarin ∙
2 größere Zwiebeln ∙ Salz ∙ Knoblauch ∙ Olivenöl ∙ 200 ml Weißwein ∙
1 Glas Whiskey ∙ 250 g Risotto-Reis ∙ gut 1 l Rindfleischbrühe
Eigentlich besteht das auch Risotto alla pilota genannte Gericht – piloti sind Reisvorarbeiter aus der Lombardei – hauptsächlich aus einer Wurst namens Salamella. Da diese aber schwer zu bekommen ist, versucht man ihren Geschmack in der Pfanne nachzubilden. Dafür den Rosmarin und den Salbei zu einem Päckchen zusammenwickeln und fest verschnüren (oder in ein Teesieb oder einen Beutel pressen), klein gehackte Zwiebeln in der Pfanne in reichlich Olivenöl anschwitzen. Das Hack dazugeben, klein teilen, anbraten. Nach ein paar Minuten Weißwein und Whiskey angießen, nicht zimperlich sein. Kräuterpäckchen dazu, immer wieder mit Salz würzen, dann Reis in die Pfanne geben, glasig braten, mit etwas Rinderbrühe aufgießen, stetig rühren. Sobald die Flüssigkeit verkocht ist, immer wieder nachgießen. Gegen Ende nach Geschmack noch etwas Whiskey dazugeben und kurz verdampfen lassen, Kräuterpäckchen auspressen, entfernen, umrühren, servieren.
In den Monaten, als das Virus erstmals unseren Alltag bestimmte, kochte ich so viele italienische Gerichte wie nie. Nachdem es sich für den Augenblick beruhigt hatte, besuchte ich das Dorf meiner Großmutter. Den Ausschlag gab meine italienische Reise. Am meisten hatte nämlich Daniel und mich überrascht, wie stark landwirtschaftlich dieses Land immer noch geprägt ist. Es heißt, alle Wege führten nach Rom, in einem Zeitungsartikel schreibt eine Autorin mit italienischen Wurzeln einen schöneren Satz: In Italien gebe es immer einen Weg, der zum Meer führt. Nach unserer Reise muss ich ergänzen: oder auf einen Acker.
Im Dorf meiner Großmutter blieb ich über zwei Wochen, so lange wie zuletzt vor zwanzig Jahren; damals, als sie noch lebte. Ich spazierte über Obstbaumwiesen, fuhr mit dem Rad zwischen Feldern, klaute Blumen, ließ den Nachfolger von Bruder Fridolin in meine Augen sehen. Es roch nach Thymian und Katholizismus.
In diesen Wochen spürte ich, das Bauerndorf meiner Großmutter ist nicht nur näher an mir, als ich dachte, sondern auch näher an Mailand als an Hamburg, der Stadt, in der ich derzeit wohne. Dort verwahre ich seit ihrem Tod eine Emaille-Auflaufform. Sie stammt – rot, mit weißen Punkten, die gleichen Farben wie die Sitzbezüge meines Autos – aus dem Nachlass meiner Großmutter. Eines der wenigen Dinge, die ich von ihr besitze. Sie bereitete darin stets mein Lieblingsgericht zu, wir nennen es Lange Nudeln. Wie bei Gnocchi besteht ihr Teig aus Kartoffeln, Mehl und Ei. Als Maria an der Amalfiküste ihre gnocchiähnlichen ’Ndunderi zu langen Wülsten rollte, hatte ich plötzlich das Bild meiner Großmutter vor Augen. Auch unter ihren vom Leben gezeichneten, aber flinken Händen entstanden solche Wülste. Nur teilte meine Großmutter sie nicht in kleine Quadrate zu Gnocchi, sondern schichtete sie am Stück in die rot-weiße Auflaufform – und überbuk sie. Vor der Tür des Hofs meiner Großmutter – mir war das so deutlich nie bewusst – endet eine historische Straße, die über die Alpen führt und in Venetien und in der Lombardei beginnt, ihr Name ist Via Claudia Augusta. Der erste römische Kaiser, Augustus, ließ sie genau zwischen Adria, Po und Donau fünfzehn Jahre vor der Geburt von Jesus Christus errichten, fertiggestellt hat sie der vierte Kaiser Roms, Claudius. Sie wurde gebaut, um das römische Imperium zu vergrößern, Handel zu treiben. Herbergen und Gutshöfe, sogenannte villae rusticae, wurden an den Straßenrändern errichtet, aus ihnen entstanden Dörfer, etwa das, in dem ich jahrelang gewohnt habe und in dem heute noch meine Mutter lebt, ein ehemaliges Feldlager Julius Cäsars. Rund um das Dorf meiner Großmutter soll es um die hundert villae rusticae gegeben haben, manche ihrer Überreste sind heute noch zu sehen. Sie befinden sich in einer Region, deren Name auf die römische Provinz Raetia zurückgeht, das Ries.
Eine Laune der Natur sorgte dafür, dass das Ries eine besondere Form erhielt. Vor knapp fünfzehn Millionen Jahren schlug ein Asteroid an dieser Stelle ein, ein flacher Kessel entstand, füllte sich mit Wasser, sorgte für ein spezielles Klima, später siedelten sich Pelikane, Papageien und Flamingos dort an. Sie sind natürlich, wie der See auch, längst verschwunden, aber das Klima ist durch die eingesenkte Lage immer noch ein besonderes, sommerwarm. Zudem ist der Boden voller Mineralien, fruchtbar, seit Jahrhunderten ist der Krater mit Wiesen und Feldern bewachsen; hier keinen Fuchs oder Hasen zu sehen, ist ungewöhnlich, mitten im Dorf meiner Großmutter stehen Rehe, am Himmel ziehen Störche ihre Runden. Läuft man durch die Felder, begegnet man Schafen, lauscht einem Orchester von zirpenden Grillen. Sie sitzen zwischen wildem Thymian, Fenchel, Wacholderbüschen und Silberdisteln. Schlösse ich die Augen, röche ich nur die Wiesen und Kräuter, ich wüsste nicht, ob ich mich im Piemont oder eben hier in der Region meiner Kindheit befinde.
Das wichtigste Gut des Ries ist die Landwirtschaft, schon die Römer schätzten seinen ertragreichen Boden, sicherten sich das Gebiet, bald galt es als die Kornkammer Raetias. Die Römer brachten zudem eine macchina mit: die Mühle; vor rund hundert Jahren gab es noch hundertfünfzig von ihnen, eine Handvoll sind geblieben. Neben Mehl stellen sie manchmal auch Pasta her, die sie hier Nudeln nennen dürfen. Meine Großmutter vermengte das Mehl aus den Mühlen mit Eiern, walzte den Teig dünn aus, schnitt ihn mit einem Teigrädchen zu und legte die Stücke auf ein großes Holzbrett zum Trocknen – breite Bandnudeln. Sie bereitete sie so zu wie die Nonnas Italiens ihre italienischen Pendants, die Pappardelle. Meine Großmutter briet sie in Butter, darauf eine schweinefleischhaltige Sauce, der Emilia-Romagna nicht unwürdig.
Fahre ich heute zum Hof meiner Großmutter, ziehen Dörfer an mir vorbei, wo früher römische Kastelle und Bäder lagen. Bevor ich in ihr Dorf abbiege, verlasse ich eine ehemalige römische Straße, fahre auf einer Allee aus Birken zwischen Feldern, auf denen immer wieder römische Münzen gefunden werden, um dann vor einem Ortschild zu stehen, auf dem ich lese, Reimlingen. Das Wort geht ursprünglich auf das Althochdeutsche zurück, dort wird Rom auch als Rūma, die Römer als Rūmari bezeichnet. Früher hieß das Dorf meiner Großmutter unter anderem auch Rumeringa und Rumelingen; es soll römische Wurzeln haben. Man könnte sagen: Klein-Rom, Piccola Roma.
Es dürfte auch kein Zufall sein, dass neben dem Bauernhof meiner Großmutter besagtes Kloster steht, das von Haus aus enge Bande nach Rom hat, und dass sie in einem Dorf lebte, das für seine geringe Größe eine enorme Zahl an Klöstern, Kirchen, Kapellen, Kreuzen, Mönchen und Pfarrern – und auch Geheimnissen hat. Wird im Kloster ein neuer Vorsteher gewählt, steigt zwar kein weißer Rauch auf, aber die Ränke im Vorfeld der Wahl dürften im Vatikan und in Piccola Roma durchaus ähnliche Züge aufweisen.
Zu Beginn meiner Reise sagte Marlon, der Gebrauchtwarenhändler mit sizilianischen Wurzeln, zu mir, ich sei aufgrund meines Vorhabens ein Italiener, ich musste schmunzeln; nun frage ich mich, wieder schmunzelnd, bin ich am Ende Römer, sono romano? Entlang dem Verlauf von Straßen lieben sich Menschen, schließen Freundschaften, entwickeln Kulturtechniken, hinterlassen Spuren und Rezepte – und diese werden weiterentwickelt. Über die Alpen kamen bis ins neunzehnte Jahrhundert italienische Krämer in das Ries, sie verkauften Töpfe und Schöpflöffel und andere Dinge. Meine Großmutter hätte gesagt, sie boten ihren Krempel an. Das Wort leitet sich von crompare ab, einer Variante des italienischen comprare – kaufen. Die italienischen Händler, unter anderem aus Genua und Venedig, tummelten sich auf einer Messe, die es heute noch gibt. Nördlingen, die wichtigste Stadt im Ries, war für seinen Buchhandel weithin bekannt; im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit war es wie auch Frankfurt ein wichtiger Umschlagplatz für Waren aus ganz Europa. Aus Italien zog es zudem zahlreiche Handwerker und Architekten nach Bayern. Auch italienische Erntehelfer kamen. Hat sich einer von ihnen in eine bayerische Magd verguckt, würde man noch heute in vielen Teilen Bayerns sagen, sie sei sein Gschpusi, im Italienischen bedeutet sposa die Braut oder Verlobte. Küsste sie ihn leicht auf die Wange oder den Mund, gab sie ihm ein paar baci – im Ries nennen sie das Bussis. Ihr italienischer Liebhaber dürfte zuvor, auch das hätte meine Großmutter gesagt, rumstrawanzt, sich wie ein Kater herumgetrieben haben, ein Strawanzer gewesen sein. Das Wort führt auf das italienische stravagare zurück, das aus dem mittellateinischen extravagari, unstet und ausschweifend sein, entstanden ist. Apropos: Dass sich, betrachte ich heute den Fortpflanzungstrieb meiner Verwandten, auch einer meiner Ahnen mal nicht folgenlos mit einer Italienerin oder einem Italiener eingelassen haben könnte, erscheint mir durchaus schlüssig.
Einer, der über die Dächer strawanzt, ist auch der Schornsteinfeger, in Bayern Kaminkehrer genannt. Im sechzehnten Jahrhundert stellte Nördlingen erstmals einen Italiener aus dem Herzogtum Mailand als städtischen Kaminkehrer ein. Auch seine Nachfolger kamen bis zum achtzehnten Jahrhundert aus Italien, die Männer handelten zudem auch mit Südfrüchten und Alltagswaren. Einer der späteren Kaminkehrer Nördlingens, mein Vater, wusste schon mit vier Jahren, dass er spazzacamino werden wollte, er benutzt das italienische Wort heute noch manchmal, warum, weiß er nicht.
„Aber was ist mit Nördlingen anzufangen?“, soll Goethe einmal gesagt haben; seine Worte zielten auf die Geschehnisse während des Dreißigjährigen Krieges ab, eine der entscheidenden Schlachten dieses Krieges fand auf den Feldern des Dorfes meiner Großmutter statt, Goethe versuchte darüber zu schreiben, fand aber offenbar keinen Zugang. Protestanten unter schwedischer Führung kämpften gegen eine kaiserlich-bayerische Allianz aus Katholiken. Der Sitz und das Hauptquartier der kaiserlichen Truppen, zu denen auch lombardische und neapolitanische Einheiten gehörten, war ein Schloss, natürlich im Dorf meiner Großmutter. Wo sonst?
Goethe strengt mich an, ich kann mit seinen Werken wenig anfangen. Das Letzte, was ich tun wollte, war, ihm nachzureisen. Doch in Karlsbad bin ich auf ihn und seine Italienische Reise gestoßen, im Grandhotel Pupp begann sie. Dort merkte ich, ohne es zu wissen, sind wir auf ähnlichen Wegen gefahren – und es gab noch weitere Momente, in denen ich auf seine Spuren traf; in Neapel, in Rom, aber auch im Nachbardorf meiner Großmutter.
Der Ursprung seiner Italiensehnsucht ist unterschiedlich gedeutet worden, sein Vater war, so würde es heute heißen, italophil. Doch eines blieb nahezu unentdeckt. Sein Ururgroßvater väterlicherseits, ein Knecht, wurde acht Kilometer vom Dorf meiner Großmutter entfernt geboren, auch mütterlicherseits führen Spuren von Goethes Vorfahren in die gleiche Gegend; auf der Rückkehr von seiner italienischen Reise machte Goethe mehrere Tage im Ries Halt.
Über seine Italienreise schrieb er, sie habe ihm – unglücklich in der Liebe und im Beruf – geholfen, sich selbst wiederzufinden.
In dem Gebiet, aus dem meine Familie stammt, gab es über viele Jahrhunderte hinweg, die sogenannten Gastarbeiter aus Italien in den sechziger Jahren nicht zu vergessen, nicht nur regen Verkehr zwischen den beiden Ländern, sondern Italiener und Italienerinnen siedelten sich auch immer wieder dort an.
Auch die Küche meine Großmutter enthält Spuren von Italien, die rot-weiße Auflaufform, in der ich heute noch ihre Langen Nudeln zubereite, ist ein Produkt des Gründers der einst weltberühmten Emaille-Fabrik Due Leoni di Bassano, unweit von Venedig. Vermutlich hat meine Großmutter sie genauso auf der Rieser Messe gekauft wie ihr Teigrädchen, mit dem sie ihre Bandnudeln schnitt. Wie diese den Pappardelle italienischer Nonnas gleichen, so erinnern Gnocchi an die Langen Nudeln meiner Großmutter und Maultaschen an Tortellini – alles alte Bauerngerichte, Essen nach der Ernte.
La pasta lunga di Nonna Johanna – Großmutters lange Nudeln
7 mittelgroße, vorwiegend festkochende Kartoffeln ∙
etwa 300 g Mehl Typ 00/405 ∙ 1 Ei ∙ Butter ∙ 3–4 EL Milch
Die Kartoffeln schälen, vierteln, im gesalzenen Wasser kochen. Warm zerdrücken, kalt werden lassen, mit dem Ei und dem Mehl vermengen, auf einer bemehlten Fläche zu eineinhalb Zentimeter dicken Wülsten formen. Je nach Kartoffelart kann die Menge des Mehls variieren. In eine mit Butter eingefettete Auflaufform nebeneinander einschichten. Milch darübergießen, Form leicht schwenken, um die Flüssigkeit zu verteilen. Im vorgeheizten Backofen bei 170 Grad backen, bis sie gold-braun sind und sich eine leichte Milchkruste gebildet hat. Vor dem Essen einen kleinen Moment abkühlen und fest werden lassen, je zwei bis drei Nudeln auf einen Teller geben, meine Großmutter servierte Schnitzel und Blaukraut dazu. Für die italienische Variante empfiehlt sich die Petroniana di Bologna mit Friggione – oder als vegetarisches Essen Parmesan und Salbeibutter oder Pesto dazu und ein frischer grüner Salat.
Schaue ich heute in die furchigen und roten Gesichter von Bauern aus dem Ries, dann sehe ich das Gleiche wie in denen von Bauern aus der Emilia-Romagna, ihre Härte und ihre Weichheit, ihre enge Verbundenheit mit dem Boden.
„Ich würde für kein Geld der Welt hier wegziehen“, sagte mein Onkel neulich, als wir auf einem seiner roten Traktoren saßen, einem knallroten Porsche, mit dem er schon bis in den Vatikan gefahren ist, und als wir zusammen von einem Hügel ins Ries hinuntersahen. Den gleichen Satz hörte ich von Michele, dem Olivenbauern, als wir in Kalabrien gemeinsam in das Tal der achtundzwanzigtausend Olivenbäume blickten, das sein Zuhause ist. Sie würden sich sehr gut miteinander verstehen.
„Reichst du mir mal den Butter?“, sagt mein Onkel, meine Eltern, ich. In Städten außerhalb Bayerns werde ich dafür getadelt, das heiße „die Butter“, sagen sie.
Ebbene, nun ja – bei den Lateinern hieß Butter butyrum, neutral vom Geschlecht. Die Italiener schafften allerdings das neutrale Geschlecht ab, machten aus Butter il burro, der Butter – mi passi il burro? In vielen bayerischen Familien wurde der männliche Artikel behalten. Wir sind quasi Italiener, siamo praticamente italiani.
Und mein Auto? Eine hundertjährige Frau, eine Großmutter, una nonna, hatte Signor De Pasquale in ihr gesehen.
An einem Spätsommertag im September, ein Jahr nachdem ich es in Sizilien bei ihm abgeholt habe, über siebentausend Kilometer später, übergibt es mir Totò, der zwischenzeitlich seinem Namen alle Ehre gemacht hat, seine Freundin überrascht hat, eine neue Giardiniera für sie besorgt hat.
Ich lade meine Freunde und Freundinnen zur ersten Probefahrt ein, wir fahren ans Meer, hören Ryan Paris’ Dolce Vita. Auf der Rückfahrt ist uns kalt, ich drehe die Heizung auf. Totò hat dem Auto endlich beigebracht, das zu tun, was Großmütter in der Regel tun, Wärme spenden, italienische Wärme.
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Im Buch sind Rezepte enthalten. Wenn nichts anderes angegeben ist, sind sie für vier Personen gedacht. Falls doch mal zu viel gekocht wurde, einfach verschenken oder einfrieren. Natürlich ist es gut, mit sizilianischen Tomaten und Basilikum aus Ligurien zu kochen. Aber auch in anderen Regionen finden sich hervorragende Lebensmittel. Wichtig ist, wenn das Portemonnaie das hergibt, auf ökologisch angebaute Produkte zurückzugreifen, denn die zehn Grundsätze Pellegrino Artusis, siehe hier, sind noch immer aktuell:
1.Natürliche Zutaten wertschätzen
2.Qualitativ wertvolle Lebensmittel verarbeiten
3.Saisonal vorhandene Produkte verwenden
4.Einfach kochen
5.Leidenschaftlich, aufmerksam und präzise sein
6.Geduldig bleiben, auch bei Misserfolgen
7.Ist eine Zutat nicht vorhanden, Varianten ausprobieren
8.Auch die Variationen schlicht halten
9.Die bodenständige Küche schätzen
10.Rezepten misstrauen (auch denen in diesem Buch)
Vier Punkte möchte ich ergänzen:
11.Auch niedrige und mittlere Temperaturen der Herdplatte nutzen
12.Brühe so oft es geht selbst herstellen
13.Olivenöl extra vergine verwenden
14.Hört auf eure Mütter und Großmütter