Baron di Santafusca zerbrach sich nach diesem Gespräch den Kopf darüber, wie er es Don Cirillo, der dreist Gewinn aus seiner Misere ziehen wollte, mit gleicher Münze heimzahlen und etwas aus der Raffgier des Priesters für sich herausschlagen könnte. Etliche Ideen waberten durch seinen Kopf, doch war da eine, die schälte sich schwarz aus dem Grau heraus.
Zunächst verscheuchte er auch sie. Als sie indes zurückkehrte, nahm er sie näher in Augenschein. Es war eine Idee ganz in Schwarz, also wie geschaffen für den Priester.
Was hatte Don Cirillo eben zu ihm gesagt?
Er wolle Neapel verlassen, ja im Grunde klammheimlich fliehen. Und wenn er ihn am Donnerstag, an diesem 4. des Monats, auf dem Anwesen aufsuche, dann bringe er das Geld mit, sodass sie umgehend den Vertrag im Beisein des Notars würden unterzeichnen können. Anschließend wolle er auf gar keinen Fall nach Neapel zurückkehren, denn dort würde dieses Gesindel lauern, das, erpicht auf die Zahlen für das Lotto, beständig sein Leben bedrohe.
Genau das hatte er gesagt, dieser Priester.
Schon einmal hätte sich eine Bande von Ganoven seiner Wenigkeit bemächtigt, und damals hätte der Schwarzrock durchaus den Tod finden können, wären ihm Gott und Heiliger Geist nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen.
Aus diesen Elementen musste sich doch, gab man Skrupeln und Vorurteilen nicht nach, ein grandioser Plan aushecken lassen.
Nun wollte der Baron dringlichst seine Gedanken ordnen, weshalb er glühend vor Hoffnung und wilden Phantasien nach Hause eilte.
Seit einigen Jahren schon lebte er in einer kleinen Wohnung mit nur wenigen Zimmern in der Via Speranzella, zusammen mit jener Alten, die in Tagen, da die Santafuscas noch etwas galten, seine Hauslehrerin gewesen war.
In den stürmischen Zeiten des Schiffbruchs hielt Maddalena dann in Todesangst zu dem letzten Spross dieser ruhmreichen Familie, klammerte sich an ihn wie an einen blanken Felsen, um ja nicht unterzugehen. Obwohl ihr bei einem solch blanken Felsen zwar auch nichts anderes übrig blieb, als den Hungertod zu sterben, zog sie ein längeres Leid dem sofortigen Tod unbedingt vor.
Der Baron besaß weder den Mut, diese bemitleidenswerte Frau, die ihm nun den Haushalt führte, von sich zu stoßen, noch die Entschlossenheit, Salvatore, einen lahmenden Greis von rund siebzig Jahren, den Alter und Gebrechen schon halb dahingerafft hatten, aus Santafusca zu vertreiben, wo er ein wenig nach dem Rechten sah.
Die zwei, Maddalena und Salvatore, waren das Einzige, was dem Baron vom einstigen Prunk geblieben war, alles Übrige hatte er verkaufen oder mit Hypotheken belasten müssen. Lohn erhielten sie beide nicht, sie lebten und darbten bei dem, was das mit jedem Tag stärker verfallende Haus noch abwarf.
Maddalena hatte Don Coriolano in ihrer demütigen Herzensgüte bereits ihre sämtlichen Ersparnisse anvertraut, woraufhin er in einer einzigen Nacht verspielt hatte, was die arme Frau in über vierzig Jahren in ihrer sparsamen und bescheidenen Art beiseitegelegt hatte. Nun stand sie völlig mittellos da und musste ihren Herrn und Gebieter Tag um Tag anflehen, er möge sie nicht hungers sterben lassen. Es waren Bitten ohne jeden Vorwurf, ein ehrfürchtiges und verhaltenes Gemurmel nur, voller Demut und getränkt von der vorbehaltlosen Liebe einer zärtlichen Mutter gegenüber ihrem verwöhnten Sohn, ihrem Ein und Alles. Und was auch immer Don Coriolano tat, galt der schlichten Frau als gut und schön, als wert, gelobt oder notfalls verziehen zu werden.
Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, dass auch der Baron für seine alte Lehrerin noch immer eine Zuneigung hegte, die weder die Zeit noch seine Laster hatten tilgen können.
Allein die tränenerstickte Stimme Maddalenas besaß daher die Kraft, selbst bei ihm, der sich sonst gegen jegliche Sentimentalität gefeit zeigte, an dem hart verschalten Gewissen zu rühren. Ein zärtliches und frommes Echo hielt sich noch in dem alten, verfallenen Gebäude seines Gewissens versteckt, sodass Maddalena sicher war, nie vergebens zu ihm zu sprechen.
Was war er bloß für ein schlechter Mensch!, so ging er mit sich ins Gericht. Gehörte er nicht an den Galgen, wenn er dieser armen Alten ihr Geld stahl und sie in Hunger und Einsamkeit sterben ließ?
Noch auf dem Heimweg von Don Cirillo stellte er die geschundene Maddalena, die sich einzig von ihren Seufzern nährte, in Gedanken dem Priester gegenüber, der auf einem Strohsack voller Geld schlief.
Maddalena hatte ihr Schicksal vor über vierzig Jahren mit dem seines altehrwürdigen Hauses verbunden und war, genau wie dieses, Stein für Stein, langsam in sich zusammengefallen, ohne je darüber zu wehklagen, es sei denn, der Hunger gewann Oberhand über ihre Nachsicht. Obendrein war sie stets gewillt, die Fahne der Ehre bis zu ihrem letzten Atemzug hochzuhalten. Don Cirillo dagegen, dieser Priester, drohte, bis zum Äußersten zu gehen und seinen Ruin herbeizuführen, ja er trachtete danach, ihm, einem Santafusca, die Luft zum Atmen abzuschnüren.
Maddalena hat meiner armen Mamma die Augen geschlossen, dachte Santafusca, während er die Stufen zu seiner Wohnung hinaufstieg, und ich lasse sie nun im Stich. Wenn ich ins Gefängnis wandere, stirbt sie ohne Dach über dem Kopf elendig des Hungers.
In den Adern der Santafuscas floss, wie die Familienchronik behauptete, das Blut normannischer Könige. Deshalb durfte der letzte Baron bei seinem Tod zwar im Ruch stehen, ein Brigant zu sein, deshalb durfte dann in seinem Leib durchaus eine Kugel stecken – aber nie und nimmer durfte er die Schmach erleiden, einem Blutsauger zum Opfer zu fallen.
Während sich sein aufgewühlter Geist die Spindel dieser Grübeleien hinaufwand, fasste der Baron frischen Mut und schöpfte neue Hoffnung.
Glaubte dieses verhuschte Priesterlein allen Ernstes, es mit ihm aufnehmen zu können?
Der Gottesmann würde mit prallen Taschen auf dem Anwesen eintreffen und vielleicht sogar eine Aufstellung der Schätze mitbringen, die in seinem Strohsack versteckt waren.
Das Haus war im Grunde ausgestorben, Salvatore halb taub, halb schwachsinnig.
Am Sonntag müsste er dem Sacro Monte das Geld erstatten, tat er das nicht, hieß es: Abmarsch ins Gefängnis!
Maddalena war jetzt schon am Verhungern.
Aber auf der ganzen Welt gab es kein Herz, das aufrichtiger und selbstloser für ihn schlug als das ihre.
Das Anwesen lag etwas abseits, und seit rund zehn Jahren hatte sich kein Gast dorthin verirrt.
Immer hatte das Geld gefehlt, um das Haus gründlich zu überholen, sodass es heute nur noch den Mäusen einen Tummelplatz bot oder auch den Ziegen, die Salvatore in dem alten Garten hielt.
Niemand in Santafusca kannte Don Cirillo.
Niemand in Neapel würde von seinem Aufbruch wissen. Mithin …
»Was bleibt denn von diesem Knochengerippe, das sich als Priester verkleidet, ohne sein Geld übrig? Das ist doch kein Mann, das ist ein Kassenbuch! Ein Geldsäckel! Ich aber würde damit die Ehre meiner Väter bewahren, mich vor dem Gefängnis retten und Maddalena vor dem Hungertod, ich würde meine Schulden begleichen, Brot an alle ausgeben, die es nötig haben, Almosen verteilen und Gerechtigkeit herstellen, kurzum, ich würde der Natur zu ihrem Recht verhelfen!«
Es entzieht sich meiner Kenntnis, wie oft der Baron diese Gedanken in seinem Kopf gewendet hat in diesen wenigen Tagen, die noch zwischen jenem Montag und dem verhängnisvollen Donnerstag, also dem 4. April, lagen.
Für ihn freilich wollte die Zeit einfach nicht vergehen, schon allein deshalb nicht, weil er beinah rund um die Uhr zu Hause hockte, in seinem kleinen Arbeitszimmer, in der Stille seiner toten Wohnung, ständig über dies schmutzige Netz gekrümmt, das er da webte.
Jeden Tag, jede Stunde, ja im Grunde jede Minute redete sich Baron di Santafusca nun ein, dass es für ihn keinen anderen Ausweg gebe, dass ihn eine höhere Gewalt zu diesem Schritt dränge, ihn – wie man heute genau weiß – geradezu zwänge, den Priester in eine Falle zu locken und …
Die einzige Schwierigkeit bestand darin, die Angelegenheit ohne Leidenschaft zu ihrem Ende zu bringen, mit klarem Kopf und kaltem Herzen.
Nur war er, Santafusca, ja ein Mann jenseits aller Vorurteile. Wäre er der Ansicht gewesen, mit dem Mord ein Verbrechen gegen die Natur oder gegen einen ihm klar und unmittelbar übergeordneten Menschen zu begehen, hätte er selbstverständlich die Finger davon gelassen, schon allein um weiterhin ruhig schlafen zu können, schon allein aus Anstand und Respekt.
Aber er war nun einmal felsenfest davon überzeugt, dass der Mensch nichts als eine Handvoll Erde war und Erde zu Erde zurückkehren und sich mit dieser mischen müsse. Das Bewusstsein – so hatte es einst Doktor Panterre formuliert – war eine Hieroglyphe, geschrieben mit weißer Kreide auf eine schwarze Tafel. Es ließ sich ebenso schnell wegwischen wie erstellen. Das Bewusstsein war ein Luxus, war der letzte Chic eines glücklichen Menschen. Und Gott? Gott war eine Stecknadel im Nadelkissen des Himmels …
Um sein Gewissen sorgte sich der Baron also nicht.
Hätte er tatsächlich befürchtet, wie Macbeth zu enden oder um den Schlaf gebracht zu werden wie der alte Aristodemos, dann hätte er niemals Hand an den Priester gelegt. Diese Rollen überließ er mit Freuden Mimen wie Rossi oder Salvini.*
Das ganze Vorhaben barg mithin nur eine einzige Gefahr: zu überstürzt zu handeln und sich dadurch gegenüber den Carabinieri eine Blöße zu geben. Die Gesellschaft ist ja wie eine Frau. Sie nimmt Betrug nicht übel, solange sie davon nichts weiß. Man lasse sie in Unkenntnis, dann bleibt sie einem gewogen.
Folglich galt es, besonnen vorzugehen und dafür zu sorgen, dass Don Cirillo so still und leise verschwand wie ein Stein, den man behutsam auf die Oberfläche des Wassers legt und der dann sachte darin versinkt.
Mit diesen Überlegungen brachte der Baron den Montag, den Dienstag und auch die allerersten Stunden des Mittwochs zu. Allmählich zermürbten ihn die vielen Wenns und Falls, und er befand, der Verbleib in Neapel täte ihm unwohl. Mehr als einmal ertappte er sich dabei, wie er sich in aller Öffentlichkeit wild gebärdete, entweder mit zwei gespreizten Fingern die Erörterung des Problems begleitete, das ihm gerade das Hirn vernagelte, oder mit einer wütenden Besessenheit in den Beinen blindlings in eine Gruppe von Menschen hineinraste. Fast fürchtete er, jemand vermöchte durch seine Stirnfalten hindurch seine Gedanken zu lesen. Ungeduldig und aufgewühlt, ja bereits fiebernd griff er daher am Morgen des Mittwochs nach einer Feder und warf folgende Worte aufs Papier:
Mein teurer Don Cirillo!
Ich breche schon heute zum Anwesen auf, um dort nach dem Rechten zu sehen. In meiner Begleitung befindet sich Don Nunziante, der mittlerweile die Einzelheiten des Vertrags kennt und die Ansicht vertritt, Sie würden ein einmaliges Geschäft machen. Was soll’s, für meine Sünden muss ich eben büßen! Bisher haben wir ja noch nicht von dem Garten gesprochen, der über zwanzig Moggia umfasst.* Dieses Land würde ich Ihnen ebenfalls überlassen, wenn Sie das Geld dafür hätten. Selbiges bräuchte ich allerdings umgehend, denn wie’s der Teufel will, habe ich gestern am Kartentisch verloren. Ich erwarte Sie morgen.
Der Zug fährt um 12.20 Uhr ab, zur vollen Stunde erreichen Sie Ihr Ziel.
Folgen Sie vom Bahnhof aus dem breiten Weg mit den Olivenbäumen, das Tor zum Anwesen ist nicht verschlossen. Im Haus werden Sie herrlich schlafen können.
Auf baldiges Wiedersehen
Als der Baron den Brief um zehn Uhr bei der Post aufgab, meinte er, damit auch das Schicksal zur Verantwortung gezogen zu haben. Um 12.20 Uhr fuhr er allein nach Santafusca.
Don Cirillo vergeudete ebenfalls keine Minute.
Auch er musste etliche Dinge bedenken und erledigen, wollte er sich seinen Peinigern, deren Nachstellungen er keinen Tag länger ertrug, unbemerkt entziehen.
Zunächst suchte er Cruschello auf und brachte mit ihm den einen oder anderen Handel zum Abschluss, wobei er dem alten Gauner einen recht hohen Gewinn zugestand, denn nun galt es, großzügig zu sein, damit der Mann auf das Geschäft einging und augenblicklich zahlte.
Anschließend begab er sich zur Sparkasse der Bank von San Giacomo und ließ sich die Rentenbriefe aushändigen, die er dort der größeren Sicherheit halber deponiert hatte. Es waren die Früchte einer alten Erbschaft sowie klammheimlich angestellter Spekulationen.
Danach setzte er ein Schreiben an seinen Vermieter auf, in dem er ihm mitteilte, dringende Familienangelegenheiten zwängen ihn, Neapel auf der Stelle zu verlassen. Da er noch nicht wisse, wann er zurückkehren könne, würde er die Miete und den Schlüssel beim Schuster Gennariello hinterlegen, seinem Neffen, der auch Anweisung habe, ihm gelegentlich ein paar Dinge aus der Wohnung zu holen.
Weiter ging es zum Sacro Monte, um dort ein gutes Wort für den armen Baron einzulegen. Als er dem Verwalter gegenübersaß, schilderte er ihm mit Tränen in den Augen, dass Santafusca, dieser Libertin, am Rande des Ruins stünde. Man dürfe sich folglich nicht hart und unerbittlich zeigen, denn damit würde man diesen armen Christenmenschen in die Verzweiflung treiben. Deshalb sei er im Auftrage des Barons gekommen, um ein gewisses Entgegenkommen zu erwirken. Ein Skandal würde ja letztlich auch dem guten Ruf des Waisenhauses schaden.
Mit seiner Rede brachte Don Cirillo den Verwalter tatsächlich dazu, sich mit achttausend Lire zufriedenzugeben und Baron di Santafusca die restlichen Schulden zu erlassen. Der Priester zahlte, nahm den Beleg über volle fünfzehntausend Lire an sich und stolzierte ebenso hochgestimmt wie triumphierend hinaus.
Das erste Geschäftchen war nicht schlecht gelaufen.
Am nächsten Tag suchte er die Kurie auf und brachte ihren Kanzler dazu, ihm einiges über die Absichten zu verraten, die der Erzbischof hegte, und bei der Gelegenheit auch gleich die Summe zu nennen, die seine Eminenz für den Ankauf neuer Besitzungen auszugeben bereit sei.
Sie verblieben wie folgt: Im Laufe der Woche würde Don Cirillo der Kurie schriftlich ein exzellentes Kaufangebot für ein Anwesen unterbreiten, vorher müsse er nur noch einige letzte Punkte klären. Da er indes auf das Wohl der Kirche und des Glaubens bedacht sei, wolle er auf gar keinen Fall um jede Lira feilschen. Unter diesen Beteuerungen machte er sich eilends auf, um sich mit dem Marchese Vico Spiano über die strittige Frage der Hypothek ins Benehmen zu setzen. Da er ihn nicht antraf, hinterließ er ihm ein Schreiben. Noch am selben Abend erreichte ihn eine Antwort vom Verwalter im Hause Spiano, die eine einvernehmliche Lösung in Aussicht stellte.
Mit all diesen Besorgungen verging die Zeit für Don Cirillo weitaus schneller als für den Baron di Santafusca, und jener Donnerstagmorgen des 4. April war herangerückt, ohne dass der brave Diener Gottes es recht bemerkt hätte.
Gewöhnlich verließ er das Haus gegen neun Uhr, um in der Kirche von Porto Salvo die Messe zu lesen.
An jenem Morgen aber brach er bereits beim ersten Hahnenschrei auf, denn da mussten alle ihr Tagewerk vorbereiten und niemand hatte Augen und Ohren für ihn. Er ließ sein Viertel der Armen hinter sich und eilte, den dickleibigen, mit Wertpapieren gespickten Band des Heiligen Thomas unterm Arm, nach Marina, wobei er inständig hoffte, unerkannt zu bleiben. Er mied an diesem Tag jede Begegnung, er las seine übliche Messe nicht, sondern suchte ein kleines abgelegenes Café fast schon beim Zollamt auf und trank dort eine Tasse Schokolade.
Sobald Gennariello seine winzige, düstere Werkstatt betrat, fand sich Don Cirillo ein, um ihm den Schlüssel und den Brief zu geben.
»Bewahre diesen Schlüssel bis zu meiner Rückkehr auf«, sagte er. »Und überbringe den Brief dem famosen Advocatus, also Don Ciccio Scuotto, er wohnt nahe der Kirche San Giovanni a Mare. Ich muss einen großen Toten auf seiner letzten Reise begleiten, einen Senator, der auf dem Friedhof von Miano seine Ruhe finden soll, im Grab seiner Familie, und da will ich den Schlüssel nicht bei mir tragen.«
»Soll ich Ihnen noch rasch die Schuhe polieren, Onkel Cirillo?«
»Tu das, aus Respekt vor dem Toten.«
»Wenn Sie Zeit haben, könnte ich auch rasch noch zu Nadel und Faden greifen.«
»Zeit habe ich, und mit derart aufgerissenen Schuhen kann ich mich bei dem Begräbnis wahrlich nicht sehen lassen …«
Bei diesen Worten brach Don Cirillo in schallendes Gelächter aus und überließ seinem Neffen die Schuhe zum Stopfen.
»Ich werde bei der Messe einige Gebete für deine arme Mamma sprechen, Gennariello.«
»Geben Sie mir lieber zwei gute Zahlen! Bei anderen tun Sie das schließlich auch! Nur an Ihr eigen Fleisch und Blut, da denken Sie nie!«
»Das ist leichter gesagt als getan, Gennariello! Denn ich muss auf eine Eingebung warten, erst von ihr erfahre ich die Zahlen.«
»Wenn diese Eingebung doch bloß auch einmal für mich käme …«
»Versuche halt die 23 und die 40 …«
»Geben Sie mir noch eine Zahl, guter Onkel, das wäre eine wahre Heilige Dreieinigkeit!«
»Dann nimm noch die 66 hinzu! Aber setze nicht zu viel, denn auf den Zahlen liegt der Schatten des Steinbocks!«
Gennariello dankte dem alten Zeichendeuter mit einem Herzen voller Hoffnung und gab ihm seine geflickten, spiegelblank geputzten Schuhe zurück.
Don Cirillo raffte seinen Mantel vor der Brust zusammen, klemmte sich den Band des Heiligen Thomas unter den Arm und trat auf die Straße. Vom Meer wehte ein Wind heran, der seinen Mantel im Rücken blähte wie ein Segel. Da er nicht wusste, wie er die Zeit totschlagen sollte – die lässt das ja bekanntlich nicht so mühelos mit sich machen wie ein Mensch –, ging er in die Kirche San Giuseppe Maggiore,* um die Messe zu hören.
Vor dem Altar hatten sich einige wenige Menschen eingefunden, die einer Totenmesse lauschten, welche ein hagerer, ausgemergelter Geistlicher mit tiefer Stimme abhielt, indem er aus einem schmalen, schwarz gesäumten Buch vorlas.
Das Licht, das durch fahlgelbe Vorhänge fiel, tauchte das Kirchenschiff in eine Aura des Todes, in der nur hier und da Kerzenständer, Altarlampen und Bilderrahmen auffunkelten.
In den hinteren, dunklen Ecken der Kapelle dagegen, dort, wo die Figuren von Heiligen ihre Hände gen Himmel erhoben, wo staubüberzogene Statuen vor sich hin schlummerten, wo sich uralte Gräber versteckten, lag alles in tiefem Frieden.
»Et lux perpetua luceat ei …«,* tönte der ausgemergelte Geistliche, während er sich umdrehte, um den Segen zu sprechen, und mit seinen hellen, tief liegenden Augen über Don Cirillo hinwegstarrte.
Eine vor der Marmorbrüstung kauernde Frau, womöglich die Witwe des Verschiedenen, schluchzte auf und durchbrach damit die Stille unter der Kuppel. Rechter Hand, wo eine Treppe zum Beinhaus der Hingerichteten führte, antwortete ihr mit heiserem Schluchzen eine Lampe, der die Nahrung ausging.
Don Cirillo spürte eine allumfassende Traurigkeit in seiner Seele Einzug halten, während die Triebe der Selbstsucht nunmehr zu welken begannen. Ob er sich zu stark an irdische Güter klammerte und darüber vergaß, sich um die Erbauung der Seelen seiner Mitmenschen und seine eigene sittliche Vervollkommnung zu kümmern? Eines Tages würde Gott ihm die Rechnung für die ihm anvertrauten Talente unter die Nase halten – und Gott ließ sich nicht mit Staatsanleihen und Wechseln bezahlen. Gott wollte mit dem Gold der guten Tat bezahlt werden. Doch wann hatte er je an den Tod und das ewige Leben gedacht?
Da schwor Don Cirillo sich in glühender Inbrunst, heute möge der letzte Tag seines Lebens als Wucherer sein. Wenn er erst einmal das Anwesen in seinen Besitz gebracht, wenn er erst einmal den Vertrag mit der Kurie geschlossen hatte, dann würde er sich ganz dem Wohl seiner Mitmenschen und dem Studium der ewigen Wahrheiten widmen. Mit dem Gewinn aus seinen Ersparnissen könnte er rundum Almosen verteilen, zudem würde er ein Testament zugunsten der Armen und Waisen aufsetzen. Schon träumte er, wie er in ländlicher Abgeschiedenheit, im Schatten eines Olivenbaumes, inmitten des fröhlichen Gelärms der Zikaden, mit dem Blick auf die Berge und das ferne Meer, in einer weiß getünchten Zelle einen goldenen Lebensabend – den lichten Lebensabend des Gerechten – verbringen würde.
»Et libera nos a malo«,* sagte er und schlug ein sehr großes und absolut tadelloses Kreuz.
Um seine Spuren noch weiter zu verwischen, verließ Don Cirillo die Kirche durch eine geheime Tür, die in eine Gasse führte. Ganz in Bußfertigkeit versunken, eilte er sie hinunter, als er hinter sich Rufe hörte.
»Don Cirillo! Um der Barmherzigkeit willen, Don Cirillo!«
»Wer bist du? Und was willst du?«
»Ich bin es doch, Filippino, der Hutmacher! Erkennen Sie mich denn nicht?«
»Schulde ich dir womöglich ein paar lächerliche Lire? Und da kannst du nicht abwarten, sondern musst mich unbedingt daran erinnern? Was bist du bloß für ein misstrauischer …«
»Mich soll der Schlag treffen, wenn ich das gewollt hätte! Ich bin ein armer Mann, den echte Verzweiflung quält. Gestern ist der Gerichtsdiener bei mir gewesen und hat mir damit gedroht, mein gesamtes Hab und Gut zu beschlagnahmen. Aber ich habe eine Frau, die an Wundrose leidet, und vier Kinder, die mir verhungern.«
»Seien Sie barmherzig, Don Cirillo! Lassen Sie uns nicht verhungern!«
»Auch ich bin nur ein armer Mann, Filippino, und momentan kann ich nichts für dich tun.«
»Ich hätte da einen wunderbaren, funkelnagelneuen Hut, den ich für Sie beiseitegelegt habe. Eigentlich habe ich ihn für den Vikar gemacht, aber er ist ihm zu klein. Nehmen Sie ihn, Don Cirillo, bevor der Gerichtsdiener ihn sich zusammen mit allem anderen schnappt, und geben Sie mir nur ein wenig Geld, damit ich für meine Chiarina Medizin kaufen kann.«
Da ich ja nie wieder nach Neapel zurückkehren werde, dachte Don Cirillo, könnte ein neuer Hut nicht schaden. Obendrein vernahm er in seinem Herzen noch den leisen Widerhall jener Stimme der Bußfertigkeit. Da sich der Laden Filippinos zudem gleich an der Ecke des angrenzenden Platzes befand, begleitete er den Hutmacher und legte ein paar Lire auf den Ladentisch.
»Geben Sie mir wenigstens zwölf Lire, Don Cirillo! Der Hut ist schließlich noch ungetragen und hat Seidenbänder, er ist wunderschön und leicht wie eine Feder.«
»Ich gebe dir nicht eine Lira mehr, du elender Fuchser!«
»Sie schulden mir auch noch etwas …«
Es wäre wirklich nicht anständig, Schulden zurückzulassen, dachte Don Cirillo.
»Du kriegst elf Lire und damit Schluss«, erklärte er daraufhin. »Willst du für meine alten Schulden drei Zahlen?«
»Wenn sie mir einen Terno bringen …«
»Anscheinend habe ich gerade eine Eingebung. Sie stehen heute im Zeichen des Steinbocks. Deshalb halte ich sie für geradezu unfehlbar.«
»Vielleicht hat ja der Herr im Himmel selbst Ihnen diese Eingebung zuteilwerden lassen!«, rief Filippino aus und langte nach der Feder.
»Schreib auf! Die 4!« Das war der Tag seiner glücklichen Abfahrt. »Die 30!« Also der Preis des Anwesens. »Und dann noch die 90, die dir und deiner Chiarina alles erdenkliche Glück bringen soll. Nun muss ich mich aber verabschieden, Filippino, ich muss einen Toten nach Miano begleiten. Addio!«
Und mit seinem wunderbaren neuen Hut erreichte unser Priester nach einigen Haken durch die Gassen noch beschwingteren Herzens den Bahnhof just in dem Moment, da es Mittag schlug.
Zwanzig Minuten später kauerte er in einem Wagen dritter Klasse und presste den Heiligen Thomas samt seiner Gelehrsamkeit fest mit dem Arm an seinen Körper. Niemand hatte seine Abfahrt beobachtet, alle glaubten, er wäre mit einem Toten auf dem Weg nach Miano. Doch seinen Toten, o ja, den presste er unter seinem Mantel fest an sich, und dieser Tote vermochte selbst Lebende auferstehen zu lassen.
»Addio, du Stadt des Neids, der Ganoven und des Banausentums«, hallte es in seinem Herzen, als der Zug sich in Bewegung setzte, und vom Grund seines Gedächtnisses stieg ein lateinischer Spruch auf, den er als Junge hatte auswendig lernen müssen und der lautete: Beatus ille qui procul negotiis …*
Vor ihm lag ein herrlicher Tag, ein klarer und frischer Frühlingstag, ein Glückstag, wie er im Buche steht.
Nur sollte sich Don Cirillo diesmal als miserabler Astrologe erweisen.