Der Tag hätte herrlicher nicht sein können. All die Wagen, die Four-in-Hands, die Tilburys, Coupés und Breaks, wetteiferten ebenso miteinander wie all die schönen Damen.
Die Beträge, die auf die Pferde gesetzt wurden, erreichten schwindelnde Höhen. Die Buchmacher frohlockten, mehr als zweihunderttausend Lire wechselten in wenigen Stunden die Besitzer.
Andreina schlug Lazio, diesen aufgehenden Stern am Derbyhimmel, mit einer ganzen Länge und sicherte den Sieg damit den neapolitanischen Stallungen, deren Präsident unser Marchese di Spiano war.
Die Begeisterung all der edlen Herren ließ sich mit Worten nicht beschreiben. Andreina erhielt tosenden Beifall, auf das schöne Tier prasselten Liebkosungen und Küsse ein, und auch die Damen standen nicht zurück und warfen ihm ihre Blumengebinde zu.
Die zusammengelaufene Menge zeigte sich zwar nicht ganz so ergriffen von diesem Triumph in einem Sport, der nicht der ihre war, schrie sich aber immerhin mit allen anderen die Kehle aus dem Hals. Und die Verkäufer von gezuckertem und gekühltem Wasser, von Orangen, Melonen und japanischen Fächern machten vorzügliche Geschäfte.
Als die Zeit herannahte, den Heimweg anzutreten, hätte sich wohl kein Federkiel gefunden, ein Bild von dem Gewusel und Gelaufe, dem Tumult und der Tuschelei, der Farbenpracht und der überbordenden Fröhlichkeit inmitten dieser Landschaft voller Sonne und Azurblau zu Papier zu bringen.
Es war ein einziges Rufen und Grüßen von einer Kutsche zur anderen, ein Umhergeirre von Pferden und Menschen, ein Geflirr von Livreen, Federbüschen, roten und aschgrauen Röcken, Fächern, scharlachroten Sonnenschirmen, Schleppen und flatternden Schleiern, all dies gekrönt vom Funkeln der Brillanten und Feenaugen.
Unser neugeborener, geradezu ausgewechselter Baron machte der Fürstin erbarmungslos den Hof, die aus einer Laune darauf einging oder aber, auch dies nicht auszuschließen, insgeheim an einem treulosen Verehrer Rache nehmen wollte, indem sie sich die Huldigungen Santafuscas nicht verbat.
Dieser wiederum fasste jedes Lächeln zu seinen Gunsten auf. Wie stets hielt er sich an sein Prinzip, von einer Frau nicht mehr zu verlangen, als sie ihm geben wollte. Anlass zur Klage hatte er deswegen nie gehabt, im Gegenteil.
Luft und Sonne, der Wetteifer und das Mitfiebern bei den einzelnen Rennen, die gewaltige Menge und all die schönen Damen weckten in ihm, einem Mann, wie geschaffen dafür, das Leben in seiner ganzen Vielfalt unbekümmert und reuelos zu genießen, zusehends frische Kräfte.
»Exzellenz! Exzellenz! Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Wir müssen Sie überhaupt nicht behelligen!«
Die Stimme des Cavaliere Martellini erscholl von einer hohen Break-Wagonette herunter. Der Cavaliere versuchte inmitten einer Schar liebreizender Damen die rigide Strenge des Richters mit der formvollendeten Höflichkeit des Mannes von Welt in Einklang zu bringen. Über Herren wie ihn hieß es gemeinhin, sie seien Biographen, welche die Geschichte ihres eigenen Lebens mit Tusche und Tischwein festhielten, und in dieser Kunst war der Cavaliere so bewandert wie kein Zweiter.
»Meinen besten Dank!«, rief der Baron zurück und winkte ihm herzlich zu.
»Danken Sie mir nicht zu sehr«, schmetterte der Cavaliere, wobei er seine Hände wie eine Trompete vor den Mund hielt, »sonst lasse ich es mir noch einfallen, Sie zu verhaften … Sie und Ihre schöne Komplizin!«
»Tun Sie sich nur keinen Zwang an! In dem Fall würde ich nämlich nicht einmal Widerstand leisten …«
Die Worte wurden hoch oben auf der Wagonette mit lautem Lachen quittiert, bevor das Gefährt in einer Wolke aus Staub verschwand.
»Warum sollte man Sie verhaften, Baron?«, fragte die schöne Amazone Santafusca umgehend.
»Es geht da um einen Fall … auf meinem Anwesen …«
»Ja stimmt es denn, dass in Santafusca ein Priester umgebracht worden ist? Conte Villi hat mir gestern davon erzählt. Was für eine hässliche Geschichte! Ist der Mörder inzwischen wenigstens gefasst?«
»Es gibt verschiedene Verdächtige …«, antwortete der Baron, den Blick ins Nichts gerichtet.
»Zumindest dürfte man hier mit dem Prinzip cherchez la femme nicht weiterkommen …«
»Womöglich aber mit dem des cherchez le chasseur.«*
»Sind Sie etwa allen Ernstes davon überzeugt, dass jener geheimnisvolle Freischütz der Schuldige ist?«*
»Ebenso sehr, wie ich allen Ernstes davon überzeugt bin, Sie zu lieben.«
»Sie haben drei Tage lang nachdenken müssen, um mir das zu sagen.«
»Dann muss dieser Liebe der erschwerende Umstand des Vorsatzes bescheinigt werden …«
Die schöne Fürstin mit den italienischen und den spanischen Wurzeln schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. Der Baron gab seinem Pferd die Sporen. Die beiden setzten sich von der Menge ab, jagten in einem flotten Trab dahin und peitschten mit Blicken aufeinander ein.
Santafuscas Blut sprudelte frisch und stark durch seine Adern und machte ihn, der im Geiste schon zu vergreisen drohte, wieder zum Jüngling. Sonne, ein gutes Pferd und Liebe sind nun einmal die Güter, die das Leben nie genug anbieten kann.
Wenn ein freier Mann gesund und reich ist, dann hat er auf Erden das Paradies wiedergefunden, das der alte Adam verspielt hat. Was soll ein solcher Mann, wenn er bereits seine Eva und sein Paradies auf Erden hat, noch mit irgendeinem Paradies über den Wolken anfangen? Unser Baron überließ dieses Paradies hoch oben über den Dächern jedenfalls mit Kusshand allen Armen im Geiste.
So zog er mit dem ungetrübten, festen Wissen um die eigene Stärke voller Zuversicht in die letzte Schlacht. Er begleitete die wunderbare Amazone nach Hause, entnahm ihrem: »Auf Wiedersehen!« und ihrer Hand in der seinen ein verlockendes Versprechen und begab sich flugs zurück zu Spiano und Usilli in die Stallungen.
»Was für ein Sieg, Santa!«, empfingen ihn die Freunde stürmisch.
»Dann sollten wir unseren Gewinn abholen!«
Das Glück hielt dem Baron unverändert die Treue. Mit verschiedenen kleinen und großen Wetten hatte er abermals gut zwanzigtausend Lire gewonnen, vielleicht sogar dreißigtausend. Doch beeindruckte das viele Geld den Mann, der kürzlich noch für fünfzehntausend Lire einen Priester ermordet hatte, heute in keiner Weise mehr. Längst hegte er die unerschütterliche Überzeugung, es würde ihm nie wieder an Geld mangeln, er würde es selbst im Boden finden, sobald er nur ein wenig grub. Er gewann, ohne zu zählen, er gab aus, ohne zu zählen, als vermöchte der Schatz, den er in seinem Schreibtisch barg, sich von selbst zu erneuern und zu vermehren.
Als er den Reithof verließ, lief er Cecere in die Arme, dem Reporter, Schreihals und Faktenverdreher vom Omnibus, einer Zeitung, die nun schon seit über fünfzig Jahren bestand und der Cecere mit seinem blumigen Stil, seinen Sternchen und Gänsefüßchen neuerdings eine Verjüngungskur verpasste.
»Baron!«, stieß er aus. »Wenn man vom Teufel spricht … Verzeihen Sie die Respektlosigkeit, aber Sie kommen wie gerufen!«
»Guter Cecere!«, erwiderte der Baron, »Ihnen wollte ich in den nächsten Tagen ohnehin schreiben.«
»Und ich wollte Sie aufsuchen, Exzellenz! Man hält ja jemanden, dessen Namen man zweimal druckt, im Grunde schon für einen entfernten Verwandten. Oder geht von einer Blutsbrüderschaft in Tinte aus …«
Cecere verzog sein feistes Mondgesicht, das einem bartlosen Mönch gehören könnte, zu einem Lachen und entblößte dabei zwei Reihen klobiger weißer Zähne. Der reinste Wiederkäuer …
»Wer würde uns in dem Fall daran hindern, gemeinsam essen zu gehen?«
»Wer von den Göttern …?«,* erwiderte Cecere mit ein paar Worten aus der Ilias und schnappte sich begeistert den Arm des Barons. »Ich brauche jede Menge Hintergrund zum heutigen großen Renntag. Für einen Journalisten ist es ja immer ein Segen, wenn er auf eine gut unterrichtete Quelle verweisen kann. Was mir jedoch noch viel stärker unter den Nägeln brennt, ist ein Besuch in Santafusca. Gestatten Sie mir, dass ich mich ein wenig auf Ihrem Anwesen umschaue?«
»Holla!«, entfuhr es dem Baron nur.
»Was auch vermöcht’ ein solches Fürwort nicht?* … Ich muss darauf bestehen, denn mein Direktor hat schon zweimal sein Befremden zum Ausdruck gebracht, dass ich mir den Ort dieser Missetat noch nicht mit eigenen Augen angesehen habe. Muss er sich ein drittes Mal wundern, bleibt ihm danach nichts mehr, worüber er sich überhaupt noch wundern kann … Und das wollen wir doch nicht, oder?«
»Woher nehmen Sie, mein werter Herr, denn das Wissen, dass in Santafusca eine Missetat geschehen ist?«, empörte sich der Baron, als er zusammen mit Cecere das Café Europa betrat.
»Regel Nummer eins für einen Journalisten lautet, dass immer eine Missetat vorliegt, vor allem aber dann, wenn man feststellt, dass sie nicht vorliegt. Dieser Fall des Priesters interessiert unsere geschätzten Leser viel zu sehr, als dass wir sie jetzt damit vor den Kopf stoßen dürften, dass er sich in Luft auflöst. Nein, wir haben nachgerade die Pflicht, unseren Toten wachzuhalten, ihn heute leben zu lassen, damit er morgen ermordet werden kann, ihn danach zu beerdigen und schließlich zu exhumieren und so weiter und so fort bis hin zu den nächsten Wahlen, also bis es zu neuen politischen Morden kommt. Abgesehen davon: Warum sollten wir mit einem toten Menschen nicht verfahren wie mit einem lebenden?«
Cecere brach schon wieder in Lachen aus, entblößte daher erneut seine herrlichen Ochsenzähne, band sich gleichzeitig die Serviette um und machte sich dann daran, sämtliche vom Kellner gebrachten Teller und Bestecke nachzupolieren.
»Wenn Sie wüssten«, murmelte Santafusca, »wie oft ich Sie wegen dieses elenden Falls schon zum Teufel geschickt habe!«
»Wer einen Journalisten zum Teufel schickt, der schickt ihn geradenwegs zu seinem Großvater. Wie schon der göttliche Dichter gesagt hat, ist der Teufel der Vater der Lüge, und wir sind die Kinder dieser Tochter … nicht wahr?«*
»Dann kommen wir doch mal zur Sache!«, tönte der Baron in schönster Plauderlaune. »Was genau wollen Sie von mir wissen?«
»Darf ich denn erwähnen, dass Sie mir ein Interview gegeben haben?«
»Ich bin doch nicht Fürst von Bismarck.«
»Für einen Reporter wie mich sind Sie heute sogar mehr wert als er, und Sie ahnen vermutlich nicht einmal, welches Vergnügen ich meinen Lesern bereite, wenn ich zum Beispiel folgende Worte auf das Papier werfe: Gestern haben wir mit Seiner Exzellenz Baron di Santafusca gesprochen, einem der reizendsten Ehrenmänner unserer jungen Generation.«
»Jung? Ach, schön wär’s!«
»Ja ist man denn nicht jung, wenn man das Glück hat, an der Seite der schönen Fürstin di Palàndes die Rennen zu besuchen?«
»Gedenken Sie auch das zu drucken?«
»Bisher nicht.«
»Sie schrecken wohl vor gar nichts zurück!«
»Nicht bei einem Mann, der sich einen Derby-Bart schneiden und das Kinn eincremen lässt.«
»Worauf wollen Sie damit bitte hinaus?«, fragte der Baron mit brechender Stimme.
»Darauf, dass Sie jung, verliebt und glücklich sind! Überlassen Sie das Ganze also mir, ich werde schon dafür sorgen, dass unsere reizenden Leserinnen von diesem Umstand Kenntnis erhalten. Und in meinem Artikel werden Sie als Mann von höchstens dreißig Jahren dastehen … Und nun wollen wir einmal resümieren, wie Professor Spaventa so schön zu sagen pflegt.* Sie besitzen ein Anwesen in Santafusca.«
»Richtig.«
»Welcher Stil?«
»Siebzehntes Jahrhundert, Hochbarock …«
»Wunderbar, dieser Hochbarock, geradezu das ideale Bühnenbild. Ein prachtvolles Anwesen also …«
»Ganz im Gegenteil, eine Ruine … völlig verfallen.«
»Noch besser, weil romantisch … Das macht Eindruck! Und auf diesem Anwesen wurde der Hut gefunden?«
»Das weiß ich nicht … Sie sind derjenige, der das behauptet.«
»Das haben die Ermittlungen ergeben. Was denken Sie über den Mord an dem Priester?«
»Bitte?«, fragte der Baron zurück, während er sich Wein einschenkte.
»Glauben Sie, dass der Priester auf Ihrem Anwesen getötet worden ist?«
»Ich?« Der Baron setzte das Glas an die Lippen und leerte es in einem einzigen Zug. »Woher soll ich das wissen? Sie sind derjenige, der diesen Priester ermordet hat.« Er rang sich unter Aufbietung aller Kräfte ein Lachen ab. »Ich habe mal einen Blick in Ihr Geschreibsel geworfen, nachdem mir zu Ohren gekommen war, dass auch mein Name darin auftaucht. Wenn ich mich nicht irre, spielt da doch ein gewisser Jäger eine Rolle, der den Hut des Priesters gefunden hat und der zunächst in Santafusca, später dann in Falda gesehen wurde, in der Osteria Vesuv. Angeblich hat er behauptet, der Neffe des Priesters zu sein … Das Ganze ist, wenn Sie die Offenheit gestatten, eine Pastete, die zum Schlechtesten gehört, was uns dieser Tage vorgesetzt worden ist …«
»Aber wenn Sie nun vor Gericht vorgeladen würden, um Ihre Einschätzung darzulegen, würden Sie dann die Auffassung bestätigen, die jenen mysteriösen Jäger belastet?«
»Falls es überhaupt ein Verbrechen gegeben hat …«
»Wo es einen Hasen gibt, da gibt es auch einen Jäger.«
Der Baron setzte zu einem weiteren Lachen an, brachte jedoch nur ein Husten zustande. Abermals schenkte er sich Wein ein, abermals stürzte er ihn hastig hinunter.
»Wer sagt Ihnen denn, dass dieser Jäger den Priester in Santafusca getötet hat?«, brachte er dann eine weitere Idee seiner Verteidigung hervor. »Oder dass es nur einen Täter gibt, nicht mehrere? Vielleicht haben diese Schurken den Priester überfallen, ausgeraubt und anschließend im Meer versenkt? Oder einer von ihnen, ob nun Jäger oder nicht, das sei dahingestellt, hat den berühmten Hut über die Mauer von meinem Anwesen geworfen, fünf, sechs oder auch zehn Meilen vom Ort des Verbrechens entfernt, nur um seine Spuren zu verwischen und die Justiz in die Irre zu führen?«
»Auch das wäre denkbar … Ist die Mauer hoch?«
Der Baron hüllte sich in Schweigen. Er stierte auf die offene Tür zum Vorraum mit der Rezeption.
»Und? Ist sie hoch?«
»Bitte?«, fragte der Baron zurück, der unverwandt auf die Tür starrte.
Cecere folgte Santafuscas Blick und sah nun, dass zwei Carabinieri dem Besitzer des »Europa« ein Blatt Papier zeigten und auf ihn einredeten.
In dem Moment trat ein Kellner an ihrer beider Tisch.
»Haben die Herrschaften sich entschieden?«
»Auf diesem Terrain hat Seine Exzellenz das Sagen«, erklärte Cecere.
»Mir bringen Sie bitte … ach, ich weiß nicht … Entscheiden Sie für uns! Mir dröhnt der Kopf, ganz schwer ist er auch schon. Vermutlich habe ich heute zu viel Sonne abbekommen.«
Der Baron rieb sich über die Stirn, als wollte er dort ein paar Falten ausradieren.
»Da wir gerade beim Thema sind«, sagte Cecere, »schlage ich Huhn mit Pilzen und Kräutern vor. Ein Mahl nach Jägerart sozusagen …«
Nun verschwanden auch die beiden Carabinieri wieder.
Cecere machte sich über das vom Kellner gebrachte, vom Baron spendierte Essen her.
»Was hilft, ist ein Nickerchen«, sagte er, denn er glaubte Santafusca vorbehaltlos, dass dieser beim Rennen zu viel Sonne abgekriegt hatte. »Im Übrigen entgeht Ihnen nicht viel, Exzellenz, wenn Sie das Huhn verschmähen. Haben Sie je ein apokalyptischeres Tier gesehen als dieses? Fast könnte ich ja glauben, der Kellner hätte mir die Überreste unseres Priesters vorgesetzt … Wie diese Herrschaften hier Presse und Sport verhöhnen! Auch das sollte ich einmal im Omnibus erwähnen!«
Cecere trug die Wörter Hut, Jäger, hohe Mauer, Priester und mageres Huhn in sein Notizbuch, brachte dann einen gewaltigen Wortschwall hervor, den der Baron in seinem vermeintlichen Kopfschmerz geflissentlich überhörte, und trollte sich dann, um den Rest seines Tages zu genießen.
Der Baron blieb allein am Tisch sitzen, den Kopf auf die Hand gestützt, den leeren Blick auf die Knochen gerichtet, die von Ceceres Mahl zeugten. Er fühlte sich elend. Diese dumme Unterhaltung, dieser Cecere mit seinem seichten und gewöhnlichen Frohsinn, dann diese beiden Carabinieri, die mit Sicherheit auf der Suche nach jemandem gewesen waren …Durch seine Adern wogte nur noch verhängnisvolles Blut, das ihn tiefer als je zuvor in quälende Grübeleien hinabzog.
Seit drei Wochen führte er dieses Hundeleben nun, kannte er bloß noch Verzweiflung, Erschütterungen und Ängste, verdrängt von kurzen Anflügen von Hoffnung und von Herkulesmühen, mit denen er jenes kunstvoll geschaffene Gebäude, das er um seine Tat herum errichtet hatte, vor dem Einsturz bewahrte.
Etliche Nächte hatte er an den Spieltischen oder bei Orgien verloren, etliche Tage hatte er Kraft und Vergessen in der Jagd gesucht, in den Stallungen, im Reiten und im Alkohol, vor allem in seinem alten Médoc. Heute, nach diesem langen Tag in brütender Sonne, glaubte er ernstlich, sein Kopf sei von innen heraus völlig verdorrt und unfähig, auch nur zwei klare Gedanken hintereinander zu fassen. Für einen Mann, der gründlich denken und alle um sich herum von seiner Denkweise überzeugen musste, war das äußerst gefährlich. Auch das Herz, dieses elende, bereits kranke Herz, hämmerte schon wieder stärker als gewöhnlich …
Nicht einmal Hunger verspürte er in letzter Zeit noch. Und trank er, dann eher um der Betäubung als um des Vergnügens willen. Die Erschütterung, die doch dazu hätte führen sollen, dass in seinem Leben all das welke Laub abfiel – selbst sie hatte er nicht herbeigeführt. Inzwischen ahnte er, dass er seinen Grübeleien niemals entkommen würde, ehe dieser vermaledeite Fall nicht zu den Akten gelegt worden wäre.
Zum Glück belastete kein einziger Zeuge Giorgio aus Falda. Sollte allerdings durch einen Irrtum der Justiz ein Unschuldiger bestraft werden – ob er, Santafusca, dann den Mut besäße, sich durch Schweigen eines weiteren Verbrechens schuldig zu machen?
Wenn auch der Mensch nur so viel galt wie eine Eidechse, widerstrebte es dem Baron doch, einen anderen seinetwegen leiden zu sehen. Selbst wer keine Angst vor Gespenstern hat, kennt gewisse Gedanken, die einem mehr Angst einflößen als jedes Gespenst. Die Gedanken, sie sind die wahre Strafe!
Stets hatte er einzig auf die Wissenschaft gesetzt: Und nun war sie es, die ausgerechnet sein Gewissen formte und verfeinerte.
Ob der gute Doktor Panterre vielleicht gar kein so schlauer Kopf war? Allein Untiere verschlingen ihre Beute ohne Gewissensbisse. Deshalb würde er, das ahnte der Baron nur zu gut, keinen Frieden finden, niemals, jedenfalls nicht, wenn er nicht durch Schlamm watete und bei Orgien verrohte.
Die schöne Fürstin hatte ihn mit einem: »Auf Wiedersehen« verabschiedet, doch er würde sie nicht noch einmal aufsuchen. Sie hätte ihn doch bloß nach weiterer Veredelung streben lassen – und damit für noch größeres Leid gesorgt –, diese anmutige Kreatur, eingehüllt in ihrer Wolke orientalischer Düfte, aus der heraus sie ihn mit verhangenen schweren Lidern ansah und ihm ihre Stimme schickte, die nicht sprach, sondern sang. Selbst Marinella mit ihrer sorglosen Verspieltheit eines niedlichen Kätzchens ertrug er ja kaum mehr …
Der Baron von Santafusca würde sein angstgepeinigtes Herz nie mit seinem prinzipienstarken Verstand aussöhnen können … Fortan würde dieser grauenvolle Kampf auf dem kleinen Schlachtfeld seines Lebens toben.
Diese Gedanken zogen wie eine schwarz gewandete Trauerprozession in einem gewaltigen Schatten dahin, während er in der Sonne saß, den Kopf in die Hand gestützt, die Augen halb geschlossen, und den alten Médoc in seinem längst aufgeheizten Kopf hochkochen fühlte.
Wie hässlich sein Leben war …
Warum brachte er sich nicht um?
Das war eine Frage, die er sich noch nie gestellt hatte. Wenn ein Mann so viel gilt wie ein anderer, warum hatte er dann Don Cirillo erschlagen, nicht sich selbst? Ob er am Ende doch Angst vor dem hatte, was ihn nach dem Abtritt von der Bühne erwartete?
»Pah! Was sind wir doch alle für ausgemachte Narren!«, murmelte er und setzte sich in Richtung Ausgang in Bewegung.
Am nächsten Tag brachte der Omnibus unter der Überschrift »Drei Tage in Santafusca« einen farbenfrohen Artikel Ceceres.
Der Reporter schilderte seine Reise durch eine verwunschene Landschaft mit reizenden Häuschen und alten Olivenbäumen. Es folgte die Beschreibung des Anwesens im herrlichen Barock und ein Hinweis auf die Geschichte der Santafuscas, die Cecere aus dem Werk Adelsfamilien abgeschrieben hatte. Einmal mehr zeigte er sich als begnadeter Fabulant:
»Seine Exzellenz, Baron Coriolano, empfing uns mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit und begrüßte uns gar mit einem herzlichen Händedruck. Der stattliche Mann hegt für uns Journalisten eine besondere Vorliebe. Er ist, das sei unbedingt erwähnt, einer der elegantesten und kühnsten Gentlemen unserer Zeit, und mag das schöne Geschlecht ihn auch bereits in den Dreißigern sehen, so heißt dies doch noch lange nicht, dass er mittlerweile auch die Vierzig überschritten hat.
Seine Exzellenz – der, dies sei nebenbei angemerkt, größten Wert darauf legt, den Namen seiner Familie aus der Öffentlichkeit herauszuhalten – hat mich zu der Stelle geführt, an der nach allem, was man hört, der berühmte Hut gefunden wurde. Der Baron schließt sich unserer Meinung an, dass der Priester überall hätte ermordet worden sein können und dass der Jäger den Hut über die Mauer rund um sein Anwesen geworfen hat, dies in der Absicht, die Justiz in die Irre zu leiten. Daraufhin haben wir umgehend die Mauer ausgemessen: Sie ist zwei Meter und siebenundvierzig Zentimeter hoch.«
Weitere Einzelheiten dieser Art, von Cecere beherzt dem Tintenfass entlockt, folgten, ehe der Reporter seinen Artikel mit der Aufforderung schloss: »Cherchez le chasseur!«
Zwei Tage später erreichte den Baron eine Karte des Cavaliere Martellini, mit der dieser Seine Exzellenz um ein vertrauliches Gespräch in seinem Kabinett bat, allerdings ohne die schöne Fürstin. Weiter schrieb Martellini:
Es tut mir aufrichtig leid, Ihnen in einer Angelegenheit, die sich gewiss schon bald in Luft auflösen wird, solche Unannehmlichkeiten bereiten zu müssen. Aber wer weiß, vielleicht erspart Ihnen, mein hochverehrter Herr, Don Cirillo auch noch sämtliche Scherereien, indem er endlich aus seinem Versteck auftaucht. Geschieht dies nicht, sehe ich mich genötigt, um, wie wir es ausdrücken, die Akten schließen zu können, Sie als Besitzer des Anwesens anzuhören. Doch will ich Ihnen nicht als Richter, sondern als Freund gegenübertreten. Deshalb können wir zwanglos verfahren. Wir könnten die Gelegenheit sogar dazu nutzen, anschließend gemeinsam unser Frühstück einzunehmen. Wie ich vernommen habe, rühmt sich die Goldene Taube einer neuen Spezialität, Austern mit Mayonnaise, die ganz exquisit sein sollen.
Ich erwarte Sie um zehn Uhr.
Der Baron las die Karte, las sie noch einmal und lauschte dem, was sein Herz dazu meinte. Dies schien jedoch einigermaßen ruhig zu schlagen. Und gab es noch Zweifel, wie er das Schreiben aufzufassen hatte, so schaffte der Ton, in dem der Cavaliere sich an ihn wandte, diese aus der Welt.
Santafusca blieb damit eine Nacht, um sich in aller Ruhe den Stand der Ermittlungen und sämtliche Verdachtsmomente zu vergegenwärtigen, vor allem aber um seine Rolle in diesem Stück einzustudieren.
Sein Text bereitete ihm keine Mühe:
Er wusste nichts. Er hatte Don Cirillo niemals gesehen. Er hatte lediglich gehört, dass ein Hut auf dem Anwesen gefunden worden war … Und weil man allenthalben von einem Jäger munkelte, vermutete letztlich auch er, dass, sollte wirklich ein Verbrechen begangen worden sein, dieser unauffindbare … dieser Jäger … darin verwickelt war. Ansonsten wusste er nichts. In diesem einen Wort, in diesem nichts, gründete seine ganze Stärke.
Nachdem er sich diese drei, vier grundlegenden Gedanken eingebläut hatte wie ein Schüler, der bei einer Prüfung nicht dumm dastehen wollte, versuchte er, nicht weiter an die Begegnung mit Martellini zu denken. Trotzdem machte er praktisch die ganze Nacht über kein Auge zu.
Erst gegen Morgen schlief er ein, durch das lange Wachen völlig gerädert, wurde dann aber von furchtbar wirren Träumen geplagt, die, als schlüge mit einem Mal in seiner Brust nicht sein Herz, sondern als glühte dort ein Kohlestück, seine ohnehin schon peinigenden Qualen weiter und weiter schürten. Sogar von seinem kleinen Bruder träumte er, obwohl dieser doch schon lange tot war, gestorben mit nur zehn Monaten, den er aber, selbst noch ein kleiner Junge, auf seinem Arm getragen hatte, und nun sah er sie beide, sich mit seinem kleinen Bruder auf den Schultern, über ein Feld voller Klatschmohn tollen.
Wenn er doch bloß gewisse zwölf Stunden in seinem Leben ungeschehen machen könnte!
Zwölf Unzen seines Bluts hätte er für diese vermaledeiten zwölf Stunden hergegeben! Mochte ihm das Schicksal auch zurufen: »Hab keine Angst! Ich bin ja bei dir!«, er fürchtete doch, dass es eine Kraft gäbe, mächtiger noch als das Schicksal, gegen die er sich niemals würde feien können. Dieser elende Priester wollte in seiner Zisterne einfach keine Ruhe geben …
»Wie viel Leben in den Toten steckt!«, stieß er aus, aufrecht im Bett sitzend, den Blick ins Dunkel gerichtet.
Bisher war ihm nach seinem Empfinden die Zeit geradezu entfleucht, nun jedoch dehnte sich jede Sekunde wie ein zäher Tropfen in die Länge. Hielt er Rückschau, so meinte er, es wären fünfzig Jahre vergangen seit dem Tag, da Don Cirillo zum Anwesen gekommen sei. Dabei war das noch nicht einmal einen Monat her.