Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass Gewalt gegen Frauen wie geschlechtsselektiver Abtreibung, Infantiziden weiblicher Neugeborener, Suizide, vermeidbare Sterbefälle im Wochenbett und anderen geschlechts-bezogenen Ursachen mehr Menschenleben zum Opfer gefallen sind als allen Kriegen und Bürgerkriegen des 20. Jahrhunderts.[4]
Frauen werden seit Tausenden von Jahren unterdrückt – von Männern.[5] Das ist Teil des sogenannten »Allgemein Menschlichen Musters«, von dem es jedoch Ausnahmen gibt.[6] Die Ungleichheit war zu manchen Zeiten geringer als zu anderen, und in manchen Gesellschaften größer als in anderen. Vor allem aber ist es Frauen überall und zu allen Zeiten immer wieder gelungen, ihre Talente und Fähigkeiten gegen ihre Unterdrückung einzusetzen, um ihre Chancen zu steigern und ihre Lage zu verbessern. Sie taten dies zum Teil aus eigener Kraft, aber häufiger in Zusammenarbeit mit ihren Schicksalsgenossinnen. Entsprechend gab es zu vielen Zeiten und an vielen Orten auch Frauen, die innerhalb der Familie oder der Gemeinschaft eine viel bedeutsamere Position einnahmen, als es das »allgemeine Muster« hätte vermuten lassen. Davon sind wenige Spuren erhalten geblieben: In der Geschichte sind bis zum 19. Jahrhundert nur wenige Werke von Malerinnen, Komponistinnen, Philosophinnen oder Dichterinnen, Chronistinnen, Erzählerinnen, Theologinnen, Alchemistinnen, Mathematikerinnen, Geschichts- oder Naturforscherinnen überliefert. Fast all diese Talente sind – falls sie überhaupt je die Möglichkeit hatten, sich zu entfalten – für die Nachwelt unwiederbringlich verloren. Was sich dennoch erhalten hat, war natürlich an die strengen Anschauungen der Zeitläufte angepasst. Von wenigen brillanten, eigensinnigen Ausnahmen abgesehen, zeichneten sich Schriften von Frauen aus früheren Zeiten vor allem durch Bigotterie und Süßholzgeraspel aus, wie übrigens auch die allermeisten Werke von Männern in jener Zeit.[7]
Anscheinend war es vollkommen selbstverständlich, dass nahezu alle Frauen in so gut wie jeder Hinsicht, fast immer und überall, den Männern unterlegen waren. Und für sehr viele Menschen, Männer wie Frauen, scheint das auch hier und heute noch zwingend so zu sein: »Reg dich doch nicht auf, Mädchen. So war es immer schon. So wird es immer bleiben. Das ist nun einmal der Lauf der Welt.«
Erst heute, in unserer Gegenwart, zeigt sich, dass Frauen zu allem imstande sind. Es gibt keinen Beruf, den sie nicht ausüben, kein Amt, das sie nicht innehaben, keine Position, die sie nicht erreichen können – außer im Sport und in der Religion. Bis vor 50, vielleicht 100 Jahren hatte man denken können, dass Frauen keine Schweißerinnen, keine Bauarbeiterinnen, keine Parlamentarierinnen, keine Pilotinnen von Düsenjägern, keine Physikerinnen, Schiffskapitäninnen, Professorinnen, oberste Richterinnen, Feuerwehrfrauen oder Frontsoldatinnen werden können. Immer stellte sich heraus, dass sie zu alldem sehr wohl in der Lage sind. Und jedes Mal, wenn eine Frau als Erste eine solche Leistung vollbrachte oder einen Beruf ausübte, der bis dahin den Männern vorbehalten war, wurde eine dieser Überzeugungen endgültig widerlegt. Eine Ansicht, die bis dahin allgemein für wahr gehalten und aufgrund derer Frauen der Zugang zu dieser oder jener Funktion verwehrt wurde, erwies sich wieder und wieder als unhaltbar: »Eine Frau kann doch sicher niemals …« Was immer man hier ergänzen mag, es hat sich gezeigt, dass sie es doch konnten. Damit war zwar noch nicht bewiesen, dass alle anderen Frauen dazu ebenfalls in der Lage waren (wobei das für Männer natürlich genauso gilt), aber die Beweislast hatte sich umgekehrt. Eine Frau hatte nun bewiesen, dass sie es konnte, also würden es andere Frauen im Prinzip auch können. Nun muss man jeder Frau, die etwas erreichen will, erst einmal nachweisen, dass sie es nicht kann.
Wenn Frauen zu allem imstande sind – nicht nur im positiven, sondern auch im negativen Sinne –, wie kann es sein, dass sie das alles nicht schon früher zuwege gebracht haben? Warum waren Frauen früher keine Schmiedinnen, Ritterinnen, Priesterinnen, Wagenlenkerinnen, Piratinnen oder was auch immer? Wenn sie, wie wir heute sehen, zu fast allem in der Lage sind, müssten sie dann nicht auch früher dazu fähig gewesen sein? Ja, bestimmt, aber sie wussten es nicht, und alle anderen auch nicht, denn Frauen bekamen einfach nicht die Chance dazu.
Ähnliches trifft auch auf Sklaven, Hörige, Landarbeiter, »Unberührbare« in einem Kastensystem und die indigene Bevölkerung in einer kolonialisierten Gesellschaft zu. Ihre Enkel können heute Positionen bekleiden, die zwei oder drei Generationen zuvor noch unerreichbar erschienen. Zu jener Zeit hatte sich kaum jemand vorstellen können, dass diese Unscheinbaren über diese Fähigkeiten verfügen sollten. Wahrscheinlich nicht einmal sie selbst. In den vergangenen anderthalb Jahrhunderten haben sich die Benachteiligten aus der Unterdrückung befreit. Wir leben in einer Spätphase des Zeitaltes der Emanzipation: der Arbeiterklasse und der kolonialisierten Völker, der Farbigen und der Homosexuellen. Und es ist auch die Zeit der Emanzipation dieser einen Hälfte der gesamten Weltbevölkerung: der Frauen.
Wie war es möglich, so viele Menschen kleinzuhalten? Wie war es möglich, sie daran zu hindern, die gleichen Rechte zu beanspruchen und die gleichen Chancen zu ergreifen, wie sie weiße, heterosexuelle, wohlgeborene und wohlhabende Männer immer schon hatten? Wenn all diese ausgegrenzten Menschen faktisch, im Prinzip und der Anlage nach, ebenso begabt waren wie diese Herren, muss es doch enorme Energie gekostet haben, diese Mitmenschen an der Verwirklichung ihrer Potenziale zu hindern? Die Unterdrückung all dieser Menschen, und der Frauen im Besonderen, erforderte in der Tat enorme Anstrengungen; dennoch verlief sie fast unbemerkt.
Um damit zu beginnen: Es ging, wenn es sein musste, mit roher Gewalt. Bis auf den heutigen Tag ist häusliche Gewalt ganz gewiss keine Ausnahme. An dieser Gewalt ist nichts Heimeliges. Ein Mann fällt über seine Frau her und verprügelt sie, mit bloßen Fäusten, mit Fußtritten oder mit dem, was er gerade zu fassen bekommt. Das wird in vielen Gesellschaften auch heute noch als das gute Recht des Ehemannes akzeptiert. Und selbst in Kulturen, in denen diese »intime Gewalt« allgemein verurteilt wird, kommt sie noch häufig vor. Wie die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, berichtet, waren etwa 30 Prozent der Frauen weltweit in einer Beziehung körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt.[8] Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte stellte fest, dass ein Drittel der Befragten schon einmal Opfer körperlicher oder sexueller Übergriffe waren.[9] In den Vereinigten Staaten gab ein Viertel der befragten Frauen an, dass ihr Partner ihnen schwere körperliche Gewalt angetan hatte; aber auch 14 Prozent der Männer hatten solche schwere Gewalt von ihrer Frau erlitten.[10] Das sind also die Zahlen für den westlichen Teil der Welt.
Außenstehende bekommen von dieser intimen Partnergewalt selten etwas mit, weil sich die Frau schämt, und der Mann häufig auch. Sie hat Angst, etwas zu sagen, denn das könnte ihren Mann zu noch mehr Gewalt provozieren. Daher kommt es auch nur in extremen Fällen zu Verfolgung und Bestrafung. Der umgekehrte Fall, dass Frauen Männern gewaltsam zu Leibe rücken, kommt nicht so oft, wenngleich durchaus regelmäßig vor. Auch diese Gewalt bleibt meist im Verborgenen und wird nur selten strafrechtlich verfolgt.
Es war und ist gar nicht nötig, jede Frau zu jedem Moment hart anzugehen. Es reicht aus, eine einzige Frau, die nach Ansicht des Mannes eine Grenze überschritten hat, zu bedrohen und einzuschüchtern. Er muss sie nur daran erinnern, was anderen Frauen für eine solche Übertretung angetan wurde und was ihr daher möglicherweise bevorsteht. Gelegentliche gewaltsame Bestrafungen einzelner Frauen üben somit eine abschreckende Wirkung auf alle Frauen aus. Um effektiv als abschreckendes Beispiel wirken zu können, muss erstens die Gewalttat weithin bekannt werden und zweitens der Täter straflos ausgehen. Kommt beides zusammen, signalisiert das allen anderen Männern, dass sie kein Risiko eingehen, wenn sie eine Frau aus ihrem eigenen Umfeld gewaltsam bestrafen. Die Frauen begreifen, dass ihnen Gefahr droht, den Männern jedoch nicht. Und wenn alle Frauen (und Männer) in der weiteren Umgebung von der folgenlos verübten Gewalttat erfahren, wird dies auch als Warnung für alle Frauen verstanden, die Beschränkungen, die ihnen unter der Männerherrschaft auferlegt wurden, nicht zu überschreiten.
Gelegentliche Gewalttaten, die weithin bekannt werden und ungesühnt bleiben, stehen nie nur für sich. Diese Vorfälle bilden gemeinsam ein System, ein System der Einschüchterung und des Terrors. Und dazu bedarf es nicht einmal einer Regierung oder einer Armee, oder gar einer gewalttätigen Bande. Es sind einzelne Männer, allein oder in einer kleinen Gruppe, die ab und zu eine Frau in ihrer Reichweite zusammenschlagen, verstümmeln, niederstechen, blenden, vergewaltigen, verbrennen. Sie halten das Terrorsystem aufrecht. Der Vorfall muss nur zu einem öffentlichen Geheimnis werden und straffrei bleiben.
Aber es braucht noch mehr, um Frauen und Mädchen – und all die anderen Benachteiligten – im Zaum zu halten. Männer und Frauen leben in der gleichen Vorstellungswelt. In ihr wird der Mann als überlegen und kompetent, die Frau als minderwertig und unfähig betrachtet. Schließlich hat Gott selbst das – mehr oder weniger – so gewollt, so steht es in der Bibel und im Koran, das lehren uns die Erzväter, die Propheten, die Kalifen und seine Heiligkeit, der Papst. Das ist nun einmal der Lauf der Dinge. Das war schon immer so, seit Anbeginn aller Zeiten.
Ob Gott das tatsächlich so gewollt hat, bleibt unklar. Das göttliche Wesen selbst sagt nicht viel dazu. Was in den heiligen Schriften geschrieben steht und was die heiligen Männer allesamt gepredigt haben, unterstreicht tatsächlich die Herrschaft der Männer über die Frauen, aber es beschränkt diese Herrschaft auch. Unter den heidnischen Vorfahren war die Lage noch schlimmer; mit dem Aufkommen der neuen Religion wurde der Herrschaftsanspruch immerhin eingeschränkt.
Doch es braucht gar keinen Gott: »Schau dir nur die Evolution an, dort verhält es sich mit den Männchen und Weibchen doch nicht anders. Nimm nur mal den Pavian oder den Gorilla. Oder das Glühwürmchen. Da hast du’s. So war es schon bei den Höhlenbewohnern. Es liegt in den Genen«.
Wenn in der Natur tatsächlich Ungleichheit zwischen den Geschlechtern vorkommt, heißt das jedoch noch lange nicht, dass wir uns gerade an dieses Muster halten müssten. In fast allen anderen Fällen wollen wir uns doch gerade von den Tieren unterscheiden, wir wollen nicht so sein wie sie. Aber das ist schon eine ziemlich gewitzte Widerrede, so gewitzt, dass sie gern als unverschämt aufgefasst wird. Damit sollte man der frommen Gedankenwelt der männlichen Vorherrschaft besser nicht kommen. Die gesamte Artillerie der Religion wird dann aufgefahren, um die Untergebenen auf ihren Platz zu verweisen. Und wenn es sein muss, wird auch noch das schwere Geschütz der Biologie, der Psychologie, der Neurologie, der Psychiatrie und der Hirnforschung auf unverschämte Mädchen (und besserwisserische Kerle) abgefeuert. So funktioniert patriarchalische Ideologie. Ich kann das hier so entspannt und furchtlos erzählen, weil der massive Widerstand bereits von Generationen mutiger Feministinnen und anständiger Männer geleistet wurde, die alle Argumente für die Überlegenheit der Männer und die Minderwertigkeit der Frauen Punkt für Punkt widerlegt haben. Was für eine Arbeit. Aber sie musste getan werden.
Auf den folgenden Seiten geht es um die Unterdrückung der Frau als »Allgemein Menschliches Muster«, um die männliche Herrschaft unter patriarchalischen Machtverhältnissen. In den westlichen Gesellschaften, in denen dieses Buch vor allem gelesen werden wird, sind die Beziehungen zwischen Männern und Frauen schon lange nicht mehr so extrem ungleich. Seit mehr als einem Jahrhundert ist hier der Emanzipationskampf der Frauen im Gange und hat mit der Zeit zu großen Erfolgen und tiefgreifenden Veränderungen geführt. Die patriarchalische Gesellschaft erscheint aus Sicht des Westens eigenartig und weit weg, wie aus längst vergangenen Zeiten. Doch völlig wesensfremd und unbekannt kommt uns dieses Patriarchat auch wiederum nicht vor. Es ist vage erkennbar geblieben, als ob in einem absurden Scherz oder einem chaotischen Traum etwas anklänge, das man irgendwann einmal gekannt oder erfahren haben muss, etwas, das man schon vergessen hatte, aber doch noch als etwas wiedererkennt, das auch zu einem selbst gehört, auch wenn man glaubte, ihm für immer abgeschworen und es gänzlich verworfen zu haben. Wenn es hier um diese archaischen, diese uralten patriarchalischen Verhältnisse geht, dann bilden diese auch einen fortwährenden Kommentar zu den Verhältnissen, in denen wir heute leben – wie ein dunkler Spiegel.
Die männliche Vorherrschaft ist noch nicht vorbei. Um zu verstehen, wie das tausendjährige Reich des Mannes funktioniert, muss man die Geschichte nicht vom Anfang bis zur Gegenwart aufrollen. Fast alle gewalttätigen Formen der Unterdrückung von Frauen, die früher eingesetzt wurden, funktionieren auch heute noch in großen Teilen der Welt. Ja, mehr noch, die Tatsache, dass diese Gewaltpraktiken schon so lange gang und gäbe sind, dient heute als Argument dafür, sie aufechtzuerhalten: Es seien jahrhundertealte und daher ehrwürdige Traditionen. Sie gehören angeblich zum kulturellen Erbe: Kinderehen, Genitalverstümmelung, Ehrenverbrechen – sie fallen allesamt unter das »gute Recht« der Männer. Die Frauen sollten sie dabei eigentlich unterstützen, aus Respekt vor Religion und Tradition.
Das Patriarchat existiert heute in Form einer »unabgeschlossenen Vergangenheit«, seine Gegenwart ist geronnene Geschichte. Machen wir uns also auf die Suche nach den heutigen Gewaltmitteln, die das System der männlichen Vorherrschaft aufrechterhalten. Eine Frage geht dem allerdings noch voraus: Worin liegt der Ursprung des Vorsprungs der Männer gegenüber den Frauen? Was hat Männer in die Lage versetzt, eine Gewaltherrschaft über Frauen auszuüben?
Sie dramatisieren den Unterschied, währendes um das Gegenteil geht: die Bedrohung durch die Übereinstimmungen.[11]
Worin besteht der Unterschied zwischen Mann und Frau? So wird die Frage fast immer gestellt und meistens mit einem Kichern oder Erröten beantwortet. Denn der Hauptunterschied liegt in den Geschlechtsteilen, die verborgen bleiben müssen und von jeher auch nicht benannt werden durften. Das Wesensmerkmal des Mannes und das Wesensmerkmal der Frau waren also weder vorzeigbar noch beschreibbar. Und auf diesem einen geheimen Unterschied beruhte und beruht weitgehend die männliche Vorherrschaft und die damit einhergehende weibliche Untergebenheit. An diesem Punkt beginnt nicht das Mysterium. An diesem Punkt beginnt die Mystifikation.
Fast alle Menschen haben zum Unterschied zwischen den Geschlechtern eine dezidierte Meinung, die in der Regel auf Erfahrungen basiert und darauf, was sie als gesunden Menschenverstand verstehen. Aber ein solches Laienwissen variiert je nach Ort und Zeitpunkt und ist oft in sich widersprüchlich. In den Medien werden regelmäßig Ansichten und Beobachtungen von Wissenschaftlern und anderen Experten über die Unterschiede zwischen Männern und Frauen präsentiert. Solche akademischen Erkenntnisse sind vielfach einseitig und in fast allen Fällen durch die vorherrschenden Auffassungen über die Geschlechterdifferenz verzerrt. In den Medien wird das gerne noch zusätzlich aufgebauscht. Die australische Soziologin Raewyn Connell kommt daher zu dem Schluss, dass es noch am besten sei, von veränderlichen sozialen Beziehungen zwischen Männern und Frauen auszugehen.[12]
Die Frage lässt sich auch anders stellen: In welchen Hinsichten unterscheiden sich viele Männer von vielen Frauen? Und in welchem Maße? Aber damit geht es schon um Mehrzahl und Vielfalt, um Abstufung und Verteilung, um individuelle Entwicklungen im Laufe eines Menschenlebens, um langfristige Gruppenentwicklungen und auch um die Geschlechtsunterschiede, die zwischen der einen und der anderen Gesellschaft bestehen. Die Geschichtswissenschaften und die Anthropologie haben darauf hingewiesen, wie unterschiedlich diese Unterschiede in verschiedenen Epochen und Kulturen sind. Die Psychologie habt gezeigt, wie unterschiedlich die Unterschiede zwischen einzelnen Männern und zwischen individuellen Frauen sein können, sogar im selben Zeitraum und in derselben Gesellschaft. Die Soziologie hat derartige auseinanderdriftende Unterschiede zwischen höheren und niedrigeren sozialen Schichten, zwischen Etablierten und Außenstehenden festgestellt. Die Embryologie konstatiert, dass sich ein früher minimaler Unterschied im Mutterleib zu unverkennbaren Unterschieden zwischen den meisten Jungen und den meisten Mädchen entwickelt; die Physiologie kommt zu dem Schluss, dass diese Unterschiede graduell sind, eine Sache von mehr oder weniger.
Bei den leicht messbaren Unterschieden wie Körpergröße oder Körpergewicht lässt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den meisten Männern und den meisten Frauen feststellen: Männer sind in der Regel größer und schwerer als Frauen. Dennoch verhalten sich diese Unterschiede für eine ganze Reihe von Männern und Frauen umgekehrt: Es gibt Frauen, die größer oder schwerer sind als viele Männer. Eine beträchtliche Anzahl von weiteren Merkmalen, nach denen sich Männer und Frauen unterscheiden sollen, sind nicht so leicht zu bestimmen. Was ist das Maß für Fürsorglichkeit, wie kann man Einfühlungsvermögen messen? Es gibt sehr viele solcher oft sehr positiver Eigenschaften, die Frauen zugeschrieben werden, ohne dass je erwiesen werden konnte, dass sich Frauen darin von Männern unterscheiden. Und selbst wenn es gelungen wäre, einen solchen Unterschied zwischen den Geschlechtern zu bemessen, würde man sich immer noch fragen, ob es sich dabei tatsächlich um angeborene Unterschiede handelt. Es ist durchaus möglich, dass sich die typisch weiblichen Eigenschaften in einer typisch weiblichen Erziehung entwickelt haben und die typisch männlichen Eigenschaften in einer typisch männlichen Erziehung. Wenn sich das soziale Umfeld, in dem Kinder aufgezogen werden, verändert, verändern sich auch die Eigenschaften, die Mädchen und Jungen in ihrer Kindheit entwickeln und in ihrem Erwachsenenalter beibehalten.
Die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen scheinen zum Teil so universell, auch so zeitlos zu sein, dass an ihnen doch etwas Ererbtes sein muss: Etwas davon muss doch genetisch weitergegeben werden. Das kann sehr wohl der Fall sein. Auch die Primaten, die ja am engsten mit den Menschen verwandt sind, weisen große Verhaltensunterschiede zwischen den Geschlechtern auf.
Das heißt aber nicht, dass diese genetischen Unterschiede in der Geschichte der Menschheit konstant waren. Allein durch die Partnerwahl können sich neue Eigenschaften, die das andere Geschlecht attraktiv findet, recht schnell genetisch in einer Population ausbreiten: Der Träger oder die Trägerin einer solchen Eigenschaft findet leichter einen Partner für die Fortpflanzung und kriegt mehr Nachkommen, die alle ebenfalls diese erwünschte vererbte Eigenschaft tragen. Die genetische Vererbung schließt Variationen nicht aus: Das menschliche Kopfhaar zeigt Variationen von blond bis schwarz, von glatt bis lockig. Ererbte Merkmale können sich im Laufe eines Lebens verändern. So nehmen Locken mit den Jahren manchmal ab, das Haar wird bei Männern und Frauen ab einem bestimmten Alter grau und bei Männern fällt es oft ganz aus. Das genetische Erbe ist nur eine Komponente des Verhaltens oder des Aussehens: Die Frisur etwa setzt sich aus einer Kombination von angeborenem Kopfhaar, Veränderungen des Haarwuchses im Laufe des Lebens und sozial erwünschter Gestaltung zusammen: »dem Haarstyling«.
Es könnte also gut sein, dass es genetisch vererbte Verhaltenstendenzen gibt, die zu den Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen beitragen. Aber das schließt nicht aus, dass sich im Laufe der Zeit Veränderungen zwischen Generationen und innerhalb eines Menschenlebens ausbilden, und auch Variationen zwischen Individuen. Es ist nicht wahr, dass Menschen entweder männlich oder weiblich geboren werden und ihr Verhalten und ihr Aussehen damit das ganze Leben lang festgelegt sind. Der weitverbreitete Slogan »Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus« ist daher auch eine kapitale Bêtise. Das Klischee gibt allerdings Aufschluss darüber, wie unbehaglich sich viele Menschen im Umgang mit dem anderen Geschlecht immer noch fühlen: als handele es sich um außerirdische Wesen.
Es ist auch nicht wahr, dass Menschenkinder erst nach der Geburt, allein durch den Druck kultureller Konventionen, zu Frauen oder Männern geformt werden. Erbliche Kontinuität, Variation und Veränderung greifen bei der Entwicklung von Kindern im Laufe des Lebens untrennbar ineinander, und das übrigens nicht nur bei Menschen, sondern auch bei anderen Lebewesen, den Tieren. Manchmal gelingt es, einen genaueren Einblick in den Beitrag, den Vererbung und Umwelt leisten, zu gewinnen, aber in den meisten Fällen sind wir nach wie vor auf Vermutungen angewiesen.
Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass Mädchen und Frauen von Natur aus für eine bestimmte Tätigkeit weniger geeignet sind als Jungen oder Männer oder umgekehrt, bedeutet das nicht, dass sie diese Tätigkeit nicht ausüben sollten. Wenn Menschen für etwas weniger begabt sind – zum Beispiel für das Rechnen – verwendet man doch gerade umso mehr Mühe darauf, sie darin zu fördern. Es könnte durchaus der Fall sein, dass die Männer von heute bei der Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern etwas weniger geschickt sind als die Frauen. Ihr mangelndes Geschick könnte sogar eine erbliche Komponente haben (»seit der Steinzeit keinen Säugling mehr auf dem Arm gehalten …«), aber so leicht kommen sie nicht davon. Die Argumentation könnte ebenso gut lauten, dass die Männer sich umso stärker bemühen sollten, es zu erlernen.
Trotz all dieser Vielfältigkeit und trotz all dieser Variationsbreite gibt es doch eine gesellschaftliche und historische Konstante: Nahezu überall und zu allen Zeiten werden Männer Frauen übergeordnet.
Wie kommt das?
Frauen tragen Kinder aus, gebären und stillen sie. Männer nicht. Außerdem sind die meisten Männer stärker als die meisten Frauen. Und sie sind in der Regel viel stärker als schwangere und stillende Frauen.
Bis vor 50 Jahren, und so weit man in die Vergangenheit zurückblicken kann, brachten Frauen im Durchschnitt fünf oder sechs Kinder zur Welt, oft noch viel mehr. Daher waren sie den Großteil ihres jungen Erwachsenenalters, in der Blütezeit ihres Lebens, den Männern gegenüber körperlich wehrlos. Das haben sich Männer zunutze gemacht. Aufgrund dieses Kräfteungleichgewichts gelang es ihnen, Faustkeile, Speere, Pfeil und Bogen, Messer und Schwerter, Pistolen und Musketen von den Frauen fernzuhalten. In fast allen menschlichen Gesellschaften ist es den Männern gelungen, ein Waffenmonopol für ihr Geschlecht zu sichern und aufrechtzuerhalten.[13] Jeglicher Besitz und Gebrauch von Waffen war Männern vorbehalten. Das machte die Kräftedifferenz zwischen den Geschlechtern schier unüberwindbar. Mit dieser Übermacht an Gewaltmitteln konnten die Männer auch das Übergewicht an Herrschaftsinstrumenten erlangen: mit einer Religion, die die Überlegenheit der Männer über die Frauen verkündete und diese den Frauen de facto aufzwang. Männer haben sich die Religion zu eigen gemacht. Das geschah nicht immer und nicht überall. Aber die großen Religionen unserer Zeit sind das Werk von Männern. Damit verband sich zwar auch schon immer eine Verehrung weiblicher Heiliger, aber nur unter strenger männlicher Kontrolle. Man fragt sich, wie so etwas überhaupt möglich ist. Aber es ist nun einmal eine Tatsache, dass in all diesen Religionen die Män-ner den Frauen übergeordnet sind. In all diesen Religionen wer-den Frauen von den geistlichen Ämtern ausgeschlossen. Von eini-gen neueren westlich-liberalen Ausnahmen abgesehen, können Frauen keine Priester, Geistliche, Imame, Brahmanen, Rabbiner oder Lamas werden. Und die Frauen, so modern und emanzi-piert sie auch sein mögen, akzeptieren das und gehen weiterhin brav und gehorsam als Gläubige zweiter Klasse in die Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel. Überall, wo sich die Religion zur Orthodoxie erhebt, werden Frauen von vorneherein herabgewürdigt.
Selbst wenn vom Glauben nicht mehr viel übrig ist und die Religion bis auf die Knochen abgenagt ist, bleibt bei fast allen Menschen noch eine vage und kaum bewusste Vorstellung von einer Überlegenheit der Männer gegenüber den Frauen erhalten. In all den Jahrtausenden männlicher Vorherrschaft und weiblicher Unterdrückung erhielten Frauen kaum einmal die Chance, außerhalb der Familie bedeutende Positionen einzunehmen oder überragende Leistungen zu vollbringen. Allein Frauen von hoher Abkunft oder mit eigenem Vermögen konnten Ansehen gewinnen. Sie taten dies fast immer als die Mutter, die Tochter oder die Witwe eines bedeutenden Mannes, also immer als »die Frau von …«. Damit war es eigentlich nicht ausschließlich ihr eigenes Verdienst, sie hatten ihre Reputation zumindest teilweise den Beziehungen zu einem Mann zu verdanken.
Auch unter patriarchalischen Verhältnissen gab es Frauen, die viel erreicht und geleistet haben, aber davon ist fast alles aus den Annalen gestrichen worden. Ihre Leistungen wurden einem Mann zugeschrieben, sie wurden totgeschwiegen oder gerieten bald in Vergessenheit. Ein faszinierendes und weitgehend vernachlässigtes Forschungsgebiet sind die Nonnenklöster, in denen Frauen von den üblichen Familienpflichten befreit waren. Dort sahen sie sich allerdings mit anderen Sorgen konfrontiert. In diesen geschlossenen Frauengemeinschaften müssen Nonnen in vielen Bereichen Leistungen von bleibendem Wert erbracht haben. Die Klosterorden führten darüber sorgsam Archive, und vieles davon wird im Verborgenen bewahrt geblieben sein. Seit einiger Zeit wenden sich Forschungsvorhaben den Hinterlassenschaften kreativer Klosterschwestern zu.[14] Doch Nonnen haben gewiss nicht an der Spitze des Widerstands gegen das patriarchalische Regime gestanden. Wenn es irgendwelche rebellischen Äußerungen gegeben haben sollte, wurden sie höchstwahrscheinlich sofort getilgt. Hier und da haben sich jedoch verdeckte Widerworte erhalten. Es sind Sammlungen von Texten erschienen, die Frauen in früheren Jahrhunderten verfasst haben. Wie auch die meisten Schriften von Männern sind sie meist langweilig, brav und aus heutiger Sicht vorhersehbar. Andernfalls wären sie auch sofort zensiert worden. Aber hier und da findet sich doch eine aufsässige, eigensinnige Frau darunter, die einen eigenen Ton anschlägt.
Die ergänzungsoffene Standardformel lautete immer: »Eine Frau kann doch niemals …« Ergänzt wurde diese dann mit irgendeiner Tätigkeit, die in dieser Gesellschaft nun einmal ausschließlich von einem Mann ausgeübt werden durfte. Und weil sie es nicht durfte, schien es so, als ob sie es auch nicht konnte. Keine Frau hatte je eine solche Arbeit verrichtet oder eine solche Leistung erbracht. Na also! Dazu waren Frauen viel zu … Und ein solcher ergänzungsoffener Standardsatz wurde in der Regel mit Eigenschaften vollendet, die man der Frau andichtete: zu schwach oder zu emotional, zu lieb oder zu hitzköpfig, zu unwissend oder zu schlau. Und so weiter und so fort. Dass keine Frau jemals Oberste Richterin wurde, beweist doch wohl, dass Frauen dafür zu unvernünftig waren. Dass es keine einzige Kapitänin zur See gab, dient als offensichtlicher Beweis dafür, dass Frauen dafür zu ängstlich waren. Und weil diese Frauen so unvernünftig und so ängstlich (und auch so unausgeglichen) waren, war es doch nur gut, dass sie nie solche anspruchsvollen, verantwortungsvollen Funktionen übernommen haben.
Erst in den letzten 50 bis 100 Jahren haben Frauen begonnen, fast alle diese Funktionen zu übernehmen, und das oft sehr erfolgreich. Dafür gibt es eine gute Erklärung: Gerade die beiden universellen und dauerhaften Unterschiede zwischen Männern und Frauen – Körperkraft und Schwangerschaft – haben an Bedeutung eingebüßt.
Erstens haben Maschinen und mechanische Anlagen nach und nach die schweren Arbeiten übernommen, sodass die körperliche Kraft von Männern in den letzten anderthalb Jahrhunderten immer mehr an Bedeutung verloren hat. Damit sind zahllose Arbeitsbereiche der rein männlichen Domäne entzogen worden. Kraft spielt heute nur noch im Sport und bei einigen schweren Kampfeinheiten in der Armee eine maßgebliche Rolle.
Zweitens bekommen Frauen zwar immer noch Kinder, aber seit etwa 50 Jahren nicht mehr durchschnittlich ein halbes Dutzend, wie es über die Jahrhunderte und in allen Teilen der Welt dem »Allgemein Menschlichen Muster« entsprach. Diese Kinderschar nahm die Mütter mehr als zwölf Jahre ihres jungen Erwachsenenlebens vollkommen in Beschlag. Die durchschnittliche Geburtenrate begann seit 1965 weltweit stark zu sinken, sie liegt heute bei zwei, höchstens drei Kindern. Die Kinderbetreuung liegt weiterhin vorwiegend in den Händen der Frauen. Aber diese Arbeit nimmt heute in ihrem Leben viel weniger Raum ein. Zudem übernehmen Kinderkrippen und Kindergärten einen großen Teil der Betreuungsarbeit.
Damit ist der größte männliche Vorteil, die Körperkraft, weitgehend irrelevant geworden. Etwa gleichzeitig damit ist die Kinderbetreuung als Haupthindernis für die gesellschaftliche Karriere von Frauen weitgehend weggefallen. Dennoch hat sich die Freude an der Mutterschaft erhalten – und an der Vaterschaft übrigens auch. Biologie ist Schicksal; aber nicht mehr für Frauen. Denn die biologischen Unterschiede sind für die gesellschaftlichen Chancen der Frauen praktisch bedeutungslos geworden.
Die Veränderungen im Verhältnis zwischen Männern und Frauen vollziehen sich auch heute noch sehr langsam und werden häufig von religiösen Fanatikern oder reaktionären Regimen wieder zunichte gemacht. Erschwert werden sie vor allem von dem allgegenwärtigen, hartnäckigen, undurchsichtigen und oft undurchdringlichen Konservatismus der Männer, die sich gegenseitig stillschweigend die Bälle zuspielen und wortlos füreinander Partei ergreifen. Doch der Vormarsch der Frauen geht weiter und lässt sich auf lange Sicht nicht mehr aufhalten. Denn aufgrund der ihm zugrundeliegenden langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen sind die angeborenen Kräfteunterschiede zwischen den Geschlechtern heute von viel geringerer Bedeutung.
Wenn Frauen gegenwärtig tatsächlich zu fast allen Tätigkeiten in der Lage sind, wie erklärt es sich dann, dass ihre Mütter, Großmütter und all die Hunderten von Generationen vor ihnen diese offenbar nie ausgeübt haben? Erst heute, da die Frauen die Beschränkungen, die ihnen die ganze Zeit auferlegt worden waren, überwunden haben, wird das ganze Ausmaß dessen deutlich, was sie die ganze Zeit hätten tun können, wenn sie es gedurft hätten. Was hat sie zurückgehalten? Wie konnte es sein, dass das potenzielle Talent von Myriaden von Frauen Jahrhundert für Jahrhundert ungenutzt und unbemerkt blieb?
Der Grund dafür lag im Wesentlichen im Terrorregime des Patriarchats.
Von diesem Patriarchat wird immer noch viel zu beschönigend gesprochen. Als wäre es ein religiöses und kulturelles Regime, das mit starker Überredungskraft und sanftem Druck agiert. Die Frauen hätten sich schließlich selbst daran beteiligt und dabei mitgeholfen, es aufrechtzuerhalten, sagt man. Und so verhielt es sich tatsächlich. Doch wie alle Unterdrückungsregime beruhte auch dieses Regime letztlich auf brutaler und gnadenloser Gewalt. Und so ist es in großen Teilen der Welt noch immer. Frauen wurden nicht von Stacheldraht und Lagerwächtern an ihrem Platz gehalten. Dazu waren keine Stoßtrupps oder Exekutionskommandos nötig. Aber eine Frau, die an den Beschränkungen, die ihr und ihresgleichen auferlegt wurden, rüttelte, sah sich sehr oft von einer gewaltsamen und manchmal tödlichen Strafe bedroht.
Hier folgt nun ein kleiner – und unvollständiger – Katalog der Gewalttaten gegen Frauen, vom neugeborenen Mädchen bis zur Greisin: eine kurze Gebrauchsanweisung für die patriarchalische Schreckensherrschaft.
In vielen Ländern ist in Bezug auf die Ereignisse rund um die Geburt etwas Merkwürdiges und Beunruhigendes festzustellen. Dort werden weit weniger weibliche als männliche Neugeborene registriert, auf 100 Mädchen kommen etwa 120 Jungen. Und manchmal ist das Ungleichverhältnis sogar noch größer.
Wie kann das sein?
Seit einigermaßen verlässliche Geburtenstatistiken geführt werden (außerhalb des Westens noch nicht sehr lange), wissen wir, dass unter normalen Umständen auf 100 Geburten von Mädchen etwa 105 Geburten von Jungen kommen. Dieses Geschlechterverhältnis bei der Geburtenrate hat sich im Laufe der Jahrhunderte und in der ganzen Welt als sehr stabile Größe erwiesen.[15] Die Geburtenraten gehören zu den zuverlässigsten Statistiken; es wird ausnahmslos angegeben, ob es sich bei der Geburt um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Wenn also die Relation zwischen den Geburten von Mädchen und Jungen deutlich vom natürlichen Durchschnitt von 100 zu 105 abweicht, ist davon auszugehen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.
Der geringe natürliche Überschuss an Jungen bei der Geburt wird später allmählich ausgeglichen, weil die Sterblichkeitsrate von Jungen, vor allem aufgrund von gewalttätigen Auseinandersetzungen und Unfällen, etwas höher ausfällt, vielleicht auch, weil Jungen in den ersten Lebensjahren anfälliger für Krankheiten sind. Daher gibt es im heiratsfähigen Alter etwa gleich viele junge Männer wie junge Frauen. (Bei älteren Menschen hingegen gibt es einen Frauenüberschuss, weil Frauen durchschnittlich einige Jahre länger leben als Männer.)
Das Geschlechterverhältnis von 100 zu 105 ergibt sich, wenn bei Schwangerschaften und Geburten nicht eingegriffen wird. Aber genau das geschieht von jeher und in großem Umfang, vor allem in traditionellen patriarchalischen Gesellschaften, insbesondere in weiten Teilen Chinas und Indiens, aber auch in Ländern des Nahen Ostens[16] und Nordafrikas. In diesen Ländern liegt das Geschlechterverhältnis bei der Geburt oft ungefähr bei 100 Mädchen zu 120 oder noch mehr Jungen. Das bedeutet, dass von 100 natürlicherweise zu erwartenden Mädchen höchstens 88 im Bevölkerungsregister eingetragen werden. Mindestens ein Dutzend weiblicher Babys ist also verschwunden, jedes achte.
Die fehlenden neugeborenen Mädchen landeten sofort im Eimer. Über diese Mädchenmorde gab es immer schon Mutmaßungen, sie waren sozusagen ein öffentliches Geheimnis. Alle wussten davon, und jeder wusste, dass alle es wussten, aber man sprach nicht darüber. Die chinesische Schriftstellerin Xue Xinran beschreibt, wie sie es selbst bei einer Entbindung in einem chinesischen Bauerndorf mitangesehen hat.[17] Das neugeborene Mädchen wurde ohne viel Aufhebens in einem Abfalleimer ertränkt, die Füßchen ragten noch heraus. »Unbrauchbares Ding«, sagte der Vater. Das kam im vergangenen Jahrhundert noch sehr oft vor. Eine Hebamme erklärte Xinran, dass es am besten wäre, das Baby mit seiner eigenen Nabelschnur zu erwürgen. Das war damals die normalste Sache der Welt, obwohl die Hebamme dafür mehr verlangte als für die Hilfe bei der Geburt eines Sohnes – und diese war wiederum teurer als die Geburt einer überlebenden Tochter.
Aber das ist doch keine Unterdrückung von Frauen, oder? Die armen Unglückswürmchen merken doch gar nichts davon! Darüber maße ich mir kein Urteil an, aber ihre Mütter merken es sicherlich. Und die Botschaft ist unmissverständlich: Mädchen sind weniger erwünscht als Jungen. Auch wenn sie dafür beseitigt werden müssen.[18] Das ist man in diesen Kulturen nun einmal so gewohnt.
Ganz genau. Jeder weiß es. Niemand sagt etwas. Jeder begreift, dass das Leben eines Mädchens weniger wert ist als das eines Jungen. Das ist nichts Zufälliges. Es ist etwas Systematisches und Strukturelles. Schon im Bauch der Mutter sind die Chancen der Mädchen, und hier sind die ganz existenziellen Lebenschancen gemeint, geringer als die der Jungen.
Die Mädchenmorde haben nicht nur einen kulturellen und traditionellen Hintergrund, es kommt auch Berechnung mit ins Spiel, und zwar schon zum Zeitpunkt der Geburt, etwa 15 Jahre bevor das Mädchen heiratsfähig wird.
In den patriarchalischen Gesellschaften in Asien und Nordafrika zählen Mädchen von jeher weniger. Oft bekommt die Tochter bei ihrer Heirat eine Mitgift und wohnt mit ihrem Bräutigam bei der Familie seines Vaters, nicht bei der Familie ihrer Mutter. Für ihre Eltern ist sie also ein Kostenfaktor, und sie trägt nach ihrer Heirat nicht mehr zum Familieneinkommen bei. Ein Sohn hingegen bleibt (mitsamt der Mitgift seiner Frau) auch nach der Eheschließung noch Teil seiner eigenen Familie und wird später für seine alten Eltern sorgen.
In der Folge wurden neugeborene Mädchen regelmäßig umgebracht. Dieser uralte Brauch in weiten Teilen Asiens und Nordafrikas fand erst in den letzten Jahrzehnten ein Ende. Und trotzdem werden dort bis heute deutlich weniger Mädchen geboren. Aber woran liegt das?
Das Geschlechterverhältnis der Neugeborenen hat sich in diesen Ländern in den letzten Jahrzehnten oft noch stärker verschoben. Wider Erwarten sind jedoch nicht die ärmsten und traditionellsten Milieus davon betroffen, sondern gerade das wohlhabendere städtische und »moderne« Milieu. Der Erste, der darauf aufmerksam gemacht hat, war im Jahr 1990 der indisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen.[19] Die Geburtenraten der Jungen lagen weiterhin über denen der Mädchen. In einigen Gegenden Indiens und Chinas wurden noch immer nur 100 Mädchen auf 120 Jungen geboren. Sen errechnete, dass mindestens 100 Millionen Mädchen »vermisst« würden. Sie fehlten in den Statistiken. Sie wurden offenbar tatsächlich »beseitigt«. Diese sehr hohe Zahl an vermissten Mädchen wurde in späteren Untersuchungen bestätigt, die Ursache wird nach wie vor diskutiert.
Amartya Sen lieferte eine Erklärung für den festgestellten Mangel an Mädchen. Der Grund dafür musste in der weitgehenden Verfügbarkeit einer neuen Technologie liegen: Um 1980 kamen leicht bedienbare, relativ preiswerte Ultraschallgeräte auf den Markt. Mit ihnen konnte ein gewöhnlicher Landarzt das Geschlecht eines Fötus bereits im dritten Monat bestimmen. Anfangs kostete das noch um die 100 Dollar, aber bald waren es nur noch ungefähr zehn Dollar. Nun gab es eine Alternative dazu, neugeborene Mädchen zu töten. Der weibliche Fötus konnte diskret abgetrieben werden. Auch dabei handelte es sich um eine relativ neue technische Errungenschaft: die Technik der fast schmerzfreien und nahezu gefahrlosen Abtreibung. Und es war gerade die Frauenbewegung gewesen, die überall den Kampf um die Legalisierung der Abtreibung zu ihrem Hauptanliegen gemacht hatte, und das mit Erfolg. Nun wurde die neue Technologie jedoch eingesetzt, um die Geburt von Mädchen zu verhindern. Eine unbeabsichtigte Begleiterscheinung des Fortschritts.
Die Modernisierung hat noch zu anderen Paradoxien geführt. Gerade moderne, relativ wohlhabende Familien tendieren eher dazu, Ultraschalluntersuchungen machen zu lassen, und finden leichter Zugang zu Abtreibungskliniken. Diese progressiven Eltern halten die Familie lieber klein und praktizieren öfter Geburtenkontrolle. Die Präferenz für kleine Familien ist wiederum eine Folge der umfassenderen und längeren Ausbildung. Die weiterführende Schul- und Hochschulbildung ist eine gute, aber auch eine kostspielige Investition in die Zukunft der Kinder. Die meisten Eltern aus der Mittelschicht können sich nur das Schulgeld für zwei, höchstens drei Kinder leisten. Wenn dann die ersten Kinder Mädchen sind, wollen sie danach noch einen Sohn und werden wahrscheinlich einen dritten oder sogar schon einen weiteren weiblichen Fötus abtreiben lassen, in der Hoffnung, dass die nächste Schwangerschaft das erwünschte Ergebnis bringt. Offenbar sind selbst in diesen fortschrittlichen Familien Jungen immer noch erwünschter als Mädchen.
In China führte auch die von der Regierung 1979 eingeführte Ein-Kind-Politik zu einer vermehrten Abtreibung ungeborener Mädchen, darüber hinaus wurden in den armen Regionen damals immer noch viele Mädchen unmittelbar nach der Geburt umgebracht. Das Zahlenverhältnis von weiblichen zu männlichen Babys sank auf 100 zu 120. Der Überschuss an Jungen hatte in China schon immer beträchtlich höher gelegen als 100 zu 105. Eine Konsequenz der Ein-Kind-Politik bestand darin, dass in den folgenden 35 Jahren fast eine halbe Milliarde chinesische Kinder weniger geboren wurden. Eine weitere Auswirkung bestand im spektakulären Rückgang der Mädchengeburten. Schließlich war es für Eltern (Väter?) mit einer Vorliebe für Jungen nun nicht mehr möglich, nach der Geburt eines Mädchens in der Hoffnung auf einen Jungen einen weiteren Versuch zu unternehmen. Die meisten Eltern wussten im Voraus nicht, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommen würden (es gab wohl schon Ultraschall, er wurde 1956 zum ersten Mal eingesetzt, war aber in den 1980er Jahren teuer und stand nur begrenzt zur Verfügung). In China deutet also alles darauf hin, dass ein großer Teil der in der Statistik fehlenden weiblichen Babys kurz nach der Geburt ermordet worden war.
Die Ein-Kind-Politik galt jedoch längst nicht für alle Eltern und auch nicht überall in China. Es gab eine ganze Palette von Ausnahmen und Auswegen. Am 1. Januar 2016 wurde die Regelung durch eine Zwei-Kind-Politik ersetzt. Doch schon davor wurde Eltern, deren erstes Kind ein Mädchen war, mitunter ein zweites Kind zugestanden, damit sie zumindest die Chance auf einen Sohn hatten. Nach den Geburtenraten zu urteilen, konnten sich jedoch eine ganze Reihe von Eltern kein zweites Kind leisten. Sie entledigten sich des erstgeborenen Mädchens sofort nach der Geburt – oder sogar noch vor der Geburt, wenn sie die Mittel für einen Ultraschall zur Bestimmung des Geschlechts des Fötus aufbringen konnten. Dann wurde der weibliche Fötus also abgetrieben. In einigen Regionen führte das zu einem absurden Geschlechterverhältnis von 100 weiblichen zu 227 männlichen Babys.[20] Dort wurden mit anderen Worten mehr als die Hälfte der Mädchen abgetrieben oder gleich nach der Geburt beseitigt.
In Indien hat sich möglicherweise Ähnliches abgespielt, dort allerdings mit einer viel höheren Kinderzahl pro Frau. Obwohl die Regierung enormen Druck ausübt, um die Geburtenrate zu begrenzen, steht es den Eltern frei, mit dem Familienzuwachs so lange fortzufahren, bis ein Junge geboren wird. Und das tun sie sehr oft. Diese Familienstrategie führt nicht per se zu einem Überschuss an Jungen. Das ungleiche Geschlechterverhältnis lässt sich auch hier nur durch eine Bevorzugung von Jungen gegenüber Mädchen und daher mit Abtreibung und »Puellizid« (Mädchenmord) erklären.[21]
Diese geschlechtsspezifischen Präferenzen können sich ändern. In Südkorea, wo um 1990 ungeborene Mädchen häufig abgetrieben wurden, lag das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen sehr weit auseinander: bei 100 Mädchen zu 117 Jungen. Der Frauenmangel, der sich daraus ergab, war so gravierend, dass viele Junggesellen notgedrungen ausländische Frauen heirateten. Dies stieß jedoch vor allem auf dem Land auf großen Widerstand. Dank des anhaltenden Wirtschaftswachstums und vor allem eines Mentalitätswandels hat sich das Ungleichgewicht jedoch inzwischen normalisiert. Die Eltern akzeptieren, dass auch ihre Töchter weiterlernen. Und zudem ist es für sie nun etwas einfacher, die Studiengebühren für ihre Töchter aufzubringen, berichten die Forscher der Weltbank.[22]
Die Konsequenzen dieser Mädchenbeseitigung treffen später natürlich vor allem die jungen Männer: Es kommt zu einem dauerhaften Überschuss an heiratsfähigen Männern, die daraufhin ledig und kinderlos blieben. »Tote Äste« werden diese Männer genannt, die in ihren eigenen Augen und nach dem Urteil ihres Umfelds zu einem Leben als gescheiterte Existenz verurteilt sind. Viele dieser jungen, alleinstehenden Männer suchen Zuflucht bei Prostituierten oder entscheiden sich dazu auszuwandern, manche werden kriminell oder verfallen in Depressionen und begehen Suizid.
Es gibt Anzeichen dafür, dass in den letzten Jahren, wie zuvor in Südkorea, auch in Indien und China das Ungleichverhältnis zwischen Mädchen und Jungen bei der Geburt bis zu einem gewissen Grad korrigiert worden ist. Dies ist wohl auf einen Mentalitätswandel zurückzuführen, eine Abschwächung der Präferenz für männliche Kinder unter dem Einfluss staatlicher Aufklärung und medialer Diskussionen. Es könnte auch das Resultat eines zunehmenden Wohlstandswachstums sein, der dazu führt, dass die Bildungsausgaben für die Eltern keinen so belastenden Kostenfaktor mehr darstellen. Aber in vielen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens entledigt man sich der Mädchen noch immer und sogar noch häufiger als früher, wenn auch weniger durch Kindstötung bei der Geburt als durch Abtreibung nach einem Ultraschall-Geschlechtstest.
Das Abtreiben ungeborener Mädchen und die Tötung neugeborener Mädchen sind ein demonstrativer Beweis für die Wertlosigkeit von Mädchen und Frauen. Wenn es in die eigenen Karten spielt, landen sie umstandslos im Eimer. Der Krieg gegen die Frauen beginnt schon vor der Geburt.
In Afrika und im Nahen Osten sowie von Indien bis Indonesien kommt für viele kleine Mädchen, meistens völlig unerwartet, der Moment, an dem ihre Mutter sie mitnimmt, um ihre Genitalien verstümmeln zu lassen. Dies geschieht oft ohne Narkose, ohne Desinfizierung, ohne Vorbereitung und ohne Nachsorge. Sehr oft wird diese Prozedur in dem Geburtsdorf der Mutter von einer älteren Frau durchgeführt, die diese zwar routiniert vornimmt, aber weder über medizinische Kenntnisse noch über geeignete Gerätschaften verfügt. Entsprechend katastrophal sind auch die Folgen.[23]
Die genauen Vorgehensweisen variieren von Dorf zu Dorf, von Land zu Land und können je nach Glaubensrichtung sehr verschieden sein. Manchmal wird ein Stück Haut um die Klitoris herum eingeschnitten oder entfernt, was tatsächlich einer Art »weiblicher Genitalbeschneidung« entspricht. Oftmals wird aber die – äußere – Klitoris ganz oder teilweise entfernt (Klitoridektomie). Selbst die inneren Schamlippen werden mitunter teilweise oder ganz weggeschnitten, ein noch riskanterer Eingriff. Manchmal werden sogar die großen (äußeren) Schamlippen entfernt. Bei einigen Völkern wird die Vagina dann bis auf eine kleine Öffnung zugenäht, um jeglichen Geschlechtsverkehr unmöglich zu machen (Infibulation). Erst vor der Hochzeitsnacht wird die Vagina wieder aufgeschnitten. Der Sammelbegriff für all diese Praktiken lautet Weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM), ein Begriff, der von vielen Organisationen verwendet wird, die sich für die Abschaffung dieses Brauchtums einsetzen. Diese Praxis wird auch als weibliche Beschneidung bezeichnet, wobei eine Zirkumzision weit weniger gravierende und schädliche Auswirkungen hat als diese Verstümmelung der weiblichen Genitalen. Der kürzeste und beste Begriff, auch für den internationalen Gebrauch, lautet »Exzision«: Herausschneiden.
Unter dem Druck der Dorfgemeinschaft und der eigenen Familie, und sicherlich auch aus persönlicher Überzeugung, nehmen Mütter ihre Töchter, wenn sie sie für alt genug halten, an die Hand, um sie einer Genital-»Operation« unterziehen zu lassen. Bei einigen Völkern werden bereits Neugeborene oder Kleinkinder verstümmelt, in der Regel trifft es jedoch Mädchen im Alter zwischen sieben und 14 Jahren.[24] Der Eingriff ist nicht nur äußerst schmerzhaft, sondern immer auch gesundheitsschädlich und höchst riskant. Er geht auch regelmäßig schief. Viele Mädchen sterben an Blutverlust oder Infektionen, manche auch noch an den Spätfolgen der Exzision. Aber auch wenn es nicht tödlich endet, sind die gesundheitlichen Schädigungen doch oft langwierig und manchmal irreversibel. Viele Frauen haben Probleme beim Wasserlassen, bei der Menstruation und bei der Geburt eines Kindes. Sie leiden häufig unter wiederkehrenden oder permanenten Entzündungen, oft auch an bleibender Unfruchtbarkeit, an Fisteln (einem Loch in der Wand der Harnblase, durch die der Urin in die Vagina fliest, sodass sie den Urin nicht halten können) und an diversen anderen gynäkologischen Beschwerden, nicht selten ihr Leben lang.[25] Frauen, die unter Fisteln leiden, werden häufig gemieden, finden keinen Mann und werden manchmal sogar aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen. All diese verstümmelten Mädchen werden später viel weniger Freude am Sex haben, was ja auch beabsichtigt ist (manche können doch noch eine gewisse Lust empfinden, z. B. bei oraler Stimulation). Der Volksglaube besagt, dass Mädchen und junge Frauen ohne Exzision enthemmt und wollüstig werden, dass sie ihre Lust nicht mehr kontrollieren könnten und somit ihren späteren Männern untreu würden.
Diese Denkweisen, so irrational sie auch sein mögen, sind sehr pragmatisch: Durch das Wegschneiden ihrer äußeren Geschlechtsorgane werden die Mädchen gezwungen, bis zur Heirat keusch zu bleiben und ihrem Mann fortan für immer treu zu sein. Ob das tatsächlich funktioniert, sei dahingestellt (ich glaube es nicht). Darüber hinaus werden mit der Genitalverstümmelung magische und religiöse Intentionen verfolgt. Der weibliche Körper gilt im Grunde seines Wesens als unrein. Indem ihre Genitalien teilweise oder größtenteils weggeschnitten und verschlossen werden, wird die Frau auf übernatürliche Weise »gereinigt«. Die Menschen in diesen Gemeinschaften glauben, dass dieser Brauch auf religiösen Geboten beruht, dass er in der Bibel oder im Koran beschrieben oder von der Scharia vorgeschrieben ist. Das ist nicht der Fall.
Der Koran erwähnt an keiner Stelle genitale Eingriffe bei Frauen. Die Überlieferung schreibt Mohammed einen Ausspruch (Hadith) zu, in dem er vor einem allzu »strengen« Schnitt warnt, der die Frauen in Gefahr bringe und sie für ihren Mann weniger anziehend mache. Die Bräuche selbst sind meistens älter als der Islam und das Christentum. Sie gehen hauptsächlich auf Volksglauben und Tradition zurück und wurden der jeweiligen etablierten Religion zugeschrieben. Zu Unrecht. Die örtlichen Geistlichen, die es eigentlich besser wissen müssten, widersprechen dem jedoch nicht und lassen die Gläubigen in dem Irrglauben, dass die Praktiken in der jeweiligen heiligen Schrift angeordnet würden.
Die weitaus weniger eingreifende und riskante Beschneidung von Jungen ist in der Regel Bestandteil von Initiationsriten und gehört zum jüdischen und islamischen Ritual, wie es in der Bibel und im Koran beschrieben wird. Sie wird immer von einer großen Zeremonie und Feier begleitet. Bei Mädchen findet die Initiation im Geheimen statt, unvorbereitet, in aller Stille, ohne Zeugen und ohne jegliche Formalitäten oder Zeremonien.
Weltweit gibt es etwa 200 Millionen Frauen, die als Mädchen eine Genitalverstümmelung erlitten haben, und jedes Jahr kommen Millionen Mädchen hinzu. In sehr vielen Ländern wurden in den letzten Jahren von lokalen Frauengruppen Kampagnen gegen die Exzision geführt, die von internationalen Hilfsorganisationen, aber auch von Regierungen, die diese Praxis gesetzlich verbieten, unterstützt werden.[26]
Es hat den Anschein, als wäre die Zahl der Eingriffe tatsächlich rückläufig. Aber die Statistiken sind völlig unzuverlässig. Sie beruhen auf Erhebungen vor Ort. Junge, meist in der Stadt aufgewachsene und ausgebildete Wissenschaftlerinnen begeben sich dafür in abgelegene Dörfer. Dort befragen sie Frauen in den ländlichen Gebieten, wie es bei ihnen und ihren Töchtern unten herum aussieht. Eine absurd intime Frage, die arrogant, unverschämt und unangebracht wirkt. Eine so befragte Bäuerin wird in ihrer untertänigen Verlegenheit die Antwort geben, die die Befragerin vermeintlich von ihr hören will. Und diese fügt ihrem Formular einen weiteren Strich hinzu. Die Statistik ist also nichts anderes als die Addition einer Vielzahl solcher Striche. Erschwerend hinzu kommt, dass viele afrikanische Regime nach außen hin bei internationalen Institutionen und westlichen Hilfsorganisationen gerne einen progressiven Eindruck hinterlassen wollen und die Zahlen in diesem Sinne manipulieren. Die offiziellen Statistiken sind daher mit großer Skepsis zu betrachten.
Allzu großer Druck von außen auf lokale Traditionen kann allerdings auch das Gegenteil bewirken. Vor allem westliche Einmischung weckt lokalen Widerstand.[27] Doch auch bei einigen westlichen Feministinnen und Feministen ruft eine solche Einmischung Bedenken hervor:
Weibliche Genitalbeschneidung ist im westlichen Feminismus zu einer geradezu gefährlichen Trope für das Mundtotmachen und das Verstümmeln von Frauen – im physischen, sexuellen und psychischen Sinne – geworden, und dafür, wie dringend diese Frauen den westlichen Feminismus benötigen. Beschneidung, Klitorisentfernung und Infibulation werden so zum sichtbaren Kennzeichen eines empörenden Primitivismus und Sexismus, und zu einem Merkmal der Frau in der Dritten Welt.[28]
Dieses Zitat ist ein aufschlussreiches Beispiel für die konfuse Verlegenheit, die fortschrittliche Menschen aus dem Westen, vor allem Feministinnen, befällt, wenn sie sich gezwungen sehen, traditionelle Praktiken in der Dritten Welt zu verurteilen. Selbstverständlich ist eine Genitalverstümmelung ein empörender Primitivismus. Warum sollte man das nicht einfach beim Namen nennen? Unzählige Menschen in diesen Regionen sehen das auch so und tun, was sie können, um dagegen anzukämpfen. Eine große Mehrheit von Frauen und Männern lehnt diese Praxis ab, auch in Gesellschaften, in denen sie weit verbreitet ist. In vielen Ländern gehen die öffentlichen Autoritäten dagegen vor und verbieten sie per Gesetz, manchmal mit Erfolg. In Ägypten, wo sich etwa 90 Prozent der erwachsenen Frauen dem Eingriff unterzogen haben, wurde 2008 ein Gesetz erlassen, das diesen Brauch verbietet, aber die Genitalverstümmelung wird immer noch vielfach praktiziert, auch wenn 2021 nur 13 Prozent der Mütter angaben, dass sie ihre Töchter »beschneiden« lassen wollen.[29] Warum sollte man sich als Mensch aus dem Westen dieser Gegenbewegung nicht anschließen? Und dabei geht es nicht um »die Frau in der Dritten Welt«, es gibt dort doch genug weibliche Opfer, um das als einen weitverbreiteten und gravierenden Missstand zu betrachten. Und was ihren »Bedarf« an westlichem Feminismus angeht: Die Aktivistinnen und Aktivisten in diesen Ländern können westliche finanzielle und moralische Unterstützung sehr gut gebrauchen. Was sie aber nicht brauchen, sind westliche Feministinnen, um sich dieser Missstände bewusst zu werden. Und es ist wenig sinnvoll, dass westliche Feministinnen – oder welche Menschen aus dem Westen auch immer – sich vor Ort gegen die gesundheitsschädlichen Praktiken der einheimischen Bevölkerung ereifern. Das begeistert die lokale Bevölkerung im Allgemeinen wenig. Die Frauen, die dort leben, und ihre Mitstreiter und Mitstreiterinnen können das besser und wecken weniger lokalen Widerstand. »Der Kampf um den Körper der Schwarzen Frau in der Dritten Welt wird als ein Kampf von Feministinnen der Ersten Welt gegen Schwarze Männer der Dritten Welt inszeniert.«[30]
Tja, so steht das dort geschrieben. Damit wird suggeriert, dass westliche Feministinnen keine Kritik an diesen Bräuchen üben sollten, die von einigen oder vielen nichtwestlichen Schwarzen Männern gepflegt werden. Warum nicht? Im Grunde läuft das darauf hinaus, dass Schwarze Männer in der außerwestlichen Welt als so erbärmlich gelten, dass man sie sogar als Feministin nicht behelligen darf, und als westliche Feministin schon gar nicht. Ebenso wenig dürfte die Frauenbewegung nach dieser Logik Kritik an muslimischen Immigranten in Europa und den USA äußern, die sich Frauen gegenüber schlecht benehmen: Diese Neuankömmlinge haben es doch ohnehin schon schwer. So viel zum Thema Herablassung.
Andererseits werden Einwürfe gegen bestimmte Bräuche in nichtwestlichen (in der Regel islamischen) Ländern sehr oft dazu genutzt, die außerwestliche, islamische Gesellschaft und Kultur insgesamt abzuwerten. In dem Fall schlägt berechtigte Kritik in »antiislamische Begeisterung« um.[31] Die Untaten der Taliban dienen dann dazu, die jahrelange amerikanische Intervention in Afghanistan zu beschönigen. Die amerikanische Anthropologin Saba Mahmood bemerkt dazu: »Die Ereignisse des 11. September haben nur das Gefühl verstärkt, dass der Islam vor einer säkular-liberalen Inquisition zu einem Schuldbekenntnis gezwungen werden muss.«[32]
Eine Genitalverstümmelung ist ein Frontalangriff auf Mädchen und Frauen als sexuelle Wesen. Dahinter steht die Grundhaltung, dass sich Frauen ihrer eigenen Anfechtungen nicht erwehren können und in unkorrigiertem Zustand für Männer unwiderstehlich sind, die ihre Neigungen noch weniger kontrollieren können. Wobei die Impulsivität, die bei Frauen ein Zeichen von Schwäche ist, bei Männern als ein Zeichen von Stärke, Männlichkeit und Potenz gewertet wird. Frauen müssen also auf alle erdenklichen Arten diszipliniert werden, weil Männer sich nicht beherrschen können. Die Tradition der Genitalverstümmelung beweist nur einmal mehr, dass der Krieg gegen die Frauen über einen Kampf der Ideen hinausgeht. Es handelt sich vielmehr um einen körperlich gewalttätigen, äußerst blutigen Kampf um die Unterwerfung der Frau, der bis aufs Messer ausgetragen wird.
Wie so oft, sind auch in diesem Fall Frauen an der Unterwerfung der Frauen mitschuldig. Mütter setzen ihre Töchter dieser Tortur aus, manchmal auf eigene Initiative und ohne jemand anderem ein Wort davon zu sagen, nicht einmal ihrer Tochter selbst. Warum? Zum einen ist es ein lokaler Brauch. Wer daraus ausbricht, riskiert den umfassenden Ausschluss, den »sozialen Tod«, der das Überleben in einer solchen Gemeinschaft nahezu unmöglich macht. »Es muss doch etwas dran sein, sonst gäbe es den Brauch doch nicht seit Menschengedenken.« Und so ist es auch: Viele dieser »unverstümmelten« und ausgestoßenen Mädchen gingen notgedrungen in die Stadt und verfielen dort, ohne Beschützer und Verwandte, unvermeidlich der Sittenlosigkeit. Das Vorurteil bestätigte sich selbst!
Die Mutter selbst hatte sich in ihrer Kindheit dieser Prozedur unterzogen und sie durchgestanden. Sie wurde eine ehrbare Hausfrau, eine anständige Frau. Obwohl sie selbst darunter gelitten hat, will sie doch, dass ihre Tochter so wird wie sie, auch in Hinblick auf ihre intimsten Bereiche.
Vielleicht trägt das Ritual der Genitalexzision dazu bei, den Männern die Angst vor der Vagina zu nehmen, vor dieser bedrohlichen Höhle, aus der wir alle hervorgegangen sind und die ebenso furchterregend wie unwiderstehlich für Männer ist, die, wie es die biblische Redewendung besagt, »zu einer Frau eingehen«. Der amerikanische Kulturhistoriker Russell Jacoby meint dazu: »Männer fürchten, dass sie ihrer Männlichkeit beraubt werden, sie fürchten zu verweichlichen.«[33]
Die weibliche Genitalverstümmelung hat ihre Wurzeln im tiefen Glauben an die angeborene Unreinheit der Frau und ihr Unvermögen, ihre sexuellen Neigungen zu bändigen. Deshalb müssen die Frauen zerschnitten und zugenäht werden. Noch bitterer wird es dadurch, dass es sich um eine Verunstaltung handelt, die dem kleinen Mädchen von Frauen zugefügt wird: auf Geheiß der eigenen Mutter von einer erfahrenen Frau mit einer gewissen Autorität. Diese Frauen wollen und tun das, weil sie befürchten, dass das Mädchen sonst später keinen Ehemann finden wird. Dass sie als unrein und zügellos ausgestoßen wird. Durch den Eingriff wird sie »gereinigt«, zudem ist dadurch ihre Jungfräulichkeit gewährleistet. Sie wird, wenn sie einmal eine Frau sein wird, garantiert gezähmt und ungeöffnet ihrem Mann angeboten. So dreht sich letztendlich eben doch alles um männliche Macht.
In der frühen Kindheit wird zwischen Jungen und Mädchen noch am wenigsten unterschieden. Kleine Mädchen werden in dieser Zeit in der Regel nicht als sexuelle Wesen betrachtet. Sie sind noch nicht geschlechtsreif, und die gesellschaftliche Obsession für Sexualität und Fortpflanzung ist für eine Weile ausgesetzt. Das bedeutet aber auch, dass Mädchen (in geringerem Ausmaß gilt das auch für Jungen) in Unschuld und Einfalt leben müssen. Jeder Anflug von Sinnlichkeit oder sexueller Neugier wird sofort unterdrückt. Sie dürfen nicht wissen, was ihre Eltern im Bett miteinander treiben, woher die Kinder, also sie selbst, kommen, warum sich die Tiere in der Natur bespringen und sich die Erwachsenen auf dem Bildschirm umarmen. In den Niederlanden der 1950er Jahre durften Mädchen in streng religiösen Familien nicht einmal auf dem Schoß ihres Vaters sitzen, weil … nun ja, das ließ sich nicht erklären. Kleine Mädchen und Jungen werden von allem ferngehalten, was mit Sexualität und Fortpflanzung zu tun hat. Den Erwachsenen gegenüber stellen sich die Kinder dumm, aber untereinander sind sie ganz im Geheimen oft neugierig und abenteuerlustig.
In all dieser Zeit wird hart daran gearbeitet, die Kinder nach dem Muster, das in ihrer Gesellschaft die Norm ist, zu Mädchen und Jungen, zu zukünftigen Frauen und Männern zu formen. Nachdrücklich werden die Unterschiede zwischen den Geschlechtern vermittelt und die Herausstellung der Differenzen zwischen weiblichem und männlichem Verhalten, Aussehen und Interesse hervorgehoben. Und so wollen es auch die meisten Jungen und Mädchen. Alles, worin ein Mädchen zu sehr einem Jungen oder ein Junge zu sehr einem Mädchen gleichen könnte, wird mit Spott und Tadel korrigiert und von dem Kind als äußerst beschämend empfunden.
Mädchen sollen nicht nur geschlechtslose Wesen sein, sie sollen sich auch in jeglicher Hinsicht zu beherrschen lernen. Mädchen und Jungen werden auf einer Messlatte von ruhig bis wild eingeteilt. Jungen dürfen wild sein, Mädchen sollen sich zurückhalten. Sie sollen jedes Risiko vermeiden, Jungen dürfen schon mal eine gewisse Gefahr suchen. Mädchen dürfen weinen und Gefühle zeigen, Jungen sollen ihre Tränen zurückzuhalten und lernen, ihre Ängste zu verbergen (in dieser Hinsicht sind Mädchen also freier als Jungen). Auch dies ist ein »Allgemein Menschliches Muster«, auch wenn es je nach Land und Zeit unterschiedlich stark ausgeprägt ist. In westlichen Ländern werden Jungen und Mädchen von Anfang an eher gleichbehandelt, aber oft sind es die Kinder selbst, die – manchmal gegen den Wunsch ihrer Eltern – die traditionellen Rollenmuster erneut reproduzieren. Wo sie diese traditionellen Ansichten hernehmen, ist oft unklar. Es kann daher so scheinen, als wäre das ewig Weibliche und das ewig Männliche schon von Natur aus in den Kindern angelegt. Die kleinste Andeutung, dass ein Junge sich nicht männlich verhält oder ein Mädchen nicht weiblich genug ist, kann bei dem Kind eine fast unerträgliche Scham wecken. Kinder sind untereinander sehr gut darin, sich diese traditionellen Gebote und Verbote gegenseitig einzuprägen. Es kann durchaus sein, dass ein Teil dieser Verhaltensrepertoires tatsächlich angeboren ist, aber sicher gibt es stets auch einen unterschwelligen Einfluss von Großeltern, Onkeln und Tanten, Ladenbesitzern und Nachbarn, Lehrern, und vor allem von Altersgenossen, der die Kinder beschämt in ihr zeitloses Geschlechtsmuster zurückversetzt. Und natürlich gibt es viele Mädchen, die trotzdem wild und »jungenhaft« sind; genauso wie es auch viele Jungen gibt, die sich »mädchenhaft« benehmen. Und das ist per definitionem »weibisch, weichlich, schwächlich, überempfindlich«.[34]
Auffallend ist, wie weitverbreitet und geradezu zeitlos diese Rollenmuster sind, auch wenn sie sich je nach Ort und Zeit in ihrem Ausmaß und ihrer Rigidität unterscheiden. Und fast immer und überall wird unweigerlich suggeriert, dass dieses Rollenverhalten »natürlich« ist und Kinder, die dem nicht entsprechen, daher »unnatürlich« sind, ungesund, deformiert. Das ruft die Scham hervor, mit der Kinder ihr eigenes Verhalten und das anderer Kinder zensieren, korrigieren und bestrafen. Kinder, die sich nicht an diese Muster von Gefühlen und Verhaltensweisen halten, werden womöglich nicht wie ihre Eltern entweder zu Männern und Vätern oder zu Frauen und Müttern heranwachsen. Solche Kinder können durchaus eines Tages zu etwas heranwachsen, was sie nicht verstehen, nicht einmal kennen dürfen, zu etwas unaussprechlich Schändlichem: nicht zu einem Mann, nicht zu einer Frau, sondern zu einem homosexuellen Menschen (oder noch unaussprechlicher: zu einer Transperson). Homosexualität ist die verbotene Zone zwischen der Schwarz-Weiß-Schablone von Mann und Frau. Zwischen den beiden Geschlechtern darf aber es keine Grauzone geben, keine einzige graduelle Abstufung. Deshalb müssen homosexuelle Menschen verschwinden.
Nur in einem kleinen Teil der Welt und erst in allerjüngster Zeit, seit höchstens einem Jahrhundert, hat dieses Schreckensregime an Kraft verloren. Fast überall auf der Welt werden Kinder noch immer wie von Geisterhand in die bereitliegenden, sauber getrennten Reservate der Geschlechter hineingetrieben.
Die Kindheit ist auch die Phase, in der ein Erwachsener unerwartet in die »kindliche Unschuld« einbrechen kann. Gerade in diesen Jahren sind kleine Mädchen und Jungen für Kindesmissbrauch sehr gefährdet. Pädophilie und Päderastie sind fast zu allen Zeiten und überall ein Tabu, und doch kommen sie mit erschütternder Regelmäßigkeit in allen Gesellschaften vor. Sie stehen in fast allen Ländern unter Strafe, den Tätern drohen harte Urteile. Obwohl Personen, die sich an Kindern vergehen, ein großes Risiko eingehen, können sich mächtige, reiche und angesehene Männer mehr herausnehmen als ärmere: Ihre Taten bleiben häufig unentdeckt und straffrei. Geistliche, die sich an Kindern vergangen haben, werden oft von ihren Vorgesetzten und ihrer Glaubensgemeinschaft geschützt. Die allgegenwärtige und diffuse Bedrohung durch sexuellen Missbrauch trägt dazu bei, die Bewegungsfreiheit von Kindern einzuschränken und sie im Blickfeld der Eltern und anderer Aufsichtspersonen zu halten.
In vielen Ländern gibt es eine Form der offenen und legalisierten Pädophilie: die Kinderheirat. Mädchen sind ihr, mit vollem Einverständnis ihres Umfelds, völlig hilflos ausgeliefert. In solchen Gesellschaften kommt es regelmäßig vor, dass sich ein Täter, der sich an einem kleinen Mädchen vergangen hat, sich der Strafe entziehen kann, indem er sein Opfer heiratet. Das Mädchen wird dabei nicht gefragt. Die Eltern, die Geistlichen und die Richter stimmen der Heirat zu, um einen Skandal zu vermeiden. Das Mädchen verbringt den Rest seines Lebens an der Seite ihres Vergewaltigers, als seine Bettgefährtin und Mutter seiner Kinder.
Um einen Skandal zu vermeiden, wird das Kind also gezwungen, seinen Vergewaltiger zu heiraten, oder auch einen Stellvertreter, der sie heiratet, um den Schein zu wahren. Den Schein wovon? Niemand wird wohl ernsthaft glauben, dass das Kind ein Kind bekommen wollte. Kaum jemand wird annehmen, dass das Kind lieber Hausfrau und Mutter sein will, als mit anderen Kindern zu spielen und zur Schule zu gehen. Jeder lernt daraus, dass der Kinderschänder ungestraft davonkommt. Und was noch schlimmer ist: Er kann sich von nun an Nacht für Nacht seiner Beute erfreuen. Denn unter dem Deckmantel der Ehe ist alles erlaubt, auch wenn es in Wahrheit erzwungen ist und eine Niederkunft für Kinder lebensgefährlich sein kann.
Dieser Brauch ist nicht nur in vielen islamischen Ländern und in Südasien beheimatet. Auch in Lateinamerika und den USA, insbesondere in geschlossenen, streng religiösen Gemeinschaften, ist er sehr verbreitet. In vielen US-Bundesstaaten gibt es für Mädchen kein gesetzliches Mindestalter für Eheschließungen. Richter genehmigen regelmäßig Ehen mit Mädchen im Alter von zehn oder sogar neun Jahren. Nicholas Kristof berichtete über die Heirat einer elfjährigen Schülerin, die im Alter von zehn Jahren ein Kind bekommen hatte.[35] Die Eltern zwangen sie zur Heirat, auch hier, um einen Skandal zu vermeiden. Sie war von ihrem 20-jährigen Vergewaltiger schwanger geworden, nachdem sie zuvor schon von einem Priester vergewaltigt worden war. Der erste Standesbeamte in Tampa, Florida, weigerte sich, die Ehe zu beurkunden. Das ist offenbar auch möglich. Der nächste Standesbeamte hat die Ehe nach Vorlage der erforderlichen Dokumente ordnungsgemäß eingetragen. Dieser Vorfall ist nicht einzigartig, lediglich die Tatsache, dass er bekannt wurde, ist es. Die Initiative Unchained At Last, die Statistiken über Kinderehen führt, schätzt, dass in den USA in den Jahren zwischen 2000 und 2015 rund eine Viertelmillion Mädchen unter 18 Jahren geheiratet haben.[36] Sie kamen größtenteils aus armen, ländlichen Familien. Ein kleiner Teil dieser Kinderbräute war jünger als 16 Jahre, manchmal deutlich jünger. In vielen Fällen entgeht der ältere Partner mit einer solchen Ehe einer Verurteilung wegen »statutory rape«, sexuellem Verkehr zwischen einem Erwachsenen und einer Minderjährigen, also wegen einer Vergewaltigung im Sinne des amerikanischen Strafrechts. In einer Reihe von Staaten sind jedoch Ehen mit sehr jungen Kindern (manchmal sogar Zehnjährigen) immer noch zulässig.
Eine Abtreibung ist in Ländern, in denen sie unter allen Umständen verboten ist, für die werdende Kindsmutter kein Ausweg, auch dann nicht, wenn die Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung ist oder wenn das Leben der Mutter bei der Geburt akut gefährdet ist. Obwohl das Abtreibungsverbot mit der »Ehrfurcht vor dem Leben« begründet wird und seine Gegner sich gerne als »Pro Life« präsentieren, sind sie dennoch bereit, für ihre frommen Ideale das Leben von Kindern zu riskieren oder zu ruinieren und das Leben der noch minderjährigen Mutter auf dem Altar zu opfern. Ihnen geht es darum, Frauen, selbst die allerjüngsten, in ihr Los zu zwingen, selbst wenn sie das das Leben kostet.
Das Wall Street Journal berichtete über den Fall eines kleinen Mädchens in Paraguay, das jahrelang von seinem Stiefvater missbraucht wurde.[37] Die Mutter alarmierte mehrfach die örtlichen Behörden, ohne dass diese reagierten. Das Mädchen wurde mit zehn Jahren schwanger. Sie war gezwungen, die Schwangerschaft auszutragen und das Kind zu gebären: ihr Leben war schließlich nicht in Gefahr. Die Mutter wurde wegen Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht inhaftiert, so will es das Gesetz von Kirche und Staat in diesem erzkatholischen Land. Dazu braucht es keinen Imam. Nach Angaben des paraguayischen Gesundheitsministeriums haben 2015 in Paraguay 889 Mädchen im Alter zwischen zehn und 14 Jahren ein Kind ausgetragen.[38]
Dies passiert nicht nur in Paraguay, sondern in vielen Ländern, in denen die Kirche mitregiert. Wenn ihre Schwangerschaft nicht mit einer Lebendgeburt endet, werden Frauen dort regelmäßig inhaftiert, weil man sie verdächtigt, den Fötus vorsätzlich abgetrieben zu haben. In El Salvador, einem Land, das nach dem Heiland benannt ist, ist genau das der Fall. Dort werden sogar neunjährige Mädchen dazu gezwungen, ein Kind zur Welt zu bringen, das bei einer Vergewaltigung gezeugt wurde. Jede schwangere Frau, die kein lebendes Kind zur Welt bringt, wird der Abtreibung oder der Kindstötung beschuldigt und kann, in der Regel ohne den geringsten Beweis, zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt werden. Versuche, das Gesetz zu revidieren, stießen auf den einhelligen Widerstand der katholischen und evangelischen Organisationen.[39] Und das in dem Land mit der weltweit höchsten Mordrate.[40] Es fällt auf, dass in den mittelamerikanischen Ländern, in denen das ungeborene Leben den höchsten Schutz genießt, auch die Mordstatistiken die weltweit höchsten sind. Anscheinend ist in diesen Ländern ein Menschenleben nach der Geburt viel weniger heilig.
Es verwundert nicht, dass diese drakonischen Gesetze nur für arme Frauen und Mädchen gelten. Denn einem geschickten Anwalt gelingt es durchaus, für seine wohlhabende Mandantin einen Freispruch zu erwirken, wenn sie nach einem diskreten Besuch in einer Abtreibungsklinik im Ausland erwischt werden sollte. All dies wird von den hohen kirchlichen Autoritäten gedeckt, ob evangelisch-protestantisch oder römisch-katholisch, von der konservativen Mehrheitspartei unterstützt und von der nationalen Justiz voll mitgetragen.
Nur ein kleiner Teil aller Kinderehen wird nach einer Vergewaltigung geschlossen. In der außerwestlichen Welt, in den meisten islamischen und südasiatischen Ländern, werden Hochzeiten traditionell zwischen Familien arrangiert oder die Bräute werden zwischen Clans ausgetauscht. Oft wird das Mädchen schon in sehr jungen Jahren einem passenden Bräutigam versprochen, und de facto wird die Eheschließung häufig schon vollzogen, wenn die Braut der Kindheit kaum oder noch nicht entwachsen ist. Solche Transaktionen sind im Prinzip öffentlich und ziehen keinerlei strafrechtliche Sanktionen nach sich, ganz im Gegenteil. Auch hier ist die Botschaft eindeutig: Mädchen sind in diesen Vereinbarungen ein Unterpfand oder Tauschobjekt, und obwohl sie eingebracht werden, als ob sie erwachsene, geschlechtsreife Frauen wären, haben sie dabei selbst rein gar nichts zu melden. Ihre viel gepriesene kindliche Unschuld zählt plötzlich nichts mehr, ihre Gesundheit spielt keine Rolle, ihre Zukunftsaussichten, ihre eigenen Vorlieben und Pläne sind völlig ohne Belang.
Diese strengen religiösen Sitten eignen sich hervorragend als Deckmantel für Perversionen und Ausschweifungen. In Malaysia zahlte kürzlich ein reicher Mann seinem notleidenden Freund eine große Summe, um dessen elfjährige Tochter heiraten zu können. Seine erste und seine zweite Frau erhoben Einspruch gegen die Kindsfrau. Erst als sich die Öffentlichkeit darüber empörte, wurde das Mädchen vorläufig über die Grenze geschickt.[41]
Viele westliche Hilfsorganisationen arbeiten mit einem weitgefassten Verständnis von Kinderehe: Ebenso wie in vielen gesetzlichen und statistischen Definitionen gelten Bräute im Alter von 17 Jahren noch als Kinder. Kritikerinnen wie Lila Abu-Lughod oder Dina Siddiqi betrachten diese pauschale Ablehnung der Kinderehe als einen Knüppel, mit dem vor allem Muslime getroffen werden sollen, und als eine Missachtung der sexuellen Bedürfnisse junger Mädchen von 16, 17 Jahren, die sich für Männer interessieren.[42]
Natürlich rührt sich auch bei weiblichen Teenagern die Lust, aber es sind sicherlich bessere Lösungen denkbar, um auf die erotischen Bedürfnisse junger Mädchen zu reagieren, als eine arrangierte lebenslange Ehe. Alternativen wie Masturbation und außerehelicher Sex sind in diesen Gesellschaften jedoch vollkommen tabuisiert. Jegliche Form der Befriedigung muss aufgeschoben und für die Ehe, als einzigem Freiraum für Sexualität, »bewahrt« werden.
Es lässt sich nicht leugnen, dass Kinderehen in Ländern, in denen der Islam vorherrscht, z. B. in Afghanistan, Pakistan und Bangladesch, weit verbreitet sind. Kinderehen sind aber auch in Indien und in zahlreichen Ländern Zentralafrikas gang und gäbe, ebenso in christlich geprägten Nationen wie Angola oder Madagaskar[43] und in tiefkatholischen Ländern wie Brasilien, Bolivien, Guatemala, Honduras, El Salvador oder Nicaragua.[44] Auch in den Vereinigten Staaten sind Eheschließungen von sehr jungen Mädchen keine Seltenheit. Aus Statistiken aus dem Jahr 2001 geht hervor, dass in den USA damals fast 12 Prozent aller verheirateten Frauen unter 18 waren; die Hälfte von ihnen sogar unter 17, und über 100.000 Mädchen waren bereits mit 14 Jahren verheiratet. Die psychische Gesundheit dieser so jung verheirateten Frauen war deutlich schlechter als die der anderen Ehefrauen.[45]
Kinderehen und andere Missstände in den Beziehungen zwischen Mann und Frau werden als Knüppel benutzt, um Muslime damit zu treffen, behaupten Abu-Lughod und Siddiqi. Vielleicht. Doch das schmälert in keiner Weise die Einwände gegen diese Missstände an sich. Zudem kann dieser Knüppel auch wie ein Bumerang zurückschlagen, denn derartige Missstände kommen, wie schon erwähnt, auch in Ländern vor, in denen fundamentalistische Ausprägungen des Hinduismus, des Katholizismus, des Protestantismus oder des Judentums ihre Ansprüche geltend machen.
Vor allem in Ländern mit einer ausgeprägten Kultur der Familienehre werden Mädchen schon in sehr jungen Jahren verheiratet. Heranwachsende Mädchen werden als Risiko für die Reputation der Familie angesehen, weil sie sich einem Mann hingeben könnten, der ihnen den Kopf verdreht. Diese jungen Mädchen werden sowohl als begehrenswerte als auch als begehrliche und willensschwache Geschöpfe angesehen. Sie sollten so schnell wie möglich aus dem elterlichen in den ehelichen Käfig versetzt werden, wie Küken, die man vom Innen- ins Außengehege verbringt.
Es gibt auch eine Reihe anderer Erwägungen, die eher wirtschaftlicher Natur sind: So ein heranwachsendes Mädchen ist ein weiteres Mündchen, das gestopft werden muss. Oft fehlt es den Eltern auch an Geld, um die schulische Ausbildung zu bezahlen, selbst wenn sie ihr Kind eigentlich weiterlernen lassen wollen. In Gesellschaften, in denen Kinderehen häufig vorkommen, zieht die Braut meistens zur Familie ihres Mannes. So haben ihre Eltern fortan eine Sorge weniger. Je jünger die Braut ist, desto geringer ist die Mitgift, die ihre Eltern aufbringen müssen. Daher sind Kindsbräute populärer als erwachsenere Frauen. Für die Eltern ein Grund mehr, das Kind möglichst jung zu verheiraten.
Ohne eine profunde Ausbildung und ohne jegliche Erfahrung in der Welt außerhalb des Elternhauses hat ein so jung verheiratetes Mädchen für den Rest seines Lebens kaum eine Chance auf Unabhängigkeit. Das wird sie im Eheleben umso gefügiger machen. Schon in der Pubertät wird sie Mutter. Womit sie in der ehelichen Familie noch stärker verankert ist. Die Kinderehe ist das Resultat der Zurücksetzung von Mädchen und Frauen, und sie hat wiederum zur Folge, dass sich diese jungen Bräute ein Leben lang unterordnen müssen.
Immer mehr Eltern erkennen, dass ihre Kinder, auch die Mädchen, mehr erreichen und im Alter auch besser für sie sorgen können, wenn sie länger zur Schule gehen. Wenn sie das Schulgeld irgendwie aufbringen können, ermutigen sie ihre Töchter, ihre Ausbildung fortzusetzen. Junge Frauen mit Schulabschluss werden von einem Ehemann weniger abhängig sein. Dadurch verschiebt sich in der nächsten Generation das Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen.
Mama, he’s making eyes at me![46]
In patriarchalischen Gesellschaften endet die Kindheit eines Mädchens, wenn sie zum ersten Mal ihre Periode bekommt. Mit dem Einsetzen der Menstruation, der Menarche, ist die Zeit, in der sie als unschuldig angesehen wird, vorbei. Von nun an steht das Mädchen permanent unter dem Verdacht erotischer Gefühlregungen; entsprechend steht auch ihre Jungfräulichkeit unter ständiger Bewachung. Mädchen gelten zwar als unwissend und unerfahren, sie sind aber anscheinend nicht in der Lage, ihre Triebe zu beherrschen. Sollten sie unter den Einfluss eines Verführers geraten, sind sie rettungslos verloren, und deshalb müssen sie immer unter Aufsicht stehen. Diese Aufgabe fällt hauptsächlich ihrer Mutter, ihren älteren Schwestern und ihren Tanten zu. Aus diesem Grund unterstehen sie auch der strengen Autorität der Männer in der Familie, des Vaters, der älteren (und sogar jüngeren) Brüder und der Onkel und Cousins.
Für eine junge Frau ziemt es sich, sich außerhalb des Hauses sittsam zu verhalten, ihren Körper und manchmal auch ihre Haare und ihr Gesicht zu bedecken. Im Haus dürfen diese Schleier abgelegt werden, denn dort sind die Frauen hinter Mauern und Gardinen den Blicken Außenstehender entzogen. In Südasien hat sich dieses System mit der Parda am weitesten durchgesetzt; auch im Nahen Osten treiben konservative Kleriker ein solches System voran. In der Öffentlichkeit erscheint eine Frau von Kopf bis Fuß in eine Art Stoffhusse verhüllt, zudem trägt sie einen Nikab, einen Gesichtsschleier mit Sehschlitz. In den strengsten Ländern trägt sie eine Burka, die auch noch die Augen mit einem mehr oder minder durchsichtigen Gazenetz bedeckt. Frauen müssen also für alle Männer, die nicht zur Familie gehören, unsichtbar sein. Nach Ansicht echter Fanatiker dürfen sie auch nicht hörbar sein: nicht lachen, nicht laut sprechen und schon gar nicht mit den Absätzen über den Bürgersteig klappern. Die Frau, die von keinem Fremden gesehen oder gehört werden darf, ist sinnlich nicht vorhanden. Sie darf auch selbst keinen Fremden anschauen, auf keinen Fall mit jemandem sprechen, der nicht zum Kreis ihrer Familie gehört. So ist sie von allen Außenkontakten abgeschnitten und sozial innerhalb des patriarchalischen Familienverbands völlig isoliert.
Junge Frauen könnten, einfältig, wie sie sind, bei der Begegnung mit einem Mann, der nicht zur Familie gehört, nur allzu leicht entflammen. Und die Männer würde es beim Anblick einer unverschleierten Frau außerhalb ihres eigenen Familienkreises förmlich vor Lust zerreißen. Ein nackter Knöchel, ein sichtbarer Nasenrücken, ein unbedecktes Handgelenk würden schon ausreichen, um jeden Mann lüstern aufjaulen zu lassen.
Eine derartige Einschätzung des Sexualtriebs ist in einer Gesellschaft, in der jeglicher Kontakt zum anderen Geschlecht penibel vermieden wird, durchaus realistisch. Außerdem werden junge Menschen in Unwissenheit über das andere Geschlecht und Sexualität gehalten. Mit anderen Worten, durch ein Regime der sexuellen Unterdrückung entsteht eine Wirklichkeit der sexuellen Unwissenheit und Frustration. Unter diesen Umständen scheint das Regime der sexuellen Unterdrückung auch ausgesprochen notwendig zu sein. Ein Irrtum, der sich selbst bestätigt. Mit den Worten des algerischen Schriftstellers Kamel Daoud:
Sex ist heutzutage in vielen arabischen Ländern ein großes Paradoxon: Man tut so, als ob es ihn nicht gäbe, dennoch bestimmt er alles, was unausgesprochen bleibt. Dadurch, dass er verleugnet wird, belastet er gerade durch seine Verschleierung den Geist noch stärker.[47]
Wie rechtfertigt sich ein derart extrem repressives Regime? Das erste Argument lautet immer: Das ist nun einmal die Kultur, damit müssen die Menschen leben. Kultur ist dann so etwas wie das Klima, etwas, das die Menschen umgibt: ein geistiges Klima. Aber diese Kultur muss selbst von den Menschen, die in ihr leben, aufrechterhalten werden. Natürlich sehen die meisten Menschen diese Sitten und Gebräuche als etwas Unumgängliches an, etwas, das schon immer da war, was von ihren Mitmenschen genauso gesehen wird und das »deshalb« bleiben muss, wie es ist, auch wenn sie es selbst anzweifeln sollten. Diese Kultur wird ihnen, wie sie meinen, von religiösen Vorschriften auferlegt: Die Bibel, der Koran, Gott oder Allah, oder andernfalls die Vorfahren fordern es von ihnen. Viele dieser Bräuche werden in den heiligen Schriften überhaupt nicht erwähnt, beziehungsweise in so schwammigen und widersprüchlichen Formulierungen, dass man auch nach 1000 oder 2000 Jahren noch immer über die wirkliche Bedeutung der betreffenden Passagen diskutiert. Es spielt den geistlichen Machthabern nur allzu gut in die Karten, ihren Anhängern mit den vermeintlichen Wünschen des Höchsten und seiner Sachwalter auf Erden zu imponieren. Viele Bräuche sind wahrscheinlich älter als der Islam oder sie sind aus lokalen Traditionen entsprungen und unter dem Deckmantel des Islam gelandet.[48]
Mädchen und Jungen werfen sich Blicke zu, sie liebäugeln miteinander, schauen weg und manchmal wieder hin. Das ist das spielerische Geplänkel zwischen pubertierenden Jungen und Mädchen. Oft erlauben das die Erwachsenen nicht, doch selbst wenn es nicht verboten ist, schielt man doch heimlich und verstohlen nacheinander: »Sie soll sich bloß nichts einbilden« und »Für wen hält er sich denn eigentlich?«. Die Freundinnen geht es noch nichts an und unter Jungs ist für solches »Mädchengetue« kein Platz.
Am Schauen ist nicht Unschuldiges (und auch nichts Schuldiges).
Wenn halbwüchsige Jungen und Mädchen kaum die Möglichkeit bekommen, in Kontakt miteinander zu kommen, sich nicht einmal sehen, geschweige denn miteinander reden dürfen, schlägt jeder Blick des anderen Geschlechts, den sie erhaschen können, wie ein Blitz in ihr Herz ein.
Selbst unter westlichen Erwachsenen, die sich nicht kennen, ist das Hinsehen, ob auf der Straße, in der Straßenbahn, im Aufzug oder im Café, das gute Recht des Mannes. Eine Frau hat ihre Augen abzuwenden oder bestenfalls ausdruckslos vor sich hin zu starren. Wenn sich die Blicke dennoch kreuzen, schaut sie zuerst weg, und zwar so schnell, dass es wirkt, als hätte sie nie hingesehen. Ihr Vorrecht ist es, gesehen zu werden. Sein Privileg ist es, hinzusehen. Frauen, die ihren Blick nicht abwenden, sind keine anständigen Frauen. Männer, die weiter hinsehen, sind die Herren über ihr Blickfeld. So verhält es sich auch heute noch im öffentlichen Raum, selbst in freizügigen Städten wie New York, Berlin, Paris oder Amsterdam.
Menschen, die spüren, dass sie angeschaut werden, erröten. Für ein Mädchen oder eine junge Frau gilt dies als ein Zeichen von Schamhaftigkeit, von sittsamer Bescheidenheit. Für einen Mann ist das eher beschämend, ein Zeichen von Schwäche, von Unreife, von mangelnder männlicher Weltgewandtheit; ja, es ist sogar ein wenig mädchenhaft.
Und in der Tat, Menschen erröten vor dem, der höher steht und mächtiger ist als sie. Es ist ein Zeichen der Anerkennung dieser höheren Stellung, kurz gesagt, ein Zeichen der Unterwerfung. Ein Erröten geht immer darauf zurück, dass man angesehen wird und dies spürt. Um dieses Sehen und Gesehenwerden (sich ansehen lassen) entspinnen sich die vielfältigsten Perversionen, von der Skopophilie (Voyeurismus, Schaulust) bis zum Exhibitionismus (Lust, sich zu zeigen): Auge in Auge. Beide Varianten sind sehr intim mit Scham verbunden, dem Sehen und Zeigen des Beschämendsten: der Schamteile.
Wo das Patriarchat herrscht, ist es Frauen nicht gestattet, einen fremden Mann anzusehen oder von ihm angesehen zu werden. Sie müssen nicht nur sehenden Auges blind, sondern trotz ihrer Anwesenheit unsichtbar sein. Das ist der Grund für das Absondern hinter Mauern und das Verhüllen in ein von Kopf bis Fuß reichendes Gewand, das vorzugsweise auch noch das Gesicht bedeckt und sogar die Augen verhüllt. Hier herrscht die Kehrseite der Skopophilie: eine allgemeine Skopophobie, eine Schauangst, eine Angst, hinzuschauen und angeschaut zu werden. Wenn ich meiner Fantasie ihren Lauf lasse, denke ich, dass Männer, die »ihre« Frauen als Eigentum betrachten, den Blick auf diese Frauen so empfinden, als würden sie selbst in ihrer eigenen Nacktheit gesehen. Und wenn jemand ihre Frau anschaut, ihre »andere Hälfte«, einen Teil ihrer selbst, dann empfinden sie das als eine Niederlage dem schauenden Mann gegenüber, der sich damit über sie stellt.
Für eine junge Frau, die hingesehen hat oder sich hat ansehen lassen, gibt es eine ganz spezielle Strafe: Man spritzt ihr ätzende Säure ins Gesicht, die ihre Gesichtshaut zerfrisst. Sie erblindet, kann fortan nichts mehr sehen, und ist auch nicht mehr ansehnlich. Sie hat buchstäblich ihr Gesicht verloren. Ihre Familie verstößt sie, kein Mann will sie noch heiraten. Das gilt als gerechte Strafe für Mädchen, die mit Blicken liebäugeln. Und natürlich geht der Täter straffrei aus. Was ihr angetan wurde, wird aber weithin bekannt. Jeder Vorfall steht für sich, und jeder Täter hat seine eigenen Gründe. Aber alle Attacken zusammengenommen halten das gewalttätige Regime der männlichen Vorherrschaft aufrecht.
Der Täter ist meistens ein enger Blutsverwandter, ein jüngerer Bruder oder Cousin. Manchmal sind es ein paar halbwüchsige Burschen aus dem Dorf, die nur allzu gern eine junge Frau, die ins Gerede gekommen ist, Mores lehren wollen. Blendungen sind in agrarischen Gesellschaften als Strafmaßnahmen ein weit verbreiteter Brauch. Schwefel- und Salpetersäure, Bestandteile von Düngemitteln, oder Salzsäure sind für Bauern leicht zugänglich und haben eine verheerende Wirkung, wenn sie mit Haut in Kontakt kommen. Im Auge führen diese Säuren zu schweren Verletzungen und häufig zu völligem Erblinden. Blendungen sind eine gängige Strafe für Mädchen und junge Frauen, die in den Verdacht geraten sind, mit Jungen zu kokettieren, in fast ganz Asien und in weiten Teilen Lateinamerikas, vor allem auf dem Land.[49]
Attacken mit ätzender Säure gelten als eine exemplarische Strafe, um alle jungen Frauen zu disziplinieren. Das entstellte Mädchen wird zum abschreckenden Beispiel für jede Frau, der sie unter die Augen kommt. Das heißt, wenn sie es überhaupt noch wagt, jemandem unter die Augen zu kommen, denn oft verstecken sich die geschundenen Frauen aus Scham über ihr entstelltes Aussehen und ihren befleckten Ruf. In Pakistan und den Nachbarländern kommt es immer wieder vor, dass Jungen im Vorbeigehen blindlings ätzende Säure auf Frauen spritzen, die sich ihrer Meinung nach zu modern kleiden oder ein paar Haarsträhnen unbedeckt lassen. Ein solcher Terroranschlag sät unter städtischen Frauen große Furcht und sorgt dafür, dass sie sich nicht mehr ohne verhüllende Gewänder auf die Straße wagen. Genau das ist der Zweck des Ganzen: Terror und Einschüchterung sollen verhindern, dass Frauen in der Öffentlichkeit erscheinen, um einzukaufen oder, schlimmer noch, arbeiten zu gehen. Die Säureattentäter sind selbsternannte, wahnwitzige Sittenwächter. In Ländern wie Pakistan oder Iran wird diese Form der Selbstjustiz von den Behörden strikt zurückgewiesen. Dennoch kommt es selten zu einer strafrechtlichen Verfolgung oder Bestrafung. Die Obrigkeit ist allzu oft mit den Einschränkungen für die Frauen einverstanden, die die Säureattentäter mit Gewalt und Willkür zu erzwingen versuchen. Auch diese stille Komplizenschaft der Machthaber ist Teil des gewalttätigen Systems der Unterdrückung der Frauen: einer Schreckensherrschaft, die die Emanzipation der Frauen mit aller Macht verhindern soll. Und so wird sie auch von den Frauen in diesen Ländern erlebt.
Waren’s viel auf der Matratze?
Kompanie? Ein Zug? Was macht es!
Tochter – Kind noch, gleich getötet.
[…] Wer noch Jungfrau, wird zum Weibe,
und die Weiber – Leichen bald.[50]
Jeden Menschen umgibt eine Aura der Unberührbarkeit, jeder ist für Fremde zunächst ein »Unberührbarer«. Zwei beliebige Menschen können sich nicht einfach berühren. Selbst der kleinsten Berührung zwischen Fremden muss als »Händedruck« oder »Schulterklopfen« Form gegeben werden, oder sie muss mit einer flüchtigen Entschuldigung als unbeabsichtigter Körperkontakt ungeschehen gemacht werden (»Pardon«). Wenn Menschen einander berühren dürfen, müssen sie einander schon mögen: Sie sind Busenfreunde und Herzensfreundinnen, Eltern und Kinder, Brüder und Schwestern, Ehepartner, und vor allem natürlich Liebende. Aber selbst unter ihnen ist die Berührung nie völlig freigestellt; es bleiben immer Einschränkungen hinsichtlich der Körperregion, des Zeitpunkts, des Ortes und in Hinsicht darauf, wer noch dabei anwesend ist. Körperkontakt im Sport ist durchreglementiert und wird von einem speziellen Kontrolleur, dem Schiedsrichter, streng überwacht. Für Berührungen von Ärzten, Masseuren oder Sicherheitspersonal gelten ebenfalls spezielle Regeln, die das professionelle Verhalten genau festlegen.
So gesehen sind »Handgreiflichkeiten« und unerwünschte Körperkontakte eine Verletzung der Aura der Unberührbarkeit einer Person, ein Angriff auf ihre Unantastbarkeit. Wenn so etwas zwischen einem Mann und einer Frau passiert (der Mann ist fast immer der Berührende, die Frau die »Berührte«), handelt es sich um eine »sexuelle Belästigung«. Es ist ein grenzüberschreitendes Verhalten, weil es jene Grenze überschreitet, an der die Aura der Unberührbarkeit beginnt. Männer erlauben sich ein solches Verhalten bei Frauen, wenn sie glauben, dass sie dadurch keine Schwierigkeiten bekommen. Es geht also nie allein um sexuelles Verlangen, es ist immer auch eine Machtdemonstration: »Das kann ich mit dir machen.«
Höher gestellte Männer werden daher leicht gegenüber Frauen in einer niedrigeren Position übergriffig, oder eine Gruppe von Männern nutzt ihre Übermacht, um eine Frau, die alleine ist, zu begrapschen. Seit der großen Welle der #MeToo-Anklagen ist viel über diese unerwünschten Zudringlichkeiten bekannt geworden. Auffallend ist die Solidarisierung mit den Tätern, die Männer, gleich welches Ranges, in einem Unternehmen oder einer Organisation an den Tag legen. Es waren und sind nach wie vor die Frauen, die sich schämen und die aus Scham zu oft und zu lange geschwiegen haben. Dass die #MeToo-Kampagnen in einigen westlichen Ländern so erfolgreich waren, liegt auch daran, dass viele Frauen inzwischen Schlüsselpositionen in den Redaktionen der Medien bekleiden und entscheiden können, welchen Themen Beachtung geschenkt wird und welchen nicht. Und es hängt auch damit zusammen, dass Anwältinnen heute entscheiden können, ob sie einen Fall vor Gericht bringen oder nicht. Kurzum: Frauen besetzen seit Kurzem in vielen westlichen Ländern echte Machtpositionen.
Übergriffe eines Mannes sind für eine Frau beschämend, weil er damit zu verstehen gibt, dass sie ihn gewähren lassen muss, weil sie dort, wo sie ist, nicht hingehört. Eine Frau am Arbeitsplatz ist keine Kollegin auf Augenhöhe, sie kann jederzeit auf einen berührbaren »Frauenkörper« reduziert werden. Eine Frau auf der Straße ist keine Person, die ihren eigenen Weg geht, sondern eine Frau ohne Beschützer, ein Wesen, das nicht nach draußen, sondern ins Haus gehört. Diese scheinbar spontanen, impulsiven Übergriffe sind daher auch sehr genau definierte Gesten einer Choreographie der männlichen Macht; es sind kleine, sehr treffsichere Eingriffe, mit denen das patriarchale System aufrechterhalten wird.
In den westlichen Gesellschaften findet sexuelle Belästigung vor allem am Arbeitsplatz statt, und zwar genau dort, wo besonders hierarchische Machtverhältnisse herrschen oder Frauen erst seit kurzer Zeit zugelassen sind. In außerwestlichen Gesellschaften hingegen geht es vor allem um Belästigung auf der Straße: Dort tobt ein Kampf darum, ob Frauen im öffentlichen Raum toleriert werden. Das bekommen Frauen zu spüren, die einkaufen gehen, die auf dem Weg zu ihrer Arbeit, Schule oder Universität sind, die zu Fuß auf der Straße gehen oder die Straßenbahn, den Bus oder die U-Bahn nehmen (sich in »öffentlichen Verkehrsmitteln«, also inmitten fremder Männer aufhalten). Und auch wenn das eine sinnliche Seite haben mag, ist die Botschaft immer wieder unmissverständlich: Diese Frauen gehören nicht dorthin, sie gehören ins Haus und haben in Geschäften, am Arbeitsplatz oder in Bildungseinrichtungen nichts zu suchen. »Deshalb« können es sich Männer erlauben, diese Frauen nach Belieben zu begrapschen.
Wenn wir die Tat nach ihrem Ergebnis beurteilen, dann wird mehr als deutlich: So gut wie nie wird ein Mann, der eine fremde Frau in einem Bus, einer Straßenbahn oder einer U-Bahn betatscht hat, mit einem spontanen Zungenkuss belohnt. So gut wie nie wird sie mit ihm an der nächsten Haltestelle aussteigen, um leidenschaftlichen Sex mit ihm zu haben. Das kann also nicht die Intention des übergriffigen Mannes gewesen sein; er würde sich vermutlich zu Tode erschrecken. Aber die Angst vor dem Gefummel an ihrem Körper hält viele Frauen davon ab, aus dem Haus zu gehen und ihren eigenen Weg in der Gesellschaft zu finden. Darum geht es, wenn chinesische Pendler in der dicht bepackten U-Bahn Frauen an Busen und Po langen, wenn in Delhi Männer systematisch Frauen in der Straßenbahn belästigen oder wenn bei den Demonstrationen auf dem Kairoer Tahrir-Platz die Demonstrantinnen massenhaft befummelt und gekniffen werden. In Saudi-Arabien passiert das nicht. Das ist dort nicht nötig. Denn Frauen dürfen dort das Haus ohne einen männlichen Aufpasser ohnehin nicht verlassen.[51]
Im Westen ist es bereits seit Generationen üblich, dass Frauen unbeaufsichtigt zur Schule gehen. Dennoch werden sie auch heute noch manchmal auf der Straße und in öffentlichen Verkehrsmitteln belästigt. Vor gut einem Jahrhundert war es für Frauen noch viel weniger üblich, allein auf die Straße zu gehen. Nachts und in manchen Straßen auch tagsüber durften sich Frauen überhaupt nicht blicken lassen, weil »achtbare« Damen das nicht taten. Also musste es sich bei den Frauen, die sich dennoch dort aufhielten, wohl um »unanständige« Frauen handeln. Wodurch sich Männer berechtigt fühlten, sich diesen Frauen gegenüber »Freiheiten zu erlauben«.
Es gibt eine ganze Bandbreite von Übergriffen auf die Person der Frau. Das beginnt mit abfälligen Bemerkungen über ihren Körper oder ihren Lebenswandel, einschließlich anzüglicher Komplimente. Sodann gibt es unerwünschte Berührungen. In patriarchalischen Gesellschaften gilt natürlich jede Berührung, die nicht vom Vater, Bruder, Sohn oder Ehemann ausgeht, als unerwünscht. Die Palette der unerwünschten Berührungen reicht vom Befummeln oder Umarmen bis hin zur sexuellen Nötigung und Vergewaltigung. Vergewaltigung steht hier als letzter und äußerster Akt in einer ansteigenden Reihe von Verletzungen der weiblichen Ehrbarkeit.
In traditionellen Gesellschaften ist eine solche Tätlichkeit auch eine Verletzung der Ehre des Mannes, der für die Frau verantwortlich ist. Es handelt sich also immer um eine Dreiecksbeziehung zwischen dem Täter, der Frau und ihrem Beschützer. Die Schande, die der Frau zugefügt wird, überträgt sich direkt auf den Mann, der über sie zu wachen hat und für das, was ihr widerfährt, verantwortlich gemacht wird. Alle Ausreden des Täters – »sie wollte es selbst«, »es hat ihr gefallen« – sind dann sowohl Angriffe auf die Ehrbarkeit der Frau als auch auf die ihres Beschützers. Denn der war offenbar nicht in der Lage, »seine« Tochter, Schwester, Ehefrau auf dem Pfad der Tugend zu halten, und legt sich nun für eine Schlampe ins Zeug.
In sexueller Hinsicht ist eine Vergewaltigung die gewalttätigste und extremste Form eines Einbruchs in die Unversehrtheit der Person einer Frau (oder eines Mannes). Eine Vergewaltigung geht über das Eindringen in die Aura der Unantastbarkeit hinaus; sie stellt eine buchstäbliche Penetration des Körpers und des intimsten Bereiches dar. Sie geht immer mit Gewalt oder zumindest mit Drohungen und Einschüchterung einher. Sie ist also immer furchterregend, schmerzhaft und verletzend und sie verursacht oft langfristig bleibende psychische und physische Schäden. Eine Vergewaltigung ist jedoch vor allem ein Versuch, die weibliche Person und die Personen, die mit ihr eng verbunden sind, zu vernichten.
Eine Verführung geschieht ohne Zwang, auch wenn sie oft mit massivem Druck und viel Täuschung verbunden ist. Bei einer Vergewaltigung wird jedoch immer Zwang ausgeübt, auch wenn die Vergewaltiger das vehement leugnen. Eine Vergewaltigung ist ein gewaltsamer Einbruch in einen Körper. Es handelt sich um einen Körperfriedensbruch, um das buchstäbliche und körperliche Eindringen einer Person ohne Zustimmung. Das beiderseitige Einverständnis ist das Wesensmerkmal, das den Liebesakt von einem Hassverbrechen unterscheidet. Denn genau das ist eine Vergewaltigung. Ein Mann vergewaltigt per definitionem eine Frau, die ihn nicht will. Das allein kann sich für diesen Mann schon als unerträgliche Demütigung darstellen. Sie muss ihm zu Willen sein, aber sie will ihn nicht. Deshalb wird immer wieder beteuert, dass sie es eigentlich doch wollte, dass sie sogar darum gebeten hat, dass sie es genossen hat. Das würde natürlich auch die Schuld des Vergewaltigers verringern, denn dann hätte sie ja mehr oder weniger aus eigenem Antrieb bei dem Akt mitgemacht.
Dem Täter erscheint die Vergewaltigung immer als sein gutes Recht. Wenn er glauben oder glaubhaft machen kann, dass die Frau ein williges Opfer war, dann war sie offensichtlich ein lüsternes Geschöpf, also eine Schlampe, ein Flittchen, eine Hure. Eine solche Frau verdient es, gewaltsam missbraucht zu werden; nicht er, der Täter, ist ehrlos, sondern sie.
Massenvergewaltigungen in Kriegszeiten sind in erster Linie von feministischen Historikerinnen systematisch untersucht worden.[52] Bis dahin war man unter der Historikerschaft allzu schnell darüber hinweggegangen oder hatte mit mutmaßlichen Gemeinplätzen wie »Wo gehobelt wird, fallen Späne« oder »boys will be boys« reagiert: So was passiert nun einmal in Kriegszeiten.
Eine derartige Vergewaltigungswelle ist das Vorrecht des Siegers. Aber die siegreiche Partei wird das im Nachhinein nicht ohne Weiteres eingestehen.[53] Die Fakten werden vertuscht und zensiert. Auch die unterlegene Partei schweigt, aus Scham. Die Stimme der Verlierer findet ohnehin so gut wie nie Gehör.
Die Vergewaltigung der Frauen des besiegten Volkes scheint auf den ersten Blick vom Sexualtrieb der triumphierenden Soldaten angetrieben worden zu sein. Sie haben oft sehr lange ohne eine Frau auskommen müssen. Und das ist für junge Männer zweifellos ein Beweggrund. Aber hinter diesen kollektiven Vergewaltigungen steckt weit mehr. Studien haben immer wieder gezeigt, dass durch solche Gruppenvergewaltigungen die besiegte Bevölkerung in ihrer Gesamtheit unterjocht und gedemütigt wird. Die kollektive Vergewaltigung ist also auch ein Racheakt einer Gruppe an einem entwaffneten und desorganisierten Feind: ein Mittel, die Männer zu treffen, indem man sich ihre Frauen nimmt. Die triumphierenden Kämpfer berauben ihren besiegten Feind seines Landes und seiner Frauen und ergießen ihren Samen in sie. Das ist die sexualisierte Version des »Furors des Siegers«.[54] Dieser Furor endet nur allzu oft in einem wilden Massaker an der besiegten Bevölkerung.
Gewiss spielt auch der adoleszente Sexualtrieb eine Rolle. Aber welcher gesunde junge Kerl sehnt sich danach, sein Glied gewaltsam in eine weinende, schreiende Frau einzuführen, die sich mit aller Kraft wehrt, solange sie es noch wagt oder kann? Und wie oft gelingt so etwas eigentlich? Dem Vergewaltiger wird es auf keinen Fall entgehen, dass sie ihn nicht will. Das dürfte für viele wenig lusterregend sein.
Es gibt noch eine andere Seite dieser Vergehen. Männer missbrauchen die Frauen gemeinsam, Seite an Seite, einer nach dem anderen. Die meisten Beschreibungen kollektiver Vergewaltigungen lassen diesen Aspekt außer Acht. Welche Bedeutung verbindet sich mit diesem Verhalten der Männer? Mit dem eigenen Waffengefährten neben sich will man auf keinen Fall versagen. Man will seinem Nebenmann zeigen, dass man ein echter Kerl ist, der weiß, wie man eine widerspenstige Frau seinem starken Willen und Glied unterwerfen kann. Man schöpft einigen Mut, oder auch Übermut, aus der Nähe zu all den anderen stoßenden, keuchenden Männern. Aber es bedeutet noch mehr. Die Männer überwältigen nacheinander dasselbe Opfer. Auch hier wird bei den ohnehin extrem seltenen Beschreibungen solcher Vergewaltigungen um den heißen Brei herumgeredet. Der nächste Mann steckt sein Glied (wenn es ihm denn gelingt) in die Schleimreste, die sein Vorgänger dort hinterlassen hat. Damit rückt man sich doch ziemlich dicht auf den Leib.
Was passiert da eigentlich? Männer vergreifen sich einträchtig, dicht beieinanderstehend und direkt nacheinander an Frauen, die sie wie Dreck behandeln und verabscheuen. Handelt es sich dabei etwa um eine Manifestation verdrängter Homosexualität? Aber bei der Liebe zwischen Männern geht es so doch ganz und gar nicht zu. Es geht hier um etwas anderes: darum, Unterstützung in der Nähe gleichgesinnter vertrauter Kameraden zu finden, um mit fremden Frauen einen unmöglichen Akt zu vollziehen. Und dieser Akt, diese kollektive Vergewaltigung, zielt darauf ab, die feindlichen Männer durch den Missbrauch ihrer Frauen ein für alle Mal zu brechen, indem man ihre Würde, die Ehrbarkeit ihrer Frauen, ihre Ehre als Mann, die Ehre ihres Volkes verletzt.[55]
Ich bin, wie ich einräumen muss, nicht dabei gewesen. Und selbst wenn ich dabeigestanden hätte, würden diese Männer mir, selbst unter einer Folter dritten Grades, niemals erzählt haben, was in ihnen vorgegangen ist – wenn sie es selbst überhaupt verstanden hätten. In dieser Textpassage weiß ich es besser als die Täter selbst, von denen ich nicht einen einzigen gekannt habe, geschweige denn, dass sie mir je anvertraut hätten, was sie dazu bewogen hat. Die meisten meiner Leser wissen es auch nicht viel besser. Aber auf einen Punkt möchte ich bestehen: Wer die kollektive Massenvergewaltigung von Frauen verstehen will, muss sich zuerst mit dem konspirativen Einverständnis der Männer untereinander befassen. Und wer verstehen will, welches Unheil sie damit anrichten, muss sein Augenmerk zunächst auf die geschändeten Frauen und dann auf ihre Männer und Kinder richten.
Der dem Vergewaltiger eigene Mythos besagt, dass jede Frau – eigentlich immer – einen Penis nötig hat, und zwar seinen. Sie weiß es nur noch nicht. Die allgemeine Wirkung der Vergewaltigung besteht darin, dass jede Frau – eigentlich immer – Männer braucht, um sie vor anderen Männern zu schützen. Das weiß sie nur allzu gut.
Im Westen hat sich eine Akzentverschiebung vom weiblichen Ehrgefühl zur weiblichen Autonomie vollzogen: Eine Frau entscheidet selbst über ihr eigenes Leben, auch über ihren eigenen Körper. Doch die Begriffe des Ehrgefühls und der Autonomie liegen näher beieinander, als man denken würde: Frauen, die sexuelle Belästigung erfahren haben, sprechen fast immer von einem Gefühl der Demütigung, das sie dabei empfunden haben. Wenn wir den Begriff »Ehre« durch »Selbstwertgefühl« oder »Selbstbewusstsein« ersetzten, kämen wir der Erfahrung heutiger westlicher Frauen schon viel näher.
Aber es gibt wichtige Unterschiede. Die weibliche Ehre ist nichts, was nur die Frau selbst etwas angeht. Diese Ehre hat eine Menge mit der Reputation ihres sozialen Umfelds zu tun. Auf diese »Ehrbarkeit« wird von den Menschen, die die Frau umgeben, ständig geachtet. Ist ihre Bluse nicht zu freizügig und ihr Rock nicht zu kurz; sind ihre Absätze nicht zu hoch und ihre Frisur nicht etwas zu wild; spricht sie nicht zu laut und manchmal sogar, bevor sie an der Reihe ist; ist sie nach Sonnenuntergang noch auf der Straße und entfernt sie sich nicht zu weit von zu Hause; erwidert sie etwa manchmal frech den Blick, wenn ein Mann sie beobachtet; raucht sie in der Öffentlichkeit oder spricht sie mit einem fremden Kerl; hat sie zu gierig nach einem weiteren Glas verlangt, oder geht sie zu oft allein in die Kneipe? Dieses »zu sehr«, »zu viel« … setzt voraus, dass es ein richtiges Maß gibt, das für alle anderen als Norm gilt, die sie jedoch überschreitet.
Die hier angeführten Beispiele beziehen sich auf westliche Gesellschaften vor 50 Jahren oder auf die etwas konservativeren Enklaven, die auch in der westlichen Welt bis heute bestehen. Frauen, die sich nicht den herrschenden Normen anpassen, kommen ins Gerede. Man spricht über sie. Man redet mit Empörung über sie. Das ist der springende Punkt: Diese Frauen existieren nicht als Individuen. Sie bewegen sich, ob sie das nun wollen oder nicht, ständig auf einer Bühne vor den Augen und Ohren einer Öffentlichkeit, die ihr Verhalten an den Normen misst, die für Frauen ihres Standes gelten. Solche Frauen werden dann als unverschämt oder schamlos angesehen, sie bringen selbst Schande über sich, sie scheren sich offenbar nicht um die Codes, die in dieser Gesellschaft für Frauen gelten. Sie sind ehrlos.
Es gibt Gesellschaften, in denen die Verhaltenscodes für Frauen viel strenger sind. Auch dort werden Frauen permanent kontrolliert. Aber sie sind dort nicht einmal öffentlich sichtbar. Sie bewegen sich überhaupt nicht im öffentlichen Raum, geschweige denn auf einer Bühne. Sie wohnen in einem separaten Bereich, einem Kompartiment der Scham: als Mädchen im Frauenbereich des Elternhauses und später als Frau in der ehelichen Wohnung. Wenn sie jemals nach draußen kommen, dann nur in einem tragbaren Zelt, das sie von Kopf bis Fuß umhüllt.
Die Ehrbarkeit der Frau ist in diesen Gesellschaften nach wie vor ein unverbrüchlicher Bestandteil der Ehre und des Ansehens der für sie verantwortlichen Männer – ihrer Väter und Brüder, solange sie unverheiratet ist, und später ihres Ehemanns. Der Begriff »verantwortlich« ist hier wörtlich zu nehmen: Der Mann muss sich für das Verhalten der Frau verantworten, er ist für ihr Tun und Lassen haftbar.
Denken Sie nicht, dass es so etwas in der heutigen westlichen Gesellschaft nicht mehr gäbe. Selbst dort wird es einem Mann noch angekreidet, wenn »seine« Frau im unpassenden Moment das Wort ergreift, ihre Meinung zu vehement äußert, zu wild tanzt, zu viel trinkt, sich zu aufreizend kleidet oder, noch schlimmer, einen Liebhaber zulegt. Ein solcher Mann ist ein Trottel, ein Schwächling, ein Weichei, er bekommt Hörner aufgesetzt und ist ein Hahnrei. Sie hat die Hosen an. Natürlich ist das alles eine Frage der Abstufung. Unter weißen Menschen im Westen wiegen diese Fragen der Ehre etwas weniger schwer als in traditionellen Gesellschaften außerhalb der westlichen Welt. Doch das männliche Ehrgefühl ist auch im Westen heute noch lebendig. Sehr viele Scheidungen, und sogar Suizide und Femizide, sind auf eine verletzte Mannesehre zurückzuführen.
Die Ehre des Mannes wird hauptsächlich vom Respekt anderer Männer genährt. Männer schämen sich vor allem vor anderen Männern, wenn sie ihre Frauen nicht im Zaum halten können. Und umgekehrt, Aufreißern und Weiberhelden geht es mit ihren Eroberungen gerade darum, die Bewunderung und den Neid anderer Männer zu wecken. Ich erinnere mich, dass in meiner Jugend in Amsterdam ein berühmter Designer und ein noch bekannterer Schriftsteller eine Wette darüber abgeschlossen haben, wer innerhalb eines Jahres die meisten Frauen verführen kann. Zwölf Monate lang bemühten sie sich tagein, tagaus eifrig darum, noch ein weiteres Mädchen aufzureißen und zu vernaschen. Und die ganze Zeit über, während der Verführung, des Vorspiels und des Akts selbst müssen sie darüber nachgedacht haben, mit wem der andere gerade zugange ist, und wie es wohl um seinen aktuellen Punktestand bestellt ist. Was für eine umständliche und verstohlene Art, um in einem fremden Bett am Ende doch mit dem besten Freund zugange zu sein.
Kurzum: Vergewaltiger handeln zweifelsohne zum Teil aus einem simplen Sexualtrieb heraus, vor allem aber aus Machtgier. In erster Linie muss eine unverfrorene Frau auf ihren Platz verwiesen werden, und dieser Platz ist der unter einem Mann. Der Vergewaltiger unterwirft nicht nur die Frau seinem Willen, er triumphiert mit seiner Tat auch über die Männer, deren Aufgabe es gewesen wäre, ihren Körper und ihre Ehre zu beschützen. Diese Männer erweisen sich damit als ohnmächtig (buchstäblich als »impotent«) und sind damit selbst entehrt.
Gruppenvergewaltigungen sind kollektive Akte, bei denen Männer gemeinsam von einer Frau Besitz ergreifen und gemeinsam über die Männer triumphieren, die diese nicht mehr beschützen können. Zudringlichkeit, Nötigung und Vergewaltigung sind allesamt Mittel, um eine Frau wieder in ihre unterworfene Stellung zurückzuversetzen und die Männer in ihrem Leben zu entmannen.
Das bittere Paradoxon liegt darin, dass diese Bedrohungen den Beschützern der Frauen wiederum ein Recht und einen Grund geben, sie nicht aus dem Haus zu lassen und ihre Bewegungsfreiheit noch weiter einzuschränken. Von den Gefahren der Straße schon eingeschüchtert, haben es diese Frauen nur allzu oft ohnehin vorgezogen, auf eine eigenständige Arbeit, ein Studium oder auch nur das Einkaufen zu verzichten, wenn sie dafür auf die Straße gehen oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen mussten. All diese Untaten, die allgemein bekannt sind und ungestraft bleiben, tragen zum Erhalt der männlichen Macht bei.
[…] in Agrargesellschaften wie China und Indien (einschließlich des heutigen Pakistan), in den Stammesgesellschaften des arabischen Nahen Ostens, in allen Ländern des Mittelmeerraums (in Palästina, Libnon, Türkei, Griechenland, Marokko, Italien, Spanien), in Südeuropa sowie in lateinamerikanischen Ländern auf der anderen Seite des Atlantiks.[56]
Zuweilen kommt es vor, dass sich das männliche Gemüt durch das Verhalten von Tochter, Schwester, Verlobter oder Ehefrau so tief verletzt fühlt, dass diese Frau aus der Welt geschafft werden muss. Sie muss getötet werden. Dabei bleibt es nicht immer bei Rachefantasien, leidenschaftlichen Verwünschungen und Todeswünschen. Es passiert regelmäßig, dass die Frau tatsächlich getötet wird. In vielen westlichen Ländern kannte das Strafrecht bis vor Kurzem das crime passionnel: eine aus Leidenschaft begangene Straftat, wofür die Justizbehörden ein gewisses Verständnis aufbringen konnten. Wurde der Fall überhaupt abgeurteilt, kam der Täter mit einer leichten Strafe davon oder wurde sogar freigesprochen: Der Täter, geblendet von hochherziger männlicher Leidenschaft, konnte für seine Tat nicht verantwortlich gemacht werden und kam daher – oft unter dem bewundernden Raunen seiner Geschlechtsgenossen – ungestraft davon. So war es in Frankreich seit jeher, und unter dem Code Napoléon sogar noch bis 1975. Derselbe Code galt in den Niederlanden bis weit in das 19. Jahrhundert hinein: »Im Falle des Ehebruchs ist der Totschlag, den der Ehemann an seiner Frau sowie an ihrem Komplizen begeht, sobald er sie in der ehelichen Wohnung in flagranti ertappt, entschuldbar.«[57] Der Mord aus Leidenschaft war ausschließlich ein allgemein anerkanntes Privileg des betrogenen Ehemanns. Die Ehefrau, die unter denselben Umständen ihren Mann tötete, machte sich weiterhin strafbar. In neueren Urteilen wird die Tötung beim Ertappen eines Ehebruchs auf frischer Tat jedoch strenger bestraft und zunehmend als eine extreme, nicht entschuldbare Form häuslicher Gewalt aufgefasst.
Die mörderischen Umtriebe betrogener oder zurückgewiesener Männer hatten wahrscheinlich schon früher, zumindest in den westlichen Ländern, weniger mit Leidenschaft als mit Verletztheit zu tun: mit einer tiefen Kränkung über die erfahrene Untreue oder Zurückweisung, die zur akuten Mordlust führte. Der Täter fühlte sich in seiner Selbstachtung und seinem Ehrgefühl verletzt. Die Männer in der Familie, die Männer in der Kirche oder in der Kneipe und die Herren des Gerichts brachten dafür jedes Verständnis auf. Ja mehr noch, ihnen war völlig klar, dass sie das Zielpublikum dieser Straftat waren. Vor ihren Augen musste die verletzte männliche Würde des Täters wiederhergestellt werden, indem der Männlichkeit ein Menschenopfer dargebracht wurde. Dieses Opfer war natürlich eine Frau. Aber auch für die Frauen sendete die Mordtat eine Botschaft: Wer einen Mann durch Ehebruch in seiner tiefsten Ehre verletzt, bezahlt dies womöglich mit dem Leben. Der Täter, der den Ehrenmord begangen hatte, hatte hingegen gute Chancen, straflos davonzukommen.
Auch in den heutigen Niederlanden, in einer Gesellschaft, die eine der niedrigsten Mordraten der Welt verzeichnet und in der die Frauen emanzipierter sind als in 90 Prozent aller anderen Länder, sind es immer noch vor allem Männer, die »ihre« Frauen töten: Zwei Drittel der Opfer tödlicher häuslicher Gewalt sind Frauen, ein Drittel Männer. Die Frauen werden in der Regel von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet, die Männer meistens nicht von ihrer (Ex-)Partnerin, sondern von einer anderen Person aus deren Bekannten- oder Verwandtenkreis. Drei Viertel dieser Partnermorde werden in der eigenen Wohnung begangen.[58]
Wie bei allen Tötungsdelikten geht es in der Urteilsfindung darum, ob die Tat im Affekt, also nicht vorsätzlich, begangen wurde. Ist dies der Fall, wird der Täter wegen Totschlags, einem minderschweren Verbrechen, verurteilt. Wenn ihn das Verhalten seiner Partnerin so in Rage gebracht hat, dass er nicht voll für seine Tat haftbar gemacht werden kann, führt dies ebenfalls zu einer Strafminderung oder sogar zu einem Freispruch. Entscheidend ist also die Einschätzung des subjektiven Zustands, des Gemütszustandes des Angeklagten zum Zeitpunkt der Tat. Auch im modernen Rechtsstaat besteht eine gewisse Bereitschaft, die Untreue des Opfers als eine Art Provokation in Betracht zu ziehen: Es wird davon ausgegangen, dass ein solcher Affront nicht nur den Verdächtigen, sondern jeden (Mann) gereizt hätte. In einem solchen Fall handelt es sich also um eine so genannte »objektive« Abwägung, die auf den in der Gemeinschaft allgemein geltenden Normen beruht.
In der westlichen Rechtsprechung wird den Gefühlen des Täters und seinem Gemütszustand zum Zeitpunkt der Tat sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Eifersucht oder Liebesverlust werden häufig als Motive genannt: Diese Gefühle beziehen sich auf die intime Beziehung zum Partner und zu einer möglichen dritten Person. Viel weniger Verständnis bringt man Scham- und Demütigungsgefühlen als Motiven für die Tat entgegen. Diese Gefühle stehen mit Motiven wie »Ehre« und »Entehrung« in Zusammenhang, Motiven, die in der bürgerlichen westlichen Kultur ein wenig unter den Teppich gekehrt und meiner Meinung nach systematisch unterschätzt werden.
Auch in den Vereinigten Staaten wird der Ehebruch der Frau oft als provocation betrachtet. In diesem Fall kann die Tötung als Totschlag (manslaughter) und nicht als Mord gewertet werden, was eine geringere Strafe nach sich zieht. Diese »Provokation« muss dann allerdings so kränkend sein, dass sie einen reasonable man zu seiner Tat treiben kann. Der Totschlag muss also zwingend aus einem Affekt heraus begangen worden sein. Das ist die subjektive Seite. Zudem muss die Tat von der Notwendigkeit motiviert sein, die gesellschaftliche Reputation des Täters, seine honor, wiederherzustellen. Das ist die objektive Seite.
In Gerichtsverfahren zum Tatbestand honor killing kann die objektive Beurteilung, ob es sich um eine Tat zur Wiederherstellung der männlichen Ehre handelte, zu einer Strafreduzierung führen. Gerade Ehrenmorde werden jedoch selten im Affekt, sondern in der Regel nach einiger Überlegung und Vorbereitung (also vorsätzlich) begangen. In Westeuropa sind die meisten Angeklagten solcher Ehrenmorde nordafrikanischer, nahöstlicher oder südasiatischer Herkunft, und ihr kultureller Hintergrund wird dann bis zu einem gewissen Grad als mildernder Umstand berücksichtigt.[59]
Bei Ehrenverbrechen geht es nicht vorrangig um den eifersüchtigen Täter und sein Opfer. Das umstrittene Verhalten der Frau – es handelt sich so gut wie immer um Frauen – ist eine Schande für die gesamte Familie. Besonders betroffen sind die Verwandten der Frau, einschließlich ihrer weiblichen Familienmitglieder. Selbst wenn ihr Ehemann bereit wäre, sich mit der Kränkung zu arrangieren, ist es doch ihre Familie, die gedemütigt wurde. Die Wiederherstellung der Ehre ist daher immer auch eine Familienangelegenheit. Solange kein Außenstehender von dem Skandal erfahren hat, kann noch viel gütlich beigelegt werden, denn Eifersucht oder Verlust stehen nicht im Vordergrund und die Schande ist bislang verborgen geblieben. Aber sobald der Skandal durch Klatsch und Tratsch auch außerhalb des engsten Familienkreises bekannt wird, muss etwas unternommen werden. Auch die weiblichen Familienmitglieder fordern in der Regel, dass das kollektive Ansehen der Familie wiederhergestellt wird. Dazu gibt es nur einen Weg: die Bestrafung der Frau, die gegen die Regel verstoßen hat. Diese Bestrafung muss weithin bekannt werden, denn das Ansehen der Familie muss auch in einem größeren Umkreis wiederhergestellt werden. In der Regel ist es nicht der Ehemann selbst, der die Vergeltungstat begeht, sondern ein Verwandter des Vaters der Ehefrau. Ihre Familie entscheidet, was mit der vom Weg abgekommenen Frau geschehen und wer den Ehrenmord an ihr begehen soll. Die Aufgabe fällt häufig einem der jüngsten Brüder oder Cousins der Frau zu, da Minderjährige milder bestraft werden. Offenbar sind sie den Familienältesten so ergeben, dass sie ihre eigene Schwester oder Cousine töten. Wie ehrlos kann man sein.[60]
Das System der Ehrenverbrechen hält sich global immer noch in einem breiten Gürtel aufrecht, der von Lateinamerika über Nordafrika und den Nahen Osten bis nach West- und Südasien reicht.[61] Bis weit ins letzte Jahrhundert hinein kamen Ehrenmorde auch noch in Europa, genauer: auf dem Balkan, vor. In westlichen Ländern begehen Einwanderer aus diesen Gebieten auch heute sporadisch Ehrenmorde, die stets großes Aufsehen erregen. Eine Frau, die sich nicht an die strengen Regeln der Prüderie, Ehrbarkeit und Sittsamkeit hält, die es wagt, eine arrangierte Ehe abzulehnen, oder die sich zu unabhängig und »zu westlich« verhält, untergräbt das Ansehen des gekränkten Bräutigams, seiner Familie und ihres gesamten Clans.
Familien oder Clans, die auf diese Weise an Prestige verlieren, werden nicht mehr respektiert oder gefürchtet. In Gesellschaften, in denen der Staat von jeher schwach und seine Autorität zersplittert war, konnten Menschen nicht darauf zählen, dass Polizei, Justiz oder Bürokratie ihre Rechte gegenüber benachbarten Gruppen verteidigen würden. Konkurrierende Clans aus der näheren Umgebung betrachteten jede Gruppe, die nicht für ihre eigene Reputation eintrat, als schwach und daher angreifbar. Sie begannen, die angrenzenden Äcker eines solchen geschwächten Clans für sich zu beanspruchen oder freilaufendes Vieh zu stehlen. Mit diesem Ehrenhaushalt verband – und verbindet sich noch immer – eine sehr materielle, fast geschäftliche Beziehung: eine Ökonomie der Ehre. Wer seine Frauen nicht unter Kontrolle halten kann, hat auch seinen Nachbarn nichts entgegenzusetzen.
Natürlich gibt es auch in Familien in westlichen Ländern häusliche Gewalt, die in manchen Fällen auch tödlich endet. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch, dass tödliche Ehrenverbrechen fast immer die gesamte Familie betreffen. Die Gewalttat ist hier in einen Kontext kultureller und religiöser Rechtfertigung eingebettet. Ob der Islam Ehrenverbrechen tatsächlich erlaubt oder gar anempfiehlt, wird unter gelehrten Muslimen kontrovers diskutiert. Sehr viele traditionelle Disziplinarmaßnahmen gegen Frauen sind theologisch umstritten. Bei gewöhnlichen Gläubigen jedoch herrscht die Vorstellung vor, dass Koran und Scharia diese erlauben oder sogar vorschreiben. Und dem wird auch der Dorfimam wohl nicht so schnell widersprechen.
In islamischen Ländern regt sich hier und da Widerstand gegen traditionelle Ehrenverbrechen, insbesondere unter gebildeten Stadtbewohnern, auf dem Land hingegen kaum, hier findet der Brauch immer noch breite Unterstützung.[62] Wie oft Frauen Opfer von Ehrenverbrechen werden, lässt sich statistisch gar nicht feststellen. Jeder einzelne Fall wird natürlich gerüchteweise weit und breit herumerzählt. Doch Polizei, Justiz und Behörden ignorieren diese Vorfälle, um nicht dagegen vorgehen zu müssen. Auch die lokalen Medien halten sich diskret zurück.
Somit ist unklar, wie oft tödliche Ehrenverbrechen an Frauen vorkommen und ob ihre Anzahl zu- oder abnimmt.[63] In den westlichen Gesellschaften, in die in den letzten 50 Jahren eine Vielzahl muslimische Migranten eingewandert sind, treten Fälle von Ehrenmorden mittlerweile häufiger auf. In der Regel werden diese Fälle jedoch durchaus aufgedeckt und strafrechtlich verfolgt.[64]
Umfragen in islamischen Ländern zeigen, dass sehr viele Menschen von Ehrenverbrechen in ihrem direkten Umfeld Kenntnis haben. In Jordanien gaben im Jahr 2005 28 Prozent der Befragten, meist Stadtbewohner, an, ein Opfer eines Ehrenmordes persönlich gekannt zu haben. Vier Prozent der Befragten wussten von einem Ehrenmord in ihrem eigenen – zum Teil weiteren – Familienkreis. Die Ehrenmorde weckten allgemein Abscheu: 95 Prozent lehnten die Aussage »Ehrenmorde sind moralisch richtig« (entschieden) ab. Und doch geht das Morden weiter, auch in Jordanien.[65]
Oft handelt es sich bei den Opfern um junge Frauen, die als Mädchen verheiratet wurden, meistens mit einem Cousin. Der Verlobte arbeitet in solchen Fällen oft jahrelang im Ausland, um das Brautgeld zu verdienen. Die versprochene Braut verliebt sich in einen anderen Mann und läuft mit ihm davon. Wenn die Familie sie zu fassen bekommt, wird sie gesteinigt. Eine Frau, die unverheiratet schwanger wurde, musste mit ansehen, wie man ihre kleine Tochter ermordete, um sie als Mutter zu bestrafen.[66] Solche Praktiken kommen auch in Pakistan mit großer Regelmäßigkeit vor. Sollte ein Opfer den Mordversuch überleben, wird es gezwungen, den Tätern zu vergeben, und muss, falls es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, zu deren Gunsten aussagen. Die Mörder werden in den seltensten Fällen bestraft. »Der Mörder triumphiert mit stolzgeschwellter Brust.«[67] Und: »Nicht das Mädchen oder die Frau wird als Opfer betrachtet, sondern der Mann, der sich an den Ehrenkodex halten und die Frau eliminieren musste, damit die Ehre der Familie wiederhergestellt werden kann.« Und er ist es auch, der nach seiner Tat mit Sympathiebekundungen überschüttet wird.[68]
Wo ein solcher Fall tatsächlich vor Gericht kommt, erscheint der Angeklagte vor einem örtlichen Tribunal, das sich wenig um das Gesetzbuch oder gar die Scharia schert und das tribale Gewohnheitsrecht anwendet, auch dann, wenn es dem Gesetz ausdrücklich widerspricht. Die Täter von Ehrenmorden kommen dann mit leichten Strafen davon oder gehen straffrei aus. Auch vor ordentlichen Gerichten führen die meisten Fälle nicht zu einer Verurteilung, sondern enden mit einem Freispruch oder einem milden Urteil für den meist jugendlichen Täter, während der Anstifter außer Reichweite bleibt. So ziehen Ehrenmorde in den allermeisten Fällen keine Strafe nach sich. Die Tat jedoch, die das Ansehen der Familie in weiten Kreisen wiederherstellen sollte, wird überall bekannt und dient als Warnung an alle Frauen, sich auch in Zukunft unbedingt dem patriarchalischen Regime zu unterwerfen.
Die Straffreiheit, mit der die Mörder rechnen können, sobald sie sich auf eine Sache der Ehre berufen, spielt allen möglichen anderen Formen von Missbrauch in die Hände. So kann ein Mann oder eine Frau beispielsweise zu Unrecht des Ehebruchs bezichtigt werden. Anschließend wird von dem zu Unrecht Bezichtigten viel Geld erpresst, da dieser oder diese von der Todesstrafe bedroht ist. Der Mörder einer Frau kann sich dagegen seiner Bestrafung entziehen, indem jemand die Frau im Nachhinein der Unzucht beschuldigt. Dann sieht es wie ein Ehrenmord aus.[69]
Der Ehrenmord ist stets auch eine Warnung an alle Frauen, die sich »zu westlich« geben, die studieren möchten, die außerhaus arbeiten und die ohne männliche Begleitung in die Stadt gehen … Oft sind dem Mord viele Gewalttätigkeiten vorausgegangen, und die Exekution wird auf besonders grausame Weise vollzogen, um alle anderen Frauen in der Umgebung abzuschrecken. Anders als häusliche Gewalt mit tödlichem Ausgang und anders als ein »Mord aus Leidenschaft« erfüllt der Ehrenmord eine Funktion bei der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Normen: Mit dieser einen bestraften Frau wird allen anderen Frauen Mores gelehrt.
Ehrenmorde und andere gewalttätige Ehrenverbrechen sind nicht für den Islam spezifisch. Sie kommen in allen Religionen und in allen Schichten und Ständen vor.[70] Seltsamerweise bleibt beim Thema Ehrenverbrechen meist ein ganzer Kontinent außer Betracht, auf dem mindestens ebenso viele Frauen alleine ihres Geschlechts wegen ermordet werden: das zutiefst katholische und stark evangelikal geprägte Lateinamerika. Obwohl die dortigen Gesellschaften nicht in Verwandtschaftsclans organisiert sind, verschaffen sich auch hier weitreichende familiäre Netzwerke Geltung, und die orthodoxe Glaubenspraxis lässt sich offenbar sehr gut mit der männlichen Vorherrschaft vereinbaren. Die Kirche ermutigt die Frauen, ihr Leid still zu tragen, und gestattet es den Männern, einem extremen Männlichkeitskult zu frönen: Marianismo und Machismo gehören zusammen.
Einige lateinamerikanische Länder zählen zu den gewalttätigsten Ländern der Welt. Und ein Großteil dieser Gewalt richtet sich gegen Frauen: in femicide, wie »Frauenmord« dort genannt wird. In vielen Staaten Lateinamerikas werden die Täter von Verbrechen aus Leidenschaft in der Rechtstradition des crime passionnel oft nicht einmal strafrechtlich verfolgt. Müssen sie überhaupt vor Gericht erscheinen, kommen sie in der Regel mit einer geringen Strafe davon. Der Täter muss allerdings den Anschein erwecken, die Tat wäre in blinder Raserei begangen worden, ein Verbrechen aus Leidenschaft also. In Wirklichkeit geht es auch in vielen lateinamerikanischen Ländern um die Verletzung der Mannes- und Familienehre, die es zu rächen gilt. Auch wenn hier die gekränkte Partei zumeist auch die Tat begeht, sind die nächsten Verwandten doch häufig involviert und nötigen den Täter zur Exekution. Die Unterschiede zum Ehrenverbrechen in islamischen Ländern sind eher gradueller Natur.
In Ländern wie Mexiko und Guatemala werden Frauen ermordet oder verschwinden spurlos, manchmal dutzendweise. Dies sind häufig die Machenschaften von Banden, die so die lokale Bevölkerung einschüchtern, um jeglichen Widerstand schon im Vorhinein zu brechen. Nicht nur die Frauen werden entehrt und ermordet, auch hier geht es darum, die Männer, die ihre Frauen nicht davor beschützen konnten, in ihrer männlichen Würde zu verletzen.[71]
Die Angriffe auf einzelne Frauen dienen dazu, sie exemplarisch für die Übertretung der tradierten Regeln zu bestrafen. Die Entführung und Liquidierung gleich mehrerer und willkürlich gewählter Frauen zielt darauf ab, ihre Ehemänner, Verwandten und Dorfbewohner zu demoralisieren. Die lateinamerikanischen Frauenmorde finden in Europa nur wenig Beachtung. Missstände in islamischen Ländern können »dem Islam« angelastet und gut dazu instrumentalisiert werden, antimuslimische Ressentiments zu bedienen. Einwanderer aus Lateinamerika sind in Europa jedoch ausgesprochen selten und rufen entsprechend so gut wie keinen Widerstand hervor. Das macht die Ehrenmorde in Lateinamerika für ein europäisches Publikum weniger interessant, da sie sie sich nicht als Knüppel eignen, mit dem sich auf Immigranten einprügeln ließe.
Ein Ehrenverbrechen ist eine Form des privatisierten Standrechts. Privatpersonen nehmen sich heraus, Exekutionen ohne irgendeine Form von Gerichtsverfahren durchzuführen, wenn sie sich in ihrer kollektiven Ehre verletzt fühlen. Die staatlichen Behörden lassen das zu, obwohl es gegen Gesetze und Regeln verstößt. Letztlich stimmen alle stimmschweigend darin überein, dass diese Terrorakte dazu dienen, die Vorherrschaft der Männer über die Frauen aufrechtzuerhalten. Befreit man das Patriarchat einmal von seiner überlieferten ethnischen, kulturellen und religiösen Verpackung, bleibt nichts anders übrig als eine gewalttätige Terrorherrschaft.
Stellen Sie sich bitte vor: Sie verspüren einen leichten, aber unangenehmen Schmerz in der Herzgegend. Er hält sich schon einige Zeit hartnäckig und scheint schlimmer zu werden. Wird schon nichts sein, denken Sie. Auf Drängen der Familie gehen Sie aber doch zu Ihrer Hausärztin. Auch sie kann nichts finden und denkt auch nicht, dass es etwas Ernstes ist, trotzdem vereinbart sie, um ganz sicherzugehen, für Sie einen Termin im Krankenhaus. Vorsicht ist besser als Nachsicht. In der Nacht davor schlafen Sie unruhig. Unsinn, natürlich, aber man weiß ja nie. Ist es nicht vielleicht doch schlimmer geworden, und schmerzt jetzt nicht sogar der Arm?
Überpünktlich kommen Sie im Krankenhaus an und sitzen dort eine Zeit lang ziemlich angespannt im Wartezimmer. Dann wird Ihr Name aufgerufen, sofort erscheint die Ärztin: eine hübsche junge farbige Frau mit Kopftuch … Für einen kurzen Moment, vielleicht nur eine Zehntelsekunde, denken Sie: Das will ich nicht. Für mein beängstigendes Zipperlein will ich einen männlichen Arzt Ende 50, leicht ergraut und weiß, das ist schließlich die Farbe der Ärzte. Im nächsten Moment haben Sie Ihre Gedanken schon wieder unter Kontrolle: Ach, wie schön, eine Spezialistin, und noch so jung, eine Dunkelhäutige, eine Muslima obendrein, bestimmt hat sie sehr hart studiert, die muss sehr gut sein. Sie hat erst vor Kurzem ihr Examen gemacht, ist sicher auf dem allerneusten Stand. An den kurzen Moment der Voreingenommenheit und Ablehnung denken Sie lieber nicht zurück, das wäre zu beschämend.
Aber halt, was da passiert ist, war Ihr Verschlussmoment: Für einen kurzen Augenblick haben Sie in der Dunkelkammer Ihres Inneren eine winzige Momentaufnahme der allgemein gepflegten Vorurteile über Hautfarbe, Alter, Geschlecht und Religion gesehen, wie sie in der Gesellschaft bestehen. Diese Voreingenommenheiten werden in jedem Moment durch die faktisch bestehenden ungleichen sozialen Verhältnisse bestätigt. Daher haben sich diese Bilder natürlich auch irgendwo im Halbdunkel Ihres Gefühlslebens festgesetzt. Das ist bei jedem, der Teil dieser Gesellschaft ist, so.
Als Wissenschaftler kann ich mich glücklich schätzen. Ich muss nicht die Straßen ablaufen und treppauf, treppab bei Leuten an die Türen klingen, um ihnen eine lange Liste mit Fragen nach ihrer Meinung vorzulegen. Ich muss nur mich selbst zurate ziehen. Tief in mir schlummert ein voreingenommener, engstirniger, sexistischer Chauvinist, der mir blitzartig die Vorstellungen und Gefühle seiner Artgenossen im ganzen Land übermittelt. Und ja, das Durchschnittsmännchen im tiefsten Innern meiner Gedanken sagt mir, dass Frauen, die es in der Politik zu einer Machtposition gebracht haben, schreckliche Weiber sein müssen, die die Hosen anhaben und mit Haaren auf den Zähnen das Zepter schwingen. Das Durchschnittsfrauchen, auch das hält sich in meinem Inneren verborgen, bestätigt diese Vorurteile Wort für Wort. Solche ungebetenen Gäste wie die, die bei mir eingezogen sind, haben bei fast jedem Obdach gefunden, der unter unausgewogenen Geschlechterverhältnissen oder ungleichen Rassen- oder Klassenverhältnissen aufgewachsen ist. Und wer ist das nicht? Diese kollektive Unterwelt manifestiert sich bei jedem einzelnen Menschen in unerwarteten Momenten, als unerwünschte Nebengedanken.
Sind wir also alle miteinander Rassisten, Sexisten oder Schlimmeres? Nein, im Gegenteil. Wir alle haben ein Leben lang den Feinstaub der sozialen Diskriminierung eingeatmet, die uns umgibt und deren Teil wir sind. Wir versuchen, uns dieser Stereotypen zu entledigen, um andere und uns selbst so unvoreingenommen wie möglich zu betrachten. Wir wollen anderen aufrichtig vorurteilsfrei gegenübertreten. Mehr können wir nicht tun. Vielleicht bringt das mit der Zeit doch noch eine Gesellschaft hervor, in der Menschen auch innerlich frei von Vorurteilen sind. Das wird dann auch das Ende solcher Verschlussmomente sein.