Der unaufhaltsame Aufstieg der Frauen

Nach Tausenden von Jahren steht das Allgemein Menschliche Muster der männlichen Vorherrschaft fast überall auf der Welt vor dem Zusammenbruch. Selbst in Gesellschaften, die unter dem Permafrost eines religiösen Wahns leben, wie Saudi-Arabien, Iran oder El Salvador, beginnt die männliche Vorherrschaft zu ächzen, rissig zu werden und zu knarren. In Saudi-Arabien ist Frauen seit Kurzem gestattet, selbst Auto zu fahren, und vielleicht dürfen sie bald sogar ins Kino gehen. Der Anfang vom Ende der patriarchalischen Ära kündigt sich an.

Dieser Niedergang der männlichen Vorherrschaft ist nicht etwa darauf zurückzuführen, dass die Männer urplötzlich zur Besinnung gekommen wären, auch wenn Hunderte Millionen von ihnen heute ihr Denken ändern – davon allerdings wiederum Dutzende Millionen von ihnen in die falsche Richtung. Es liegt nicht einmal in erster Linie an dem moralischen Druck und den Protestaktionen der feministischen Frauenbewegung, auch wenn diese sicherlich dazu beigetragen hat. Es ist das Ergebnis einer Kombination tiefgreifender weltweiter Entwicklungen, die sich gegenseitig verstärken. Mit einem revolutionären Ergebnis: Immer mehr Frauen gehen immer länger zur Schule, und diese Frauen bekommen immer weniger und immer später Kinder. In der Folge verfügen sie über mehr Wissen und mehr Zeit für außerhäusliche Aktivitäten, wie etwa eine bezahlte Arbeit. Aufgrund der Mechanisierung und Industrialisierung kommt es bei diesen Tätigkeiten immer weniger auf Körperkraft und immer mehr auf andere Fähigkeiten wie Einsicht, Übersicht und Voraussicht an, bei denen Frauen den Männern mindestens ebenbürtig sind.

Aber lassen Sie mich zunächst mit meinen eigenen Erfahrungen beginnen. Als ich in den späten 1940er Jahren in die Vorschule und danach in die Grundschule ging, wurde ich von »Fräuleins« unterrichtet, wie sie damals genannt wurden: von »Fräulein« Jonker und »Fräulein« Van Kampen. In meiner Klasse gab es ungefähr ebenso viele Jungen wie Mädchen. Das war in den Niederlanden damals schon seit mehr als einem halben Jahrhundert der Fall. Auch auf dem Gymnasium war das Geschlechterverhältnis in den 1950er Jahren schon fast paritätisch.[72] Erst an der Universität, die 1960er Jahre hatten inzwischen begonnen, waren die Studentinnen deutlich in der Minderheit, und unter den Lehrenden fand sich kaum eine Frau.[73] Ich wurde wissenschaftlicher Assistent, und ausnahmsweise hatte ich auch zwei Kolleginnen. Die Begabtere von ihnen tauchte plötzlich nicht mehr auf. Sie hatte sich verlobt, und offenbar war für sie damals ein Universitätsstudium, und erst recht eine akademische Karriere, mit ihrer Rolle als Ehefrau nicht vereinbar. Heute, mehr als 50 Jahre später, ist das in den westlichen Ländern kaum noch vorstellbar. In sehr vielen nichtwestlichen Ländern jedoch ist das bis heute üblich, sofern es Frauen dort überhaupt offensteht, wissenschaftliche Assistentin an einer Universität zu werden. Ich war damals über diesen Fall sehr entrüstet und bin ich es noch heute. Ich war (und bin) ehrgeizig und wollte etwas erreichen, aber mit einem Wettlauf, bei dem die Hälfte meiner Mitstreiter mit einem Klotz am Bein mitlief, war für mich keine Ehre zu gewinnen.

In den darauffolgenden 50 Jahren haben sich die Verhältnisse grundlegend verändert. Zum Guten. Als ich 25 Jahre später die Leitung eines Graduiertenkollegs übernahm, weigerten wir uns, in die Anzeigen den (damals noch üblichen) Passus aufzunehmen: »Bewerberinnen werden bei gleicher Eignung bevorzugt.« Das war in der Sozialwissenschaft schon nicht mehr nötig, denn inzwischen bewarben sich mindestens ebenso viele Frauen wie Männer, und die Bewerberinnen wurden aufgrund ihrer erwiesenen Eignung in etwa gleichem Umfang angenommen. Heute promovieren an diesem Institut fast ebenso viele Frauen wie Männer.[74] In fast allen Fächern, außer den Ingenieurs-, Natur- und Wirtschaftswissenschaften, erwerben mittlerweile mehr Frauen als Männer den Doktorgrad. Das gilt nicht nur für die Niederlande, sondern für fast alle westlichen Länder und sogar für viele Länder der außerwestlichen Welt.

 

Fast unbemerkt und nahezu weltweit befinden sich die Frauen seit etwa 50 Jahren auf einem Triumphzug zur Gleichstellung mit den Männern. Das geht keineswegs ohne Hauen und Stechen ab, vollzieht sich aber auch nicht in spektakulären Revolutionen oder gar tragischen Bürgerkriegen zwischen Männern und Frauen. Der Klassenkampf und der Rassenkampf verliefen deutlich gewalttätiger als der Kampf der Geschlechter. Der glorreiche Vormarsch der Frauen mutet indes tagtäglich wie ein mühsames Waten durch zähen Morast weiblichen Zauderns und männlicher Vorurteile an, wie eine steile Kletterpartie über die Hürden von Gesetzen und Gewohnheiten, die in jahrhundertelanger männlicher Vorherrschaft errichtet wurden. Doch schaut man sich das Ganze mit etwas Abstand und aus der zeitlichen Distanz von einem halben Jahrhundert oder mehr an, erkennt man, dass sich die Frauen trotz aller Widrigkeiten auf einem Siegeszug befinden. Dieser Aufstieg ist schon lange nicht mehr aufzuhalten.[75]

In den westlichen Ländern, vor allem in Nordwesteuropa und den Vereinigten Staaten, sind die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern schon seit Jahrhunderten etwas weniger ungleich als in anderen Teilen der Welt. In der außerwestlichen Welt hat der Wandel erst in den 1960er Jahren des vorigen Jahrhunderts wirklich begonnen. Dafür lässt sich ein ganzes Bündel von Ursachen nennen, die alle miteinander zusammenhängen, aber nicht gleichzeitig vonstattengingen. Vieles verdankte sich der Ausweitung des Bildungswesens. Die Jungen waren die Ersten, die davon profitierten, aber nach und nach kamen auch immer mehr Mädchen in den Genuss von Schulunterricht.

Der lange Marsch durch die Schulen

Das nenne ich die neue Ordnung der Mädchen. Zum ersten Mal, und ich meine wirklich zum ersten Mal überhaupt, haben junge Frauen in ihren Zwanzigern mehr erreicht, sind gebildeter, verfügen über mehr Eigentum und sind entschieden ambitionierter als ihre männlichen Pendants […]. Die Männer stehen nun Gleichen gegenüber – und in vielerlei Hinsicht auch ihnen Überlegenen. Wie konnte sich eine solche Umwälzung innerhalb eines halben Jahrhunderts vollziehen, in nicht mehr als einer Minute in der Daseinsgeschichte der menschlichen Zivilisation?[76]

 

 

Die Aufstiegschancen von Männern und Frauen hängen in der heutigen Gesellschaft zu einem großen Teil von ihren erworbenen Schulabschlüssen ab. So ist Bildung zum großen Motor des Wandels im Verhältnis zwischen den Geschlechtern geworden. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts besuchte in Nordwesteuropa und in den Vereinigten Staaten die große Mehrheit der Kinder die Grundschule, so auch in den Niederlanden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gingen im Westen praktisch alle Kinder im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren zur Schule, Mädchen ebenso oft wie Jungen.[77]

Auf dem zweiten Niveau, der Sekundarstufe oder der weiterführenden Schulbildung, weitete sich die Teilnahme am Unterricht erst etwas später aus, folgte aber einem ähnlichen Muster. Auch hier waren die Mädchen anfangs im Hintertreffen, hatten diesen Rückstand jedoch um 1990 aufgeholt.[78] In der Grundschule lernten die Schüler alle mehr oder weniger das Gleiche, erst im Sekundarunterricht trennten sich die Wege. In den meisten europäischen Ländern gibt es auch heute noch eine Ausdifferenzierung zwischen Ausbildungen zur Fachkraft, zum Büroangestellten oder Techniker oder Schulzweigen, die auf ein Universitätsstudium vorbereiten. Diese Trennlinien verliefen parallel zu den bestehenden Klassenunterschieden und trugen dazu bei, diese Klassendifferenzierung aufrechtzuerhalten. Das gilt auch heute noch: Die Schulklasse spiegelt die sozialen Klassenunterschiede wider.

Auch auf dem dritten Niveau, dem der höheren Berufs- und der Universitätsbildung, sind die Frauen dabei, ihren Rückstand aufzuholen. Noch 1975 erwarben in den Niederlanden mehr als viermal so viele Männer wie Frauen den Doktorgrad. Gut 40 Jahre später, im Jahr 2016, erlangten fast fünfmal so viele Studierende einen Masterabschluss, und von diesen waren nun mehr als die Hälfte Frauen.[79]

Derzeit sind in den allermeisten westlichen Ländern mindestens ebenso viele junge Frauen wie junge Männer an Hochschulen eingeschrieben. In den Sozial- und Verhaltenswissenschaften, den Geisteswissenschaften und den Lebenswissenschaften sind die Frauen sogar in der Mehrheit. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel waren 1975 bereits 45 Prozent aller College-Studierenden Frauen, und 2015 waren sie mit 53 Prozent in der Mehrheit.[80] Vor gut einem halben Jahrhundert machten Frauen noch nicht einmal ein Zehntel der Medizinstudierenden im ersten Studienjahr aus; 2017 waren es etwas mehr als die Hälfte.[81] In einem Fach wie der Veterinärmedizin ist die Entwicklung extrem: Noch 1960 waren fast 98 Prozent der angehenden Postgraduates männlich, 2008 waren schon 78 Prozent weiblich. Dieser Wandel hatte auch viel mit der Einführung eines bundesweiten Verbots der Geschlechterdiskriminierung an Universitäten (Title X) im Jahr 1972 zu tun.[82] In den exakten Wissenschaften sind Frauen weiterhin in der Minderheit, aber die Differenz verringert sich schnell. Nur in den technischen Fächern geht es langsam voran.

Dass Frauen weitaus häufiger ein Universitätsstudium beginnen, ist ein weltweit zu beobachtender Trend. Fast überall nimmt die Zahl der Studentinnen zu, in den meisten Ländern sind sie bereits in der Mehrheit.[83] Wenn Länder heute in der Hochschulbildung allgemein noch einen Rückstand aufweisen, dann deshalb, weil dort weniger Mädchen und weniger Jungen studieren.

 

In den 1960er Jahren setzte in den außerwestlichen Ländern eine spektakuläre Ausweitung des Bildungswesens ein. Das hatte viel mit einer anderen großen Emanzipationswelle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun: mit der Unabhängigkeit Dutzender ehemaliger westlicher Kolonien. Ende des Zweiten Weltkriegs waren Teile Asiens und fast ganz Afrika besetzt und von europäischen Mächten kolonisiert. Ein Vierteljahrhundert später waren nahezu alle diese Kolonien unabhängig. Zwar war unter der Kolonialherrschaft die Schulbildung auf die Kinder der westlichen Oberschicht und der einheimischen Eliten beschränkt geblieben, gleichwohl wurden so auch die kolonisierten Völker mit dem Modell der standardisierten Bildung vertraut. Schulabschlüsse wurden auch damals schon zunehmend als Eintrittskarte zu besseren Positionen in der Gesellschaft angesehen, obwohl diese für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung unerreichbar blieb.

Diese ehemaligen europäischen Kolonialgebiete wurden nun zu souveränen Staaten. Allein in den 1960er Jahren traten 44 neue Mitgliedstaaten den Vereinten Nationen bei, fast alle von ihnen waren kurz zuvor unabhängig geworden. Diese Gesellschaften mussten sich neu einrichten. So gespalten die Bevölkerung auch oft war, über einen Punkt herrschte fast überall große Einigkeit: die Notwendigkeit einer allgemeinen Bildung zur Stärkung des noch fragilen Nationalgeistes und zur Förderung des Wirtschaftswachstums. Vor allem die Jugend sollte mit nationalen Idealen durchtränkt werden. Junge Menschen sollten zu Arbeitskräften für die modernen Fabriken und Büros einer sich entwickelnden Wirtschaft ausgebildet werden. Internationale Organisationen, allen voran die UNESCO, unterstützten diese Bemühungen, entsandten ihre Experten und führten Statistiken, um die Fortschritte der einzelnen Länder zu dokumentieren und Ranglisten zu erstellen. Kein Land wollte zurückbleiben. Überall herrschte Fortschrittsgeist, und der Bildung kam die Rolle als treibende Kraft aller Verbesserungen zu.

Erwartungsgemäß gingen die Jungen als Erste und am längsten zur Schule. Doch der Innovationsdrang machte hier nicht halt: Auch immer mehr Mädchen wurden unterrichtet und gingen länger zur Schule. Viele, vielleicht die meisten jungen Nationen propagierten die sozialistischen und demokratischen Ideale, die prinzipiell frauenfreundlicher sind als ihre faschistischen oder orthodox-religiösen Pendants. Auch die Experten führten Argumente für den Schulunterricht von Mädchen an: Ihre Bildung würde nicht nur zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität führen, sondern auch zu einem Rückgang der Krankheits- und Sterblichkeitsrate bei der Niederkunft, zu einer Abnahme der Kindersterblichkeit und zu einer allgemeinen Verbesserung der Volksgesundheit.

In Ländern, in denen die Geldwirtschaft Fuß gefasst hatte und der Marktmechanismus seine Wirkung entfaltete, erkannten Eltern bald, dass Bildung ihren Kindern Türen zu öffnen vermochte. Sie würden eine qualifiziertere und besser dotierte Arbeitsstelle bekommen und wären damit langfristig besser in der Lage, ihre Eltern im Alter zu versorgen als ungebildete und nichtalphabetisierte Kinder. Das Schulgeld mochte im Familienbudget zwar einen beträchtlichen Kostenfaktor darstellen, aber es schien eine gute Investition zu sein: Besser ein paar gut ausgebildete Sprösslinge als eine ganze Menge Kinder ohne Ausbildung. Das war ein Grund, neben anderen, die Zahl der Geburten zu beschränken.

Schnell erwies sich, dass Mädchen mindestens ebenso gut lernen und offensichtlich ebenso gut für ihre Eltern sorgen konnten wie Jungen. Die bislang dominierende Präferenz für Söhne verschob sich hier und da sogar zu einer leichten Bevorzugung von Töchtern. Außerdem ließen junge Frauen fast überall einen großen Lerneifer erkennen.

Auch die reaktionärsten und patriarchalischsten Regime haben früher oder später die Schulbildung für Mädchen eingeführt. Gerade die streng orthodoxen Machthaber befürchten, dass die Gläubigen Gefahr laufen, vom schmalen, Pfad der Tugend abzukommen oder, schlimmer noch, gänzlich vom Glauben abzufallen. Religionsunterricht ist daher unverzichtbar, insbesondere für die noch unschuldige Kinderseele. Für Juden, Christen, Muslime und Hindus bedeutet das, dass sich die Kinder mit den heiligen Texten beschäftigen sollen, und damit haben sie einen Grund, zur Schule zu gehen, wo sie lesen und schreiben lernen. In den weltlichen Schulen erhalten die Kinder allerdings auch Unterricht in Mathematik und anderen Grundfächern, was ihnen einen Vorsprung auf dem Arbeitsmarkt verschafft. Die religiösen Schulen wollen dahinter nun nicht zurückbleiben und erweitern ihren Lehrplan. Langfristig werden sogar die Mädchen in weltlichen Schulfächern wie Mathematik, Geografie und Geschichte unterrichtet. Biologie und Physik hält man hingegen bei Mädchen für weniger geeignet. Zudem werden sie statt im Werken (mit harten Materialien wie Holz und Metall) in Handarbeit (mit weichen Materialien) unterrichtet; das soll sie auf ihr Erwachsenenleben als Hausfrau und Mutter vorbereiten.

Was all diese Kinder in diesen ehemaligen Kolonien in der Schule jedoch nicht lernen, ist, dass Mädchen den Jungen im Klassenzimmer gleichgestellt sind und dass Frauen später die gleichen Rechte wie Männer geltend machen können. Im Gegenteil. Im Grundschulunterricht wird naturgetreu die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern reproduziert und aufrechterhalten, die auch in der übrigen Gesellschaft fortbesteht.

Und doch. Überall wo Mädchen zur Schule gehen, verändern sich die Verhältnisse unumkehrbar. Und auch wenn sie es in der Schule nicht gelernt haben, beginnen diese Schülerinnen sich im späteren Leben offenbar anders zu verhalten. Lassen wir die Zahlen sprechen, oder besser gesagt, lassen wir die Zahlen ihr demagogisches Werk tun, denn nichts flößt so viel Respekt ein wie Gebote und Zahlen. Dass sich die Bildung für Jungen und Mädchen in Asien und Afrika in einem enormen Tempo ausgeweitet hat, ist offensichtlich und allgemein bekannt.[84] Aber was folgt daraus?

Im Jahr 1960 hatten in der arabischen Welt Jungen im Laufe ihrer Schulkarriere durchschnittlich sechs Monate Unterricht, Mädchen fast keinen. Im Jahr 2000 erhielten die Jungen im Durchschnitt fünf bis sechs Jahre und die Mädchen drei bis vier Jahre Schulunterricht.[85] Heute haben die Frauen in den arabischen Ländern die Männer im Bildungsbereich beinahe überholt, obwohl diese Länder es wegen dieses »beinahe« nicht einmal ins Mittelfeld von Bildungsstatistiken geschafft haben. Dieser Prozess hat sich in diesem Teil der Welt im Laufe von höchstens zwei Generationen vollzogen, eine unglaublich rasante Entwicklung. Auch aktuellere Zahlen belegen die atemberaubende Aufholjagd. 2017 berichtete das Weltwirtschaftsforum in seinem Global Gender Gap Report, dass junge Frauen weltweit und auf allen Bildungsstufen, von der Grundschule bis zur Universität, fast ebenso viel Unterricht erhalten wie junge Männer (49,5 versus 50,5 Prozent).[86] Soziale Umwälzungen in einem derartigen Tempo und von einer derartigen Reichweite müssen große soziale Spannungen hervorrufen.

Es gibt weder Statistiken über männliches Überlegenheitsgefühl noch zum weiblichen Selbstbewusstsein. Wenn es richtig spannend wird, muss man sich also weiterhin auf sein soziologisches Einfühlungsvermögen verlassen. Immerhin gibt es Zahlen, die etwas von dem widerspiegeln, was sich in diesen Ländern zwischen Männern und Frauen, gerade in ihren intimen Beziehungen, abgespielt hat. Eine intimere Angelegenheit als die Fortpflanzung gibt es in der menschlichen Welt nicht. Und ausgerechnet darüber geben Statistiken sehr informativ und präzise Aufschluss, weil das Ergebnis dieser Intimitäten so leicht messbar ist: es ist die Geburtenrate.

In ihrem exzellenten Übersichtsartikel hat die Soziologin Teresa Castro Martín die Beziehung zwischen dem Bildungsniveau der Frauen und ihrer Fruchtbarkeit in 26 Ländern untersucht. Daraus geht hervor, dass Frauen umso weniger Kinder bekommen, je länger sie zur Schule gegangen sind. Zehn Jahre Schulbildung bedeuten zwei oder drei Kinder weniger. Diese besser ausgebildeten Frauen bekommen ungefähr so viele Kinder, wie sie sich gewünscht haben. Und es ist unverkennbar: Sie wollen weniger Kinder. Außerdem haben diese gebildeten Frauen eine weniger fatalistische Einstellung in Bezug auf Fortpflanzung, sie lassen sich weniger vorschreiben.[87] Und ja, auch das ist belegt: Gebildete Frauen verhüten viel häufiger als ungebildete. Sie sind besser informiert und können mit den Mitteln besser umgehen. Außerdem haben Frauen, die weniger Kinder bekommen, bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, und die besseren Berufsaussichten bestärken sie wiederum in ihrem Vorhaben, länger zur Schule zu gehen.

 

Dieser nüchterne statistische Zusammenhang zwischen Bildung und Kinderzahl ist eine der bewegendsten Erkenntnisse, die ich aus den Sozialwissenschaften kenne. Denn was bedeutet er eigentlich? Diese Frauen haben auf ihrer muslimischen, evangelischen, katholischen Schule nicht unbedingt gelernt, dass sie Verhütungsmittel verwenden dürfen, oder gar sollten. Und schon gar nicht, dass sie ihren Männern im Bett nicht gefügig sein müssten. Doch selbst in einem Land wie Tunesien, in dem die Lehrpläne sehr konservativ sind, wünschen sich gebildete Frauen kleinere Familien als ungebildete und verwenden mehr als anderthalb Mal so häufig Verhütungsmittel. Das haben sie, so meine These, nicht in der Schule gelernt.

Und doch haben sie es gelernt. Das ist das Ergreifende daran. Mädchen, die lesen und schreiben gelernt haben, entwickeln damit, ganz gleich was das »Fräulein« oder der Lehrer im Klassenzimmer behaupten mögen, ein stärkeres Selbstbewusstsein. Sie realisieren, dass sie Menschen sind, vielleicht noch nicht den Männern gleichgestellt, aber auch nicht mehr nur Wesen zur Zucht und Fürsorge. Vor allem unter den Völkern des Buches – den Muslimen, Juden und Christen – gelten Lesen und Schreiben als die Fertigkeiten, durch die man erst zu einem vollständigen Menschen wird. Diese Mädchen sind genau wie die Jungen zur Schule gegangen. Offensichtlich wurden sie als wichtig genug erachtet, um ihnen so viel Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Und augenscheinlich standen sie den Jungen in der Klasse in nichts nach. Man sollte das nicht zu schnell belächeln, bei uns liegt diese Entwicklung etwa zwei Jahrhunderte zurück, aber auch heute noch geht es ganz grundlegend um Menschwerdung, Persönlichkeitsentfaltung und Gleichberechtigung, auch für Mädchen und Frauen.

 

Mädchen und Jungen unterscheiden sich in ihren Begabungen viel weniger voneinander, als man vor einem oder einem halben Jahrhundert noch allgemein annahm. Was die Begabung für Rechnen und Lesen anbetrifft, hat man freilich einen Unterschied festgestellt. Groß angelegte internationale Vergleichsuntersuchungen bei 15-Jährigen, die sogenannten PISA-Studien, ergaben, dass Jungen durchschnittlich in Mathematik und die Mädchen im Lesen leistungsstärker sind. Unter den besten Schülerinnen und Schülern in den exakten Fächern ist die Geschlechterdifferenz am größten (leistungsstarke Jungen sind deutlich besser als leistungsstarke Mädchen), und unter den schwächsten Schülerinnen und Schülern in Lesekompetenz sind die Unterschiede ebenfalls am größten: leseschwache Jungen lesen im Durchschnitt viel schlechter als leseschwache Mädchen.[88] Diese Unterschiede variieren von Land zu Land, wobei die Unterschiede zwischen den Ländern viel größer sind als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

Selbst dieser Unterschied könnte zum Teil stärker durch soziale Umstände als durch natürliche Begabung bedingt sein. Studentinnen entscheiden sich in den westlichen Ländern vergleichsweise selten für Physik und technische Studiengänge. Gerade in Ländern, in denen sie weniger Chancen in der Gesellschaft haben, entscheiden sich Frauen jedoch häufiger für ein Studium der exakten Fächer: Schweden etwa steht an der Spitze des Gleichstellungsindex, Tunesien und Albanien befinden sich ganz am Ende.[89] Aber tatsächlich entscheiden sich tunesische und albanische Studentinnen viel häufiger für ein Studium der exakten Wissenschaften als schwedische. Wahrscheinlich wählen junge Frauen in Ländern mit den besten gesellschaftlichen Möglichkeiten die Fächer, die sie am meisten interessieren, und das sind oft die Geistes-, Verhaltens- und Sozialwissenschaften. In Ländern, in denen ihre Aussichten unsicherer sind, entscheiden sie sich eher für die exakten Wissenschaften, weil ein solches Studium ihre Chancen auf einen sicheren Arbeitsplatz erhöht.[90]

 

Auch in der außerwestlichen Welt gehen die meisten Mädchen heutzutage nicht mehr nach der Grundschule von der Schule ab, nachdem sie die Grundschule durchlaufen haben. Sie besuchen eine weiterführende Schule und danach immer häufiger auch eine Universität oder Hochschule. Sie machen Abschlüsse, die ihnen bessere Chancen auf eine Stellung mit einem auskömmlichen Einkommen eröffnen. Sie sind nicht mehr nur als Erntehelferinnen, Handarbeiterinnen, Pflegerinnen, Dienstmädchen oder Verkäuferinnen einsetzbar, sondern werden auch Buchhalterin, Rechtsanwältin oder Ärztin. Sie verrichten zunehmend hoch qualifizierte und daher auch gut bezahlte Arbeit. Sie sind nicht mehr ausschließlich Untergebene, sondern gelangen in Führungs- und Machtpositionen, in denen sie manchmal Vorgesetzte von Männern sind.

Frauen erobern die Universität

Mehr als 1000 Jahre lang war die Universität eine exklusive Männergemeinschaft mit all den dazugehörigen Ritualen, Geheimnissen und Rangordnungen. Erst im letzten halben Jahrhundert hat sich die Universität durch den Zustrom von Studentinnen und den wachsenden Anteil von Dozentinnen und Verwaltungsmitarbeiterinnen stärker feminisiert. Auf den ersten Blick ist dies in den meisten akademischen Gemeinschaften ohne große Zwistigkeiten abgelaufen. Die meisten Scherereien gibt es noch in den Studentenverbindungen (Burschenschaften und Fraternities), die Wert auf Exklusivität und Tradition legen. Gelegentlich endet die Aufnahmephase der Neuen, die Fuchszeit, dort auch heute noch in obszönem Geprahle, perversen Demütigungen und Kneipenschlägereien. Aber das bleibt auf die Gruppe der jungen Männer selbst beschränkt.

In den Vereinigten Staaten verläuft die Feminisierung der Universitäten konfliktreicher, und dieser Konflikt wird öffentlicher ausgetragen. Studentinnen beklagen regelmäßig sexuelle Belästigungen, die von anzüglichen Bemerkungen über Grabschereien bis zu Vergewaltigungen reichen. Daran wird deutlich, dass das akademische Erbe einer exklusiven Männerkultur noch nicht vollständig gebannt ist.

Auf einem US-amerikanischen Campus werden daher auch weitaus mehr Sicherheitsmaßnahmen getroffen als in anderen Teilen der Welt: hier gibt es Notrufsäulen, Sicherheitspersonal, besondere Transportmöglichkeiten und spezielle Begleitung für Studentinnen in der Dunkelheit, Vertrauenspersonen und Beschwerdekommissionen. Daran hat die Universität auch jedes Interesse, denn in den USA schicken Eltern ihre Kinder zum Studium oft weit von zu Hause weg, und sie wollen sicher sein, dass vor allem die Töchter in guten Händen sind. Nicht selten erweist sich dies als Trugschluss.

Noch vor wenigen Generationen bestand die Universitätsgemeinschaft aus jungen unverheirateten Männern, die von Gelehrten, zumeist verheirateten älteren Männern, betreut wurden. Überall, wo junge Männer für einen längeren Zeitraum exklusiv unter sich sind, nehmen sie Zuflucht zu Masturbation, Prostitution und »Gelegenheitshomosexualität«. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein lebten wohlhabende Studenten manchmal mit einer Konkubine, einer Wäscherin oder einer Näherin zusammen. Machte der junge Herr schließlich seinen Abschluss, bekam das Mädchen, versüßt durch einen gewissen Geldbetrag, den Laufpass. Dann begannen die Vorbereitungen für die Hochzeit des Absolventen mit einer Braut aus guter und begüterter Familie, die schon seit geraumer Zeit hingebungsvoll und keusch auf ihren Verlobten wartete. Diese Sitten sind heute fast vergessen und werden von Universitätshistorikern kaum noch thematisiert. Aber auch eine vergessene Vergangenheit wirkt, meist untergründig, bis in die Gegenwart nach, in Amerika ebenso wie in Europa.

Über die heutigen sexuellen Gepflogenheiten an den Universitäten wissen wir mehr, das gilt insbesondere für die Vereinigten Staaten.[91] Da sich junge Männer und Frauen heutzutage täglich im Hörsaal und in ihrer Freizeit begegnen, haben sich auch neue Umgangsformen entwickelt. Die ersten Jahre des Studiums sind allgemein gesprochen eine Zeit beiderseitiger erotischer Erkundungen, in einer Abfolge flüchtiger Affären und One-Night-Stands (hookups). Natürlich beteiligt sich nicht jeder und jede daran. Nach einer Weile bilden sich stabilere Beziehungen. Bei all diesen Kontakten gibt es den einen Prüfstein: das beiderseitige Einverständnis. Sobald der Eindruck entsteht, dass einer der Partner, und das ist in der Regel die Partnerin, nicht mit allen Annäherungsversuchen einverstanden ist, sollte es nicht weitergehen dürfen. In den USA wird dies nicht dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte überlassen. An vielen Universitäten erhalten die männlichen Studienanfänger einen Kurs über angemessenes Verhalten gegenüber ihren weiblichen Kommilitonen.

Trotz aller Vorkehrungen zeigen Untersuchungen an amerikanischen Universitäten, dass viele männliche Studenten immer wieder mit Druck, Zwang und Gewalt einer Frau ihren Willen aufzuzwingen versuchen.[92] Einige sehr privilegierte Studenten meinen offenbar, sich noch viel mehr erlauben zu können, bis hin zur Vergewaltigung. Die Stars des Baseball- oder Footballteams sind beispielsweise für das sportliche Renommee der Universität praktisch unverzichtbar, weshalb die Universitätsleitung alles daransetzen wird, jegliches Eingreifen zu vermeiden. Auch manche Mitglieder der exklusivsten Studentenverbindungen haben Väter, die so einflussreich – und großzügig – sind, dass die akademischen Autoritäten selbst in Fällen extremen Fehlverhaltens nicht gegen sie vorgehen.[93]

Doch auch das beginnt sich zu ändern: Frauen an den Universitäten waren Vorreiterinnen in der #MeToo-Kampagne, die Missstände dieser Art anprangert. Die Geschlechterbeziehungen in der Universitätsgemeinschaft sind einerseits Vorbote und andererseits Spiegelbild der Beziehungen zwischen Männern und Frauen in der Gesellschaft, die sie umgibt.

Gesundheitsversorgung: Rund um Schwangerschaft und Entbindung

Als Brutkasten bin ich überstrapaziert.

Nun habe ich die Pille.

Ich mache all die Jahre wieder wett,

denn ich habe jetzt die Pille.

Das gute Gefühl kommt wie von selbst,

denn ich habe jetzt die Pille.

Also Papa, mach dir keine Sorgen,

denn Mama hat die Pille.[94]

 

 

In den letzten anderthalb Jahrhunderten ist die durchschnittliche Lebenserwartung spektakulär gestiegen, im Westen noch stärker als in der außerwestlichen Welt. Schon immer und fast überall haben Frauen durchschnittlich ein paar Jahre länger gelebt als Männer, trotz der Risiken, die mit Schwangerschaft und Entbindung einhergehen. Heute beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit 69 Jahre, 67 Jahre für Männer und 71,1 Jahre für Frauen.[95] Die Lebenserwartung variiert stark von Land zu Land und ist in Ländern mit einem hohen Bruttosozialprodukt pro Kopf höher. Innerhalb der jeweiligen Länder fällt der geschlechtsspezifische Unterschied weit weniger ins Gewicht als der Einkommensunterschied: Reiche Menschen leben länger.

Die wichtigsten Unterschiede in Bezug auf den Gesundheitszustand von Frauen und Männern stehen, wie könnte es anders sein, in Zusammenhang mit Schwangerschaft und Entbindung. Die Sterblichkeitsrate von Frauen während und bis zu sechs Wochen nach der Schwangerschaft, die mütterliche Mortalitätsrate, ist drastisch gesunken. In Schweden starben im Jahr 1800 noch etwa 1000 von 100.000 Frauen während und nach der Schwangerschaft, 2015 waren es nur noch fünf. In den meisten europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten setzte der Rückgang zwischen 1850 und 1900 ein. Auch hier lässt sich das übliche Muster beobachten: Die Verbesserung begann vor mehr als einem Jahrhundert in den westlichen Ländern und hat sich seit etwa 50 Jahren auch in der außerwestlichen Welt fortgesetzt.[96] Der Rückgang der Sterblichkeit von Schwangeren und Wöchnerinnen hing eng mit der Verfügbarkeit ausgebildeter Hebammen zusammen. Diese traten an die Stelle von Ärzten, die nicht speziell für die Geburtshilfe ausgebildet waren.

Bis Anfang des letzten Jahrhunderts war das Kindbettfieber eine Krankheit, die viele Frauen vor und nach der Geburt heimsuchte. Der ungarisch-österreichische Chirurg und Geburtshelfer Ignaz Semmelweis entdeckte die Ursache bereits 1847: Die Frauen infizierten sich, weil Hebammen und Ärzte die Krankheitskeime »eigenhändig« von einer auf die andere Wöchnerin übertrugen. Aus Unwissenheit reinigten sie ihre Hände und Instrumente nicht richtig. Es sollte noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dauern, bis Ärzte und Geburtshelferinnen verstanden, dass sie selbst die Ursache dafür waren und strengere Hygienemaßnahmen befolgen mussten.

Die Sterblichkeitsraten von Wöchnerinnen und Neugeborenen gehören heute zu den wichtigsten Indikatoren für die Qualität der Gesundheitsversorgung in einem Land. Sie werden von internationalen Gesundheitsorganisationen, der Ärzteschaft und den verantwortlichen Politikern in jedem Land überwacht. Keine Regierung möchte sich auf der Rangliste unten sehen.

Kurz gesagt: je größer der Wohlstand in einem Land und je höher das Familieneinkommen, desto besser sind die Überlebenschancen von Frauen und Kindern vor und nach der Geburt. Dieser eindeutige Zusammenhang wird allerdings von verschiedenen Einschränkungen durchkreuzt, die Frauen aus religiösen Gründen auferlegt werden. Das bedeutendste Hemmnis ist das Abtreibungsverbot. In etlichen Ländern ist ein Schwangerschaftsabbruch unter allen Umständen unmöglich, selbst dann, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung, das Leben der Frau bei der Niederkunft in Gefahr oder die zukünftige Mutter selbst ein Kind ist. Gerade in diesen Ländern ist die Sexualität geheimnisumwittert, Verhütungsmittel sind kaum oder gar nicht erhältlich und junge Mädchen sind nicht gut darüber informiert, wie sie eine Schwangerschaft vermeiden können. Die Zahl der Teenagerschwangerschaften eines Landes ist daher ein sehr guter Index für seine sexuelle Scheinheiligkeit.

Am häufigsten kommen Teenagerschwangerschaften in Afrika, südlich der Sahara vor: bei 143 von 1000 Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren. Das liegt vor allem daran, dass die Mädchen in diesen Ländern unter großem Druck stehen, schon in sehr jungen Jahren zu heiraten. Sie haben keine Möglichkeit, ihre Schwangerschaft zu verhindern oder abzubrechen.[97]

In den Niederlanden sind Schwangerschaften in der Adoleszenz sehr selten, nur 5 von 1000 Teenagern sind davon betroffen. In den Vereinigten Staaten kommen sie viel häufiger vor, 2010 wurden 39 von 1000 Mädchen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren schwanger.

Überall auf der Welt, wo die katholische Kirche die Chance dazu bekam, wurden Schwangerschaftsabbrüche extrem tabuisiert: das gilt bis heute noch für den überwiegenden Teil von Lateinamerika, wenngleich das Abtreibungsverbot in der Praxis gelegentlich umgangen und vom Gesetzgeber aufgeweicht wird. Auch strenggläubige protestantische Kirchen und orthodoxe islamische Strömungen zwingen Frauen, die Schwangerschaft auszutragen, egal wie ungewollt, wie ungelegen oder wie gefährlich die Niederkunft auch sein mag. Bei den meisten Muslimen und im überwiegenden Teil von Nordafrika und dem Nahen Osten ist die Abtreibung daher aus dogmatischen Gründen verboten.[98] Es gibt allerdings auch islamische Gelehrte, die der Auffassung sind, dass dem Fötus vor dem 120. Tag der Schwangerschaft noch kein eigenes Leben eingehaucht wurde und eine Abtreibung daher bis zu diesem Zeitpunkt im Prinzip erlaubt sei.

Frauen aus wohlhabenden Familien können diese Verbote leichter umgehen. Sie finden in der Regel einen Arzt, der unter größter Geheimhaltung und gegen ein großzügiges Entgelt einen fachkundigen Schwangerschaftsabbruch durchführt. Notfalls unternehmen sie für kurze Zeit eine »Urlaubsreise« ins Ausland, um dort den Fötus professionell abtreiben zu lassen. Frauen, die sich das nicht leisten können, sind auf unausgebildete und inkompetente Kräfte, sogenannte Engelmacher und Engelmacherinnen, angewiesen, die zudem unter unhygienischen Bedingungen arbeiten. Die Folgen sind entsprechend: Viele Frauen ziehen sich Infektionen zu, tragen Verletzungen an der Gebärmutter oder der Vagina davon und werden manchmal dauerhaft unfruchtbar. Solche Fälle tauchen selbstredend nicht in den Statistiken auf, denn schließlich ist »nichts passiert«.

Nichts als Elend, völlig unnötiges Elend, das ganz bewusst von fanatischen Priestern, Geistlichen und Imamen und ihren bigotten Anhängern verursacht und aufrechterhalten wird. Bei all dem frommen Gerede beruht das absolute Abtreibungsverbot auf einem denkbar simplen Denkfehler: dass es zwischen Empfängnis und Geburt einen exakten Zeitpunkt gäbe, an dem die Leibesfrucht zum Menschen wird. Für die absolutistischen Religionen liegt er ganz am Anfang, dem Moment der Empfängnis, wenn Spermie und Eizelle verschmelzen. Für Befürworter der zeitlich unbeschränkten Abtreibung hingegen liegt dieser Zeitpunkt am Ende der Schwangerschaft, kurz vor der Geburt. Doch die Entwicklung von der befruchteten Eizelle zu einem Kind ist ein allmählicher Prozess, bei dem sich ein solcher Übergangspunkt nicht ohne Willkür festlegen lässt. Das Einzige, was man vernünftigerweise behaupten kann, ist, dass sich die Frucht von einem Zellhaufen nach und nach zu einem Menschen entwickelt. Je später die Abtreibung erfolgt, desto tiefer greift sie in eine Form des beginnenden menschlichen Lebens ein. Je später ein Schwangerschaftsabbruch stattfindet, desto stärker müssen die Argumente sein, um abzutreiben. Eine sehr frühe Abtreibung ist eine weit weniger schwerwiegende Entscheidung. Es geht also nicht um einen absoluten Gegensatz, wie ihn Bigotte und Fanatiker so lieben, sondern um einen allmählichen Übergang. Es geht nicht um nichtmenschlich versus menschlich, sondern um Immer-mehr-menschlich. Ersteres ist verstockte Fantasie, Letzteres entspricht der Realität.

 

Die sexuelle Unterdrückung im Allgemeinen und die der Frauen im Besonderen wird schon seit Längerem schwächer, der Zugang zur Geburtenkontrolle wurde erleichtert, die Sexualerziehung verbessert, die Kinderheirat erschwert und mancherorts wurde das Abtreibungsverbot aufgeweicht oder sogar ganz abgeschafft.

Nach dem Wahlrecht war das Recht auf Abtreibung für die Frauenbewegung im letzten Jahrhundert der wichtigste Streitpunkt. Das Wahlrecht ist fast überall und für nahezu alle erwachsenen Frauen erkämpft worden. Der Kampf gegen das Abtreibungsverbot hingegen nahm erst später an Fahrt auf und gestaltete sich viel mühsamer. Selbst die orthodoxen Religionen haben in früheren Jahrhunderten kein so großes Aufheben um die Abtreibung gemacht. In jüngster Zeit haben sich ihre Standpunkte jedoch verschärft und verhärtet. Vermutlich ist dies auch als Reaktion auf die fortschreitende Frauenemanzipation zu werten.

Nicht selten bilden religiöse Frauen die Vorhut, wenn es darum geht, orthodoxe Lehren und religiöse Praktiken wieder einzuführen. Denn in der Orthodoxie wird die Frau als Hausfrau und Mutter, als Hüterin des Lebens verherrlicht. Bei aller Überhöhung der Frau per se werden die real existierenden Frauen, ihre Bedürfnisse, Probleme und Rechte allerdings geflissentlich übersehen.

 

Die Gesundheitsrisiken von Frauen und Männern unterscheiden sich nicht allzu sehr voneinander, die Differenzen zwischen Arm und Reich sind hier größer. Bisweilen ist die zunehmende Gleichheit von Männern und Frauen für Frauen ganz und gar nicht vorteilhaft: Frauen begannen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts immer häufiger zu rauchen und sind deshalb heute fast ebenso häufig von Tumor- und Herzerkrankungen betroffen wie Männer. Einige Krankheiten betreffen jedoch spezifisch oder überwiegend Frauen, etwa Brust- und Gebärmutterhalskrebs. Vor allem in den Bereichen Sexualität, Geburt und Schwangerschaft sind Frauen wesentlich anderen Gesundheitsrisiken ausgesetzt als Männer.

Im Kern geht es dabei um die reproduktiven Lebensbedingungen von Frauen: Können sie selbst entscheiden, ob sie schwanger werden wollen und ob sie ihre Schwangerschaft abbrechen wollen oder nicht? Können sie in sehr jungem Alter zur Heirat gezwungen werden, besteht ein erhöhtes Risiko, dass sie vor, während oder kurz nach der Geburt schwer erkranken oder sogar sterben? Und wie viele Kinder bekommen sie im Laufe ihres Lebens? In dieser Hinsicht sind Frauen in einer besonderen Position, die von der männlichen deutlich abweicht.

 

Seit Hunderten, vielleicht sogar Tausenden von Jahren – aber darüber gibt es keine Statistiken – lag die Zahl der Kinder, die eine Frau im Laufe ihres Lebens zur Welt brachte, bei etwa sechs. Da eine gewisse Zahl von Frauen kinderlos blieb, lag die durchschnittliche Kinderzahl einer Mutter sogar noch entsprechend höher. Eine Familie mit zwölf oder 13 Kindern war noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine Ausnahme, auch nicht in den westlichen Ländern.

Etwa um 1965, vor mehr als einem halben Jahrhundert, fiel die Linie in der Fruchtbarkeitsgrafik, die in all den Jahrhunderten fast horizontal verlaufen war, plötzlich steil nach unten ab: Fast überall auf der Welt nahm die Kinderzahl pro Frau seither rapide ab. Das ist die nahezu unbemerkte weltweite Revolution unserer Zeit.

Dieser Wendepunkt, an dem die Geburtenraten zum ersten Mal zu sinken begannen, fällt in die kurze Periode der beschleunigten Entkolonialisierung in der außerwestlichen Welt: Zwischen 1955 und 1975 präsentierten sich mehr als 60 Länder zum ersten Mal als souveräne Staaten.[99] Alle diese neuen Staaten orientierten sich an anderen Staaten im Weltsystem: Sie gründeten ihre eigene Armee, schufen ein landesweites Gesundheitswesen und etablierten ein nationales Bildungssystem. Es ist, wie bereits ausgeführt, diese Ausweitung der Bildung, auch auf Mädchen, die den weltweiten Rückgang der Geburtenrate zum großen Teil erklärt.

Ungefähr zur gleichen Zeit ergab sich eine Innovation, die eine weitere Erklärung für den Geburtenrückgang liefert: die Einführung der »Pille«. Nach einem zögerlichen Start in den USA im Jahr 1960 wurde die Antibabypille in den entwickelten Ländern ziemlich schnell zur bevorzugten Verhütungspraxis. In der außerwestlichen Welt wurden die modernen Methoden der Geburtenkontrolle etwas später eingeführt, und ihre Verbreitung kam etwas langsamer in Gang. 1965 nahm in den Vereinigten Staaten bereits ein Drittel der Frauen die Pille, in den Entwicklungsländern taten dies nur 10 Prozent. 2014 nutzte bereits mehr als die Hälfte der Paare weltweit moderne Methoden der Geburtenkontrolle.[100]

Bereits um 1960 begann auch die Kindersterblichkeit bei der Geburt und in den ersten Lebensjahren fast überall zu sinken. Das war wesentlich auf die Verbesserung der öffentlichen Hygiene, also auf sauberes Leitungswasser, den Anschluss an das Abwassersystem, pasteurisierte Milch, Säuglingsfürsorge, Impfungen, Gesundheitsinspektion usw. zurückzuführen. Dank dieser Maßnahmen blieben viel mehr Kinder als zuvor am Leben, was dazu führte, dass weniger Kinder geboren wurden, denn die Eltern konnten nun von einer guten Überlebenschance ihrer Babys ausgehen. Sie mussten also weniger Kinder zeugen, um im Alter von zwei oder drei überlebenden erwachsenen Kindern unterstützt zu werden. Seit 1965 ist die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau weltweit von etwa sechs auf zwei bis drei gesunken. Und das in kaum mehr als 50 Jahren. In den westlichen Ländern werden sogar noch weniger Kinder geboren, vielfach weniger als die durchschnittlich 2,1 Kinder, die notwendig wären, um die Bevölkerungszahl konstant zu halten. Die Bevölkerung im Westen vergreist und schrumpft entsprechend.

Natürlich gibt es Ausnahmen vom allgemeinen Trend rasch sinkender Geburtenraten. In Afrika geht die Kinderzahl pro Frau langsamer zurück, und in einigen Ländern wie Nigeria, Angola und Burkina Faso ist sie so hoch, wie sie immer war: bei etwa sechs oder sogar sieben Kinder pro Frau. Diese Länder hinken entsprechend auch in allen Aspekten, die mit der Senkung der Kinderzahl in Zusammenhang stehen, hinterher, vor allem was Bildung anbelangt.[101]

Weil sie Zugang zur Bildung hatten, bekommen Frauen weniger Kinder. Weil sie weniger Kinder haben, haben die Eltern mehr Geld, um ihre Kinder zur Schule zu schicken, und je besser die Ausbildung ihrer Töchter ist, desto weniger Kinder bekommen diese. Es handelt sich also um sich gegenseitig verstärkende Trends, um eine »positive Rückkopplung«.

 

Es gibt einen Unterschied zwischen Frauen und Männern, der zwar hier und da zur Sprache kommt, aber selten in seiner ganzen Tragweite diskutiert wird. Männer heiraten sehr oft deutlich jüngere Frauen, Frauen haben geringere Chancen bei viel jüngeren Männern. Mathematisch betrachtet kann das nur bedeuten, dass junge Frauen sehr gefragt sind – von jungen wie von alten Männern gleichermaßen – und ältere Frauen auf dem Heiratsmarkt eine geringere Rolle spielen. Junge Frauen ziehen manchmal einen älteren, wohlhabenderen oder angeseheneren Mann einem gleichaltrigen vor. Ältere Frauen haben viel weniger Auswahl. Aber auch das ist kein Naturgesetz. Verschiebt sich die Einkommens- und Machtverteilung zwischen Männern und Frauen, kann sich die Anziehungskraft mächtiger, reicher und reiferer Frauen auf junge Männer durchaus steigern. In den Vereinigten Staaten gibt es sogar einen Begriff für ältere Frauen, die erotisch aktiv bleiben und sich mit jüngeren Männern einlassen: »cougar«, Puma, ein prächtiges, starkes, aber doch furchterregendes Raubtier. Der Ausdruck spricht Bände über die Fantasien und Ängste, die solche Frauen offensichtlich auslösen, und sagt wenig über die Frauen selbst.

In einer Gesellschaft, in der die Menschen jung heiraten und ein Leben lang zusammenbleiben, sind diese Unterschiede viel weniger signifikant als in einer Kultur, in der man sich häufig scheiden lässt und wieder heiratet, und in der sich folglich auch ältere Männer auf dem Ehe- oder Partnermarkt tummeln. In einer Gesellschaft, in der Männer – vor allem ältere und reichere – mehrere Frauen heiraten können, ist der Alterseffekt noch ausgeprägter. Dort sind es die jungen, armen Männer, die den Kürzeren ziehen und kaum Chancen haben, eine Frau zu finden. In Korea und China nennt man sie »tote Äste« – sie werden nicht mehr aufblühen. Solche unfreiwilligen Junggesellen suchen ihr Heil oft anderswo. Einige versuchen auszuwandern. Andere werden Söldner oder radikalisieren sich und schließen sich extremistischen Milizen wie dem IS an. Auch in den USA machen solche »Singles wider Willen« von sich hören. Auf sie gehe ich im Kapitel über die Mannosphäre näher ein. Ältere Frauen, die unverheiratet geblieben sind, wurden früher oft als »späte Mädchen« oder »alte Jungfern« bezeichnet. Das lässt wenig Gutes über ihre Stellung in der damaligen Gesellschaft erahnen. Heute haben unverheiratete ältere Frauen eine stärkere Position, da die meisten von ihnen berufstätig sind und somit über ein eigenes Einkommen verfügen und auch in ihrem Umfeld respektiert werden.

Frauen wie Männer profitierten im vergangenen Jahrhundert in hohem Maße von den Fortschritten im Gesundheitswesen. Das begann mit der Verbesserung der öffentlichen Hygiene: mit sauberem Wasser, unbelasteten Lebensmitteln, Abwasserentsorgung und Impfungen gegen Infektionskrankheiten. Seitdem hat die Medizin eine enorme Entwicklung durchgemacht.

Ein spezieller Gesundheitsgewinn für Frauen wurde vor allem durch die Innovationen in der Versorgung während der Schwangerschaft und der Geburt erreicht. Der in jüngster Zeit weltweit zu verzeichnende starke Rückgang der Zahl von Kindern, die eine Frau im Laufe ihres Lebens zur Welt bringt, ist ihr auch gesundheitlich zugutegekommen. Aufgrund dieser gesunkenen Fertilität haben Frauen mehr Freiheiten, eigenständig zwischen Familie, Ausbildung und Arbeit zu wählen. Die nach wie vor existierenden gesundheitlichen Risiken der Frauen sind vor allem gesellschaftlicher Art: Sie bestehen im Druck, sehr jung zu heiraten, in Genitalverstümmelung, im Abtreibungsverbot, in der Sabotage von Empfängnisverhütung und der Zensur der sexuellen Aufklärung.

Kurz gesagt, die Gesundheit von Frauen ist heute in erster Linie eine gesellschaftliche und politische Frage.

Bezahlte Arbeit und unbezahltes Arbeiten

Frauen haben immer gearbeitet: Fast zu allen Zeiten und überall auf der Welt leisteten sie Feld- und Hausarbeit. Während sie draußen mit den Männern zusammenarbeiteten, war die Arbeit im Haus Frauensache. Im frühindustriellen Kapitalismus arbeiteten Männer und Frauen Seite an Seite in den Fabriken, meistens für einen Hungerlohn und unter erbärmlichen Bedingungen. Woraufhin die »bürgerliche« Familie, in der es der Frau möglich war, zu Hause zu bleiben und sich um ihre Kinder zu kümmern, idealisiert wurde. Der Mann verdiente den Lebensunterhalt außer Haus. Frauenarbeit wurde häufig mit Armut oder Sittenlosigkeit assoziiert, oft aber auch, damals schon, mit Selbständigkeit und Unabhängigkeit.

Auch hier war es die Ausweitung des Bildungswesens, die dafür sorgte, dass sich die Position vieler Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern begann. Frauen mit einem Berufsabschluss konnten Lehrerin, Krankenschwester, Stenotypistin oder Telefonistin werden. Diese Arbeit war nicht schwer, besser bezahlt und hatte ein gewisses Prestige. Junge Frauen konnten so ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen, allein in »möblierten Zimmern« oder zu »Kost und Logis« wohnen, mit Freundinnen durch die Läden bummeln und in der Stadt ausgehen. Sie bewegten sich freier, ihr Radius wurde größer und sie trafen Unbekannte in Lokalen, Tanzsälen oder Kinos. Sie verliebten sich und hatten Affären, ohne dass die Eltern, der Pastor oder der Pfarrer intervenieren konnten. Ihre Romanzen liefen nicht zwangsläufig auf eine Verlobung und Ehe hinaus. Was ein Jahrhundert zuvor noch großbürgerlichen und adligen Damen vorbehalten war, wurde nun auch ein Bestandteil im Leben junger berufstätiger Frauen. Diese Neuerungen stießen daher in der Bourgeoisie auf strikte Ablehnung, man warnte vor den Gefahren aufreizender Lektüre und Massenamüsement, vor »Negermusik« und Hollywood, vor kurzen Röcken und der grassierenden Tanzmanie. Diese Musik wurde übrigens vor allem von Schwarzen, Juden und »Zigeunern« gemacht, allesamt vermeintlich »gefährliche« – doch in Wirklichkeit bedrohte – Bevölkerungsgruppen. Hören Sie sich doch mal den Charleston-Song »Every step you do, leads to something new …« an.

Diese Jahre relativer Unabhängigkeit im Leben junger Frauen wurden jedoch nur als eine Übergangsphase angesehen. Nach dem üblichen Muster fanden auch diese jungen berufstätigen Frauen nach einiger Zeit einen Verlobten, heirateten, hörten auf zu arbeiten und bekamen Kinder. Frauen, die mit 30 noch unverheiratet waren, hatten sich offensichtlich »keinen Mann angeln« können und damit – oft auch in ihren eigenen Augen – ihre Bestimmung verfehlt. Ihr Leben lang wurden sie als »Fräulein« angesprochen, denn die Anrede »Frau« war verheirateten Frauen vorbehalten. Verheiratete Frauen wiederum waren mitunter gesetzlich verpflichtet, ihre Berufstätigkeit aufzugeben, aber der gesellschaftliche Normierungsdruck drängte sie mindestens ebenso stark dazu. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit warf man berufstätigen Frauen zudem vor, in unfaire Konkurrenz zu den Männern zu treten, die schließlich eine Familie zu ernähren hätten. Man ging ganz selbstverständlich davon aus, dass die Männer und nicht die Frauen die Ernährer waren.

Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs jedoch übernahmen Frauen die Arbeitsstellen der eingezogenen Männer. In dieser Zeit gelang ihnen der Durchbruch in vielen Bereichen, die bis dahin ausschließlich den Männern vorbehalten waren. Immer wieder stellten sie unter Beweis, dass eine Frau diese und jene Arbeit ebenso gut bewerkstelligen konnte wie ein Mann. Schon bald nach Ende des Krieges nahmen die Männer ihre alten Positionen jedoch wieder ein, sie standen ihnen zu, schließlich hatten sie als Soldaten dem Vaterland gedient, und die meisten Frauen kehrten in den Haushalt zurück. Die alten Verhältnisse mussten wiederhergestellt werden.

 

Je mehr Frauen länger die Schule besuchten und eine Ausbildung durchliefen, desto mehr von ihnen gelangten mit besseren Qualifikationen auf den Arbeitsmarkt. In den vergangenen fünf Jahrzehnten ist es den Frauen gelungen, ein Berufsfeld nach dem anderen zu erobern. Was immer wieder für konsternierte Reaktionen sorgte: Frauen sollte es nicht gestattet sein, diese Arbeit auszuführen; Männer seien nicht länger »unter sich«; Frauen würden die gute Atmosphäre stören. Wenn Frauen dann auch noch am Arbeitsplatz Männern gegenüber weisungsbefugt waren, weckte dies noch größeren Unmut. Das sei für Frauen unangemessen und für Männer demütigend. Millionen dieser Mini-Revolutionen haben sich in jüngster Vergangenheit am Arbeitsplatz abgespielt, und fast immer gewöhnte man sich nach einer gewissen Zeit an die neue Situation.

Nach und nach wurden in den allermeisten westlichen Ländern nahezu alle Positionen in der Wirtschaft für Frauen zugänglich. Einige wenige Männerbollwerke konnten sich behaupten, vor allem in Branchen, die traditionell ein hohes Maß an Körperkraft und Belastungsfähigkeit erfordern, wie im Bergbau oder in der Schifffahrt, im Baugewerbe und bei der Feuerwehr. Aber auch in diesen Branchen kommt es heute aufgrund von Mechanisierung und neuen arbeitsrechtlichen Bestimmungen viel weniger auf reine Muskelkraft an. Im Wesentlichen versperrt der Ballast der Tradition den Frauen hier und da noch den Zugang. Sogar Berufe, die mit der Ausübung von Gewalt verbunden sind, in der Armee oder bei der Polizei, stehen in den meisten westlichen Ländern Frauen längst offen. Sogar in den kämpfenden Truppen bei der Marine und der Luftwaffe agieren Frauen in einer ganzen Reihe von Ländern, etwa den USA und Israel, Seite an Seite mit den Männern. Sie müssen bei der Auswahl und Ausbildung die gleichen Anforderungen erfüllen wie männliche Rekruten. Zur Überraschung vieler gelingt das durchaus. Sind die Frauen erst einmal angenommen, erweist sich, dass sie entgegen negativer Prophezeiungen gut in dieser militärischen Männerwelt zurechtkommen.[102]

Es gibt nur ein Amt, das Frauen noch immer entschieden verwehrt wird: das geistliche Amt. Unverkennbar sind Frauen theologisch genauso kompetent wie Männer. Und für seelsorgerische Arbeit mindestens ebenso geeignet. Warum sollten sie weniger gut predigen oder Gottesdienste abhalten können? Offensichtlich handelt es sich hier um reine Diskriminierung, und zwar mit einem besonders einschüchternden Argument: es sei Gottes Wille, eine Vorschrift der Kirchenväter, der Schutzheiligen oder der Religionsstifter. Die geschlechtsspezifische Diskriminierung durch die Kirchen widerspricht dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz, wird jedoch mit der Religionsfreiheit gerechtfertigt.

Liberale Religionsgemeinschaften haben in den letzten Jahren Rabbinerinnen, Pfarrerinnen, Imaminnen und Priesterinnen akzeptiert. Doch die orthodoxen Religionen lehnen die Feminisierung des Amtes nach wie vor strikt ab, allen voran die katholische Kirche. Der vergleichsweise progressive Papst Franziskus schließt – für heute und für alle Zeiten – aus, dass Frauen zu Priesterinnen geweiht werden können: Jesus begab sich in der Gestalt eines Mannes unter die Menschen und wählte zwölf Männer zu seinen Aposteln und keine einzige Frau, nicht einmal seine Mutter Maria. So hat er es offenbar gewollt, und deshalb (wirklich deshalb?) sollten Frauen niemals die Sakramente spenden dürfen.[103] Sie können Diakonissinnen werden und sich der seelsorgerischen Arbeit widmen. »Ist das als Berufung nicht genauso schön, wenn nicht gar noch schöner …« Wo das als Argument nicht reicht, kann man die Ausgrenzung von Frauen auch auf eine der besonders frauenfeindlichen Stellen in der Bibel stützen:

Eine Frau soll sich still und in aller Unterordnung belehren lassen. Dass eine Frau lehrt, erlaube ich nicht, auch nicht, dass sie über ihren Mann herrscht; sie soll sich still verhalten. Denn zuerst wurde Adam erschaffen, danach Eva. Und nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gebot.[104]

Es verträgt sich gut mit den ökumenischen Bemühungen um eine Annäherung der Religionen, dass die Strenggläubigen anderer Glaubensrichtungen genauso darüber denken, ganz gleich ob es sich dabei um Muslime, Evangelisch-Reformierte, orthodoxe Christen, Hindus, Buddhisten oder Juden handelt.

 

Es gibt noch einen weiteren Sektor, in dem die Trennung zwischen den Geschlechtern fast vollständig ist: im Sport, vor allem dort, wo Sport als Arbeit betrieben wird, im Profisport. In den meisten Sportarten spielt der Unterschied in Körperkraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit, Reaktionszeit, Spielverständnis, Motivation und Ausdauer eine entscheidende Rolle. Die meisten Männer sind stärker und schneller als Frauen. Die stärksten und schnellsten Menschen der Welt sind allesamt Männer.[105] Alle anderen Begabungen sind zwischen Männern und Frauen mehr oder weniger gleichmäßig verteilt.

Je mehr Menschen in einem Land eine Sportart betreiben, desto größer sind die Chancen, dass sich aus dieser Menge einige wenige Spitzensportler herausheben, die sich mit den Champions anderer Länder messen können. Wenn also mehr Frauen Sport treiben, sollte es für sie auf Dauer in gleichem Maße möglich sein, das höchste Niveau zu erreichen.

Aus diesen Gründen habe ich irgendwann in den 1980er Jahren gewettet, dass innerhalb von zehn Jahren eine Frau alle Männer in mindestens einer olympischen Disziplin (außer dem Dressurreiten) übertreffen würde. Ich war mir dessen sicher. Zehn Jahre darauf hatte noch keine einzige Frau alle Männer in ihrer Sportart besiegt. Und ich hatte vier Flaschen Champagner und Autorität im Magnumformat verspielt …

 

Selbst in Ländern, in denen Frauen seit langem wahlberechtigt sind und mindestens den gleichen Bildungsstand haben wie Männer, gehen sie seltener einer Lohnerwerbstätigkeit außer Haus nach. Und wenn sie doch außer Haus arbeiten, dann in schlechteren Positionen als Männer mit ähnlichen Qualifikationen. Und wenn sie in denselben Positionen arbeiten, werden sie dafür schlechter bezahlt.

Die Erklärung hierfür muss in zwei Sphären gesucht werden: zu Hause und bei der Arbeit. Wenn Frauen Kinder bekommen, nehmen sie Mutterschaftsurlaub. In einigen Ländern ist dies besser geregelt als in anderen. Für berufstätige Frauen ist damit zumindest eine Unterbrechung ihrer bezahlten außerhäuslichen Tätigkeit verbunden, in der Regel für einige Monate, manchmal auch für ein halbes Jahr und länger. Viele Paare beschließen, dass die junge Mutter von nun an in Teilzeit arbeitet, wenn sie ihre Stellung überhaupt behält. Auch in Gesellschaften, in denen die Emanzipation weit fortgeschritten ist, kommt es viel seltener vor, dass der Vater den Großteil der Kinderbetreuung übernimmt, wobei man sagen muss, dass der Anteil wächst.

Verdient der Mann mehr als seine Frau, ist es ökonomisch betrachtet vernünftig, dass die Frau die Sorge für die Familie übernimmt, da das Familieneinkommen dadurch weniger geschmälert wird als im umgekehrten Falle. Interessanterweise hat aber eine Studie über homosexuelle Paare, bei denen der Geschlechtsunterschied also keine Rolle spielt, nachgewiesen, dass wirtschaftliche Motive bei ihnen keinen signifikanten Ausschlag geben.[106]

In den Jahren, in denen sie sich um ihre kleinen Kinder kümmern, bleiben Frauen häufiger und länger dem Arbeitsmarkt fern als Männer, vielleicht ist das auch ihr Wunsch. Diese Unterbrechung macht sie für Arbeitgeber weniger attraktiv, es sei denn, sie begnügen sich danach mit einem geringeren Gehalt. Was dazu führt, dass sie nach der Babypause weniger verdienen. Auch hier beobachten wir einen sich selbst verstärkenden Effekt, eine positive »Rückkopplung«, wobei es sich hier im Grunde um eine Negativspirale handelt.

Die Entscheidung der Eltern über die Aufgabenverteilung im Haushalt wird im Kontext eines gesellschaftlichen Spannungsfelds getroffen. Eine Vorhut von Feministen und Feministinnen, die sich für eine möglichst gleichmäßige Beteiligung von Frauen und Männern an der Haus- und Familienarbeit einsetzen, stößt nicht unbedingt auf eine Gegenseite, die eine Aufgabenverteilung anstrebt, bei der die Männer außer Haus und die Frauen innerhalb des Hauses arbeiten. Was ihr entgegensteht, ist vielmehr das lautlose, unsichtbare, bleischwere Gegengewicht von Konvention und Tradition. Die ältere Generation der Frauen, der Mütter, Schwieger- und Großmütter, ist oft noch konservativer als die Männer. So, wie sie es gemacht haben, war es doch richtig, oder etwa nicht? Warum muss sich jetzt alles ändern? Wer darin einen missgünstigen Unterton wahrnimmt, hat ein gutes Gespür. Für die meisten Männer ist es immer noch etwas peinlich, mit den Kindern zu Hause zu bleiben und folglich von dem Einkommen abhängig zu sein, das ihre Frau nach Hause bringt. Auch wenn sich das hier und da, und sehr langsam, verändert. Und nicht zuletzt wollen viele Frauen die ersten Jahre möglichst viel Zeit mit ihren Kindern verbringen, mag sich das auf dem Arbeitsmarkt auch nachteilig für sie auswirken. Wenn sie das freiwillig, und nicht auf Druck ihres Umfelds, so möchten, dann ist das ihr gutes Recht.

 

Was sich abzeichnet, ist eine Verschiebung von einem »Befehlshaushalt« zu einem »Verhandlungshaushalt«. In einem Befehlshaushalt stehen die Regeln, die Mann und Frau in der Ehe einzuhalten haben, von vorneherein fest. Diese Regeln basieren schließlich auf dem Gesetz, der Religion sowie auf Moral und Anstand.[107] In einem Verhandlungshaushalt hingegen sind die Regeln nicht mehr so starr, verschiedene Alternativen können besprochen werden, und die Beteiligten müssen gemeinsam eine einvernehmliche Lösung finden. Wenn es um die Aufteilung der Aufgaben innerhalb und außerhalb des Hauses geht, gilt es für den Mann und für die Frau, für die eigenen Vorlieben und Gefühle einzustehen und gleichzeitig die Wünsche und Gefühle des anderen zu berücksichtigen. Sie treten als Botschafter ihres eigenen Gefühlslebens auf. Das ist eine ziemlich schwierige Aufgabe. Dutzende Millionen Paare bemühen sich heute tagein, tagaus, in einem solchen Verhandlungshaushalt eine Einigung darüber zu erzielen, wer die Kinder zur Schule bringt, wer den Müll rausträgt, wer den Abwasch macht und vor allem, wer für welchen Teil der Zeit außer Haus arbeiten geht und wer für diesen Teil den Haushalt macht. Es mag so wirken, als handele es sich hierbei vorrangig um zwei streitende bzw. kompromissbereite Individuen, doch der gesellschaftliche Kontext ist hier wichtig. Die Männer erhalten Rückhalt von den gesellschaftlichen Regularien und Gewohnheiten. Die Frauen sehen sich von den Idealen der Emanzipation bestärkt, die heute weithin akzeptiert sind und energisch vertreten werden – wenn auch mehr mit Worten als mit Taten.

Die Aufteilung der bezahlten Arbeit zwischen den Geschlechtern, die Eingruppierung und Entlohnung der Frauen sind letztendlich das komplexe Ergebnis der Auseinandersetzung und der Verständigung zwischen zahllosen Vätern und Müttern, die mehr oder weniger friedfertig nach einer Lösung für all die Aufgaben suchten, die in und außerhalb des Hauses anstanden. Und ganz langsam, wie Erdplatten, die sich übereinander schieben, verändert sich die Aufgabenverteilung zwischen Mann und Frau. Männer arbeiten etwas mehr im Haus, Frauen etwas mehr außer Haus.

Das ist, wie Ökonomen sagen, die Angebotsseite der Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt. Es gibt aber auch die andere Seite: die Nachfrageseite, die Präferenzen der Arbeitgeber für weibliche oder männliche Arbeitskräfte. Frauen unterbrechen häufiger ihre berufliche Laufbahn für einige Monate, manchmal Jahre, um für ihre Kinder zu sorgen. Manchmal kehren sie gar nicht mehr an ihren alten Arbeitsplatz zurück. Dies macht Frauen als Arbeitskräfte etwas weniger planbar. Nach einer langen Unterbrechung sind sie an ihrem früheren Arbeitsplatz vielleicht weniger einsetzbar, ihre Fähigkeiten sind eingerostet, vielleicht haben sie Innovationen am Arbeitsplatz verpasst. Zudem haben sie mit weniger Arbeitserfahrung auch geringere Chancen, eine höhere Position und eine höhere Gehaltsstufe zu erreichen. Das erklärt einen Großteil der Differenzen, die zwischen Männern und Frauen in Bezug auf ihre Funktion und ihre Entlohnung bestehen. Aus Sicht der Arbeitgeber sind diese Unterschiede rational und folgerichtig, sie beruhen auf einer scheinbar kühlen Kalkulation der Vor- und Nachteile in Bezug auf die Arbeitsleistung.

Doch bei der Auswahl, Beförderung und Vergütung von Männern und Frauen spielen auch noch andere Faktoren eine Rolle, die nicht so einfach zu rationalisieren sind. Es geht hierbei nicht um pragmatische und sachliche Abwägungen, sondern um vorab bestehende Gewissheiten. Der Betriebsleiter, der Personalchef, der Direktor meint zu wissen, dass Frauen emotionaler sind, über weniger Führungsqualitäten verfügen, im Umgang mit Zahlen oder mit Maschinen ungeschickt sind, und dass sie das Betriebsklima beeinträchtigen, weil sie die Männer ablenken.[108]

Woher wissen sie das?

»Das weiß doch jeder

Ein Vorurteil ist eine Meinung, derer man sich sicher ist, einzig und allein auf der Grundlage, weil man sicher weiß, dass alle anderen sich dessen sicher sind. Solche Vorurteile sind mit ein Grund dafür, dass in fast allen Ländern, auch im Westen, die Lohndiskriminierung von Frauen fortbesteht, vielleicht etwas weniger als in der Vergangenheit, vielleicht in einem Land weniger als in einem anderen, konservativeren Land. Aber wie gering der Unterschied auch ausfallen mag, es bleibt doch Diskriminierung.

Auch Frauen, insbesondere solche in Spitzenpositionen, zögern aus Voreingenommenheit oft, eine Frau für eine freie Stelle oder als Nachfolgerin vorzuschlagen.[109]

Die Sturmflut der Frauenemanzipation zerfließt hier am Strande unzähliger kleiner Alltagssorgen zu Hause und zahlloser alltäglicher Vorurteile am Arbeitsplatz. In den westlichen Ländern jedenfalls wird nicht mehr gegen die rechtliche Benachteiligung von Frauen gekämpft. Der Kampf wird jetzt von morgens um neun bis nachmittags um fünf am Arbeitsplatz und von nachmittags um fünf bis morgens um neun in der Familie ausgefochten.

 

Feministische Ökonominnen nehmen mehr in den Blick als nur die bezahlte Arbeit, auf die sich die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen beschränken. Sie analysieren auch unbezahlte Tätigkeiten, vor allem die Hausarbeit. Da sie außerhalb der Geldwirtschaft steht, bleibt sie auch außerhalb des Blickfelds der meisten Ökonominnen. Die Arbeit von Frauen fehlt daher großenteils in den Wirtschaftsstatistiken. Sie wird in die wichtigste Kennziffer, das Bruttonationaleinkommen (BNE), die Summe des Geldwerts aller Waren und Dienstleistungen, die von den Menschen in einem Land während eines Jahres erwirtschaftet wird, nicht miteingerechnet.

Das ist problematisch, denn auch die Arbeit im Haushalt schafft Werte, auch wenn sie nicht entlohnt wird. Für den Mann und die Kinder und oft auch noch für die ältere Generation sorgen, putzen, Wäsche waschen und bügeln, einkaufen, Essen zubereiten – all diese Tätigkeiten befriedigen elementare Bedürfnisse der Haushaltsmitglieder. Seit langem und noch immer wird darüber schwadroniert, ob Hausarbeit nicht tatsächlich eine Freizeitbeschäftigung sei und Hausfrauen daher unproduktiv seien. Wenn eine Haushälterin diese Arbeit gegen Entlohnung verrichtet, ist sie produktiv, denn dann handelt es sich um bezahlte Arbeit. Wenn die Dame des Hauses selbst den Besen schwingt, ist das eine Freizeitbeschäftigung, denn sie verlangt dafür kein Geld. Wenn der Koch für seinen Lohn das Essen zubereitet, ist es Arbeit, und wenn die Hausherrin das Essen umsonst kocht, ist es ihr Privatvergnügen.

Frauen machen doch nichts lieber als Hausarbeit, haben Ökonomen – natürlich männliche – in der Vergangenheit gern ins Feld geführt. Also ist Hausarbeit keine Arbeit, sondern Entspannung. Auch Professorinnen oder Opernsängerinnen haben oft Spaß an ihrer Arbeit (ganz zu schweigen von Buchautoren). Dann wären deren Tätigkeiten also auch nur ein Vergnügen, und »deshalb« keine produktive Arbeit.

Natürlich ist es nicht unwesentlich, ob jemand seine Arbeit mit Vergnügen macht oder nicht, vor allem für diese Person selbst. Aber wenn die Ökonomie beginnt, dies als Maßstab für produktive oder unproduktive Arbeit zu verwenden, ist kein Ende mehr abzusehen. Arbeitszufriedenheit ist sehr schwer messbar. Die Zufriedenheit einer Person ist nicht mit der einer anderen vergleichbar. Die Zufriedenheit kann sich im Laufe des Tages, ja im Laufe einer Stunde verändern. Warum sollte die Tatsache, dass jemand Freude an seiner Arbeit hat, für die Frage, ob es sich um echte Arbeit handelt oder nicht, bedeutsam sein? Wenn Frauen nur widerwillig die Hausarbeit verrichten – und das kann ja mal vorkommen, auch wenn das einigen Ökonominnen und Ökonomen entgangen zu sein scheint –, ist es dann plötzlich doch echte Arbeit? Wenn die Frau des Hauses mal einen schlechten Tag hat, dann sind ihre Verrichtungen Arbeit, sie machen ihr ja keinen Spaß. Wenn sie aber gut gelaunt und singend mit dem Staubtuch ihre Runde macht, dann ist es keine Arbeit?

Sind Sticken, mit den Kindern spielen, Sex haben produktive Arbeit? Mit all diesen Tätigkeiten werden auch Bedürfnisse anderer Menschen befriedigt, auch wenn die Hausfrau dafür nicht entlohnt wird. Und alle diese Tätigkeiten werden von anderen auch gegen Bezahlung verrichtet. Aber sind diese Tätigkeiten Arbeit? Hier läuft sich die Argumentation fest.

 

Würde unbezahlte Hausarbeit in die Berechnung der Gesamtproduktivität mit einbezogen werden, so würde sich das revidierte BNE etwa um die Hälfte erhöhen. So groß ist der Beitrag der Frauen im Haushalt für die Gesamtwirtschaft. Dies zeigt, wie dramatisch der Wert der Arbeit von Frauen in der Gesellschaft geringgeschätzt wird.

Aus ökonomischer Perspektive kann Hausarbeit als ein Beitrag zur Reproduktion der Arbeitskraft verstanden werden, denn sie sorgt dafür, dass der Ernährer oder die Ernährerin der Familie wieder für den nächsten Arbeitstag zu Kräften kommen kann: in einem gemachten Bett, gewaschen und gestriegelt, mit sauberer Kleidung und einem vollen Magen. In gleicher Weise trägt die Betreuung der Kinder als langfristige Investition zur Ausbildung produktiver Erwachsener bei. Auch die Kinderbetreuung ist ein Beitrag zur Reproduktion zukünftiger Arbeitskräfte der Gesellschaft, ebenso wie die Bildung eine langfristige Investition in diese Reproduktion ist.

Die Definition von Arbeit als bezahlte Tätigkeit ist für Ökonom:innen und Statistiker:innen natürlich eine praktische Leitlinie, da andernfalls für viele verschiedene heterogene Tätigkeiten ein Geldwert eingeschätzt werden müsste. Die problematische Folge davon ist jedoch, dass alle nach einer gewissen Zeit vergessen haben, wie das BNE ermittelt wird, und die Hausarbeit, die tägliche Arbeit von Millionen von Frauen, plötzlich als wertlos aus dem Blickfeld verschwunden ist. Es waren Ökonominnen, die darauf aufmerksam gemacht haben. Dieses Beispiel zeigt wieder einmal, wie sich die wissenschaftliche Perspektive verschiebt, wenn Frauen ihre Sichtweise in die Forschung einbringen, wie wir schon bei der Frage der Vergewaltigung in Kriegszeiten gesehen haben.

Rechte Gruppierungen und Strömungen unterstreichen die Bedeutung der Hausfrau für die Familie, die wiederum den Grundpfeiler des gesamten Volkes bildet. Sie betonen die Rolle der Frau als Mutter, die durch das Gebären von Kindern das Fortbestehen der Nation sichert. Viele Frauen fühlen sich dadurch anerkannt, sie sehen den Wert ihrer Arbeit geschätzt und fühlen sich in ihrer Entscheidung für ihre Rolle als Hausfrau und Mutter verstanden. Dies erklärt zu einem nicht geringen Teil die Unterstützung von Frauen für konservative Bewegungen und rechte Parteien. Dass sie damit auch auf die Familie als ausschließliche Domäne der Frau festgelegt werden und somit daran gehindert werden, außerhalb des Hauses eine Karriere zu verfolgen, wiegt für diese Frauen, die sich ja bereits für ein Leben als Hausfrau entschieden haben, offenbar weniger schwer. Feministinnen setzen sich für eine Ausbildung und eine bezahlte berufliche Tätigkeit für jede Frau ein. Konservative Frauen fassen das als eine Degradierung der Hausarbeit und der Mutterschaft auf und betrachten dies als Misstrauensvotum gegen die unverbrüchliche Ehe und das seligmachende Familienleben. Sie empfinden es als eine Kränkung, was viele dieser Frauen gegen den Feminismus einnimmt.

Die Bagatellisierung der Hausarbeit als Hauptbeschäftigung ist für eine Bewegung, die darauf abzielt, dass Männer mehr und häufiger Aufgaben im Haushalt übernehmen – und zwar aus freien Stücken (von Zwangsmaßnahmen hat man schließlich noch nichts gehört) – nicht so klug. Außerdem geht das am Kern der Sache vorbei. Es kommt nicht darauf an, ob Hausarbeit nun befriedigend und lebenserfüllend ist oder nicht, sondern darum, wie diese Arbeit gesamtgesellschaftlich eingebettet ist. Eine Hausfrau ist in einem höheren Maße von ihrem Ehemann, der das Geld verdient, abhängig, als eine Arbeitnehmerin von ihrem Arbeitgeber. Wobei wir alle emotionalen Verbindungen, die ein Paar zusammenhalten oder auseinandertreiben können, einmal außen vor lassen. Es geht um die gesellschaftlichen Optionen, die eine Frau hat, wenn sie ihre Tätigkeit als Hausfrau aufgeben und ohne Ernährer zurechtkommen muss. Und das hängt von ihrer Vorbildung, den Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, der Verfügbarkeit von Tagesmüttern, Kinderkrippen und Kindergärten sowie dem Ehe- und Scheidungsrecht ab.

Gerade feministische Forscherinnen und Forscher haben auf die Bedeutung und den Wert unbezahlter, meist häuslicher Arbeit hingewiesen, die überwiegend von Frauen geleistet wird. Damit ist nicht gesagt, dass Frauen diese Arbeit machen sollten und Männer nicht oder in geringerem Umfang, und auch nicht, dass Frauen mit bezahlter Arbeit produktiver oder glücklicher wären. Es geht vielmehr darum, die gesellschaftlichen Bedingungen und Wertschätzung der Hausarbeit so zu verbessern, dass Frauen und Männer sie freiwillig und mit Freude verrichten können. Und das gilt mit Verlaub ebenso für jede bezahlte Arbeit außer Haus.

Politische Machtbildung

In dieser Welt ist ein Mann selbstsicher, eine Frau aber selbstgefällig, ein Mann durchsetzungsfähig, eine Frau aber aggressiv …[110]

 

 

In weiten Teilen der Welt haben Frauen das gleiche Bildungsniveau erreicht wie Männer. Auch dort, wo sie noch hinterherhinken, schrumpft ihr Rückstand unübersehbar. Die Gesundheitsversorgung von Frauen hat sich ebenfalls erheblich verbessert. Die Chancen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Gehälter bleiben jedoch immer noch hinter denen von Männern zurück, auch wenn in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht worden sind. Auf politischem Terrain jedoch ist allen Reformen zum Trotz der Rückstand von Frauen am größten. Dort geht es um die Umverteilung von Macht.

Im Laufe der Geschichte haben etliche Frauen Machtpositionen eingenommen. Fast immer waren sie die Witwe oder die Tochter eines männlichen Herrschers. Sie hatten diese Macht nicht selbst erwerben können, sondern von einem verstorbenen Ehemann oder Vater geerbt, dessen Macht und Charisma auf sie abstrahlte. Sie blieben »die Frau von …«. Dies gilt auch für die meisten weiblichen Staatsoberhäupter des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere in Asien, etwa für die Premierministerinnen Sirimavo Bandaranaike und Chandrika Kumaratunga in Sri Lanka, Benazir Bhutto in Pakistan, Indira Gandhi in Indien und Khaleda Zia und die derzeitige Premierministerin Sheikh Hasina in Bangladesch, also für alle weiblichen Regierungschefs in diesen vier Ländern. Viele dieser Frauen erwiesen sich, sobald sie eine solche Machtposition erst einmal innehatten, durchaus als fähig, ihre einmal erworbene Macht zu sichern und auszubauen. Sie verstanden es, im eigenen Land die Ordnung aufrechtzuerhalten und Feinde aus dem Ausland abzuwehren oder neue Gebiete zu erobern. Die fähigsten Frauen standen darin den fähigsten männlichen Herrschern in nichts nach.

Diese Frauen galten als extreme Ausnahmeerscheinungen, sie entstammten einem auserwählten Geschlecht, das geboren war, um zu herrschen. Dennoch wurde wiederholt der Beweis erbracht, dass eine Frau regieren kann. Trotzdem fällt es Menschen auch heute immer noch schwer, sich an Frauen in Machtpositionen zu gewöhnen.

Das ganze 20. Jahrhundert hindurch waren die Staatsoberhäupter der Niederlande Frauen: Königinnen. Auch im Vereinigten Königreich (und dem Commonwealth) war das Staatsoberhaupt eine Monarchin: Elizabeth II.

Aber für sie alle gilt: Sie sind nicht aus eigener Kraft, sondern durch Abstammung auf den Thron gelangt. Das Königtum ist das einzige öffentliche Amt in einer modernen Demokratie, das durch Vererbung erworben wird. Der Akzent liegt hier gerade nicht auf der Macht, sondern auf dem Einfluss, den der König oder die Königin ausübt. Die Ehemänner dieser gekrönten Frauen, die Prinzgemahle, durchlaufen oftmals einen schwierigen Parcours: Sie erwiesen sich allzu oft als ehebrecherische Hallodris oder schlichtweg gequälte Existenzen. Für einen Mann ist es offensichtlich nicht einfach, im Schatten einer allseits verehrten und mächtigen Frau zu leben.

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelang es den Frauen, aus eigener Kraft an die Macht zu kommen. Regierungschefinnen wie Golda Meir, Margaret Thatcher oder Angela Merkel standen ihren männlichen Vorgängern in nichts nach. Der Beweis für die Eignung von Frauen zur Ausübung politischer Macht wird also ein ums andere Mal erbracht. Die Frauen, die aus eigener Kraft an die Macht kamen, waren oft verwitwet (Golda Meir) oder verheiratet und kinderlos (Theresa May, Angela Merkel). Margaret Thatcher war während ihrer Amtszeit als Premierministerin verheiratet und Mutter zweier Söhne, aber Mr. Thatcher, ihr Gatte, wurde als Ehemann verspottet, der sich von the Boss auf der Nase herumtanzen ließ. Offenbar weiß die Öffentlichkeit nicht so recht, was sie mit dem männlichen Anhängsel einer Machthaberin anfangen soll; es ist und bleibt unverkennbar schwierig, eine mächtige Frau als Mutter und Ehefrau zu sehen.[111] Eine solche Frau muss geschlechtslos sein.

Der niederländische Anthropologe Anton Blok bezeichnet diesen Reflex als eine Form von »Non-Sexismus«: Wenn es mithilfe des Sexismus nicht gelungen ist, eine Frau von der Macht fernzuhalten, wird sie einfach symbolisch ihrer Weiblichkeit beraubt. Die mächtigen Frauen vermeiden ihrerseits jede Anspielung auf ihre Geschlechtlichkeit. Blok schreibt in seiner Studie über Herrscherinnen im Laufe der Jahrhunderte in aller Welt: »Frauen nehmen als politische Anführerinnen in vielerlei Hinsicht eine Zwischenstellung ein. Sie sind unverkennbar Frauen, aber dort, wo sie Positionen besetzen, die normalerweise Männern vorbehalten sind, sind sie sowohl männlich als auch weiblich, oder auch keines von beiden. Aus sozialer Perspektive sind sie zu Männern geworden und fallen aus jeder Klassifizierung heraus, aber sie tragen auf diese Weise auch zur Aufrechterhaltung asymmetrischer Geschlechterbeziehungen bei.«[112] Wenn es überhaupt einen Mann in ihrem Leben gibt, ist er unsichtbar, untergeordnet, unbedeutend, kurzum: weiblich. Die Rollen werden also beibehalten, in diesem Fall aber ausnahmsweise vertauscht; die Frau an der Macht ist in Wirklichkeit ein »Mann ehrenhalber«.

Im umgekehrten Fall muss die Frau als Gemahlin eines allmächtigen Herrschers für ihre Stellung büßen. Sie wird oft als »böse Hexe« hinter dem Thron gesehen, als Anstifterin zu allem Üblen, was das despotische Regime anrichtet, schreibt Anton Blok.[113] Denn schließlich hat sie, dieses bösartige Weibsbild, ihrem Mann alles eingeflüstert: Nicolae Ceauşescus Frau Elena; Mao Zedongs Frau Jang Qing; Slobodan Miloševićs Frau Mirjana Marković, Enver Hoxhas Frau Nexhmije Hoxha, Juvénal Habyarimanas Frau Agathe Habyarimana. So können die treuen Anhänger des Diktators ihr Idol von all den Verfehlungen, die manchmal einfach nicht zu leugnen sind, freisprechen, indem sie sie der »bösen Königin« zuschreiben.

Dass auch heute noch so wenige Frauen aus eigener Kraft eine politische Machtposition erreichen, erstaunt jedoch. Im Westen sind Frauen in den meisten Ländern seit Beginn des letzten Jahrhunderts, also seit mindestens 100 Jahren, wahlberechtigt. In Finnland erhielten zum ersten Mal im Jahr 1906 alle Frauen das volle Wahlrecht; sie konnten wählen und gewählt werden. In Deutschland geschah das 1918, in den Niederlanden 1919, in den USA 1920, in Großbritannien 1928, in Frankreich 1944; und in Saudi-Arabien erhielten die Frauen 2015 das aktive und passive Wahlrecht, allerdings nur bei den politisch unbedeutenden Kommunalwahlen.

Bildung war auch hierbei die treibende Kraft: Fast überall, wo es Frauen gelang, das Wahlrecht zu erringen, hatte die überwiegende Mehrheit der Frauen mindestens die Grundschule durchlaufen. Die Männer – das liegt auf der Hand – waren ihnen vorausgegangen, nicht nur was die Schulbildung, sondern auch das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, anbetrifft.

Der Kampf für das Frauenwahlrecht wurde vor allem von den Suffragetten in den Vereinigten Staaten und Großbritannien mit großer Hartnäckigkeit und oft heldinnenhaft geführt. Doch als es endlich so weit war, und die Frauen ein Stimmrecht erhielten, änderte sich die Stellung der Frauen in der Gesellschaft nicht über Nacht. Obwohl sie heute genauso viele Stimmen haben wie die Männer, lassen sich die Frauen bei der Wahl nur selten von Frauenbelangen leiten. Es gibt nirgendwo eine Frauenpartei von relevanter Bedeutung, während es in vielen Ländern eine Arbeiterpartei gibt, wie etwa die niederländische Arbeiterpartei oder die Labour Party in Großbritannien. Es gibt alle erdenklichen ethnischen und regionalen Parteien; im niederländischen Parlament sitzen Vertreter einer Partei für ältere Menschen und einer Partei für die Tiere, einer Partei für die Reformierten Christen, zweier Parteien für andere Christen und einer Partei für Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Dies ist eine Folge des Verhältniswahlsystems in den Niederlanden und der niedrigen Sperrklausel, die es Parteien schon bei wenigen Stimmen ermöglicht, Abgeordnete zu stellen. Doch keine einzige Frauenpartei hat jemals einen Sitz in den Niederlanden erobert. Auch in anderen Ländern habe ich keinen einzigen Fall finden können, in dem eine Frauenpartei auch nur einen einzigen Sitz errungen hätte. Dafür habe ich keine Erklärung.

Frauenorganisationen gibt es indes jede Menge. Die meisten von ihnen befassen sich mit spezifischen Themen wie der Liberalisierung der Abtreibungsgesetze, gleichem Lohn für gleiche Arbeit, besserer Kinderbetreuung oder den Rechten und dem Wohlergehen der Frauen in Entwicklungsländern. Es gibt jedoch kaum Frauenverbünde, die in Bezug auf ihre Anhängerschaft und ihren Einfluss mit den Gewerkschaften vergleichbar wären. Frauenorganisationen nehmen nicht an regelmäßigen Konsultationen in offiziellen Räten oder Unternehmensgremien teil. Sie organisieren kaum jemals Streiks oder Massenboykotte.

Frauen haben von Zeit zu Zeit sehr effektive Aktionen unternommen: von Kampagnen für das Wahlrecht bis zum Kampf gegen das Abtreibungsverbot. Oft waren es berühmte Frauen, denen es auf spektakuläre Weise gelang, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu gewinnen. Diese Schlachten wurden in erster Instanz in den Medien ausgetragen. Es gibt jedoch keine einzige ständige Organisation, die mit den Beiträgen von vielen Tausenden oder gar Millionen Mitgliedern Kampagnen finanzieren, Gerichtsverfahren anstrengen oder feministische Kandidatinnen bei Wahlen unterstützen würde. Es gibt für die Belange von Frauen kein Pendant zur niederländischen Vereinigung für Naturdenkmäler (Vereniging voor Natuurmonumenten), auch nicht zum Niederländischen Verkehrsclub (ANWB), zur National Rifle Association (NRA) oder zur National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) in Amerika. Ähnlich verhält es sich auch in anderen Ländern. Folglich gibt es auch keinen permanenten Druck auf die politischen Parteien, frauenfreundliche Positionen durchzusetzen.

Von Anfang an haben Frauen den Kampf vor allem in Form massenhafter, mehr oder weniger spontaner Kampagnen geführt, die unerwartet aufflammten und sich schnell ausweiteten, die überall in Massenmedien und den sozialen Medien Aufmerksamkeit erfuhren, die »viral« gingen und blitzschnell Millionen von Frauen – und Männer – mobilisierten.

Die jüngste massive Aktionswelle richtete sich gegen sexuelle Belästigungen, insbesondere am Arbeitsplatz: #MeToo. Ein Sturm von Anschuldigungen in den Medien und Klagen vor Gericht hat radikale Veränderungen bewirkt. Die spektakuläre Publicity trug dazu bei, den Druck auf männliche Tyrannen und Wüstlinge zu erhöhen. Die Anklägerinnen prangerten die Männer, die Frauen erniedrigten oder belästigten, sich an ihnen vergriffen oder sie sogar vergewaltigten, öffentlich an. Dieses Mal waren es Frauen in Machtpositionen, die dazu beitrugen, den Erfolg zu erzwingen. Viele und immer mehr Frauen sind heute berufstätig und verdienen genug Geld, um die Aktionen großzügig zu unterstützen. Die #MeToo-Kampagne konzentrierte sich auf die Frauen, die als Opfer und Anklägerinnen an die Öffentlichkeit traten, doch erfolgreich wurde sie durch einflussreiche Frauen, die die Kampagne in ihrem täglichen Arbeitsumfeld entscheidend förderten.

 

Längst nicht alle Frauen unterstützen derartige Aktionen. Es gibt sogar eine Menge Frauenorganisationen, die sich den Frauenrechten entgegenstellen. Sie gehören oft einer Glaubensgemeinschaft an und sprechen sich aus einer religiösen Haltung heraus gegen Abtreibung, Empfängnisverhütung oder Ehescheidungen aus. Sie glauben, dass sie damit die Familie verteidigen und sich so gerade für die Frauen einsetzen, die sich schließlich am besten in dem sicheren Gehege des traditionellen Haushalts entfalten können. Seit jeher haben sich viele konservativ und religiös geprägte Frauen gegen die Emanzipation der Frau gewehrt. Diese Frauen kämpften gegen Alkoholmissbrauch, erzwungene oder freiwillige Prostitution, Pornografie und jegliche Form von Sittenlosigkeit. Sie versuchten auch, der Verarmung entgegenzuwirken und verarmte Familien mit karitativen Initiativen beizustehen.

In dieser Hinsicht hat die Frauenbewegung einige Gemeinsamkeiten mit der Arbeiterbewegung. Die Arbeiter waren jedoch besser organisiert, weil sie sich in den Betrieben versammelten. Frauen arbeiteten meist im Haus, deutlich isolierter und damit für Aktivistinnen schwerer zu erreichen. Aber auch die konservativen und religiösen Arbeiter wollten Arbeit und Kapital nicht als Gegensatz betrachten und den Lohnkampf nicht mit harten Mitteln wie Streiks, Aussperrungen, geschweige denn Betriebsbesetzungen ausfechten. Sie respektierten das persönliche Band zwischen den Arbeitern und ihren Vorgesetzten. Sie suchten nach Formen des regelmäßigen Austauschs zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Wie diese Arbeiter wollten konservative und religiöse Frauen den Frieden zwischen Männern und Frauen innerhalb der Familie wahren und setzten auf Harmonie statt auf Kampf.

Die amerikanische Historikerin Ann Douglas beschreibt, wie Frauen in den Vereinigten Staaten bereits im 19. Jahrhundert an Einfluss gewannen, weil sie öfter und länger zur Schule gingen.[114] Diese Schuldbildung war allerdings nicht unbedingt darauf ausgerichtet, Mädchen auf eine Karriere in der Wirtschaft oder gar in der Politik vorzubereiten. Sie sollte sie vielmehr auf ihre Aufgabe als Hausfrau und Gastgeberin in einem gepflegten Haushalt auf dem Niveau der Arbeiterklasse und des Mittelstands vorbereiten. Auf diese Weise sei die amerikanische Kultur feminisiert worden, schreibt Douglas. In Büchern und Zeitschriften florierte die Frauenliteratur. Gefühlen, Romantik, der Schönheit der Natur und pietistischen religiösen Erfahrungen wurde mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Unterstützung fanden die Frauen beim Klerus. Diese Bewegung war nicht radikal, sondern konservativ, sie hielt sich aus dem Kampf um das Frauenwahlrecht heraus, lehnte die sexuelle Befreiung der Frau ab und zeichnete sich auch sonst durch Prüderie aus. Auch heute noch, anderthalb Jahrhunderte später, lässt sich diese Haltung in den politischen Präferenzen sehr vieler Frauen – und Männer – in den USA beobachten, und nicht nur dort. Auch heute wird in der feministischen Bewegung diskutiert, ob lockere sexuelle Sitten wirklich frauenfreundlich sind oder nicht doch vor allem Männern zugutekommen.

Das Dilemma zwischen dem Bestreben, einerseits das Los der Frauen zu Hause zu verbessern und anderseits die Emanzipation der Frauen außerhalb des Hauses voranzutreiben, spaltete die Frauenbewegung fast überall auf der Welt. Erst in jüngster Zeit ist dieser Widerspruch von den Ereignissen weitgehend überholt worden. Immer mehr Frauen – und Männer – verbinden die Fürsorge für die Familie mit einer bezahlten Berufstätigkeit. Das bringt für alle persönliche und praktische Belastungen mit sich. Die heutige Frauenbewegung fordert, dass sich Männer stärker in der Familie engagieren, und sie versucht, Hindernisse durch eine bessere Infrastruktur für berufstätige Eltern aus dem Weg zu räumen.

 

Obwohl Frauen in den meisten westlichen Ländern schon seit einem Jahrhundert das volle Wahlrecht haben, und außerhalb des Westens in vielen Ländern schon seit einem halben Jahrhundert, haben Frauen in der Politik immer noch weit weniger zu sagen als Männer. Offensichtlich stimmen Frauen nicht zwingend für weibliche Kandidaten. Aber Frauen sind ja nicht nur Frauen. Sie haben einen ethnischen und einen regionalen Hintergrund, haben ein niedriges oder hohes Bildungsniveau, ein hohes oder niedriges Einkommen und so fort. Kurz gesagt, Frauen, und Männer haben nicht nur eine einzige Identität, sondern eine, die sich aus mehreren, manchmal widersprüchlichen Sektionen wie Klasse, Ethnie, Hautfarbe, Region, Generation usw. zusammensetzt: sie ist »intersektional«.[115] Das erklärt, warum Frauen häufig ihre Wahlentscheidung zugunsten anderer als der geschlechtlichen Loyalitäten treffen. Und es erklärt zum Teil, warum Männer immer und fast überall in der Mehrheit waren, in den Gemeinderäten, in den Organen der Länder, im Parlament und in der Regierung. Doch das beginnt sich in letzter Zeit zu ändern.

In weniger als einem Vierteljahrhundert, zwischen 1995 und 2018, hat sich die Zahl der Frauen in den Parlamenten in fünf von sechs Kontinenten mehr als verdoppelt.[116] Trotzdem stellen Frauen immer noch weniger als ein Viertel aller Parlamentsabgeordneten. Natürlich variiert dieses Verhältnis von Land zu Land stark. So stehen in der Rangliste der Interparlamentarischen Union nun einmal nicht die westlichen Länder an der Spitze, sondern Ruanda (61,3 Prozent), Kuba (53,4 Prozent) und Nicaragua (51,7 Prozent), die allesamt keine Musterdemokratien sind. Von den westlichen Ländern liegt nur Schweden (46,4 Prozent) unter den ersten zehn. Frankreich hatte zwischenzeitlich stark aufgeholt, ist aber wieder zurückgefallen und liegt mit einem Anteil von 37,3 Prozent mittlerweile auf dem 36. Platz. Deutschland nimmt mit 34,9 Prozent den 44. Platz ein. Die Niederlande liegen mit 40,7 Prozent der Parlamentssitze, die von Frauen besetzt sind, an 25. Stelle. China liegt mit 24,9 Prozent auf Platz 96, die Vereinigten Staaten mit 28,4 Prozent Frauen im Repräsentantenhaus und 24 Prozent im Senat auf Platz 73.[117] Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Valerie Hudson weist darauf hin, dass viele Volksvertreterinnen in Wirklichkeit Marionetten mächtiger Männer sind. Das gilt allerdings auch für viele männliche Abgeordnete.[118]

Ministerposten gehören zu den wichtigsten Machtpositionen im Staatssystem. Auch hier sind Frauen fast überall in der Minderheit. Nur in fünf von 178 Ländern sind die Kabinette überwiegend mit Frauen besetzt. In 23 Ländern haben Frauen mindestens ein Drittel der Ressorts inne. In 13 Ländern besteht das Kabinett ausschließlich aus Männern. In 17 von 192 Ländern war 2017 eine Frau Staatsoberhaupt oder Regierungschefin.

All diese Zahlen lassen sich am besten in wenigen Worten zusammenfassen: Obwohl sie schon seit Generationen das Wahlrecht haben, sind Frauen in den Hochburgen der politischen Macht fast überall noch immer weit in der Minderheit. Ihre Position wurde im letzten Vierteljahrhundert in nahezu allen Ländern stärker, aber in den letzten Jahren stagnierte der Aufstieg der Frauen in den politischen Institutionen weltweit.

Darüber, warum das immer noch so mühsam vorangeht, haben Feministinnen sehr viel geschrieben: Männer haben sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, oft auf subtile, geradezu hinterhältige Weise. Sie suggerieren sehr wirkungsvoll, dass Frauen für Machtpositionen ungeeignet sind. Wo Frauen trotz allem einmal eine Machtposition errungen haben, wird ihnen schnell nachgesagt, dass sie »zu hart« seien (die »Eiserne Lady«), dass sie sich übernehmen und ihrer weiblichen Natur Gewalt antun müssen, um in der harten Welt der Politik zu bestehen. Behaupten sie sich dennoch, sind sie keine »echten« Frauen, sondern »Dragoner«, »Mannweiber« oder »Furien« (alles Begriffe, mit denen eine Frau, die energisch für ihre Ideen und ihre Gefolgschaft eintritt, ins Abseits gestellt werden soll). Und jene, die in der politischen Arena »ihren Mann stehen« und es schaffen, ihre männlichen Kontrahenten auszuschalten, werden über kurz oder lang als »Schlampe«, »Luder« oder »Miststück« beschimpft.

Auf der anderen Seite der Welt, in Simbabwe, verwendeten männliche Präsidentschaftskandidaten genau solche Schimpfworte, um ihre weiblichen Konkurrentinnen ins Abseits zu stellen: Eine Frau, die eine öffentliche Rolle beansprucht, muss doch eine Hure sein. Damit wurden diese Frauen zur Zielscheibe von Drohungen und Angriffen.[119] Im amerikanischen Wahlkampf zwischen Hillary Clinton (auch »eine Frau von …«) und dem Kraftmeier Donald Trump (»grab ’em by the pussy«) ging es ebenfalls um die Frage, ob eine Frau Präsidentin der Vereinigten Staaten werden könne oder nicht. Trump attackierte sie mit dem Slogan »lock her up« (sperrt sie ein) und seine Anhänger beschimpften sie als Nutte. Der amerikanische Journalist Peter Beinart hat schon während des Wahlkampfes darauf hingewiesen, wie tief und weit verbreitet der Frauenhass war und wie massiv er sich gegen Hillary Clinton richtete.[120] Zuvor war entgegen allen Erwartungen mit Barack Obama ein Schwarzer zum Präsidenten gewählt und sogar wiedergewählt worden. Auch das musste von Trump und seiner Gefolgschaft gerächt werden.

Es läuft darauf hinaus, dass das politische Talent einer Frau gegen sie verwendet wird, es dient als Beweis, dass sie keine »echte« Frau ist. Ein einfaches Experiment hat dafür einen eleganten Beleg geliefert.[121] Wissenschaftler erstellten erfundene, aber ähnliche Personenbeschreibungen einer Senatorin und eines Senators im Parlament eines amerikanischen Bundesstaates. Die Senatorin nannten sie Ann Burr, den Senator John Burr. Sie legten einigen Testpersonen den Lebenslauf von Ann und anderen den von John Burr vor. Die erfundenen Beurteilungen für die beiden waren in etwa gleich. Beide seien »ehrgeizig« und von einem »starken Machtwillen« erfüllt. Das machte John bei den Testpersonen beliebt. Ann gegenüber führten diese Eigenschaften zu moralischer Entrüstung; sie erfuhr sowohl von den Männern als auch den Frauen eine geringere Wertschätzung.

Eine beträchtliche Anzahl von Frauen beteiligen sich an dieser Disqualifizierung erfolgreicher Frauen in Politik und Wirtschaft. Frauen dürfen in dieser Männerwelt nicht erfolgreich sein, denn damit zeigen sie, dass sie als Hausfrau, Mutter und Liebhaberin nichts taugen. Vielleicht wecken diese erfolgreichen Frauen manchmal auch Missgunst bei Frauen, die es nicht so weit gebracht haben.

Frauen in der Politik befinden sich also in einer Zwickmühle: Um in der Politik erfolgreich zu sein, muss eine Frau gewiefter sein als die Männer. Doch je besser sie darin ist, desto mehr wird sie dafür gehasst. Peter Beinart führt das Beispiel von Nancy Pelosi an, die seit 2003 die Fraktionsvorsitzende der Demokraten im US-Repräsentantenhaus war.[122] Sie war zweifellos eine der tatkräftigsten und effektivsten Speaker. Und doch war sie auch die meistgehasste Person, sowohl in ihrer eigenen Fraktion als auch, und vor allem, bei den Republikanern, die sie als machtgieriges Monster darstellten, das seine männlichen Parteikollegen wie Marionetten manipulierte: She is in control. Was nicht als Kompliment gemeint war, sondern als vernichtende Kritik an der Frau. Ein Vorwurf war gar nicht nötig.

In den Niederlanden ist in mehr als zwei Jahrhunderten noch nie eine Frau Ministerpräsidentin geworden. Wären Frauen wie Klompé, Borst, d’Ancona, Halsema, Smit-Kroes wirklich so viel weniger geeignet gewesen als Männer wie De Geer, De Jong, De Quay – allesamt mittelmäßige Figuren, die es gleichwohl bis zum Premierminister gebracht haben. Wir wissen es nicht, denn keine dieser Frauen hatte je die Chance zu zeigen, was sie kann oder nicht. Diese Premiere steht noch aus.

Sie wird kommen, das ist sicher. Es wird nicht mehr lange dauern, nicht in den Niederlanden, nicht im Westen und auch nicht im größten Teil der außerwestlichen Welt. Frauen verfügen in den meisten Ländern seit langem über das Wahlrecht, in Sachen Bildung haben sie die Männer überholt, die meisten von ihnen arbeiten außer Haus und verdienen nicht viel weniger als die Männer. Die allermeisten von ihnen verfügen über die Bildung und das Einkommen, um sich als vollwertige Bürgerinnen in der Gesellschaft zu behaupten. Frauen sind daher auch in Unternehmen und politischen Institutionen allgegenwärtig. Es ist für sie aber immer noch mühsam, zu Machtpositionen in Wirtschaft und Politik vorzudringen. Allzu oft stoßen Frauen dabei noch auf ungreifbare Widerstände. Diese Widerstände müssen notwendigerweise ungreifbar sein, lassen sich doch keine vernünftigen Argumente mehr finden, die offen ausgesprochen noch standhalten könnten. Der Widerstand gegen den Aufstieg von Frauen in Politik und Wirtschaft verläuft daher zwangsläufig still, klammheimlich und intrigant. Das ist seine Schwäche. Daher wird der Vormarsch der Frauen sich weiter fortsetzen.

Der Rückstoß: Ressentiments unter Männern

Nennt mir den Dichter, der dieses verletzendste aller menschlichen Gefühle besungen hätte, den Schnitt, der nie verheilt – die Erniedrigung des Mannes! Das eigentliche Gefühl aber, die Erniedrigung, ist unaussprechlich.[123]

 

 

Wie wir zuvor gesehen haben, haben die Männer im letzten Jahrhundert den Frauen immer wieder Platz einräumen müssen. Dies taten sie nicht aus eigenem Antrieb und nicht ohne Hadern. Es begann schon, als in der Grundschule Mädchen aufgenommen wurden und Seite an Seite mit Jungen im Klassenzimmer saßen. Zum ersten Mal wurden Jungen und Mädchen nach den gleichen Maßstäben gemessen, und es stellte sich heraus, dass die Mädchen den Jungen keineswegs unterlegen waren. Ein Schulabschluss war der entscheidende Wegbereiter, um später eine gute Anstellung zu bekommen, und auch, um einen geeigneten Partner zu finden.

Überall ist die Männerwelt in ihrem Umfang geschrumpft und in ihrem Ansehen gesunken. Es gab eine Zeit, in der die Männer bei der Arbeit unter sich waren. Sie verrichteten Arbeiten, die Körperkraft, handwerkliches Geschick, Kenntnis und Erfahrung erforderten. Eine Frau kam dafür nicht in Betracht. Mit dem verdienten Lohn konnten sie ihre Familien ernähren. Nach getaner Arbeit gingen sie häufig gemeinsam in die Kneipe, und auch dort war keine Frau zu sehen, zumindest keine respektable. Die anständigen Frauen kümmerten sich zu Hause um Kinder und Haushalt.

Viel von dieser Männerarbeit ist verschwunden, wurde mechanisiert und automatisiert. Die verbliebenen Männerberufe stehen mittlerweile nahezu alle Frauen offen. Die Männer müssen sich an die Anwesenheit von Frauen gewöhnen und sich manchmal sogar einer Chefin unterordnen.

Für einen Mann wurde es schwieriger, über seine Frau die Oberhand zu behalten, als sie in der Ehe finanziell nicht länger von ihm abhängig war, als sie Vermögen erben und selbständig Verträge abschließen konnte, als häusliche Gewalt nicht mehr akzeptiert und sogar strafbar wurde, als die Frau entscheiden konnte, ob sie Sex haben wollte oder nicht, ob sie eine Schwangerschaft vermeiden oder sogar abbrechen wollte, und ob sie sich scheiden lassen wollte. Im Westen sind das inzwischen alles Errungenschaften, die selbstverständlich erscheinen. Aber sie mussten Stück für Stück gegen den zähen Widerstand der von den Kirchen und den konservativen Parteien unterstützten Männer erkämpft werden. In der außerwestlichen Welt wird mancherorts noch immer darum gerungen.

Frauen gelang es auch, politische Machtpositionen zu erobern. Nicht mehr nur als Nachfolgerin eines mächtigen Vaters oder Ehemannes, sondern aus eigener Kraft. Die Männer mussten sich also von den Frauen regieren lassen. Auch das war für viele Männer, gelinde gesagt, gewöhnungsbedürftig.

Frauen mit Macht, Frauen in Führungspositionen, wecken immer noch Ängste und Antipathien, nicht nur bei vielen Männern, sondern durchaus auch bei vielen Frauen. Dafür gibt es im Allgemeinen keine guten Gründe: Frauen in Führungspositionen schneiden weder sichtbar besser noch merklich schlechter ab als Männer. Sie sind als Führungskräfte so unterschiedlich wie männliche Führungskräfte. Doch der Widerstand gegen Frauen in Machtpositionen entzündet sich oft an dem einen Merkmal, von dem man nicht sagen kann, welchen Unterschied es eigentlich ausmacht: an ihrem Geschlecht. Dieser Widerstand ist daher auch oft unverhohlen sexueller Natur. Sie ist dann eine »Hündin«, kein menschliches Wesen, sondern eine läufige Hündin. Sie läuft frei herum, also »sperrt sie ein!«. Sie ist eine Hure, eine Frau, die es mit allen Männern treibt. Sie muss unbedingt gezähmt werden, und zwar von einem Mann.

»Da muss mal ein Schwanz rein!«, war ein Schlachtruf, den man gegen weibliche Widersacherinnen einsetzte,[124] wobei das vielsagende Wort in dieser Parole gar nicht »Schwanz« ist, sondern »muss«: die Penetration als Strafmaßnahme und der Penis als das Gerät, das hinein muss. Denken Sie an die Doppelbedeutung von »Rute«: Geißel und Penis. Eine Frau an der Macht ist eine Frau, die aus den Konventionen ausgebrochen ist. Damit wird sie zu einer unkalkulierbaren Gefahr. Sie muss zurück in ihren Verschlag, zurück auf ihren Rücken, unter den Mann. So ungefähr lässt sich die Hassfantasie über Frauen an der Macht in Worte fassen. Selten werden diese Gefühle so zum Ausdruck gebracht, aber sie liegen oft als unausgesprochener Bodensatz dem Widerstand gegen Frauen in leitenden Funktionen zugrunde.

 

Der Vormarsch junger Frauen an den Universitäten hat allmählich zu einer Feminisierung vieler akademischer Berufe geführt. In diesen Funktionen können Frauen Macht ausüben und weitreichende Beschlüsse fassen. In der Anwaltschaft und Rechtsprechung, in der Sozialarbeit, im Gesundheitswesen und in der Psychotherapie sind Frauen heute oft schon in der Mehrheit, und das nicht nur in den westlichen Ländern. Männer, insbesondere Jungen und junge Männer, sehen sich zum ersten Mal mit Frauen in »Dienstleistungsberufen« konfrontiert. Dieser Begriff klingt bescheidener, als er es in der Wirklichkeit ist.

Kinder, die in männerdominierten Familien aufgewachsen sind, in denen die Söhne den Töchtern gegenüber noch immer bevorzugt werden, sehen sich außerhalb des Hauses plötzlich mit ganz anderen Verhältnissen konfrontiert: Hier gelten für Jungen die gleichen Regeln wie für Mädchen. Der Vater daheim predigt weiterhin den patriarchalischen Unterschied. Die Mutter hat allenfalls einen Volksschulabschluss. Außerhalb der Familie jedoch werden die Kinder mit Frauen in Führungspositionen konfrontiert. In der Schule stehen überwiegend Frauen vor der Klasse. Der schulpädagogische Dienst, die Sozialarbeit, der Gemeindegesundheitsdienst, die Jugendhilfe, das Jugenddezernat, die hausärztliche Versorgung, die psychologische und juristische Beratung, das Jugendgericht und die Bewährungshilfe – all diese Funktionen sind heute überwiegend von Frauen besetzt. Sie sind in ihrer Ausbildung zudem nahezu selbstverständlich mit den Wassern des Feminismus gewaschen worden und haben die Ideale der Frauenemanzipation in sich aufgesogen.

In diesem weitgehend weiblich geprägten Sozialstaat müssen sich Jungen und Männer aus einem Migrantenmilieu oder mit einem konservativen familiären Hintergrund gegen Mädchen und Frauen behaupten, die zunehmend gleiche Chancen einfordern und erhalten. Die Ursache dafür liegt in der schulischen Bildung. Wenn es den Vätern immerhin gelingt, nicht handgreiflich zu werden, greifen sie in Ermangelung anderer Machtmittel auf die Bibel oder den Koran zurück. Daran ist nichts Christliches oder Islamisches. Der »Clash der Kulturen« ist im Wesentlichen ein Kampf zwischen den Geschlechtern. Als Schüler, Klienten, hilfesuchende Patienten, Tatverdächtige oder Inhaftierte sind diese Jungen und jungen Männer von dienstleistenden Institutionen abhängig. Sie müssen sich nach den Empfehlungen und Urteilen der Frauen richten, die dort das Sagen haben. Von Männern wird nicht nur erwartet, sich an diese Entwicklung anzupassen. Der neuen Moral zufolge sollen sie sich zudem auch noch selbst für die Emanzipation der Frauen einsetzen.

Ich gehe hierauf so ausführlich ein, weil ich zeigen möchte, dass westliche Männer im Kampf der Geschlechter viel eingebüßt haben. Über diesen Verlust dürfen sie sich nicht einmal beklagen, sondern sollen sich über die neuen, freieren Geschlechterverhältnisse auch noch erfreut zeigen. Dabei geht es nicht einmal so sehr um einen relativen Einkommensverlust oder eine Einschränkung von Rechten. Worum es vor allem geht, ist die Verletzung des männlichen Ehrgefühls. Die männliche Ehre basiert auf einer festen Ordnung: Die Frau gehorcht dem Mann, und er beschützt sie. Dieses Gerüst als Heuchelei und Maskerade abzutun, greift zu kurz. Jahrtausendelang funktionierten Familie, Gemeinschaft und Gesellschaft nach diesem Grundprinzip. Alle großen Religionen verkündeten es als höchstes Ideal. Männer und Frauen kannten es nicht anders und glaubten fest daran. Und sehr viele Menschen, Männer wie Frauen, tun das noch immer, schließlich handelte sich dabei um kein unverbindliches Prinzip. Es verlangte beiden Geschlechtern eine Menge ab. Die Männer arbeiteten hart, um ihre Familien zu ernähren, und sie mussten im Ernstfall für das Vaterland in den Krieg ziehen.

Jegliches Untergraben dieser Geschlechterordnung führte zum Ehrverlust für den Mann (und für die Frau oft zu Verwirrung). Heute, da seit einigen Jahrzehnten die männliche Vorherrschaft vom Aufstieg der Frauen unterminiert wird, könnte man die Männer als »absteigende« Elite bezeichnen.

Der deutsch-britische Soziologe Norbert Elias schrieb im Kontext der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg:

Mit einem drohenden Machtverlust […] verbindet sich für die Angehörigen herrschender Formationen durchweg eine ernste Störung ihres Selbstbildes und oft genug eine völlige Zerstörung dessen, was ihrem Leben in den eigenen Augen Sinn und Wert verleiht; es droht ihnen damit zugleich ein Verlust ihrer Identität. – Ein Selbstverlust.[125]

Was Elias hier beschreibt, kann als soziologische Gesetzmäßigkeit betrachtet werden, die sich auch auf das männliche Geschlecht, das auf allen Ebenen im Verhältnis zum weiblichen Geschlecht einen Abstieg erleidet, anwenden lässt. Männer, die einen solchen Statusverlust erleben, sind daher Frauen gegenüber oft rachsüchtig und feindselig eingestellt, zumindest gegenüber jenen Frauen, die ihrer Meinung nach für die relative Verschlechterung ihrer Position mit verantwortlich sind. Das sind natürlich in erster Linie die Feministinnen, aber auch Akademikerinnen, Unternehmerinnen, Politikerinnen und all die anderen Frauen, die aus Sicht dieser Männer auf sie herabschauen.

Für Männer, die zur gesellschaftlichen Oberschicht gehören, hochgebildet sind, viel verdienen, hohes Ansehen genießen, eine Machtposition innehaben, zu den besseren Kreisen gehören, ist der relative Aufstieg der Frauen etwas leichter zu verdauen: Diese Männer betrachten sich schließlich weiterhin vielen anderen Menschen gegenüber als überlegen. Sie suchen nach einer ebenso privilegierten Partnerin, mit der sie auf Augenhöhe verkehren können, die sie versteht. Mit einer solchermaßen gebildeten Ehefrau erhöht sich auch das Familieneinkommen und das soziale Prestige des Paares. Eine solche Frau fordert allerdings sehr wahrscheinlich auch gleiche Rechte, die ihr der Mann wohl zugestehen muss. Abgesehen davon ist für privilegierte Männer auf anderem Gebiet noch ausreichend Ehre zu gewinnen.

Männer, die einer niedrigeren sozialen Schicht angehören, beziehen ihren Stolz in erster Linie aus ihrer Rolle als Ernährer, der genug verdient, damit ihre Frau nicht arbeiten muss. Sie werden sich mit aller Kraft an die Ordnung der traditionellen Familienverhältnisse klammern: machen diese doch gerade den kleinen Unterschied aus, der sie von der Schicht unter ihnen abhebt, in der die Männer nicht genug verdienen, um die Familie zu ernähren. Dort muss die Frau arbeiten, was jene Männer weniger respektabel macht.

Die Männer am unteren Ende der sozialen Leiter haben nur die Frauen (beziehungsweise ihre eigene Frau), um sich überlegen fühlen zu können. Für sie ist es existenziell, die Vorherrschaft der Männer über die Frauen aufrechtzuerhalten. Bei wem könnten sie sonst den Boss spielen, wenn nicht bei ihrer Frau und ihren Kindern? Deshalb geht der stärkste Widerstand gegen die Frauenemanzipation oft von denjenigen aus, die nur geringe Chancen in der Gesellschaft haben. Die amerikanischen Politikwissenschaftler Noam Gidron und Peter A. Hall charakterisieren die Anhänger der radikalen Rechten in den USA als weiße Wähler, die außerhalb der Großstädte leben und als Werktätige und Angestellte in Dienstleistungsberufen oder auf den unteren Verwaltungsebenen mit einem durchschnittlichen Einkommen auskommen müssen. Diese Menschen betrachten sich selbst als Teil der ethnokulturellen Mehrheit, und sie fühlen sich in ihrem sozialen Status angegriffen. Das macht sie anfällig für einen starken, emotionalen und moralischen, aber keineswegs irrationalen politischen Appell an ihre tief liegenden Ressentiments gegenüber professionellen Eliten und Minderheiten. Diese Männer sind häufiger als andere der Meinung, dass ihr Status durch den sozialen Aufstieg der Frauen gelitten hat, was ihre Ressentiments noch weiter verstärkt.[126]

 

Der Verlust an Status und Ehre ist beschämend, erniedrigend und demütigend. Er schmerzt, glüht, brennt und sticht. Es ist schwierig zu erkennen, dass man sich in seinem Ehrgefühl verletzt fühlt und darunter leidet. Denn mit der Erkenntnis müsste man bereits eingestehen, dass man zur Seite der Verlierer gehört. Stattdessen kommen Unmut, Groll, Ressentiment auf, das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Schließlich folgt die Wut: der Furor über dieses große Unrecht, das dem Mann angetan wurde.

Der letzte Teil dieses Buches widmet sich ganz jenen Bewegungen, die von diesem Ressentiment und der Rachsucht getragen werden, vom männlichen Furor über die Demütigung, die ihnen die Emanzipation der Frau zufügt.