Der Krieg der Dschihadisten und Rechten gegen die Frauen

In kühlen Zeiten analysieren wir sie,

und in heißen Zeiten beherrschen sie uns.[127]

 

 

In den ersten Jahren dieses Jahrtausends veröffentlichten zwei verschiedene Autoren aufsehenerregende politische Traktate, in denen sie jeweils zum Massenmord im Dienst der Weltrevolution aufriefen. Der eine rief in jedem zweiten Satz Allah (»gepriesen und erhaben ist er«) und den Propheten Mohammed (»Friede sei mit ihm«) an. Er strebte danach, so viele Ungläubige, Halbgläubige und Andersdenkende wie möglich zu ermorden. Der andere war mindestens genauso fanatisch, aber kaum gläubig. Und trotzdem wollte er das Christentum bewahren, weil er glaubte, dass es eines Tages noch einmal von Nutzen sein könnte. Von dem einen wissen wir nicht, ob er jemals eigenhändig gemordet hat oder ob er nur sehr effektiv dazu aufgehetzt hat, Zehntausende Menschen abzuschlachten. Von dem anderen ist bekannt, dass er das blutige Handwerk selbst verrichtet hat. Er hat an einem Tag eigenhändig 77 Menschen umgebracht.

Der erste ist im Westen nur wenigen bekannt: Abu Bakr Naji, intellektueller Inspirator der mörderischen Praktiken der Al-Qaida und des Islamischen Staates (IS)[128] sowie mutmaßlicher Autor des Buches The Management of Savagery, was übersetzt so viel heißt wie »Die Verwaltung der Barbarei«. Das Buch erschien 2004 im Internet und ist seither eine vielgelesene Kampfbibel für Fanatiker, die sich für den Dschihad, den gewalttätigen Religionskampf, zunächst bei Al-Qaida und später beim IS und seinen zahlreichen Ablegern einsetzen. Höchstwahrscheinlich ist Naji 2008 bei einem amerikanischen Bombenangriff in Nordwasiristan umgekommen.

Der zweite, der vielfache Mörder, ist Anders Breivik, der für seine Tat kurzzeitig auf der ganzen Welt bekannt wurde, heute aber außerhalb rechtsextremer Kreise schon wieder fast vergessen ist. Er begann mit dem Schreiben seines Traktats im Jahr 2006, 2010 veröffentlichte er es im Internet: 2083. A European Declaration of Independence (Eine europäische Unabhängigkeitserklärung). Am 22. Juli 2011 ließ er seinen Worten mit einem Bombenanschlag in Oslo und einem Massaker an jungen Sozialdemokraten auf der Insel Utøya Taten folgen.[129] Erst durch dieses Massaker und den anschließenden Prozess erlangte seine Abhandlung Bekanntheit. Seitdem ist er das Idol Tausender Rechtsextremer, die im Internet ihr Unwesen treiben, und ein Vorbild für eine Handvoll Do-it-yourself-Terroristen. Seit 2012 verbüßt Breivik eine 21-jährige Haftstrafe, an die sich möglicherweise eine Sicherungsverwahrung anschließen wird.

Die beiden Abhandlungen verhalten sich spiegelbildlich zueinander. Abu Bakr Naji ruft zum Kampf gegen die »Kreuzfahrer« auf, also gegen die westlichen Mächte, die noch immer die islamische Welt beherrschen, und gegen die halb-gläubigen Handlanger des Westens, die in der heutigen arabischen Welt an der Macht sind.

In The Management of Savagery weist Abu Bakr Naji den Weg zur Errichtung eines islamischen Staates. Anschläge im Westen und Aufstände in den arabischen Ländern selbst müssen die westlichen Mächte, allen voran die Vereinigten Staaten, dazu verleiten, in arabisches Gebiet einzufallen, was unweigerlich zu einer chaotischen Situation führen wird. Dieses Chaos, das bereits in vielen Ländern des Nahen Ostens herrscht und mutmaßlich noch weiter um sich greifen wird, sollten sich die Dschihadisten zunutze machen, indem sie die westlichen Eindringlinge mit unerschütterlicher Entschlossenheit und gnadenlosem Terror verjagen. Dabei müssen sie der einheimischen Bevölkerung so viel Angst einflößen, dass diese von jeglichem Widerstand absieht. Wo überall Chaos und Gewalt herrschen, sehnen sich die Menschen nach einer starken Macht, die mit eiserner Hand für Ordnung sorgt und die staatlichen Institutionen wiederherstellt. Barbarei lasse sich nur mit barbarischen Methoden bändigen. Wird einmal eine neue Ordnung geschaffen, und die Scharia als alleiniges und oberstes Recht eingeführt, schweiße dies die gesamte Bevölkerung zu einer eisernen Legion von Kämpfern im Namen des reinen Islam zusammen.

Die Strategie der Gewalt muss das Ziel verfolgen, dass – sollten die gestellten Forderungen nicht erfüllt werden – die Geiseln auf furchtbare Art und Weise liquidiert werden, damit sowohl dem Feind als auch seinen Anhängern Angst und Bange wird.[130]

Die schaurigen und theatralisch in Szene gesetzten Exekutionen, die vor der breiten Front der Medien von den Henkern des IS vollzogen werden, sind somit Teil einer wohlüberlegten Strategie der Einschüchterung und des Terrors.

Das letztendliche Ziel des Kampfes ist die Errichtung eines weltweiten Kalifats, das alle gläubigen Muslime in einer einzigen Gemeinschaft, der Umma, unter einem streng islamischen Staat, Daesh, vereint, der nach den unerschütterlichen Prinzipien der Scharia organisiert ist.

Anders Breivik seinerseits ruft zum gewaltsamen Sturz der westlichen Regierungen auf, da sie dazu beitrügen, die christlich-europäische Zivilisation zu untergraben, indem sie muslimische Einwanderer ins Land holen. Und diese dann auch noch gegenüber der eigenen Bevölkerung bevorzugen. So finde eine schleichende Islamisierung des Westens statt. Diese Bevorzugung werde schließlich insgeheim nochmals von den Kulturmarxisten befördert, die damit den kapitalistischen Westen von innen heraus zu untergraben hoffen. Nachdem der marxistische Klassenkampf überall gescheitert ist, konzentrierten sich die Marxisten nun auf die kulturelle und moralische Unterminierung der westlichen Zivilisation.

Für Anders Breivik dreht sich alles um Kultur: »Alles ist Kultur. … Absolut alles ist Kultur.«[131] Die nordische Kultur mache das tiefste Wesen des norwegischen Volkes aus. Sie sei das Erbe der Ahnen. Nur wer nordischer Abstammung ist, könne sie sich wirklich aneignen. Neulinge werden immer Außenstehende bleiben. Aus dieser Perspektive fallen erworbene Kultur und erbliche Rasse zusammen, eine häufig verwendete Argumentationsschleife, um eine Rassentheorie zu verbrämen. Die Kulturmarxisten – und damit meint Breivik auch die norwegischen Sozialdemokraten – hätten dies begriffen. Deshalb führten sie einen »Kulturkampf« und versuchten die Reinheit des norwegischen Volkes durch den Import ausländischer Elemente zu schwächen. Ihre mächtigste Waffe dabei ist … – wer hätte das gedacht! – der Feminismus! In Anders’ Augen eine kulturmarxistische Erfindung, die eingesetzt werde, um die gesunde westliche Familie zu zerstören, die Männer zu entmannen und die Frauen gegen sie aufzuwiegeln. Dadurch werde das Volk mehr und mehr verweichlicht und dem immer weiter vordringenden Islam zum Opfer fallen. Um diesen drohenden Untergang des norwegischen Volkes abzuwenden, ist für Breivik ein Terrorakt wie der seine nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar notwendig. Ja, es ist sein persönliches Opfer für die gute Sache. Er ruft seine Anhänger zu einem bewaffneten Kampf auf, der kein Mittel unversucht lässt. Was diesen Aspekt betrifft, dienten ihm die dschihadistischen Terroristen als Vorbild.

Anders Breivik und Abu Bakr Naji sind sich völlig einig: Die Menschheit ist in einem unerbittlichen Kampf zwischen islamischen und christlich-europäischen Traditionen gefangen. Beide blicken in die Vergangenheit zurück, in eine mythische Ära, in der alles besser war. Diese Zeit müsse nun zurückkehren, auch wenn dafür alles, was heute existiert, zerstört werden muss. Aus Sicht Abu Bakr Najis und seiner dschihadistischen Anhänger müssen die Ungläubigen mit Gewalt bekehrt, aus der islamischen Welt vertrieben oder gleich umgebracht werden. Anders Breivik hingegen ist fest davon überzeugt, dass die Muslime die europäisch-christliche Welt verlassen müssen, im Guten oder im Bösen.

Der Erdball wird demzufolge also in zwei getrennte Hemisphären aufgeteilt werden müssen, die beide frei von fremden Einflüssen sind. Dafür wird noch viel Blut fließen müssen. Millionen von Menschen sind in die Regionen zu deportieren, aus denen ihre Vorfahren stammen. Wer sich widersetzt, muss getötet werden. Am Ende dieses Prozesses wird auf beiden Seiten der Welt die Reinheit des Volkes, die Reinheit des Glaubens wiederhergestellt sein.

Und dann? Dann ist die Welt bereit. Wenn es einmal so weit sein wird, können die beiden Welthälften nebeneinander in einem wehrhaften Frieden leben. Beide Lager misstrauen, bespitzeln und verunglimpfen einander. Von Zeit zu Zeit gibt es hier und da ein Scharmützel, das auch zu einem regelrechten Krieg eskalieren kann. So bleiben die Männer mutig, die Frauen bescheiden und die Herrschenden wachsam.

Die extremen Islamisten aus der Schule Abu Bakr Najis und die Rechtsextremisten vom Schlage eines Breivik können also letztlich miteinander auskommen. Ja, mehr noch, die Bestrebungen des einen dienen heute bereits den Zielen des anderen. Jeder dschihadistische Anschlag in Europa oder Amerika verstärkt den Hass auf Muslime in den westlichen Reihen. Jede rechtsextreme Verunglimpfung des Islams und von Muslimen im Westen schürt den Fanatismus in islamischen Kreisen. In ihrer Erzfeindschaft sind sie auch Verbündete.[132] Das wissen sie. Und das nutzen sie.

Auf den ersten Blick befasst sich keiner von beiden mit den Angelegenheiten der Frauen. Sie haben viel bedeutendere Themen im Sinn. Breivik geht es um den Erhalt und die Wiederherstellung des nordischen Volkes; Abu Bakr Naji arbeitet mit Eifer an der Gründung eines neuen Weltkalifats unter der Scharia. Da fallen solche Kinkerlitzchen wie die Bildung von Mädchen oder Verhütung nicht ins Gewicht. Auf einer tieferen Ebene, über die sie sich lieber ausschweigen, sind sich Rechtextreme und Dschihadisten ebenfalls einig. Sie kämpfen Seite an Seite an der gleichen Front. Beide Parteien kämpfen gegen den Aufstieg der Frauen und wollen sie in eine untergeordnete Position zurückdrängen. Ihre lauthals verkündeten Parolen über »Volk« und »Umma« zielen im Grunde genommen vor allem auf die Wiederherstellung der männlichen Vorherrschaft ab.

Breivik spricht gelegentlich über Frauen, Naji erwähnt sie nicht einmal. Das muss er auch nicht. Breivik muss den Norwegern hingegen noch erklären, was er von der Frauenemanzipation hält, und seine Haltung wirkt auf die Norwegerinnen und Norweger doch einigermaßen überraschend. Naji muss dazu überhaupt nichts sagen, mit »Scharia!« ist alles gesagt, denn dort sind alle Regeln, die in islamischen Gemeinschaften in Fragen des Rechts, des Eigentums, der Gesundheit, der Etikette und der vernünftigen Lebensführung als Richtschnur dienen, aufgeführt. In der Interpretation der Dschihadisten ist es eine Art Gesetzbuch, das sich ohne jegliche Reflexion, Überlegung oder Textauslegung auf die Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts anwenden lässt. Darin ist buchstäblich alles festgehalten, was erlaubt und nicht erlaubt ist, und was getan werden muss. Die Dschihadisten entscheiden sich immer für die härteste, strengste Interpretation, denn sie glauben, diese entspräche den Traditionen des 7. Jahrhunderts. Und diese verheißen für Frauen noch immer nicht viel Gutes.

 

Das 20. Jahrhundert war durchaus einiges an Gewalt in destruktiven Pamphleten gewöhnt, von Lenins Staat und Revolution bis zu Adolf Hitlers noch bösartigerem Mein Kampf und den Aufrufen zu revolutionärer Gewalt im Werk Mao Zedongs. In den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts erschallten erneut die Aufrufe zum Massenmord im Namen der hehren Ideale des Volkes und der Umma. Nun allerdings schwingt – wie ein sonorer Basston – immer wieder die Aversion gegen die Emanzipation der Frau mit. Rechtsextreme und Dschihadisten sind ebenso wie jüdische, hinduistische oder christliche Fundamentalisten im wahrsten Sinne des Wortes »reaktionär«: Ihre Bewegungen sind größtenteils als Reaktion auf die fortschreitende Emanzipation der Frauen zu verstehen. Sie sind auch in dem Sinne reaktionär, dass sie nichts Neues erfinden. Sie greifen immer wieder auf die uralten Argumente zurück, die zur Rechtfertigung der überlieferten Praktiken und Institutionen herhalten müssen. Die Vorhut des Patriarchats führt ihren Kampf in der Nachhut der Geschichte.

Fanatisierung

Ohne Hoffnung führt das Gefühl der Erniedrigung zur Verzweiflung und zu einem Verlangen nach Rache, das leicht in einen zerstörerischen Impuls umschlagen kann.[133]

 

 

Zur Zeit der großen Anti-Vietnam-Demonstrationen in den USA, der Studierendenunruhen in Frankreich im Mai 1968 und der ein Jahr später folgenden Maagdenhuis-Besetzung in Amsterdam kam es zu einer raschen Radikalisierung unter jungen Menschen, besonders unter Studierenden. Bei aller Lockerheit im Lebenswandel war ihnen doch eine Art Puritanismus zu eigen. Nicht, dass sie gegen Sex oder Drogen gewesen wären. Sie opponierten gegen jede Form von Gewalt, Krieg, Ausbeutung und Ausgrenzung, gegen Militarismus, Kapitalismus und Rassismus. Ihre Dozenten und Eltern stimmten ihnen teilweise zu, trugen aber selbst nicht allzu viel bei und führten ihr solides bürgerliches Leben weiter wie gehabt. Somit hatten sie den Vorwürfen auch nicht viel entgegenzusetzen. Alles, was diese tun konnten, war, ziemlich lahm zu murmeln, dass alles nun einmal zwei Seiten habe und man im Leben Kompromisse schließen müsse. Die jungen Rebellen hatten ihre Eltern links überholt. Sie waren strenger in ihrer Lehre und fester in ihrem Kurs als die Zweifler und Lavierer über 40. Holier than thou, »stärker von heiligem Ernst erfüllt«, das waren sie.

Vieles davon ist heute in der Radikalisierung muslimischer Jugendlicher, übrigens auch vieler niederländischer Konvertiten zum Islam, wiederzuerkennen. Was hatten sie sich nicht alles geleistet: Hin und wieder hatten sie einen Joint geraucht und nach Zigaretten gegiert, hatten regelmäßig ein Bier getrunken und ab und an auch was Hochprozentiges, waren mit christlichen Mädchen, holländischen »Schlampen«, ausgegangen, hatten die Straßen unsicher gemacht und auch mal ein Fahrrad geklaut oder eine baumelnde Umhängetasche heruntergerissen. Manchmal hatten sie ein Jahr gesessen, hatten fünfmal am Tag das Gebet vergessen und waren eine ganze Zeit lang nicht in die Moschee gegangen. Sie waren lange nicht in der Schule aufgetaucht und hatten keine Arbeit gefunden, oder noch nicht einmal danach gesucht. Sie hatten aus unerfindlichen Gründen Sozialhilfe bezogen und sich als Drogendealer oder Stricher noch etwas hinzuverdient …

»Zugegeben, das alles ist wahr, aber das war damals.« Und nun stehe ich hier, völlig erneuert, wie neu geboren, ein anderer Mensch, ein neuer Mensch: ein prinzipienfester Rechtgläubiger, ein sittsamer und streng nach den Regeln praktizierender Muslim allerreinsten Wassers. »Jetzt ist es an euch, Eltern und Erzieher, zuzugeben, dass ihr immer glaubensschwach und halbherzig wart, dass ihr oft mit der Lehre gemogelt und es mit der Praxis nicht so genau genommen habt, dass auch ihr euch gelegentlich ein Gläschen gegönnt habt, bei Bekannten brav in einen Schweinefleisch-Burger gebissen habt, immer noch keine Pilgerfahrt unternommen habt und die Locken eurer Töchter unbedeckt lasst … Wer lebt hier nun wirklich nach der Lehre und setzt sie täglich in der Praxis um? Der verlorene Sohn, der vor euch steht! Denn der steht nun tatsächlich nicht mehr mit einer falsch herum getragenen Baseballkappe da, sondern mit einer weißen Häkelmütze; nicht mehr mit unrasierten Bartstoppeln, sondern mit einem flusigen Bart; nicht mehr in Jeans und Kapuzenpulli, sondern in einem langen Gewand; nicht mit Sneakers, sondern mit Pantoffeln an den Füßen. Euer ureigenster Sohn, dieser Junge, der nie etwas getaugt hat, ist jetzt ein Ausbund an devoter Tugendhaftigkeit.« All die Scham, die er einst über seinen lockeren Lebenswandel empfand, ist nun in moralische Überlegenheit umgeschlagen. Ein Durchschnittsmuslim kann mit ihm nicht mithalten. Vater, Mutter und die Lehrer in der Schule wurden rechts überholt. Triumph. Die Belohnung der Radikalisierung.

Die pakistanische Sozialwissenschaftlerin und Autorin Maleeha Aslam beschreibt ein sehr ähnliches Manöver des Rechtsüberholens von Drogenabhängigen in Islamabad. Sie übernehmen eine ultra-orthodoxe Glaubensversion aus ihrer Kindheit und schließen sich dann oft dschihadistischen Gruppierungen an, um dort ein Gefühl männlichem Selbstwerts zu finden.[134]

 

Er arbeitet außer Haus, sie sieht innerhalb des Hauses nach dem Rechten. Das ist die uralte Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen. Dieses Muster ist für Männer längst nicht immer vorteilhaft. Die Arbeit der Männer ist oft schwerer, gefährlicher, monotoner und geisttötender als die der Frauen. Und in Kriegszeiten riskieren die Männer ihr Leben. Es ist auch nicht so, dass Männer stets das bessere Essen bekämen, sich länger ausruhen könnten und mehr Freizeit hätten. Aber es geht dabei auch nicht um die faktischen Vor- oder Nachteile des Lebens der Frauen gegenüber dem der Männer. Es geht um Ansehen und Macht.

Der Mann ist das Oberhaupt der Familie; wenn es darauf ankommt, entscheidet er. Sie fügt sich. Er beschützt sie. Sie ist von ihm abhängig. Das klingt seltsam, weit weg, wie aus längst vergangener Zeit. Aber das ist ein Trugschluss. Auch im Westen, auch bei Nichtgläubigen, bei liberalen, großstädtischen, modernen Menschen, liegt diese Geisteshaltung noch dicht unter der Oberfläche. Sie gehört zur Welt, aus der wir kommen, zur Welt unserer Großeltern, vielleicht auch noch unserer Eltern. All das ist zwar bereits vergessen, aber noch nicht verarbeitet. Und es gibt noch viele Menschen, auch in modernen Gesellschaften, auch in exponierten Stellungen, die so empfinden, auch wenn sie anders darüber denken mögen. Nicht wenige Menschen denken aber auch heute noch so darüber.

Dies macht Männer – und ihre Frauen – anfällig für das Gefühl der Demütigung, wenn sie dem Ideal der männlichen Vorherrschaft nicht gerecht werden können. Menschen, die sich in ihren eigenen Augen und in den Augen anderer gedemütigt fühlen, schämen sich. Sie möchten lieber nicht gesehen werden, »im Boden versinken«. Menschen, die sich schämen, schlagen oft die Hände vors Gesicht, als ob sie selbst nicht sehen und nicht gesehen werden wollen. Sie haben ihr Gesicht verloren. Der Amsterdamer Psychiater und Psychoanalytiker Louis Tas (1920-2011), der das Thema Scham in den Mittelpunkt seiner Praxis und seiner Reflexionen stellte, fasste es einmal so zusammen: »Scham ist das Gefühl, in den Augen anderer völlig wertlos zu sein und das auch noch zu Recht.« Und er fügt dem hinzu: »Scham ist einer Depression sehr ähnlich und kann letztlich sogar zum Suizid führen.«[135]

In den vergangenen 30 Jahren haben sich Psychiater, Psychologen und Soziologen intensiv mit Demütigung und Scham, und mit der Wut, die daraus entstehen kann, befasst. Der amerikanische Psychiater James Gilligan, der inhaftierte Gewalttäter untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass diese fast ausnahmslos in ihrer Kindheit oder Jugend eine unerträglich demütigende Erfahrung gemacht haben, die sie später nie verarbeitet konnten. Sie haben sich von ihrer Schande zu befreien versucht, indem sie stabil, groß, hart und gemein waren: starke, kämpferische Männer. Und weil diese Stabilität so brüchig war, mussten sie diese jedes Mal gegen jeden Herausforderer und jede Provokation um jeden Preis wieder unter Beweis stellen, selbst wenn ihnen dafür eine jahrelange Haft drohte.[136] Aggressive Straftäter erklären ihre eigenen Gewalttaten immer wieder als Reaktion auf die Respektlosigkeit (disrespect, oder he dissed me), die ihnen ihr Opfer entgegengebracht habe. Männer, die sofort und hart zuschlagen, verschaffen sich damit in ihrem hyper-maskulinen Milieu tatsächlich Respekt. Doch was den Täter selbst angeht, gab es immer noch jemanden, der nicht an ihn glaubte: ihn selbst.

Gilligans Erkenntnisse scheinen auch für die Täter zu gelten, die scheinbar sinnlose Schüsse auf ihre Mitschüler oder zufällige Passanten abgeben. Der amerikanische Soziologe Thomas Scheff fand in den Lebensgeschichten dieser einsamen Massenmörder immer wieder eine Episode von Ablehnung, Herabsetzung oder Ausgrenzung. Sie erlebten diese Erfahrung als eine beschämende Demütigung, die um jeden Preis gerächt werden musste. Ähnliches konstatiert Scheff auch für ganze Völker beim Ausbruch von Kriegen. Die französische Nation sah sich durch die Niederlage von 1871 zutiefst gedemütigt, und die Scham darüber führte zum Revanchismus : einem allgemeinen Verlangen nach Rache und zur Vorbereitung eines neuen Krieges. Im darauffolgenden Ersten Weltkrieg war es Deutschland, das 1918 besiegt und im Vertrag von Versailles gezwungen wurde, im Staub zu kriechen.[137] Nun waren es militärische und reaktionäre Kreise in Deutschland, die rundheraus leugneten, dass das Land tatsächlich im Kampf unterlegen gewesen sei: Der Krieg sei vielmehr durch Verrat der Linken im eigenen Land verloren worden. »Durch einen Dolchstoß in den Rücken.« Die Demütigung wurde geleugnet, die Schande überspielt, aber diese »versteckte Scham« führte dennoch zur Bildung unzähliger Terrorgruppen, die auf Rache sannen. Letztendlich führte das zum Aufstieg Hitlers, der mit seinen Anhängern dem Rachedurst in einem beispiellosen Ausmaß frönen sollte.

Der Kreislauf aus Demütigung, versteckter Scham und Rache funktioniert bei individuellen Gewalttätern und allein agierenden Massenmördern. Er findet sich sogar im Dasein ganzer Nationen. Die Argumentation lässt sich auch auf kleine Gruppen, insbesondere fundamentalistische Terrorgruppen jeder Couleur, anwenden. Der amerikanische Religionssoziologe Mark Juergensmeyer konstatiert, dass diese Terroristen oft aus marginalen, im Abstieg begriffenen Milieus kommen. Das ist an sich schon demütigend. Er konstatiert, dass sie »durch Frömmigkeit und Kampf weiteren Ehrverlust zu verhindern versuchen«. Auf diese Weise versuchen sie, symbolische Macht zu erlangen. Oft trachten sie danach, die Frauen in ihre traditionelle Position der Unterordnung zurückzudrängen. Juergensmeyer nennt als Beispiel die Taliban in Afghanistan: »Solche Fälle verdeutlichen beispielhaft die Behauptung und öffentliche Wiederherstellung von Männlichkeit […].«[138]

Der amerikanische Soziologe Michael Kimmel hat umfangreiche Forschungen unter rechtsextremen gewalttätigen Jugendlichen in den USA durchgeführt und erkennt in fast allen Studien über diesen Rechtsextremismus einen blinden Fleck: Die Autoren übersehen immer wieder, dass es sich in der überwiegenden Mehrheit um junge Männer handelt. Diese rechtsgerichteten Männer, so Kimmel, leben in einem aggrieved entitlement, sie fühlen sich, mit einem Wort, zurückgesetzt. Sie sind voller Groll, weil man ihnen das vorenthält, worauf sie ein Recht zu haben glauben: die Anerkennung als vollwertiger Mann. Ein »echter Mann« ist für sie jemand, der als Ernährer, als Familienoberhaupt respektiert wird. Sie fühlen sich unverstanden, herabgesetzt, verachtet, von Frauen und von allen anderen, die es in der Gesellschaft besser getroffen haben als sie. Sie versuchen, diesen Mangel an männlicher Würde durch übertrieben maskulines Gebaren, durch Uniformen, Insignien und Tätowierungen, durch Saufgelage und Geprahle, Drohungen und Gewalt zu kompensieren. Die Kameraderie unter Männern in Motorradclubs, Kampfsportvereinen oder Milizen gibt ihnen das Gefühl, irgendwo dazuzugehören und geschätzt zu werden.

Für einen Mann ist es eine der demütigendsten Erfahrungen, wenn er sich gegenüber den Frauen als Waschlappen, als Weichei, als Warmduscher erweist, wenn er seine Frau nicht im Zaum halten kann, wenn sie ihm Hörner, die Hörner der Schande aufsetzt, indem sie ihn mit einem anderen und somit offensichtlich »stärkeren« Mann betrügt. Solch ein betrogener Mann wurde in den Niederlanden vor nicht allzu langer Zeit »cocu« genannt, nach dem französischen coucou, dem Kuckuck: dem Vogel, der seine Eier in fremde Nester legt. Der unfreiwillige Stiefvogel brütet dann arglos und mit aller Sorgfalt das untergeschobene Kuckucksei aus. Im modernen amerikanischen Englisch wird der Begriff cuck (die Kurzform von cuckold, auch von cuckoo, Kuckuck) verwendet. Ein Cuck ist ein Mann, der von seiner Frau betrogen wird, oder noch schlimmer, der sich von ihr mit einem anderen Mann betrügen und auf dem Kopf herumtanzen lässt. »Cuck« ist in rechten Chatrooms im Internet ein weit verbreiteter Begriff, und auf Alt-right-Sites taucht er ständig in verschiedenen Kombinationen auf, z. B. cuckliberal, etwa ein linker Schleimbeutel. Oder noch häufiger: cuckservative, ein Konservativer, der keinen Biss mehr hat. Sie gelten in rechten Kreisen als die Schlimmsten, die noch verachtungswürdiger sind als die Progressiven.[139]

Die schlimmste und häufigste Beleidigung in Alt-right-Kreisen ist also der Verlust der männlichen Überlegenheit, das Versagen hinsichtlich der gesellschaftlich geforderten männlichen Vorherrschaft. Das ist nur allzu oft eine Quelle unerträglicher Scham, die sich dann in Groll und Wut verwandelt.

Charakteristisch für den Fanatismus ist die Maßlosigkeit. Mäßigung hat schon per se etwas Schwaches. Man bildet sich eine Meinung, hat eine Überzeugung, und dann setzt man sich dafür ein. Voll und ganz. Für immer. Nehmen wir zum Beispiel das Leiden der Tiere. Ist das nicht schrecklich? Muss man dem nicht sofort ein Ende bereiten? So viele goldige Tiere werden schrecklich misshandelt! Wer jetzt nicht sofort zum Metzger geht, um ihn auf der Stelle aufzufordern, seinen Laden zu schließen, und zwar für immer, ist eine lahme Ente, ein Schlappschwanz, ein Schwächling. Der Fanatismus trägt seine Rechtfertigung in sich. Jede Mäßigung ist eine Verwässerung. Nun dreht sich alles um das Leiden der Tiere, die Umwelt, das Großkapital oder die großen Ungerechtigkeiten, die Migranten tagtäglich widerfahren. Aber wenn es um das Allerhöchste, was sage ich, den Allerhöchsten, den Herrn, um Gott selbst geht, dann ist doch jedes Zögern, jedes Aufschieben, jedes Gramm weniger, jede Mäßigung ein Gräuel, ein Verrat an seiner allumfassenden, alles beherrschenden Bedeutung wegen etwas, das, was es auch sein mag, im Vergleich zum unendlichen Gewicht Gottes immer eine vernachlässigbare Bagatelle ist.

Es gibt auf Erden nur eine Größe, die sich an moralischem Gewicht mit dem höchsten Wesen messen kann, und das ist die andere mythische Abstraktion: das Volk. Hier geht es um das Erbe der Ahnen, um ihr Blut, das unverdünnt und unvermischt in unseren Adern fließen muss; um ihre Werte und Bräuche, die durch die Jahrhunderte hindurch unvermindert gültig geblieben sind; um den Boden, den sie für uns erobert und kultiviert haben, und den sie uns hinterlassen haben, damit wir ihn bis zum letzten Blutstropfen und bis zum letzten Atemzug bebauen und verteidigen. Das Volk steht über allem. Daher ist alles erlaubt, um das Volk vor fremden Elementen, von innen wie von außen, zu schützen, mit allen erdenklichen Mitteln, Plünderung und Vergewaltigung, Mord und Totschlag inklusive.

Der deutsche Psychiater Günter Hole beschreibt Fanatismus als »eine abnorme Intensität bei der Verfolgung und Verwirklichung einer einzigen Idee oder Haltung von besonderem Wert«.[140] Der harte Kern eines jeden Fanatismus ist die Verabsolutierung: Nichts kann das absolute Recht aufwiegen, das sich auf Gott oder das Volk beruft. Es gab auch eine dritte Variante dieses modernen Absolutismus, den Kommunismus, der im Namen der Arbeiterklasse, des Proletariats, im 20. Jahrhundert unsägliches Unheil angerichtet und dessen Raserei nun ein unrühmliches Ende gefunden hat.

Der Fanatismus verabsolutiert immer nur eine Grundidee: Er ist monomanisch. Diese eine Idee wird auf alles angewendet. Der wahre Fanatiker kann alles in seinem Leben politisieren oder »religionisieren«: Er macht aus allem eine politische oder religiöse Frage.[141] In dieser Hinsicht ähnelt die Struktur des Fanatismus jener der Perversion: Auch der Perverse reduziert sich auf ein erotisches Thema, in das er – absolut – seine gesamte sexuelle Energie investiert. So kann der Perverse alles in seinem Leben erotisieren: es kommt zu einer »Panerotisierung«. Alles, was ihm oder ihr widerfährt, kann in sexuelle Fantasien rund um ein einziges erotisches Thema überführt werden. Dies hilft probat, Gefühle von Angst, Enttäuschung und Verlassenheit durch sexuelle Erregung zu neutralisieren.[142] Die Fantasien Perverser sind peinlich, und was sie tun, ist beschämend. Auch sie haben unter der Scham zu leiden. Das ist der Preis der Panerotisierung.

Desgleichen kann den Fanatikern nichts widerfahren. Alles, was ihnen begegnet, wird sofort unschädlich gemacht, jedes Gefühl kann abgespalten werden, indem es zu einem Phänomen umgedeutet wird, das in die heilige Überzeugung passt, zu einer Emotion, wie sie die Lehre vorschreibt. So kann jedes Ereignis und jede Emotion durch Fanatisierung als psychisches Manöver neutralisiert werden.

Worum es hier geht, ist das ewige Recht des Fanatismus, um das »gute Recht«, auf das sich die Fanatiker zur Rechtfertigung ihrer wahnsinnigen Taten und Ideen immer wieder berufen. Jeder Fanatisierung beginnt mit einem Gefühl der Entrechtung und Demütigung. Fanatiker meinen, dass ihnen ein großes Unrecht angetan und sie dadurch herabgesetzt worden seien. Sie schämen sich und wollen sich rächen. Die Scham verwandelt sich in blinde Wut. Günter Hole weist auf diesen unerträglichen Mangel an Selbstwertgefühl hin, der die Fanatiker kennzeichnet, was dazu führt, dass sie alles todernst nehmen, ihnen ein relativierender Sinn für Humor fehlt und sie gleichzeitig überempfindlich sind und sich schnell verletzt fühlen.

Was ist es, was sowohl Dschihadisten als auch Rechtsextreme in eine solche Raserei getrieben hat? Sie alle sind jederzeit in der Lage, eine lange Liste von Kränkungen anzuführen. Ihnen ist eine Menge Übles angetan worden. Selbst dort, wo sie in der Mehrheit sind, empfinden sie sich als eine bedrohte Minderheit. Die Täter sind in den eigenen Augen fast immer die Opfer, und jeder Angriff ist eigentlich ein Akt der Selbstverteidigung. Gilligan schreibt: »… niemand fühlt sich unschuldiger als der Kriminelle.«[143]

Eine Kränkung haben sie alle gemeinsam: ihr ewiges, heiliges Erbrecht, die Vorherrschaft des Mannes über die Frau, ist ausgehöhlt worden. Schlimmer noch, sie hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Das ist gegen Gottes Wille und gegen die wahre Natur des Volkes. Der Kampf der Dschihadisten und der Rechten richtet sich hauptsächlich gegen die Emanzipation der Frauen. Es ist daher an der Zeit, sich ihre Einlassungen einmal genauer anzusehen.

Dschihad: Die Vernichtung von Frauen durch den IS und Gleichgesinnte

[…] es handelt sich um eine grundlegende Frage, die man sich nicht zu benennen wagt. In diesem Krieg geht es auch – und zwar zutiefst – um Sex. Für die Dschihadisten ist der Einsatz im Krieg gegen die Ungläubigen die Macht über die Frauen.[144]

 

 

Wie in der Bibel ist auch im Koran die Frau dem Mann unterlegen. Die Schlüsselstelle findet sich in Sure 4, Vers 34 mit dem Titel »Die Frauen«:

Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben.[145]

Zu diesem ersten Satz ließe sich viel sagen, aber ich werde davon absehen. Die gelehrtesten Autoritäten sind zu den unterschiedlichsten Auslegungen dieses Satzes gekommen. Wie könnte ich Unwissender entscheiden, welche die Beste ist? Ich halte dafür, dass der erste Satz in etwa bedeutet: Der Mann kümmert sich um die Angelegenheiten der Frau, weil Allah ihn über sie gestellt hat und weil der Mann sie versorgt.

Und der Koranvers geht weiter:

Und die rechtschaffenen Frauen sind (Gott) demütig ergeben und geben acht auf das, was (den Außenstehenden) verborgen ist, weil Gott (darauf) acht gibt. Und wenn ihr fürchtet, dass (irgendwelche) Frauen sich auflehnen, dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch (daraufhin wieder) gehorchen, dann unternehmt (weiter) nichts gegen sie! Gott ist erhaben und groß.

Die Bedeutung jedes einzelnen Wortes in diesem Text ist seit Jahrhunderten umstritten. Aber auch als Laie kann ich erkennen, dass diese Passage für Frauen nichts Gutes verheißt. Daran muss also noch kräftig herumgebastelt werden.[146]

Die Stellung der Frau wird in der Sammlung der überlieferten Verhaltensregeln, die zusammen das islamische Recht, die Scharia, bilden, näher ausgearbeitet. Darin ist die Frau dem Mann in vielerlei Hinsicht unterlegen. Bei einer Zeugenaussage vor Gericht hat das Wort eines Mannes ebenso viel Gewicht wie das zweier Frauen. Bei der Aufteilung eines Erbes erhält die Tochter halb so viel wie der Sohn. Ein Mann kann seine Frau verstoßen, indem er dreimal eine entsprechende Formel wiederholt. Für sie ist es nahezu unmöglich, sich von ihm zu trennen. Die Scharia erlaubt die Kinderehe, nicht die erwachsener Frauen mit kleinen Jungen, sondern die kleiner Mädchen mit erwachsenen Männern. Sie kommt auch häufig vor, selbst in Ländern, in denen es die nationale Gesetzgebung verbietet. Wie bereits erwähnt, gesteht es die Scharia in vielen islamischen Ländern einem Vergewaltiger, auch einem Kinderschänder, zu, sich der Strafe zu entziehen, indem er sein Opfer heiratet. Bringt das Opfer hingegen die Vergewaltigung zur Anzeige, kann es wegen Ehebruchs angeklagt werden. Kurzum, in zahllosen Regeln der Scharia wird die Frau dem Mann gegenüber benachteiligt.

Über all diese Regeln lässt sich diskutieren. Rechtsgelehrte haben sie oftmals frauenfreundlicher interpretiert oder in der Praxis einfach ignoriert. Die meisten islamischen Länder haben eine nationale Gesetzgebung, in der das Familien- und Erbrecht unabhängig von der Scharia verbindlich geregelt ist. Dieses Bürgerliche Gesetzbuch orientiert sich häufig an westlichen Vorbildern. In der Rechtsprechung wird die Scharia in diesen Fällen mitunter völlig ignoriert, manchmal wird sie mitberücksichtigt, und manchmal wird das traditionelle islamische Recht angewendet, insbesondere in Fragen der Ehe, der Scheidung, der Vormundschaft und bei Erbangelegenheiten.[147]

 

Gemäßigte Muslime neigen dazu, jeden Zusammenhang zwischen Terrorismus und Islam zu leugnen. Und auch viele progressive westliche Interpreten beteuern nur allzu gerne, dass die dschihadistische Lehre und Praxis nichts mit dem Islam zu tun haben. Natürlich will man in beiden Kreisen verhindern, dass die Islamophobie, die Aversion gegen den Islam, angefacht durch den Schrecken des islamistischen Terrors, noch weiter um sich greift: »Man darf der extremen Rechten nicht auch noch in die Karten spielen.« Aber Al-Qaida, der IS, Al Nusra oder Boko Haram rechtfertigen nun mal all ihre Ansichten und Aktivitäten mit Verweis auf den Koran, die Scharia und die Überlieferung, die Hadithe. Sie treffen dabei eine ganz gezielte Auswahl aus diesen islamischen Schriften und Traditionen. Alles, was ihnen nicht in den Kram passt, wird ignoriert. Gemäßigte Muslime tun alle religiösen Aussagen der Dschihadisten als Heuchelei und Propaganda ab. Gemäßigte Progressive erklären den Dschihadismus mit den psychischen Problemen der Militanten oder mit deren sozialen Verhältnissen wie Armut, Entbehrungen und Diskriminierung. Sie weigern sich, sich in die Welt der religiösen Überzeugungen der Dschihadisten hineinzuversetzen, obwohl diese selbst sich mit aller Leidenschaft zu ihrem Glauben bekennen. Sie schweigen über die Religion als Inspirationsquelle für den Islamismus. Das ist das »fromme Schweigen der Linken zum Dschihadismus«, wie es der französische Essayist Jean Birnbaum nennt.[148]

Birnbaum hat recht, wenn er anmerkt, dass fortschrittliche, aufgeklärte Denker schlecht mit religiösen Gefühlen und Überzeugungen umzugehen wissen. Nach Ansicht der Modernisten sollten diese Ansichten und Emotionen längst verschwunden und auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sein. Ich stimme Birnbaum ebenfalls darin zu, dass der heutige islamische Terrorismus tiefe religiöse Wurzeln hat. Doch der Dschihadismus ist aus ihnen heraus zu einem perversen, destruktiven Fanatismus ausgewuchert. Diese Fanatisierung bedarf durchaus einer psychologischen und soziologischen Erklärung.

Auf der anderen Seite behaupten die eingeschworenen Feinde der muslimischen Extremisten hartnäckig, dass es gerade die Dschihadisten sind, die das wahre Wesen des Islam verkörpern.[149] Diese Meinung sind die Dschihadisten selbst natürlich auch. Dschihadisten und Islamhasser sind sich in diesem Punkt also völlig einig. In einer realistischeren und folglich pluralistischen Sicht auf die Religion bilden die Dschihadisten eine Strömung innerhalb des großen islamischen Stromgebiets, einen giftigen Pfuhl inmitten der friedlichen Seen, lieblichen Bäche, heftigen Stromschnellen und breiten Flüsse des Islam.

 

In den Schriften extremistischer Muslime ist über Frauen nicht viel zu finden. Schließlich ist alles, was das Verhältnis zwischen den Geschlechtern betrifft, bereits in dem Begriff »Scharia« enthalten. Wie alle Fundamentalisten geben auch die Islamisten vor, ihre Interpretation des Textes sei die einzig mögliche. Ihre Lesart ist ausnahmslos die strengste und weitreichendste Interpretation. Es gibt einen Koranvers (Sure 24, Vers 31), in dem die Frauen aufgefordert werden, sich bescheiden zu verhalten und sich zu bedecken. Was genau bedeckt werden soll, darüber gehen die Gelehrtenmeinungen weit auseinander: in jedem Fall die Schamteile, die im Koran ziemlich prüde beschrieben werden, was zu großer Verwirrung und vielen Meinungsverschiedenheiten führt. Die am weitesten verbreitete Auslegung schreibt vor, dass gläubige Frauen ihr Haar mit einem Kopftuch bedecken sollten, es sei denn, es befinden sich nur Verwandte und andere Mitbewohner im Raum. Die weitreichendste Auslegung besagt, dass sich Frauen in jedem Falle außerhalb des Hauses von Kopf bis Fuß bedecken sollten, einschließlich der Hände und des Gesichts. Für Salafisten und Wahhabiten und erst recht für die Dschihadisten gilt zweifelsfrei: Wenn Frauen das Haus verlassen, müssen sie sich von Kopf bis Fuß in ein dunkles, weit fallendes, schwarzes Gewand hüllen, damit auch noch die Konturen des weiblichen Körpers vor neugierigen männlichen Blicken verborgen bleiben. Auch das Gesicht darf unter dem Schleier nicht zu sehen sein. Kurzum: Frauen können die Geborgenheit ihrer eigenen Wohnung nur in einer Art tragbarer Umkleidekabine verlassen. Diese Kleidung ist für ein heißes Klima nicht besonders geeignet und gestattet der Frau auch nur wenig Bewegungsfreiheit. Aber das ist ja auch gewollt, denn Frauen sollen unauffällig bleiben, ihre Absätze dürfen kein Geräusch machen und sie sollten immer leise oder besser überhaupt nicht sprechen.

Das sei doch gerade für die Frauen selbst angenehm, beteuern die Vertreter dieser Auffassung beschönigend, denn in dieser Aufmachung fühlten sie sich auf der Straße frei und sicher. Zweifellos haben sich Juden, die unter dem Naziregime auf der Straße sichtbar einen gelben Stern tragen mussten, mit diesem Stern außer Haus auch »sicherer« und »freier« gefühlt als ohne. Ein Jude, der ohne Stern erwischt wurde, riskierte die Deportation in ein Vernichtungslager. So schlimm ist es in der dschihadistischen Welt nicht. Frauen im Islamischen Staat, die eine Haarsträhne zu viel zeigen, laufen nur Gefahr, von der speziellen Frauenpolizei verhaftet zu werden, die allerdings mitunter sehr hart durchgreift.

Selbst in der vorgeschriebenen Verpackung dürfen die Frauen nicht allein auf die Straße. Ein männlicher Verwandter muss sie immer begleiten: ein Vater, Bruder, Ehemann oder Sohn. Das sei alles nur zu ihrem eigenen Besten. Schließlich könnten sie einen Mann in Versuchung führen oder selbst durch das Verlangen, Männern gefallen zu wollen, in Versuchung geraten.

Die jemenitische Bloggerin Hind Al-Eryani stellt genau die richtige Frage:[150] Wenn die Gefahr des sexuellen Begehrens wirklich so allgegenwärtig und so bedrohlich ist, warum tragen Männer dann keinen Schleier? Sind Männer nicht manchmal attraktiv für Frauen, und können gutaussehende Männer eine Frau nicht auch auf erotische Gedanken bringen? Die islamische Lehre verbietet den Männern, Seide, Silber oder Gold zu tragen. Aber dieses Verbot wird, selbst von den Scharfmachern, nie eingehalten. Die Anwendungen dieser Vorschriften sind daher im Kern sexistisch.[151]

Die muslimischen Fundamentalisten geben vor, nur sie verhielten sich der Grundbedeutung und dem Urtext der Scharia gegenüber konform. Oft beziehen sie sich in diesem Zusammenhang auf Schriften aus den ersten Jahrhunderten nach Mohammeds Tod: die klassische Scharia. Aber diese Texte sind oft sehr nebulös und in sich widersprüchlich. Unzählige Gelehrte und Richter haben seit dieser Zeit fast 1500 Jahre über diese Texte nachgedacht und debattiert. Die islamische Rechtstradition ist ebenso reich und vielfältig wie die westliche Tradition, die auf das römische Recht zurückgeht.

In manchen Regionen und zu bestimmten Zeiten herrschte unter den Muslimen eine strenge religiöse Praxis vor. Häufiger überwog hingegen eine liberale Auslegung der Scharia, die auch Raum für konträre Ansichten ließ.[152] In den meisten islamischen Ländern basiert der Fundamentalismus keineswegs auf einheimischen Traditionen, sondern ist ein moderner Import: ausländische Neutönerei.

Der niederländische Islamkenner Michiel Leezenberg weist darauf hin, dass die Emanzipation der Frauen in der heutigen muslimischen Welt nicht deshalb so schleppend vorangeht, weil der Islam »noch nicht modern« sei. Ganz im Gegenteil, das Problem liegt ihm zufolge darin, dass dieser konservative Islam durchaus modern ist, »wenn auch nicht unbedingt auf eine Weise, die den liberalen, säkularen Menschen im Westen gefällt«.[153]

Die äußerst orthodoxe, strenge Glaubensauffassung war vor allem eine Reaktion auf den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und die Konfrontation mit dem Westen. Nordafrika und später der Nahe Osten wurden von Frankreich und England besetzt, und das hat die Stimmung geprägt. Die Niederlage der islamischen Völker gegen die »Christen«, die westlichen »Kreuzfahrer«, war eine ernüchternde Erfahrung. Für viele Muslime war gerade dies ein Grund, die Technologie, die Wissenschaft und die Ideen der Sieger zu übernehmen. Diese Errungenschaften mussten wohl besser sein. Das war die vorherrschende Reaktion »der Jungtürken« in der Türkei und auch anderswo im Nahen Osten. Vor allem in Iran und Ägypten hatten diese progressiven, westlich orientierten Strömungen zeitweise die Oberhand.

Mit dem westlichen Einfluss kamen westliche Ideologien: Marxismus, Nationalismus, (demokratischer) Sozialismus, Faschismus. Auch der Panarabismus (die Vorstellung, dass alle Araber in einer Kulturnation vereint leben sollen) knüpfte an europäische Bewegungen wie den Pangermanismus und den Panslawismus an. Der arabische Sozialismus und Nationalismus schienen damals neue, inspirierende Ideale voller Versprechungen auf eine umfassende Erneuerung und eine große Zukunft zu sein.

In der Zwischenzeit war man hier und da im Nahen Osten auf Öl gestoßen, das von westlichen Unternehmen mit großem Eifer aufgespürt, gefördert, exportiert und größtenteils in Europa und Amerika raffiniert wurde. Dort verbreitete sich das neue Automobil in rasantem Tempo, ebenso wie Flugzeuge und motorgetriebene Schiffe. Sie alle benötigten Benzin, Diesel, Kerosin, also Treibstoffe, die aus Öl hergestellt wurden. Der Großteil der arabischen Bevölkerung kam kaum in den Genuss dieses neuen Reichtums. Einige lokale Clans konnten Rechte an dem Land geltend machen, aus dem das Öl gefördert wurde, und erhielten dafür fürstliche Lizenzgebühren. Die Clanchefs wurden zu Königen, ihre Söhne wurden reihenweise zu Prinzen. Absurde Vermögen wurden umgehend unter nahen Verwandten aufgeteilt, und für den Rest des eigenen Clans fielen auch noch Brosamen ab. Das muss viel Neid und Rivalität hervorgerufen haben. Einige Clans, etwa die Saudis, heuerten theologische Apologeten an, um der lokalen Bevölkerung zu erklären, warum nun gerade die Saudi-Dynastie zu unbegrenzter Macht und Reichtum auserkoren war.

Bereits in den ’30er Jahren des 20. Jahrhunderts wandten sich viele arabische Regierungen einer Variante des Faschismus zu und unterstützten das Hitler-Regime. Ebenso wie im Christentum wucherte auch im Islam von jeher der religiöse Antisemitismus, oder besser gesagt der »Antijudaismus«, denn die Araber gelten selbst auch als Semiten. Dies passte gut zur nationalsozialistischen Verurteilung und Verfolgung der Juden. Später, nach der Ausrufung des jüdischen Staates 1948, flammte der Judenhass erneut heftig auf. Die arabischen Staaten griffen Israel an, wurden jedoch vernichtend geschlagen. Die Abneigung wurde mit der israelischen Besetzung und Usurpation palästinensischer Gebiete seit dem Krieg von 1967 nicht geringer, und die mangelnde Bereitschaft und Unfähigkeit der arabischen Regime, Israel zurückzudrängen, muss von vielen Muslimen als große Demütigung empfunden worden sein.

Mehrere Regime im Nahen Osten haben mit westlichen Ideologien experimentiert. Versuche wie der arabische Sozialismus, der arabische Nationalismus und der Panarabismus scheiterten einer nach dem anderen. Allmählich verschwand in den meisten Ländern die Offenheit für westliche Ideen und die Aufgeschlossenheit für demokratische Werte oder Fortschrittsideale. Die Macht gelangte in den arabischen Ländern immer öfter in die Hände zynischer Despoten wie Saddam Hussein oder Vater und Sohn Assad, denen alle Religionen völlig gleichgültig waren. Die Sowjetunion und später die USA und ihre Verbündeten führten auf islamischem Territorium Kriege mit verheerenden Folgen.

Der Bankrott der westlich orientierten Reformbewegungen hinterließ ein ideologisches Vakuum. Nach einer Reihe von Desillusionierungen blieb nur eine Doktrin übrig, die als politische Ideologie lange Zeit nicht mehr ernst genommen worden war, die als Gesellschaftstheorie für die moderne Zeit hoffnungslos veraltet erschien, die aber mangels besserer Alternativen für viele immer attraktiver wurde: eine radikale politische Version des Islam. Natürlich war der Islam nie verschwunden gewesen. Im Gegenteil, diese Religion in all ihren Varianten war immer noch der Volksglaube schlechthin. Aber es gab auch politische Bewegungen, die sich auf den Islam stützten und sich immer schon gegen neumodische westliche Ideale wie Nationenbildung, Demokratisierung und gesellschaftliche Reformen gewandt hatten. So bekamen die ultraorthodoxen islamischen Strömungen den Raum, sich in der Politik Geltung zu verschaffen.

In Saudi-Arabien war der herrschende Clan bereits mehr als zwei Jahrhunderte zuvor eine monströse Allianz mit wahhabitischen Predigern eingegangen. Die Saudis konnten später mit ihren Öldollars jede Opposition im eigenen Land aufkaufen und jede Kritik mit salafistischen Predigten im Keim ersticken. Mit ihren Öldollars exportierten die Saudis auch eine erzkonservative Version des Islam in Moscheen auf der ganzen Welt. Dieser Salafismus hat manchen Konvertiten dazu inspiriert, sich dem bewaffneten Dschihad des Islamischen Staates oder seiner Ableger anzuschließen.

Die radikalen Versionen des Islams sind viel prüder, strenger und fordernder als die vergleichsweise flexiblen und toleranten Varianten, die von jeher in weiten Teilen Afrikas, des Nahen Ostens oder in Süd- und Südostasien dominierten. Die Imame vor Ort hatten im Islam stets einen großen Spielraum, ihre eigene Auslegung des Islam zu verkünden. Sie hielten sich oft an die einheimischen Traditionen. Und selbst den Regeln dieser ziemlich freisinnigen Auslegung folgen viele Menschen, insbesondere erwachsene Männer, nicht besonders genau.

In Südeuropa und Lateinamerika, wo eine relativ strenge Version des Katholizismus gepredigt wird, scheren sich die meisten Männer auch nicht besonders darum, was der Pastor predigt. So ungefähr stelle ich mir den liberaleren Islam vor, wie er vor 1917 in der Praxis existierte, und wie er auch noch lange danach fortbestanden hat und auch heute noch vielerorts, allen salafistischen Eiferern trotzend, besteht.

 

In der arabischen Welt liefen die Dinge nicht gut, auch nicht, nachdem sich die westlichen Eroberer nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Region zurückzogen. Die wahhabitische Lehre, eine strenge und starre Version des Islam, kam in weiten Teilen des Nahen Ostens in Umlauf, nicht jedoch im schiitischen Iran. Dieser Wahhabismus, auch Salafismus genannt, erinnert in vielerlei Hinsicht an jene freudlose Variante des Protestantismus, die reformierte Glaubenslehre, die in den Niederlanden so vielen Kindern das Leben vermiest hat, von dem der Erwachsenen ganz zu schweigen. Das lässt sich zumindest aus zahlreichen Kindheitserinnerungen niederländischer Schriftsteller wie Jan Wolkers, Maarten ’t Hart, Jan Siebelink, Maarten Biesheuvel schließen. Beide Glaubensrichtungen teilen eine Vorliebe für schier endlose Gottesdienste, fürs Predigen und Verkündigen, für häufiges, langes und inbrünstiges Beten, für schwarze Kleidung, und auch ihre Aversion gegen Bilder, Musik und Tanz.

Michiel Leezenberg hat in seiner kurzweiligen Studie gezeigt, wie sehr sich das Bild des Islams im Westen im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert hat,[154] was er auf die wachsende Orthodoxie in den islamischen Ländern zurückführt. Auch muslimische Einwanderer, die seit Mitte des letzten Jahrhunderts verstärkt nach Westeuropa kamen, wurden frommer, wenn sie eine Frau aus ihrem Herkunftsland heirateten und Kinder bekamen.

Jeder, der schon einmal durch das Musée d’Orsay in Paris, das der Kunst des 19. Jahrhunderts gewidmet ist, geschlendert ist, hat dort die »orientalistischen« Maler gesehen. Sie stellten die muslimische Zivilisation in Nordafrika und im Nahen Osten als exotisch dar: farbenprächtig, sinnlich und schwül, mit üppigen Akten, sinnlichen Haremsszenen und grausamen Kriegern oder Schergen. Diese Gemälde waren natürlich als pikante Darstellungen für die vornehmen Salons der europäischen Hauptstädte gedacht. Sie waren gewagt, gingen aber gerade noch als kostbare Prunkstücke durch, die die faszinierenden Sitten ferner Völker ins Bild setzen.

Die Zivilisation des Islams als Softporno – kein Künstler oder klammheimlicher Konsument gewagter Fotos würde heute noch wagen, das in Betracht zu ziehen. Und nicht alles war reine Fantasie. Die Moralvorstellungen in der islamischen Welt waren in der Tat oft weniger restriktiv, und von der prüden Angst vor der Sexualität, die im Westen zu dieser Zeit vorherrschte, war weniger zu spüren. Im Gegenteil. Es gab islamische Gelehrte, die vollkommen sachlich über Details und Varianten der Sexualität schrieben, ungefähr so, wie hier und heute in Kochbüchern über die Zubereitung von Gerichten referiert wird.[155] Ein Mann sollte als guter Liebhaber einer Frau im Ehebett und auch außerhalb des Ehebettes Freude bereiten. Gegen Homosexualität, bei Frauen wie bei Männern, gab es kaum Einwände. Aber ein Mann durfte nicht zulassen, dass man ihn penetriert. Das war unmännlich und eher etwas für junge Knaben. Die Knabenliebe wurde also auch nicht von vornherein abgelehnt. Diese lockeren und lustvollen Sitten blieben noch lange Zeit prägend und wurden erst in jüngerer Zeit, selbst in Ländern wie Indonesien oder Malaysia, wo Muslime mit Menschen anderen Glaubens zusammenleben, immer weiter zurückgedrängt.

 

In den Emiraten und Scheichtümern müssen die Einwohner ihren Wohlstand nicht selbst erwirtschaften. Das Öl ist vorhanden und muss nur noch gefördert werden. Das macht sie nicht gerade unternehmerisch. Genauso wie die Wahrheit seit 1500 Jahren in einem einzigen Buch bereitliegt; die Gläubigen müssen nur eine passende Passage aufschlagen. Auch das macht nicht gerade innovativ. Es lähmt sogar jede Initiative und jeden Erfindergeist.

Nirgendwo zeigt sich diese mangelnde Innovationskraft so deutlich und messbar wie an der Zahl der international anerkannten Patenten aus diesen Ländern. Diese Zahl liefert zwar ein einseitiges und vielleicht auch verzerrtes Bild, aufschlussreich ist sie dennoch. In den arabischsprachigen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens hat in den letzten 35 Jahren einer von 21.000 Einwohnern ein solches Patent erworben. Im Iran wurde im selben Zeitraum ein Patent pro 1400 Einwohner erteilt. Und in Israel, das in derselben Region liegt, wurde in diesen Jahren einem von 116 Israelis ein Patent erteilt. Das sind 181-mal so viele wie bei den Arabern.[156]

An Geld mangelt es nicht. Und auch am Bildungsniveau liegt es nicht allein. Obwohl die arabischsprachigen Länder hinter dem Bildungsniveau in Israel und Iran zurückbleiben, kann dies nur einen kleinen Teil des Unterschieds im Erfindungsreichtum erklären. Offensichtlich liegt es auch nicht an mangelnder Begabung der arabischsprachigen Bevölkerung. In New York, London und Paris studieren und arbeiten viele Araber auf höchstem Niveau in ihren jeweiligen Fachgebieten.[157]

Nein, es muss an der alles lähmenden Idee liegen, dass vor langer Zeit alles besser war, dass Reichtum bereits unter der Erde bereitliegt, dass alles Wissen von Bedeutung schon vor fast 1500 Jahren in einem einzigen Buch ein für alle Mal niedergeschrieben wurde. Der Salafismus trägt diese Wahnvorstellung bereits in seinem Namen: Das Wort salaf bedeutet Vorfahren. Sie wussten es besser. Jede Innovation ist also nicht nur überflüssig, sondern letztlich ein Rückschritt. Es ist unnötig, ja sogar schädlich, wenn sich jemand beispielsweise eingehend mit der Evolutionstheorie befasst, denn Allah hat die ganze Welt ein für alle Mal erschaffen. Und deshalb geht mit dem Regen nicht das Wasser auf die Erde nieder, das aufgrund von Sonnenerwärmung von der Erdoberfläche verdunstet ist. Nein, Allah entscheidet, wann und wie viel es regnet.[158] Er will, dass es regnet. Also regnet es.

Nach der Evolutionstheorie sind alle Lebensformen auf der Erde das Ergebnis von Vererbung, Mutation, Konkurrenz und Selektion. Passt dieses eine, ganz einfache und allumfassende Grundprinzip nicht viel besser zu einem allwissenden, allmächtigen Gott als die tagelange Tüftelei mit unzähligen einzelnen Arten während der Schöpfungswoche? Wird die Idee des Urknalls als Erklärung für den Ursprung des gesamten Universums der allmächtigen Einfachheit Gottes nicht eher gerecht als die ersten Verse des Buches Genesis?

Diese selbst gewählte Rückständigkeit hat in den arabischen Städten nicht immer geherrscht; es gab auch Blütezeiten der Wissenschaft und Kunst. Die heutige Unwissenheit wird bewusst als moderne Gottesfurcht kultiviert, als Zeichen höchster Frömmigkeit. Das ist kein Alleinstellungsmerkmal des Islams. In den USA gibt es rechtsextreme Obskuranten, die behaupten, die Erde sei eine Scheibe. Auch im Christentum gibt es Strömungen, die die Evolutionstheorie ablehnen, weil sie der Schöpfungsgeschichte widerspricht. Diese Finsterlinge haben im Westen nicht viel zu melden. Im Nahen Osten haben sie jedoch das Sagen.

In diesen heiligen Büchern steht vieles, aber nicht, wie man einen Blinddarm operiert oder einen Polio-Impfstoff herstellt, nicht, wie man einen Viertaktmotor, einen Laptop oder auch nur ein Feuerzeug zusammenbaut, nicht, wie man ein Integral oder die Entfernung zur Sonne berechnet. Alle Werkzeuge und Waffen, mit denen die Dschihadisten Tod und Verderben bringen, stammen aus dem gottlosen Westen oder dem noch gottloseren Osten. Selbst können sie nicht einmal eine Nagelschere herstellen. Sie basteln allenfalls eine Straßenbombe oder einen Bombengürtel mit einem importierten Mobiltelefon als Zünder.

Kurz gesagt, nach dem Ersten Weltkrieg wurde in den arabischen Ländern praktisch kein Fortschritt erreicht, weder in politischer, noch in wirtschaftlicher, noch in kultureller, und schon gar nicht in technischer oder wissenschaftlicher Hinsicht. Ich kenne die Erklärung für dieses monumentale Versagen auch nicht, aber ich habe meine Vermutungen. Seit einem Jahrhundert sprudelt das Öl einfach aus dem Boden, und dieser verdiente Reichtum hat es den arabischen Staaten ermöglicht, in ihrem Wahn und Wahnsinn weiterzuleben, ohne dafür je einen Preis bezahlen zu müssen. Denn für Erdöl kann man alles, wirklich alles kaufen. Und wenn man ein Leben lang mit Reichtum überschüttet wird, ohne selbst etwas dafür tun zu müssen, beginnt man vielleicht zwangsläufig an ein besonderes Verhältnis zu dem höchsten Wesen, das die Pumpe betätigt, zu glauben. Jedenfalls entwickelt sich eine Gesellschaft nicht zum Besseren, wenn die Kinder in der Schule den Koran auswendig lernen müssen oder die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung, die Frauen, nicht außer Haus arbeiten dürfen und in jeder Hinsicht dumm, kurz und klein gehalten werden. In ihrer sozialen, wirtschaftlichen und auch erotischen Frustration richten immer mehr religiöse Männer ihr Sinnen und Trachten auf das Jenseits, ein Paradies, in dem grenzenlose Sinnesfreuden mit unzähligen Huris auf sie warten.[159]

Alle fundamentalistischen Weltanschauungen, ob sie nun dem Hinduismus, dem Konfuzianismus, dem Buddhismus, dem Islam oder dem Christentum entsprungen sind, verstärken die Unterdrückung der Frau, die stets als den Männern unterlegen gilt. Die Dschihadisten bilden da keine Ausnahme. Sie gehen in ihrem Frauenhass und ihrer Gewalttätigkeit nur noch weiter als die meisten anderen Sekten. Obwohl sie nicht gerne darüber sprechen, ist die Unterdrückung der Frauen für sie keine Nebensächlichkeit. Wie sollte sie das auch sein können? Immerhin geht es hierbei um die Entrechtung der Hälfte der Menschheit. In dieser Hinsicht ist der Dschihad in erster Linie ein Kampf gegen den Aufstieg und die Gleichberechtigung der Frauen.

 

Wie schon erwähnt, hat sich das Bildungswesen selbst in den reaktionärsten arabischen Ländern in den letzten 50 Jahren enorm entwickelt. Erwachsene Frauen können heute, auch in der arabischen Welt, ebenso gut lesen und schreiben wie die Männer. Sie sind nicht mehr die ungebildeten, unzivilisierten, naiven, charmanten kleinen Geschöpfe von einst. Mehr noch, eine jüngere Generation von Mädchen hat für gewöhnlich weiterführende Schulen besucht, sogar eine höhere Ausbildung absolviert. Eine Vielzahl von Frauen hat inzwischen einen Hochschulabschluss. Doch die Anerkennung bleibt diesen neuen, kompetenten Frauen verwehrt. »Die niedrige Beschäftigungsquote von Frauen ist eine tragische Verschwendung von Ressourcen«, schreibt der verdienstvolle Arab Human Development Report.[160]

Gleiches Wissen, aber nicht die gleichen Rechte. Um diesen Status quo aufrechtzuerhalten, braucht es einen umfangreichen Repressionsapparat. Eine Sittenpolizei soll Frauen von der Straße fernhalten, sie daran hindern, auf öffentlichen Plätzen zu erscheinen, und darüber wachen, dass kein Haar und kein Zeh von ihnen zu sehen ist.[161]

Al-Qaida spielte sich als der große Kämpfer gegen die morschen arabischen Regime auf. Ihr Nachfolger, der Islamische Staat, ging mit noch größerer Härte gegen die in der Region herrschenden Ölscheichs vor. Doch wenn es um die Anwendung der Scharia in ihrer strengsten und extremsten Form geht, unterscheiden sich die amtierenden Regierungen und die rebellischen Dschihadisten nicht groß voneinander. Die konservativen arabischen Länder unterdrücken die Frauen nur im eigenen Land. Die Dschihadisten hingegen wollen allen Muslimen weltweit eine noch gewaltvollere Schreckensherrschaft über Frauen auferlegen. Ihre Frauenfeindlichkeit treibt sie im Extremfall zur Vernichtung von Frauen.

 

Auch der IS unterhielt eine spezielle Frauenpolizei, eine Polizeitruppe von Frauen gegen Frauen: die Al-Khansaa-Brigade. In einer Broschüre, die sich an junge Frauen richtet, die in Erwägung ziehen, sich dem IS anzuschließen, schreibt der anonyme Verfasser: »In der Tat, eine Frau kann ihre Rolle nicht erfüllen, wenn sie nicht alphabetisiert oder unwissend ist.«[162] Im Alter zwischen sieben und neun Jahren werden die Mädchen in Religion, in der arabischen Sprache des Korans unterrichtet und … in science ! Dabei handelt es sich offenbar um »Buchführung und Naturwissenschaften«. Damit hat es sich. Danach lernen die Mädchen dann nur noch etwas über Fiqh (islamisches Recht), vor allem über die Regeln für Ehe und Ehescheidung. Auch Weben, Stricken und einfaches Kochen werden unterrichtet. In späteren Jahren werden die Mädchen noch in handwerklichen Fertigkeiten unterrichtet, insofern diese für die Erziehung ihrer Kinder nützlich sind. Nach diesen wenigen Lehrjahren können sie heiraten, am besten mit 16 oder 17, wenn sie noch »rein« sind. Streng genommen sind sie nach dem Gesetz der Scharia schon ab einem Alter von neun Jahren heiratsfähig.

Jede Feministin – und alle, die es gut mit den Mädchen meinen – ärgert sich darüber grün und blau. Aber immerhin. Immerhin durften beziehungsweise mussten sie zur Schule gehen, jedenfalls nach Aussagen der Frauenbrigade der doktrinärsten, orthodoxesten und reaktionärsten Bewegung der Welt. Warum ist das so? Lasst diese Mädchen doch so schnell wie möglich heiraten und einfach das tun, was der Ehemann ihnen sagt, wie es ihnen doch so nachdrücklich aufgetragen wird. Nein, selbst in diesem Milieu, dem absoluten Tiefpunkt an Frauenverachtung, werden die Mädchen trotz allem zur Schule geschickt und im Arabisch des Korans unterrichtet. Sie lernen die Grundlagen der Sprache des heiligen Buches, des islamischen Rechts und der klassischen arabischen Literatur. Das bedeutet, dass sie im Prinzip als vollwertige Gläubige anerkannt werden.

Aber mehr ist nicht zu erwarten. Denn, so heißt es im Handbuch der Al-Khansaa-Brigade weiter (in fast schon amüsantem Ton):

Frauen müssen nicht so hart schuften, nicht von einem Ort zum andern reisen, um sich damit den westlichen Lebensstil in einer wesensfremden Gesellschaft zu eigen zu machen oder die Hirnzellen von Krähen, Sandkörner oder die Adern von Fischen zu studieren.

Sie sollen einfach im Haus bleiben, ihren Ehemännern dienen und ihre Kinder erziehen, fünfmal am Tag beten, einen Monat lang fasten, ihren Körper pflegen und ein keusches Leben führen. »Sie muss nicht von hier nach dort eilen, um Abschlüsse oder so etwas zu machen, nur um zu beweisen, dass ihre Intelligenz die eines Mannes übertrifft.«

An dieser Textstelle scheint es, als ob für einen Moment, zufällig, ein Lichtstrahl in einen verdunkelten Raum fiele. Plötzlich leuchtet eine bis dahin verborgene Möglichkeit sehr hell auf: »… beweisen, dass ihre Intelligenz die eines Mannes übertrifft«. Könnte sie wirklich intelligenter als ein Mann sein? Würde das diesen Mann nicht eifersüchtig machen oder verunsichern? Sollte sie ihre Intelligenz nicht besser verbergen?

Die Frauen müssen im Haus bleiben, sich ruhig verhalten, sich stets im Hintergrund halten. Aber, so tröstet Al-Khansaa, ihnen falle die schwierigste aller Rollen zu: Sie führen in gewisser Weise Regie, ähnlich einem Regisseur, der wichtigsten Person bei einem Fernsehdreh, die hinter den Kulissen alles regelt und entscheidet.[163] Ist da vielleicht doch noch eine zweite Fantasievorstellung im Spiel? Die Frau ist zwar außerhalb des Hauses nicht mehr als eine Schattengestalt, aber innerhalb des Hauses trotz allem der Boss?

Das ist der älteste, immer gern mit einem komplizenhaften Augenzwinkern zitierte Satz aus dem patriarchalischen Lehrbuch: »Da kannst du sicher sein, die liebe Frau entscheidet, zu Hause hat sie die Fäden in der Hand und den Daumen auf dem Geld.« Mitunter wird das sicherlich so sein, in manchen Haushalten mehr, in anderen weniger. Aber die gesellschaftliche Macht, die Macht des Rechts, des Gehalts, der Geschäftsfähigkeit, des Zugangs zu Institutionen, des Kontaktes zu Geschäftspartnern, der Körperkraft, all das liegt in patriarchalen Gesellschaften deutlich mehr auf Seite des Mannes. Während die Frau damit beschäftigt ist, die Regie über die saubere Unterwäsche und die Töpfe auf dem Herd zu führen, treibt den Mann die Leitung einer Terrorgruppe oder die Planung eines Volksaufstands um.

Die Frauen von Al-Khansaa lamentieren: Die Männer hätten ihre Männlichkeit verloren; wären sie noch Männer, wären die Frauen auch noch Frauen. Weil die Männer aber Schwächlinge seien, führten sich die Frauen wie die Herren im Haus auf. Auch diese Klage kommt aus den verschiedensten Ecken, selbst von den ärgsten Feinden der Dschihadisten, den Rechten in den USA: Der Mann müsse wieder zum Mann werden; dann werde die Frau wieder eine Frau sein. Darüber sind sie sich alle einig. Demzufolge sind die existierenden Männer und Frauen gar keine »echten« Männer oder Frauen, sondern nur ein schwacher Abglanz des wahren männlichen oder weiblichen Wesens. Und was dieses wahre Wesen ausmacht, wissen sie beim IS (zumindest bei seinem weiblichen Zweig, Al-Khansaa) genauso gut wie bei Alt-right-Aktivisten oder christlichen Fundamentalisten.

Frauen erwartet eine noch schwierigere Aufgabe: »In der Tat, einen Sohn Adams zu gebären, zu nähren und aufs Leben vorzubereiten, ist eine schwere Aufgabe, die Gott Adams Frau anvertraut hat.«[164] Dass dieser Sohn Adams auch ihr Sohn ist, bleibt unerwähnt. Um Töchter geht es hier schon gar nicht. Der männliche Mehrwert ist eine Selbstverständlichkeit, die keiner Erwähnung bedarf.

Im Folgenden zitiere ich Amjad Al-’Ubeidi, den Kommandanten des Islamischen Dschihad in Dschenin (im palästinensischen Westjordanland). Er spricht über eine Mutter, die nach ihrem Sohn nun auch eine Tochter, Hanadi, bei einem Selbstmordattentat verloren hat.[165]

Sie [die Familienangehörigen] haben ein Recht auf Trost. Aber Worte sind nicht genug. Sie haben [vor Hanadi] einen Sohn verloren. Nichts ist wertvoller als ein Sohn. Sie haben einen Sohn verloren. Der Verlust eines Sohnes berührt in unserer Gesellschaft die Seele um ein Vielfaches mehr als der Verlust einer Tochter. Der Verlust von zehn Töchtern ist nicht so schlimm wie der Verlust eines Sohnes. So ist es in unserer Gesellschaft. Ein Sohn ist seinen Eltern lieber als eine Tochter. Weil seine Rolle im Leben größer ist, ist auch das Leid schwerer.

Kommandant Al-’Ubeidi meint es gut. Ihm ist sogar völlig klar, dass es nicht ganz selbstverständlich ist, Männern einen höheren Wert zuzusprechen als Frauen. In anderen Kulturen liegen die Dinge anders. Und das ist nicht ganz an ihm vorbeigegangen: »in unserer Gesellschaft« präzisiert er daher zweimal.

Die Mutter der Märtyrerin Hanadi und des getöteten Sohnes antwortete:

Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich meine Tochter dann in den Tod gehen lassen? Ich hatte bereits ein Kind geopfert. Würde ich noch eines opfern? Würde jemand so etwas zu seinen Eltern sagen? Nichts ist so wertvoll wie ein Kind. Selbst wenn sie einem ganz Palästina anbieten würden, würde man lieber alles aufgeben, als einen Sohn zu verlieren. Wenn man ein Kind hat, ist nichts anderes wertvoller. So hat Allah es gewollt. Gepriesen sei Allah.

Die Mutter spricht über ihre toten Kinder.

 

Die Propaganda für die Rekrutierung von Frauen für den IS steht in diametralem Gegensatz zur Realität des Lebens im Islamischen Staat. Hatten sich die Frauen einmal beim IS gemeldet, kamen sie unter die Aufsicht der Frauenpolizei. In der syrischen Stadt Raqqa patrouillierten Al-Khansaa-Brigadistinnen mit Gewehren und Granaten durch die Straßen, um Frauen des IS, die sich »unislamisch« verhielten, zu bestrafen. Frauen, die sich nicht an die strenge Kleiderordnung hielten, konnten zwischen der Peitsche oder dem »Beißer« wählen. Wer glaubte, mit dem Beißer besser davonzukommen, irrte sich gewaltig: Es handelt sich um eine scharf gezahnte Klemme, die vorzugsweise auf die Brust gesetzt wird und dort tiefe Wunden hinterlässt, oft mit irreversiblen gesundheitlichen Folgen.[166]

Die Frauen, die sich dem Islamischen Staat anschlossen, können sicherlich nicht allesamt als Opfer betrachtet werden, sich selbst sahen sie ohnehin nicht so. Die niederländische Expertin für Frauen im Islam, Annelies Moors, »chattete« in den sozialen Medien mit einer Reihe junger Frauen, die sich freiwillig dem IS in Syrien angeschlossen hatten.[167] Die meisten von ihnen wollten vor allem unter einem reinen Scharia-Regime leben und waren dort fast ausschließlich mit ihrer häuslichen Existenz als Ehefrau, Mutter und schon bald, und immer häufiger, auch als Witwe beschäftigt. Diese Frauen waren erst in die Region gekommen, nachdem der IS bereits Gebiete unter seine Kontrolle gebracht hatte, und sie äußerten sich, bevor die Dschihadisten dort mit viel Gewalt wieder vertrieben wurden. Ihr Witwenstatus verschaffte ihnen Ansehen und das Anrecht auf eine finanzielle Unterstützung.

William McCants schreibt über Frauen beim IS, die sich nicht auf die Haushaltsführung beschränkten, sondern vollauf am Kampf beteiligten.[168] Ebenso wie die Männer waren sie auf Abenteuer aus, wollten Teil von etwas Größerem sein, waren entrüstet über das Leid ihrer Glaubensbrüder oder glaubten, dass das Ende aller Zeiten angebrochen war. Sie akzeptierten die strengen Restriktionen, die der IS Frauen auferlegte, aus tiefster Überzeugung. In Blutdurst und Fanatismus standen sie den Männern nicht nach. Manche von ihnen standen bei den Massenvergewaltigungen gefangener Frauen Wache und bejubelten die Massenexekutionen durch Enthauptung. Es kam nicht oft vor, dass Frauen direkt am bewaffneten Kampf beteiligt waren, sie wurden hauptsächlich als Wachposten und für Selbstmordattentate mit dem Bombengürtel eingesetzt.

Frauen waren unter den Freiwilligen, die sich dem IS anschlossen, in der Minderheit, aber auch aus Westeuropa haben sich Hunderte auf den Weg gemacht. Der französische Psychoanalytiker Fethin Benslama und der Soziologe Farhad Khosrokhavar weisen darauf hin, dass diese jungen Frauen in den Dschihadisten den idealen Mann sahen: männlich, ernsthaft und aufrichtig, bereit, sich zu opfern.[169] Sie fühlten sich stark zu dem islamischen Familienideal hingezogen, das für die Frau Unterordnung und Häuslichkeit vorsah. Darin erblickten sie eine klare und stabile Alternative zu den chaotischen Beziehungen in modernen Familien, in denen niemand mehr Autorität ausübt und die allzu oft durch Scheidungen auseinandergerissen werden.

Der tiefe Glauben war für die Frauen, die sich entschlossen, sich dem IS anzuschließen, häufig nicht der einzige und noch nicht einmal der wichtigste Grund. Oft spielten auch persönliche Probleme eine Rolle oder eine allgemeine Unzufriedenheit mit der westeuropäischen Gesellschaft, in der sie aufgewachsen waren.[170] Benslama und Khosrokhavar gehen davon aus, dass der radikale politische Extremismus sowohl von links als auch von rechts praktisch verschwunden ist. (Der Rechtsextremismus macht sich inzwischen allerdings wieder bemerkbar.) In dieser ideologischen Leere ist für Menschen mit einem Hang zum Fanatismus allein der Dschihadismus als wirklich radikale Alternative geblieben. Nur dort können Anhänger in der Verherrlichung von Unterwerfung, Gewalt und Tod schwelgen. Wie ich weiter unten zeigen werde, bieten auch die extremen Varianten der neuen, westlichen Rechten ihren Anhängern dazu reichlich Gelegenheit.

Die Stellung der Frauen unter der Herrschaft des IS war ein mehr oder weniger getreuer Vorgeschmack auf den Platz, den Frauen einnehmen würden, wenn das Kalifat einmal die gesamte islamische Welt beherrschen und die klassische Scharia unverwässert Anwendung finden sollte.

Frauen, die nicht als Musliminnen, als sunnitische Musliminnen galten, hatten unter dem IS keinerlei Rechte. Patrick Desbois, ein französischer Priester, der früher die Vernichtung der Juden in der Ukraine durch die Nazis untersucht hatte, ist unmittelbar nach dem Zusammenbruch des IS gemeinsam mit Costel Nastasie in das Gebiet gereist, das die Dschihadisten bis dahin besetzt gehalten hatten. Die beiden wollten auf dieser Expedition dokumentieren, was mit den Jesiden geschehen war, einem zahlenmäßig kleinen Bergvolk, das fast vollständig in die Hände des IS gefallen war.[171] Die Autoren sammelten möglichst viele Beweisstücke und Zeugenaussagen von Überlebenden.

Die jesidischen Männer wurden größtenteils umstandslos umgebracht. Die Frauen als rechtlose Sexsklavinnen betrachtet. Als Kriegsbeute wurden sie meistbietend verkauft und landeten in Bordellen in nahöstlichen Ländern. Darüber hinaus unterhielt der IS auch eigene Bordelle, in denen die Kämpfer Befriedigung finden konnten. Auch Kinder verschonte man dort nicht. Mädchen, die neun Jahre oder jünger waren, wurden von vier oder fünf Soldaten vergewaltigt. Während einer sich an dem Mädchen verging, wurde es von den anderen festgehalten. Frauen vom IS beteiligten sich als Wächterinnen und Bordellbetreiberinnen an diesen Schändungen. Dabei handelte es sich nicht um vereinzelte, heimlich begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie waren Teil der öffentlichen Praxis und der offiziellen Ideologie des IS. Nicht anders verhielt es sich mit der seelenverwandten Boko Haram in Nigeria.[172]

Die Dschihadisten räumen ganz offen ein, dass sie gefangene Gegner versklaven und rechtfertigen auch ihren sexuellen Missbrauch geraubter Mädchen mit Verweis auf den Koran und die Tradition, Beispiele gibt es dafür viele.[173] So wurde ein geraubtes jesidisches Mädchen gefesselt und geknebelt, ein IS-Krieger kniete neben ihr nieder, um zu beten, vergewaltigte sie und kniete anschließend erneut zum Gebet nieder. Er hatte seine muslimische Pflicht im Sinne der vom IS offiziell propagierten Vergewaltigungs-Theologie getan.[174] Bei solchen Vergewaltigungen geht es nur nebensächlich darum, dass der Täter dabei seine Lust befriedigt. Was bedeutet eine gewaltsame Vergewaltigung darüber hinaus für die Täter? Welchen Zweck verfolgen sie damit, kleine Kinder zu zerstören? Welche Bedeutung hat es, wenn sich eine Handvoll Männer, Seite an Seite mit dem Vergewaltiger, der gerade an der Reihe ist, tatkräftig beteiligt?

 

Die jesidischen Mädchen, die den IS-Kämpfern als »Braut« zugeteilt wurden, mussten jederzeit an der Seite ihres Mannes bleiben. Manchmal trugen sie wie er einen Bombengürtel, um stets zur Selbstaufopferung bereit zu sein. Sie mussten Folterungen und Massenexekutionen von Jesiden durch ebenjene IS-Kämpfer miterleben und durften weder Abscheu noch Ablehnung zu erkennen geben. Mit der Zeit wurden sie »selbst IS«, wie sie später erklärten. Denn sie konnten sich nur die Gedanken und Gefühle leisten, die ihnen aufgezwungen wurden. »Was hast du dabei gefühlt?« »Ich fühlte nichts. Ich war auch IS.«[175]

Diese ach so frommen Männer waren immer bereit zu sterben. Sie liebten und lieben den Tod. Was zum Teil daran liegt, dass sie, wie so viele Gläubige, die Realität des Todes einfach leugnen. Sterben ist für sie nur ein Schritt, ein kurzer Übergang von diesem Leben durch das Tor des Todes zur ewigen paradiesischen Glückseligkeit. Nicht ihre Bereitschaft zu sterben ist es, die überrascht, sondern ihre Gutgläubigkeit. Die Islamisten teilen diese Liebe zum Tod mit den Faschisten in aller Welt: »Viva la muerte«, es lebe der Tod, war der Schlachtruf der Franco-Kämpfer. Offenbar waren sie so von Hass und Mordlust erfüllt und so begierig darauf zu töten, dass sie bereit waren, das Risiko, selbst zu sterben, sozusagen als Kollateralschaden, als Begleiterscheinung, bereitwillig in Kauf zu nehmen.[176]

Die Vorstellungen vom Paradies der Islamisten offenbaren einmal mehr ihre Besessenheit von Frauen und Sexualität, die sie ein Leben lang im Griff hält, bis der Tod eintritt. Denn was bedeutet für sie Herrlichkeit und Seligkeit bis in alle Ewigkeit? Frauen, bildschöne Frauen, so viele und so oft man will, immer wieder aufs Neue jungfräulich, verfügbar, immer makellos, immer willig. Aber eben posthum. 72 sind es in einigen Schriften, jede begleitet von 70 Dienerinnen, die zwischendurch auch genommen werden dürfen. Das macht 5112. Hinzu kommen noch jene Frauen, die der Sterbliche in seinem irdischen Leben geliebt hat, auch sie sind erneut verfügbar. Nie hat eine ihre Tage, nie wird eine schwanger oder hat gerade mal keine Lust. Es versteht sich von selbst, dass der Auserwählte im Paradies mit nie endender Erektion begnadet ist und jedes Mal zum Orgasmus kommt. In maßgeblichen Texten aus früheren Epochen stehen dem Liebhaber im Jenseits auch Knaben zur Verfügung.[177] Zugegeben: als Fantasie ist das deutlich farbenfroher als die christliche Erdichtung, wonach der auserwählte Gläubige in alle Ewigkeit zu Füßen Gottes sitzen und Psalmen singenden Chören lauschen darf.

Der unbekannte Gelehrte, der unter dem Pseudonym Christoph Luxenberg schreibt, führt die Bezeichnung Huris für diese himmlischen Frauen auf ein aramäisches Wort zurück, das »weiße Weintraube« bedeutet.[178] Nach dieser Deutung wäre also alles ein großes Missverständnis. Das muss in islamischen Kreisen wohl Anstoß erregt haben (daher das Pseudonym). Die radikalen Salafistenprediger, die junge Muslime für den bewaffneten Kampf begeistern sollen, versprechen schließlich keine zarten Früchte, sondern unbegrenzte Sinnesfreuden im Jenseits.

Diese erotische Phantasmagorie steht in einem engen Zusammenhang mit der sexuellen Misere in der arabischen Welt. Im letzten halben Jahrhundert ist die Moral immer prüder und die Religion immer puritanischer geworden. Viele junge muslimische Männer kommen nicht zum Zug. Folglich müssen auch viele junge muslimische Frauen zu kurz kommen. Davon, wie es den Frauen dabei ergeht, hört man viel weniger. Als Lektüre zum Thema empfehle ich an dieser Stelle Excellent Daughters von Katherine Zoepf, die über die Eskapaden junger, wohlhabender arabischer Frauen schreibt.[179]

Mag die Frau auch zu Hause verborgen und außer Haus verhüllt sein, so sind doch Männer und Frauen von erotischen Gedanken und Wünschen besessen. Sie sorgen sich, dass andere auch solche schändlichen Fantasien haben könnten, und müssen deshalb selbst ständig daran denken. Extreme sexuelle Entbehrung in diesem Leben geht Hand in Hand mit dem Versprechen einer ebenso extremen erotischen Befreiung im nächsten Leben. Was kann zu einer perversen Faszination von Sex und Tod führen kann.

In all diesen Fantasien sind Frauen keine Mitmenschen, Bettgenossinnen oder Geliebten, die sich mit einem Mann vergnügen, mit ihm streiten oder einfach nur reden. Sie sind – auch und gerade im Himmel – nichts als Objekte, im günstigsten Fall äußerst begehrenswerte Körper. Immer sind sie in Besitz eines Mannes, aber allzu oft eines anderen Mannes. Solche weiblichen Objekte müssen in diesem Leben daher immer unter Verschluss oder in Verwahrung gehalten werden. Sie könnten weglaufen oder, was noch viel schlimmer wäre, ein anderer Mann könnte zu seiner eigenen Lustbefriedigung Gebrauch von ihnen machen. Im Paradies hingegen werden sie umsonst und dauerhaft von Gott selbst zur Verfügung gestellt.

So funktioniert das perverse Paradoxon der dschihadistischen Prediger: Indem sie die Frauen im alltäglichen Leben durch extrem prüde Lehren und Verhaltensregeln immer unerreichbarer machen, wird auch die sexuelle Befriedigung für junge Männer – und Frauen – immer unerreichbarer, außer für diejenigen, die sich für den Dschihad entscheiden, für Kampf und Tod. Denn für die dschihadistischen Kämpfer werden Bräute gesucht, die sich ganz und gar den Wünschen ihrer kriegerischen Ehemänner fügen. Für diese Krieger gibt es als Kriegsbeute auch Sexsklavinnen. Mit ihnen können sie tun, was ihnen in den Sinn kommt. Und es gibt keine Niederträchtigkeit, die diesen frommen prüden Oberhäuptern nicht prompt in den Sinn käme. Und sollte ein Dschihadist umkommen, erwarten ihn jenseits der Schwelle des Paradieses ewige und grenzenlose Sinnenfreuden mit 5112 Jungfrauen.

 

Die radikalen Faschisten und Nationalsozialisten wurden 1945 nach einem überraschend schnellen Aufstieg vernichtend geschlagen. Diese Bewegungen existierten gerade mal ein Vierteljahrhundert, aber in dieser Zeit haben sie unvorstellbare Verwüstungen und Blutbäder angerichtet, nichts als Zerstörung. Der Kommunismus begann seinen Aufstieg früher, und er dauerte länger: fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch. Er hat mindestens ebenso große Verwüstungen angerichtet. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Kehrtwende in China ist von dieser Ideologie auch nicht mehr viel übrig, höchstens noch ein paar fossile Tyranneien und unangebrachte Nostalgie. Es sind nicht mehr viele extreme Alternativen übriggeblieben.

In der arabischen Welt bot sich immerhin noch eine radikale Option an: der Islamismus, in dem sich alles um die Unterwerfung der Frauen dreht. Der große Kampf der Islamisten richtet sich tatsächlich nicht so sehr gegen den Westen selbst, sondern gegen die Ideen der Emanzipation, die als westlich betrachtet werden. Sie sind es, die die radikalen Islamisten mit aller Macht bekämpfen. Sie wenden sich nicht vorrangig gegen die herrschenden arabischen Regime, sondern gegen jeglichen Angriff auf männliche Vorherrschaft. Das mit so viel Fanatismus verkündete Weltkalifat wird nicht kommen. Aber dort, wo Islamisten das Sagen haben, sind sie in der Lage, jeden Schritt zur Befreiung der Frau zu blockieren oder rückgängig zu machen. Infolge der perversen Unterdrückung der Frau sind sie nicht imstande, sich Frauen als Menschen vorzustellen, die den Männern gleichgestellt sind. Die männliche Sexualität verharrt so in Besitzdenken und Machtstreben. Natürlich, auch im Islamismus können sich ein Mann und eine Frau gegenseitig respektieren und lieben, aber in ihrer Ideologie gibt es dafür keine Worte oder Umgangsformen. Die Sprache der Liebe wird im Islamismus weder gesprochen noch verstanden. Und doch passt sie zum Islam.

Der radikale Islamismus, der Dschihadismus, ist eine Ideologie der Frauenunterdrückung, der Verherrlichung von Gewalt und Tod, der Vertreibung und Ausrottung Andersgläubiger und des religiösen Zwangs. Faschismus im islamischen Gewand.[180] Denn der Faschismus als reine Gewaltdoktrin braucht immer ein Gewand, um seinen eigenen Nihilismus zu verdecken: das Volk, den Führer, die Umma, das Weltkalifat.

Der Islamismus ist nicht der Kern des Islams, er ist ein Auswuchs, ein Seitenarm. Im weiten Stromgebiet des Islams gibt es zahlreiche Ausprägungen, die sich sehr gut mit Menschenrechten, Demokratie und Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Anderslebenden vereinbaren lassen. Ein derart Gesinnter muss allerdings mit einigen hinderlichen Regeln in den heiligen Büchern oder den Überlieferungen ein wenig mogeln. Allal al-Fassi, ein progressiver Salafist und Begründer der Demokratie in Marokko, verkündete, dass der Islam gekommen sei, um die Frau zu befreien. Frauen hätten in allen Bereichen die gleichen Rechte und Pflichten wie Männer. Sie sollten mit den Männern im Haushalt, im Beruf und in der politischen Arena zusammenarbeiten.[181] Auch dies ist im Islam zweifellos eine vertretbare Ansicht. Alle Religionen gehen hin und wieder klammheimlich über einige Grundsätze ihrer Glaubenslehre hinweg. Es gibt allen Grund zur Hoffnung, dass sich ein liberaler Islam auch in Westeuropa entfalten wird. Der französische Politikwissenschaftler Dominique Moïsi schreibt:

Eine wachsende Zahl gut ausgebildeter muslimischer Frauen der zweiten Einwanderergeneration in Europa, Amerika und in den islamischen Staaten kämpft innerislamisch für Frauenrechte. Dies mag sich mit der Zeit als die wirkkräftigste Revolution überhaupt erweisen.[182]

Die anderen großen Weltanschauungen Asiens – Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus und Shintoismus – verkünden ebenfalls die Vorherrschaft des Mannes über die Frau. Ebenso wie die Buchreligionen, das Judentum, das Christentum und der Islam, sind sie aus Agrargesellschaften hervorgegangen. Dort bestimmten die Clan- und Familienverbände die sehr ungleichen Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Frauen finden sich in diesen asiatischen Gesellschaften auch heute noch in einer untergeordneten Position. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Praxis nicht so sehr von der alltäglichen Realität in Gemeinschaften, in denen der jüdische, christliche oder islamische Fundamentalismus dominiert. Auch die extremen Auswüchse der Misogynie unterscheiden sich davon kaum. Das Patriarchat war nicht nur ein westliches Phänomen, es war eine nahezu universelle Erscheinung, ein Allgemein Menschliches Muster, das in Asien ebenfalls noch fortbesteht.

Auch in Asien befinden sich die Frauen im Aufschwung, sie gehen in immer größerer Zahl immer länger zur Schule, bekommen weniger Kinder, arbeiten häufiger außer Haus und setzen sich für die Gleichberechtigung ein. In Ländern wie Indien, China oder Japan versuchen reaktionäre Männer, sie in eine untergeordnete Position zurückzudrängen, wenn es sein muss mit Einschüchterung und Gewalt. Von Zeit zu Zeit berichten westliche Medien über Männer, die Frauen durch Zudringlichkeiten und sexualisierte Gewalt auf der Straße und in öffentlichen Verkehrsmitteln das Leben außerhalb des Hauses unmöglich machen. Gelegentlich erfährt man von extremen Grausamkeiten gegen Frauen und Mädchen, die angeblich gegen dieses oder jenes traditionelle Gebot oder Verbot verstoßen haben. So werden sie in die Unterwürfigkeit zurückgescheucht. Um die asiatische Despotie der Männer über die Frauen adäquat zu beschreiben, wäre ein ganzes Buch nötig, ein anderes Buch. Ich bin kein Allwissender und muss mich beschränken. Es ist an der Zeit für eine Welt-Enzyklopädie der Frauenfeindlichkeit. Darin fände sich leider noch sehr viel mehr von der gleichen Art.

Die Alte und Neue Rechte im Westen

Früher war alles besser.

 

 

Rechte Gruppierungen im Westen sind ein bunter Haufen, der von frommen Eiferern bis zu libertären Atheisten reicht. In einem Punkt sind sie sich jedoch alle einig, und zwar darin, dass Frauen dort bleiben sollten, wo sie hingehören: zu Hause, in der Küche, im Schlafzimmer und im Kinderzimmer. Fast immer wenden sie sich gegen Immigration, fordern ein hartes Durchgreifen gegen Kriminelle, wollen das »Volk«, die »weiße Rasse« oder die »Gemeinschaft der Gläubigen« vor fremdem »Schmutz« schützen, sehen das kulturelle Erbe und die altehrwürdigen Traditionen durch Neuerungswahn bedroht und lehnen in großer Mehrheit Abtreibung, Empfängnisverhütung und Homosexualität ab. Darüber hinaus betrachten sie den Islam im Allgemeinen und den Dschihad im Besonderen seit Jahren als die größte Gefahr für die westliche Zivilisation.

Wähler aus dem rechten Spektrum setzen sich weniger für die Gleichberechtigung der Frauen ein als der Rest der Wählerschaft. Der European Social Studies Dataset umfasst Daten aus Meinungsumfragen, die in fast allen europäischen Ländern in den Jahren 2004, 2008 und 2010 durchgeführt wurden. Darin sind zwei Fragen zur mangelnden Gleichstellung der Geschlechter enthalten: Haben Männer ein größeres Anrecht auf einen Arbeitsplatz als Frauen, wenn Arbeitsplätze knapp sind? Und: Sollten Frauen dazu bereit sein, zum Wohle der eigenen Familie weniger bezahlte Arbeit zu leisten? Wähler der rechten Parteien beantworteten beide Fragen deutlich häufiger mit »ja« als andere. Wähler linker Parteien hingegen antworten eher mit »nein«. Umgekehrt gilt: Auch wenn man den Einfluss anderer Variablen eliminiert, wählen die Befragten, die sich stärker für die Gleichheit der Geschlechter einsetzen, offensichtlich häufiger linke Parteien und seltener rechte als andere Wähler. Der erwartbare Zusammenhang wird also durch die vorliegenden Zahlen bestätigt.[183]

 

Auch die religiöse Rechte ist keine homogene Gruppe. Jede Religion kennt einen – mal engeren, mal breiteren – Rand von politischen Extremisten. Der katholische Faschismus, der unter Mussolini in Italien und Franco in Spanien triumphierte, hat bis heute eine starke Anhängerschaft in Lateinamerika und verfügt über vereinzelte Splittergruppen in den USA. Die Speerspitze der orthodoxen Katholiken bildet die Anti-Abtreibungsbewegung. Aber auch die evangelikalen Protestanten, die vor allem in den Vereinigten Staaten eine starke Basis haben, gewinnen in Lateinamerika und aktuell auch mancherorts in Asien und Afrika immer mehr Anhänger. Gerade diese Glaubensrichtung vermag auch viele Frauen anzuziehen. Und das obwohl sie eine sehr patriarchalische Haltung hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Geschlechtern verkündet. Auch unter gläubigen Juden treten ultraorthodoxe Sekten mit einer extrem reaktionären Auffassung zu Frauenrechten in Erscheinung. Es ist nicht schwer, unter Hindus und Buddhisten ähnliche extrem sexistische Strömungen auszumachen. Wer also denken sollte, dass nur Muslime von männlicher Vorherrschaft besessen sind, wird seine Meinung schnell revidieren müssen. Patriarchalische Lehren und Traditionen sind ein wesentliches Merkmal aller etablierten Religionen. Sie wurzeln in den sozialen Verhältnissen, die in der Zeit herrschten, als diese Religionen entstanden sind bzw. an Einfluss gewonnen haben. Die Vorschriften, die heute als Beschränkung der Frauen angesehen werden, trugen damals oft gerade zu einer Verbesserung ihrer Stellung bei.

 

Man muss freilich nicht an Gott glauben, um rechts zu sein. Die rechtsradikalen Gruppierungen, die im letzten Vierteljahrhundert in den USA und Europa aufkamen, sind selten offen atheistisch. Eigentlich ignorieren sie jegliche Religion völlig. Wenn es passt, nutzen sie die Religion für ihre Zwecke. In Westeuropa passt dieses Muster gut zur fortgeschrittenen Säkularisierung. Religiöse Streitpunkte, die in den 1950er und 1960er Jahren noch tiefe Gräben zwischen den Wählern aufwarfen, sind schon seit Jahrzehnten kaum noch von Bedeutung. Streitpunkte wie Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Ehe sind größtenteils beigelegt und spielen in den meisten westeuropäischen Ländern kaum noch eine Rolle.

Für die rechten Parteien in Europa ist »Nation« oder »Volk« zentral, wobei sich die Liebe zum eigenen Volk in der Regel negativ zum Ausdruck bringt: als Widerstand gegen Immigration, die den inneren Zusammenhalt der Nation und die nationale Identität beeinträchtigen würde. Auch die fortschreitende Globalisierung der Wirtschaft, der Medien und der Universitäten wird von der rechten Seite als Angriff auf überlieferte heimische Werte empfunden. Immigration und Internationalisierung bedrohen die Arbeitsplätze der angestammten Bevölkerung. Diese Gedanken sind auch der Linken nicht völlig fremd. Manchen erscheint die Europäische Union als bürokratisches Monstrum, das mit immer neuen aufoktroyierten Vorschriften die Unabhängigkeit und Individualität der Mitgliedsländer unterdrückt.

Die rechten Bewegungen in Europa müssen sich von einer Erblast befreien: Viele der Ideen, die sie vertreten, sind im Laufe des letzten Jahrhunderts von Nationalsozialisten und Faschisten formuliert und in die Praxis umgesetzt worden. Schlüsselwörter wie »Rasse«, »Volk«, »volksfremd«, »kosmopolitisch« sind seither kontaminiert. Das macht sie umso attraktiver für Extremisten am Rande der Gesellschaft, die sich damit auf provokante Weise profilieren können. »Anständige« Rechte hingegen ziehen es vor, diese Art von Begrifflichkeiten zu vermeiden, sie verwenden stattdessen ein Codewort: Kultur. Das läuft bei ihnen in etwa auf das Gleiche hinaus. In diese Kultur wird man geboren, die können sich Außenstehende nie zu eigen machen, wie sehr sie sich auch bemühen. Diese Bedeutungszuschreibung bildet das genaue Gegenteil zur sozialwissenschaftlichen Verwendung des Wortes Kultur: alles, was Menschen im Laufe ihres Lebens voneinander lernen.

Die Tabuisierung von Nazi-Vokabular ist in den Vereinigten Staaten vielleicht weniger ausgeprägt. Sie wurde gerade in den letzten Jahren durch die ambivalente Haltung des ehemaligen Präsidenten Donald Trump noch weiter aufgeweicht. Amerika hat seine eigene, heimische Rassismustradition, die direkt auf die Sklaverei zurückgeht: white supremacy, die Vorstellung von der Vorherrschaft der Weißen. Ihre Anhänger sind überzeugt, dass die Weißen den Schwarzen überlegen sind, was schon als Rechtfertigung der Sklaverei herhalten musste. Seit fast anderthalb Jahrhunderten wird diese Rassenlehre von den Terrorgruppen des Ku-Klux-Klans und allen möglichen rassistischen Splitterparteien propagiert.

In den sozialen Medien sind noch andere Gruppen – und Grüppchen –, für die die Rassenfrage und der Volkscharakter weniger entscheidende Rollen spielen, auf Widerstandskurs. Sie lehnen sich vehement gegen den Aufstieg der Frauen und natürlich gegen die organisierte Speerspitze der Frauenbewegung, den Feminismus, auf. Hier wird der Kampf der Geschlechter mit persönlichen Angriffen auf jede Frau, die es wagt, sich in der Öffentlichkeit für Frauenrechte einzusetzen, offen ausgetragen. Dies ist die virtuelle Welt der mannosphere, Websites, auf denen der »echte Mann« verherrlicht wird: der Alpha Male, der Alphamann, der sonst vor allem in der Werbung für Zigaretten, Sportwagen und Armbanduhren weiterlebt. Ein solcher wahrer Mann ist nur an »echten Frauen« interessiert. Und von denen gibt es zwei Arten: die »Schlampen«, mit denen es »erlaubt« ist und die für die Lust da sind, und die Mütter, für die es »eine Pflicht ist« und die man heiratet und mit denen man Kinder bekommt. Ganz gleich wie sehr sich diese Websites auch bemühen, Kraft und Stärke auszustrahlen, sind sie doch wie von einer Kruste muffiger Spießbürgerlichkeit überzogen. Den verfestigten Vorurteilen der Eltern und Großeltern darüber, was ein Mann tun darf und was eine Frau tun muss, begegnet man auf diesen Seiten erneut als neue, radikale Erkenntnisse. Die Mannosphäre ist das Vexierbild des Feminismus, sein bis in die Lächerlichkeit verzerrtes Gegenteil. Und in der Tat könnte man fast glauben, die Feministinnen der 1960er Jahre hätten diese Websites konzipiert, so perfekt entsprechen sie den Plattitüden über die Beziehungen zwischen Mann und Frau, die feministische Vorgängerinnen bereits herausgestellt hatten. Aber für Jungen in der Pubertät, die einem Mädchen noch nie nähergekommen sind, geht hier eine Welt auf. Leider die verkehrte Welt.

Marianismo und Machismo im katholischen Lateinamerika

Der römisch-katholischen Kirche gehören weltweit mehr als 1,3 Milliarden Gläubige an (Stand 2020), von denen etwa ein Drittel in Lateinamerika lebt. Dort verkündigt die Kirche in aller Gemütsruhe völlig unbehelligt eine fanatische frauenfeindliche Doktrin. Kurz gefasst läuft es darauf hinaus, dass Frauen nicht über ihren eigenen Körper verfügen dürfen, nicht darüber bestimmen können, ob sie schwanger werden, eine Schwangerschaft abbrechen oder sich von ihrem Mann scheiden lassen wollen. Denn eine Frau, so heißt es, brauche männlichen Schutz, um sie vor ihren eigenen Schwächen und vor der Bedrohung durch fremde Männer zu bewahren. Nur zu ihrem eigenen Besten also.

Das männliche Personal der Kirche, die Priester und Mönche, legen das Keuschheitsgelübde ab und leben nach ihrer Weihe unverheiratet und ohne Sex. Zumindest ist dies die offizielle Doktrin. Das weibliche Personal, die Nonnen, trägt den »Habit«, der viel Ähnlichkeit mit einem Tschador hat, aber die Ähnlichkeit fällt selten jemandem auf. Vor einer solch frommen Zuhörerinnenschaft steht auf einem kleinen Podest ein Mann im langen Gewand, das einer Frau sicher auch nicht schlecht stehen würde. Er hält den Gottesdienst ab und übt damit eine Funktion aus, von der Frauen auch in der römisch-katholischen Kirche auf ewig ausgeschlossen sind. Warum akzeptieren die Frauen das? Sie sind doch oft mindestens ebenso gut ausgebildet wie Männer, verdienen nicht viel weniger als ihre männlichen Kollegen, verschaffen sich Gehör in Gesprächen und stehen ihren Ehemännern kaum noch in etwas nach. Und doch lassen sie sich in der Kirche von einem Mann im langen Kleid ein bestimmtes Verhalten diktieren.

Auch in der jüdischen Synagoge oder der islamischen Moschee kann von Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern keine Rede sein. Die Frauen sitzen getrennt, auf einer Art Galerie. Bei den orthodoxen Juden und Muslimen dürfen Frauen ebenfalls keinen Gottesdienst abhalten, sie dürfen nicht einmal eine Nebenrolle spielen, was männlichen Laien natürlich durchaus zugestanden wird. Kurzum, in dieser Hinsicht sind die Katholiken Teil einer größeren Familie. Und auch in den meisten protestantischen Konfessionen ist der Dienst am Wort einem Mann, einem Pfarrer, nicht einer Pfarrerin vorbehalten.

In allerlei liberalen Nebenflüssen der rechtgläubigen Hauptströmung wird an dieser Erhöhung des Mannes und der Herabsetzung der Frau gerüttelt. Es gibt Rabbinerinnen und Pfarrerinnen, hier und da sogar Imaminnen.[184] Priesterinnen gibt es keine. Strenggläubige Katholiken lehnen diese ab. Die Frauen gehen trotzdem weiterhin in die Kirche, auch wenn sie dort als Menschen zweiter Klasse angesehen werden.

Was die katholische Kirche anbelangt, so sind ihre Reißzähne in Europa und den USA etwas abgeschliffen. In den Ländern, in denen die Kluft zwischen steinreich und bettelarm am größten ist, in denen zahllose Mittellose nur eine kümmerliche Ausbildung erhalten haben und in denen die Kirche mit all ihrer dogmatischen Unerbittlichkeit die Frauen zu unterdrücken weiß, ist ihr Biss hingegen noch scharf. In Lateinamerika hat die Befreiungstheologie progressiv inspirierter Katholiken zwar viel Staub aufgewirbelt, doch der hat sich inzwischen wieder gelegt. Denn die ganze Zeit und auch heute noch herrscht in weiten Teilen Süd- und Mittelamerikas die katholische Kirche in ihrer reaktionärsten und doktrinärsten Form. Der politische Konservatismus in diesen Ländern stützt sich daher auch völlig auf die kirchliche Lehre. Ein weltlicher Konservatismus hat sich dort nie entwickelt. Es ist übrigens ohnehin eine offene Frage, ob es irgendwo auf der Welt einen autonomen Konservatismus gibt, denn Konservative sind überall eng mit der Kirche, der Wirtschaft und dem Staat oder mit allen drei etablierten Mächten gleichzeitig verbunden.

Seit der kolonialen Eroberung durch die Spanier wurden auf den festen Stamm der katholischen Glaubenslehre verschiedenste indigene Bräuche und religiöse Vorstellungen aufgepfropft. Sie gediehen dort offenbar prächtig. Die Marienverehrung ließ sich gut mit der Vergötterung der Frauen in den überlieferten Religionen der Indigenen vereinbaren. Die extreme Demonstration männlicher Macht, die auf die spanischen Konquistadoren zurückgeht, wirkte als Kontrast zum kirchlichen Marienkult.[185]

In der Frau trafen das Spirituelle und das Körperliche aufeinander. Sie war die Trägerin neuen Lebens, die Verkörperung der Liebe Gottes. Doch für diese Ehre musste sie den Preis der faktischen Unterordnung unter den Mann zahlen. Die Frau musste nach dem Vorbild Marias, der Mutter Gottes, leben. Ihre Aufgabe war es, zu nähren und zu versorgen, zu gebären und zu ertragen. Die Männer waren geistig von viel minderer Gesinnung, sie waren spirituell unterlegen. Wie sollte man es ihnen also übelnehmen, dass sie streitlustig und ausschweifend waren? Die Frauen hatten das zu akzeptieren.

 

In vielen Regionen Lateinamerikas dominiert auch heute noch vollauf der sprichwörtliche »Machismo«. Mit »Männlichkeit« lässt sich dieser Begriff nicht übersetzen, denn er idealisiert den kindlichen Mann. So ein Macho ist eigentlich ein großer, übermäßig schnell gewachsener Junge, der vor allem sinnlich und potent, kurz gesagt »geil« ist. Er scheint es mit jeder Frau, die fruchtbar ist und nicht zu seiner engsten Familie gehört, treiben zu wollen. Der Macho ist aber auch ein kleiner Ehrenmann. Wer etwas über die Keuschheit seiner Mutter, seiner Schwester, seiner Frau oder seiner Tochter sagt, lernt ihn kennen. Da lässt er gerne seine Muskeln spielen. Und wer seinen Mut in Zweifel zieht, erhält umgehend einen handfesten Beweis für seine Kampfkraft.

Das Ehrgefühl des Machos, wie aufgebläht es auch sein mag, reicht jedoch nicht weit darüber hinaus. In der Ehe, in der Politik und im Geschäftsleben kommt es auf Treue und Ehrlichkeit weit weniger an. Außerdem ist ein Macho für sein eigenes Handeln nicht verantwortlich, nicht rechenschaftspflichtig. Es scheint, als sei er zu begierig und zu hitzköpfig, um sich beherrschen zu können. Deshalb darf man ihm seine Exzesse auch nicht anlasten. Er ist für immer ein großes Kind, allerdings ein sexbesessenes und übermütiges.

Jede Eroberung ist vor allem ein Sieg über andere Männer, die noch keinen Treffer gelandet haben. Die höchste Ehre legt der ein, der die Tochter eines anderen Mannes verführt, denn damit wird der Vater des Mädchens zutiefst gedemütigt, schließlich konnte er als Mann nicht einmal seine eigene Tochter beschützen. Für ihn kommt es einer halben Entmannung gleich.[186] Diese Lebenseinstellung lässt sich auch auf die Zeit der Sklaverei zurückführen, als die Sklavenhalter es sich herausnehmen konnten, mit ihren Sklavinnen zu schlafen, ohne dass die schwarzen Männer etwas dagegen tun konnten. Auch die Frau des Sklavenhalters musste das ergeben hinnehmen. Die versklavten Frauen gaben manchmal nach, um Vergewaltigung oder Bestrafung zu vermeiden und um für sich und ihre Kinder bessere Lebensbedingungen oder sogar die Freiheit zu erlangen. Man nannte sie dann sin verguenza: schamlos. Diese perversen und asymmetrischen Verbindungen wirken in verdeckter Form in den Beziehungen zwischen den heutigen Marias und Machos fort, mit der Schlampe und dem Hahnrei in den Nebenrollen.

Der Verführer stellt mit seinen Eskapaden unter Beweis, dass er ein unwiderstehlicher Frauenheld ist. So gesehen, haben die Frauen kaum etwas zu melden. Sie sind beim Erhalt des Ehrenpreises, der durch die Entehrung eines anderen Mannes gewonnen wird, nur das Wechselgeld. Um es mit den Worten von Geoffrey Fox zu sagen: »The prize is not the woman, but the esteem of other men« :[187] Der Preis ist nicht die Frau, sondern der Respekt anderer Männer. Der Machismo, der sicherlich nicht nur in Lateinamerika vorkommt, ist ein »Kult der Virilität«. Ein Zurschaustellen übertriebener Aggressivität im Umgang von Männern untereinander. Und es ist auch ein Zeichen der Arroganz und sexuellen Aggression im Umgang von Männern und Frauen.[188]

Der Machomann wird die Ehre seiner Frau bis zum Äußersten verteidigen. Aber wenn sie ihm nicht zu Willen ist, wird er es bei einer anderen versuchen. Und auch wenn sie ihm zu Willen ist, wird er das tun. Er ist nun einmal der Spielball seiner eigenen Triebe, wer könnte ihm das verdenken? Männer sind schon immer so gewesen, seit dem Sündenfall. Dagegen lässt sich nichts tun. Die Stärke und Erhabenheit der Frau zeigt sich gerade in ihrer Bereitschaft, dies ohne Murren zu akzeptieren.

Dies ist in vielen Gesellschaften und in vielen Ehen die stillschweigende Praxis. Doch die katholische Kirche in Lateinamerika hat diese Doppelmoral unter dem Banner des Marianismo zu einem religiösen Ideal erhoben. Der Marianismus ist ursprünglich eine Auswirkung der intensiven Marienverehrung im katholischen Kultus. Die lokale Bevölkerung bekennt sich manchmal so inbrünstig dazu, dass es selbst dem Klerus zu weit geht. Er spricht von »Mariolatrie«, wenn die Verehrung der Heiligen Jungfrau zum Götzendienst wird, zur Anbetung einer Urgöttin. Der Marianismus ist hingegen eine religiöse Strömung, die Frauen dazu gemahnt, ihr ganzes Leben nach dem Vorbild der Heiligen Maria zu führen.

Maria steht in erster Linie für die jungfräuliche Mutterschaft. Sie ist die Mutter Jesu, der durch den Heiligen Geist in ihr gezeugt wurde. Auch Maria selbst wurde ohne fleischliche Gemeinschaft gezeugt. Streng genommen verweist der Begriff »unbefleckte Empfängnis« nicht auf die Empfängnis des Jesuskindes, sondern auf die Empfängnis Mariä. Damit wird bereits jede Sexualität, auch wenn sie nur der Fortpflanzung dient, in ein unheiliges Licht gerückt.

Der Marianismus lehrt die Frau, ihr Leid nach dem Vorbild Marias zu tragen, die nach der Kreuzigung ihres Sohnes in nicht endender Trauer lebte. So soll sich auch die Frau in dunkle, alles bedeckende Kleidung hüllen und sich still und demütig verhalten. Sie muss immer bereit sein, den Kummer und die Last der Welt als ihr unvermeidliches Schicksal in dieser irdischen Existenz anzunehmen. Das Leben ist für sie eine einzige große Prüfung. Und genau deshalb ist es die Vorbereitung auf das ewige Leben im Jenseits. Das wird letztendlich ihre Belohnung sein.

Der Marianismus gemahnt die Frau zu weitgehender Keuschheit. Natürlich muss sie bereit sein, ihren Mann zu empfangen. Sie muss jede Annäherung seinerseits freudig annehmen. Sie darf ihren Mann im Bett nicht zurückweisen. Selbst darf sie jedoch am Sex in der Ehe keinen oder kaum Genuss empfinden. Sie muss es ergeben über sich ergehen lassen. Frigidität ist eine Zierde. Sexuelles Verlangen oder Vergnügen kennt sie nicht. Sie schläft nur mit ihrem Mann, um ihm zu Willen zu sein: »Le hizo el servicio«, sie erweist ihm den Dienst. Frauen, die Sex genießen und sogar die Initiative ergreifen, gelten als schlechte Frauen.[189]

Eine Frau muss auch die möglichen Folgen von ungeschütztem Sex mit Gleichmut hinnehmen. Was in ihrer fruchtbaren Lebensphase dann mindestens jedes zweite Jahr zu einer Schwangerschaft führt. Natürlich ist sie zum Austragen der Schwangerschaft verpflichtet, denn Abtreibung ist kein Thema, und sie durchführen zu lassen, ist für die Frau keine Option. Ist ihr Mann trunksüchtig, ehebrecherisch, streitsüchtig oder gewalttätig, so hat sie auch das zu ertragen.[190] Eine Scheidung ist ausgeschlossen. All ihr Leid in dieser Welt wird ihr schließlich in einem nächsten, dem himmlischen Leben reich vergolten.

Die peruanische Ärztin Marta B. Rondon fasst es treffend zusammen:

Die marianistische Frau ist die mater dolorosa [Mutter der Schmerzen] par excellence. Sie ist schwarz gekleidet, unfähig, Genuss zu empfinden, und trauert um die Männer, die sie verlassen oder verletzt haben, immer bereit, deren Missbrauch und Verschwinden zu verstehen, denn als die Kinder, die sie sind, können sie weder verantwortlich gemacht noch beurteilt, sondern nur verstanden werden.[191]

Diese marianistische »Leidenssucht«[192] hat ihr perfektes Pendant im Machismo, dem »Mannismus«. In dieser doppelten Buchführung ist die Frau in ihrem irdischen Leben dem Mann unterworfen, ihm aber zugleich spirituell überlegen. Und obwohl der Mann ihr übergeordnet ist, ist er zugleich ein großes, unartiges Kind, unverbesserlich, nicht ganz zurechnungsfähig. Das Leben der Männer findet auf der Straße statt, sie trinken, spielen, zanken sich, balgen sich mit anderen Männern und stellen den Mädchen nach. Die Frauen bleiben zu Hause, halten die Familie zusammen, kümmern sich um die Kinder, pflegen die verwandtschaftlichen Beziehungen, sorgen dafür, dass die Schulden nicht überhandnehmen und das Essen auf den Tisch kommt. Und stehen damit auch im Alltag über dem Mann.

Die Frauen sind tief fromm, zumindest geben sie es vor, während die Männer höchstens an Ostern in die Kirche gehen. Dabei ist es nicht so, dass sie nicht gläubig wären, aber sie gehen davon aus, dass ihre Frauen schon für ihr Seelenheil beten werden. Machismo und Marianismus stehen also wie Spiegelbilder zueinander, ein wenig wie Sadismus und Masochismus: Sie sind eine moralische Maskerade. Für Marianistinnen braucht es allerdings den Priester, den guten, heiligen Mann, der sie zu einer Lebenshaltung der Annahme, der Duldsamkeit, der Untertänigkeit, der Gram und der Trauer abrichtet. Er, die Vaterfigur, muss sie dazu anhalten, noch mehr zu leiden, auf noch mehr Glück in diesem irdischen Leben zu verzichten, um die Seligkeit im ewigen Leben zu erlangen, das sicher kommen wird – nach dem Tod.

Für die Machos braucht es genau das Gegenteil, eine unheilige Frau, eine Schlampe, die nicht sittsam im Haus bleibt, sondern mit den Männern ausgeht, ihnen frivole Blicke zuwirft, tanzt und trinkt – und manchmal mit ihnen nach oben geht, eine Frau mit lockeren Sitten also: eine mujer de la mala vida.[193] Der Kreis würde sich perfekt schließen, wenn es der Pfarrer gewesen wäre, der sie als kleines Mädchen zum ersten Mal als sein kleines Flittchen missbraucht hätte.

Gerade weil so eine schlechte Frau zu haben ist, ist sie auch ohne Wert. Mit ihr ist im Wettstreit der Eroberer kein Ehrenpreis zu gewinnen. Mit ihr möchte man auch außerhalb von Kneipen und Bordellen nicht gesehen werden. Und sie ist schon gar keine Frau zum Heiraten. Denn das wäre die ultimative Demütigung für den Mann: eine Frau zu heiraten, die bereits von einem anderen Mann gebraucht, also »besessen« wurde. Eine Jungfrau ist unberührt und hat daher noch nie jemand anderem gehört. Der Kult um die Jungfräulichkeit ist auch ein Kult um das männliche Alleinverfügungsrecht und die männliche Besitzgier.

Der Machomarianismus kann nur mit einer möglichst scharfen Unterscheidung zwischen Mann und Frau existieren. Daraus folgt zugleich, dass jede »abweichende Form« abzulehnen, ja zu verabscheuen ist. Homosexualität darf es nicht geben, weil sie gegen die strenge Trennung der Geschlechter verstößt. Macho-Männer bevorzugen die Gesellschaft anderer Männer, haben nur selten Sex mit ihrer eigenen Frau, treiben es aber mit Schlampen, die mit jedem ins Bett gehen, also auch andere Männer »im Schlepptau« haben. Einem Macho käme es nie in den Sinn, Sex mit einem Mann zu haben. Dieser Versuchung muss er sein Leben lang widerstehen. Schon deshalb muss der Macho Homosexuelle hassen und verachten. (Die andere todsündige Versuchung ist natürlich der Inzest.)

Der Machomarianismus ist eine perverse Spirale, in der Männer und Frauen wie Gegenpole umeinander kreisen und sich immer tiefer in deformierte Fantasien über sich selbst und den anderen verstricken. Diese Konstellation kann letztlich nur mit brutaler Gewalt aufrechterhalten werden. Das junge Mädchen, das es wagt, Jungs hinterherzuschauen, verdient eine Bestrafung. Die jugendliche Braut, die sich nicht in die freudlose Selbstaufopferung fügen will, kann mit einer Tracht Prügel und einigen frommen Ermahnungen zu einer wahren marianistischen Lebensweise gezwungen werden. Aber eine Tochter oder Ehefrau, die mit einem fremden Mann durchbrennt, setzt ihr Leben aufs Spiel. Der Ehrenmord ist die tödliche Drohung, die widerspenstige Frauen disziplinieren und allen anderen Frauen Angst einjagen soll.

 

Das Szenario von der Maria und dem Macho ist in der katholischen Kultur Lateinamerikas wohlbekannt und nur allzu vertraut. Es wird von der Kirche und ihren Laienorganisationen auch aktiv propagiert, doch wirkt es nicht in einem luftleeren Raum. Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen sind in ihr soziales Milieu eingebettet. Landarbeiter oder ungelernte städtische Arbeiter können sich einen solchen Macho-Lebensstil gar nicht leisten, sie haben weder das Geld noch die Zeit dafür. In der Regel müssen ihre Ehefrauen doch außer Haus arbeiten. Das ermöglicht ihnen trotz aller Kärglichkeit eine gewisse Selbständigkeit gegenüber ihren Männern. Sie sind nicht vollständig auf ihre Männer angewiesen. In den besser situierten Milieus hat nicht nur der Mann eine Hochschulbildung und ein entsprechendes Einkommen und Vermögen, auch die Frau hat studiert und verfügt häufig über eigene Mittel und ein eigenes Einkommen. Das macht sie weniger abhängig von ihrem Mann. Sie kann, wenn es sein muss, sich und die Kinder selbst versorgen oder vor Gericht Unterhalt einfordern. Gewisse Grenzen kann sie also setzen. Der Machomarianismus ist wahrscheinlich im Mittelstand am weitesten verbreitet.

Im Szenario des Machomarianismus sind die Texte nicht festgelegt. Man improvisiert von Tag zu Tag. Die Frauen sind in der Realität keine willenlosen Wesen, die sich alles gefallen lassen. Zur Rolle der duldsamen, aber hochstehenden Frau gehört auch die Macht des moralischen Vorwurfs: Ihr Mann ist schuldig, und er soll das auch wissen. Nicht viele Männer sind dem auf die Dauer gewachsen. Die Frau hat zudem oft das Gesetz auf ihrer Seite und kann die Kinder in einem Konflikt in Stellung bringen. Und natürlich gibt es viele Männer, die von sich aus Rücksicht auf ihre Frauen nehmen oder es mit der Zeit lernen. Kurzum, es hängt immer auch von den Menschen selbst ab.

Trotz der Predigten der Priester, der verführerischen Blicke der Schlampen, der Gewaltandrohung der Machos und der stillen Vorwürfe der Marias kann sich die Spirale nicht endlos weiterdrehen. Es gibt so etwas wie gesunden Menschenverstand, und es gibt auch noch so etwas wie aufrichtige Wertschätzung, Respekt und vielleicht auch Liebe zwischen Mann und Frau. Die Umgangsformen unterscheiden sich von Dorf zu Dorf, von Viertel zu Viertel, von Land zu Land und von Haus zu Haus. Die vorherrschende Moral des Machomarianismus ist per se schon ambivalent, in sich gespalten und innerlich widersprüchlich. Jeder kann ihn neu und anders interpretieren und andere Formen des Zusammenlebens finden. Was tatsächlich schon ein Aufbegehren gegen die kirchliche Unterdrückung darstellt.

 

Der Katholizismus ist in Lateinamerika allgegenwärtig, aber er ist keine totalitäre Macht. Es gibt starke Gegenkräfte, liberale und sozialdemokratische Parteien, die feministische Bewegung, Mediziner und Psychologen und auch progressive Strömungen innerhalb der katholischen Kirche selbst. Die Kirche unterhält allerdings häufig Verbindungen zur konservativen politischen Partei im Land. Sie verfügt zudem über eigene Stoßtrupps, Organisationen, die für die »natürliche« Ordnung, die »Normalität« kämpfen, wie sie im kirchlichen Naturrecht vorgezeichnet ist. Danach soll Sexualität grundsätzlich auf Fortpflanzung ausgerichtet sein, entsprechend ist die Empfängnisverhütung prinzipiell tabu und die Mutterschaft die letztendliche Bestimmung einer jeden Frau. Eine Schwangerschaft ist eine Manifestation der Liebe Gottes und darf nicht abgebrochen werden, unter keinen Umständen. Und da die Ehe das unverbrüchliche Band zwischen Mann und Frau ist, ein Sakrament, ist eine Scheidung grundsätzlich ausgeschlossen, eine Wiederheirat unmöglich. Eine Beziehung zwischen zwei Menschen desselben Geschlechts ist unnatürlich und daher verwerflich, weshalb eine Ehe zwischen ihnen nicht in Frage kommt.

Da die Kirche diese Grundsätze nicht selbst durchsetzen kann, braucht sie den Staat, um Gesetze zu erlassen und Strafen zu verhängen. So wird die fundamentalistische Kirche zu einer politischen Organisation. Sie wird von verschiedenen Institutionen und Gruppen unterstützt, die ihr bei der Verwirklichung ihrer Ziele helfen sollen. In Peru beispielsweise gibt es ein Netzwerk katholischer Organisationen, die die offiziell als unfehlbar geltende päpstliche Lehre über die natürliche Ordnung in die Praxis umsetzen sollen.[194] Das beginnt schon bei der Bildung. Der international agierende katholische Orden Opus Dei (Werk Gottes) betreibt ein Netzwerk von Schulen, in denen ein großer Teil der peruanischen Eliten ausgebildet wurde. Die Alumni bleiben einander eng verbunden und bekleiden Schlüsselpositionen in Kirche, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Laienorganisationen mit Niederlassungen in ganz Lateinamerika verkünden die orthodoxe Lehre in den Medien, in Schulen und in Vereinen. Konservative Katholiken sind in der Ärzteschaft und in der Sexualerziehung sehr aktiv. All diese Organisationen versuchen, Druck auf den Staat auszuüben, um jegliche Form der Abtreibung zu verbieten und die Geburtenkontrolle noch weiter zu erschweren. Kurz gesagt: »Trotz allem wurde und wird die katholische Kirche in Peru, obwohl sie eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Befreiungstheologie spielte, von konservativen Gruppen dominiert und übt einen starken Einfluss auf die Politik und die alltäglichen Einstellungen zu Sex und Sexualität aus.«[195] Dies gilt auch für etliche andere Länder Lateinamerikas.

Evangelikale Bewegungen

Sie fordern den allgemeinen Zugang zu den Instrumenten der Moderne und lehnen gleichzeitig die Werte dieser Moderne ab.[196]

 

 

Schon seit mehr als 100 Jahren treten Menschen in Europa in großer Zahl aus ihren Kirchen aus. In den letzten 50 Jahren hat sich diese Entwicklung in den Niederlanden und den Nachbarländern noch stärker beschleunigt als im übrigen Europa. In Malta und Polen halten die Menschen an ihrem katholischen Glauben fest, und in Russland findet eine religiöse Belebung statt; viele kehren dort in den Schoß der orthodoxen Mutterkirche zurück. Im erzkatholischen Irland hingegen wenden sich die Gläubigen heute massenhaft von der katholischen Kirche ab. Womit auch dieses Land dem Trend folgt, der sich fast überall in Europa durchgesetzt hat.

Außerhalb von West- und Nordeuropa geht es oft ganz anders zu. Fast überall in der islamischen Welt ist gerade eine Intensivierung der religiösen Praxis zu beobachten. Auch die Hinduisten werden noch hinduistischer. China bleibt offiziell so atheistisch, wie es das seit 1948 ist, doch was sich hinter den Kulissen von Zensur und Verfolgung abspielt, wissen wir nicht.

Ebenso unklar ist, ob die Menschen in Lateinamerika frommer werden. Wer einer Kirche angehört, muss deshalb noch lange nicht gläubig sein. Andererseits wenden sich viele Menschen in aller Stille von ihrer Kirche ab, obwohl sie noch in den Kirchenregistern eingetragen sind: »belonging without believing«. Man gehört dazu, glaubt aber nicht daran.

Bemerkenswert ist, dass unter den wohlhabenden, entwickelten Industrienationen die Vereinigten Staaten nach wie vor einen stark religiösen Einschlag haben: Etwa vier Fünftel der Bevölkerung bezeichnen sich als religiös, davon etwa drei Viertel als Christen. Die Zahl der Atheisten, Agnostiker und Deisten (»Ietsisten«, die an ein unbestimmtes transzendentales Etwas – niederländisch: iets – glauben) wächst seit den 1950er Jahren stetig und macht heute etwa ein Fünftel aller Amerikaner aus.[197]

Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts verliert der Mainstream-Protestantismus ständig an Anhängern. Den evangelikalen Kirchen ist es gelungen, etwa die Hälfte von ihnen für sich zu gewinnen.[198] Eine Ursache dafür liegt sicherlich im Kampf gegen den »gottlosen Kommunismus« in der Sowjetunion, dem die US-Amerikaner mit ihrem Patriotismus, ihrer demokratischen Gesinnung und ihrer christlichen Überzeugung etwas entgegenzustellen suchten. Aber das war nicht der einzige Grund. Präsident Franklin Roosevelt setzte mit seinem New Deal eine ganze Reihe tiefgreifender Reformen durch: Sozialversicherung, Krankenversicherung, Arbeitsschutz, Beschäftigungspolitik. In rechten Kreisen erklang der Warnruf: »Schleichender Sozialismus!« Große Unternehmer lehnten sich gegen den wachsenden Einfluss des Staates auf. Sie glaubten, dass ein militantes Christentum das beste Bollwerk gegen die nach links driftende Roosevelt’sche Politik sei. Und so unterstützten sie populäre Prediger, insbesondere solche mit evangelikalem Hintergrund wie den Pfingstgemeinden und manchen Baptistenkirchen.[199] Diese hatten die Mittel, um Sendezeit im neuen Medium Radio zu kaufen. Sie mieteten auch Theater und Stadien an, um zu den Gläubigen zu sprechen, manchmal zu Zehntausenden. Auf diese Weise gelang es, riesige Menschenmengen zu begeistern, oft mit nachhaltigem Erfolg.[200]

Der einflussreichste Evangelist war Billy Graham (1918-2018), der ein halbes Jahrhundert lang in Radio und Fernsehen und auf großen Veranstaltungen die Massen zu Umkehr und Bekehrung aufrief. Er trat in Begleitung einer ganzen Reihe von Präsidenten auf, von Harry Truman bis zu Barack Obama, und zog mit seinen begeisternden Predigten ein großes Publikum auf allen Kontinenten an. Er war gegen die Rassentrennung und setzte sich für die ökumenische Sache ein. Doch auch seinem Weitblick waren Grenzen gesetzt. Er hielt hartnäckig an der »jüdisch-christlichen« Bestimmung der wahren Frau fest, die darin bestand, Ehefrau, Mutter und Hausfrau zu sein. Seinen eigenen Töchtern verbot er sogar, eine Berufsausbildung zu machen. Was seine Tochter Anne allerdings nicht daran hinderte, selbst eine sehr erfolgreiche Evangelistin zu werden.

Wer wie Billy Graham an den überlieferten Rollen der Geschlechter festhält, ist zwangsläufig auch ein Gegner von Homosexualität und gleichgeschlechtlicher. Graham war und blieb in dieser Hinsicht ein Fanatiker: Homosexualität sei »eine sinistre Form der Perversion«. Noch im hohen Alter wetterte er gegen die gleichgeschlechtliche Ehe.[201] Unter den Evangelisten zählte Tim LaHaye (1926-2016) zu den populärsten: ein Prediger, der euphorisch das bevorstehende Ende aller Zeiten und die baldige Ankunft des Königreiches Gottes verkündigte. Er verkaufte 60 Millionen Exemplare seiner Werke, jedem fünften Amerikaner eines.[202]

Neben Graham und LaHaye präsentierten sich der Öffentlichkeit eine ganze Reihe von medial wirkenden Pastoren, die mit ihren Predigten weltlichen Reichtum und Ruhm erlangten. Politisch war jeder Einzelne von ihnen erzkonservativ und fixiert auf die Themen Frauen und Sexualität. Sie kämpfen auch heute noch gegen das öffentliche Schulwesen, weil es den Zugriff der Kirche und der Familie auf das Leben der Kinder schwächt. Sie wenden sich vehement gegen Sozialhilfe, Sozialversicherung und staatliche Krankenversicherung, weil damit die kirchliche Nächstenliebe nicht länger unverzichtbar ist und die kirchliche Armenfürsorge dadurch ihren Einfluss auf das Familienleben der Armen schwinden sieht. Soziale Sicherheit befreit arme Menschen zumindest zum Teil von existenziellen Bedrohungen, wodurch das Beten und Flehen weniger dringlich erscheinen mag. Die Ausbildung des Wohlfahrtsstaats hat auch im Westen viel zur Säkularisierung beigetragen, wie die Prediger sehr wohl wussten. Auch aus diesem Grund wollten sie den staatlichen Einfluss begrenzen, die Steuern niedrig und die Arbeitnehmer in Abhängigkeit halten. Zunehmend fanden sie dafür Unterstützung bei den evangelikalen Wählern und der konservativen Unternehmerschaft. Diese wählten immer häufiger die Republikanische Partei, auch wenn dies ihren eigenen Interessen regelrecht zuwiderlief. Das kämpferische soziale Christentum, das die Gewerkschaftsbewegung inspiriert hatte, ist in den USA heute so gut wie verschwunden. Die Titanen der Wirtschaft hatten ihr Geld gut angelegt.

Der neuerliche Einfluss des Glaubens machte sich insbesondere in der Politik bemerkbar. Dwight D. Eisenhower war der Erste, der im Wahlkampf fromme Slogans vom Kaliber »God bless you, God bless the USA« von sich gab. Er wurde mit einer überwältigenden Mehrheit gewählt und wiedergewählt. Seitdem hat jeder Präsidentschaftskandidat Eisenhowers Rezept angewendet, mal mehr, mal weniger überzeugt. Für den Katholiken John F. Kennedy war dies in einem überwiegend protestantischen Land etwas schwieriger. Ronald Reagan war in seinem Leben als Hollywoodschauspieler nie ein Ausbund an Gottesfurcht gewesen, aber im Weißen Haus übertraf er alle seine Vorgänger in der Zurschaustellung von Frömmigkeit. Nach ihm wollte kein Präsidentschaftskandidat oder designierter Präsident im öffentlichen Bekenntnis seines religiösen Glaubens nachstehen. Auch Barack Obama wusste, wie es geht, wenn es ihm von Nutzen war. Solche präsidial zur Schau gestellten Frömmigkeiten haben viele gläubige Unentschlossene überzeugt. Sonst hätten die Politiker sicherlich nicht so oft und so inbrünstig ihren Gott angerufen.

Im Gemüt vieler Amerikaner muss es eine Empfänglichkeit für kirchliche Bekehrungsarbeit gegeben haben, sonst hätten die Teleevangelisten nicht so eine große Resonanz gefunden. Sie predigten eine sehr individualistische Version des Evangeliums, wobei sie Nachdruck auf die persönliche Wiedergeburt und die freie Entscheidung legten. Weltlicher, wirtschaftlicher Erfolg wird im Protestantismus von jeher als ein Zeichen der besonderen Gnade Gottes angesehen.

Die evangelikalen Strömungen in England und den Vereinigten Staaten nehmen den Text der Bibel wörtlich, sie betrachten ihn als inerrant, als unveränderliche und unfehlbare Grundlage. Die Ankunft des Königreichs Gottes und die Wiederkunft Jesu Christi verkünden sie als ein reales Ereignis, das durchaus noch zu Lebzeiten der heutigen Gläubigen eintreten könnte. Dann werden einige zu jenen gehören, die saved, gerettet, sind, andere werden auf ewig verdammt sein. Lauterkeit und Innigkeit des Glaubens werden den Ausschlag geben. Viele Menschen erleben eine Bekehrung: Sie sind dann wiedergeborene Christen und wissen, dass sie auserwählt sind. Manche glauben, dass Erfolg und Reichtum im irdischen Leben Zeichen für göttliche Auserwähltheit sind: »God wants you to be happy, God wants you to be rich, God wants you to prosper.« Gott will, dass du glücklich, reich und wohlhabend bist.[203]

Diesen evangelikalen Christen geht es vor allem um ihr eigenes Seelenheil. Sie legen großen Wert auf eine intensiv gelebte und gefühlte Empfängnis des Glaubens und eine leidenschaftliche Glaubenserfahrung. Aber die Bekehrung des Nächsten durch Evangelisation gehört nun auch zu den vorrangigen Aufgaben. In vielen evangelikalen Kirchen wird die Predigt von schwungvoller Popmusik und mitreißendem Gospelgesang sowie manchmal von ekstatischen Bekenntnissen gerahmt.

Die evangelikale Bewegung stellt neben Patriotismus vor allem family values in den Vordergrund, der Familie wird der höchste Wert zugesprochen. Natürlich steht auch hier die Frau im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie lenkt und organisiert Familie, das ist ihre Bestimmung. Sie trägt die Kinder aus, gebärt und nährt sie. Das verleiht ihr eine gewisse Machtposition im Haus, die sie geltend machen kann, solange sie der Autorität, dem Herrn des Hauses, Respekt erweist.[204] Ihr Ehemann arbeitet, um den Unterhalt der Familie zu sichern, wacht über Frau und Kinder und ist bereit, sie nötigenfalls gegen jede Bedrohung von außen zu verteidigen. Die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau ist offensichtlich, klar, uralt und ewig gültig. Es gibt eine kleine patriarchalische Strömung, die auf der Basis des biblischen Textes an einer männlichen Vormachtstellung festhält (schließlich ist Gott eindeutig ein Mann und Jesus auch), sowie eine fortschrittlichere Schule, die Egalitaristen, die glauben, dass Männer und Frauen prinzipiell gleich sind (»Gott schuf sie als Mann und Frau, nach seinem Ebenbild«).[205] Doch überwiegend befürworten die Evangelikalen den »Komplementarismus«: Mann und Frau sind danach gleichwertig, aber unterschiedlich, sie ergänzen sich gegenseitig. Und (Überraschung!) die eine Hälfte sei zu Hausarbeit, Schwangerschaft und Kinderbetreuung berufen, die andere zum Leben außerhalb des Hauses, zu politischer Macht, wirtschaftlichem Gewinn und kirchlicher Autorität. Frauen können nicht ordiniert werden: Es ist ihnen nicht gestattet, Gottesdienste zu leiten. Sie können auch kein kirchliches Lehramt ausüben. Auch in Unternehmen, Vorständen, Verbänden, in der Armee, in politischen Parteien und im Parlament sollten sie möglichst nicht über Männern stehen. Dennoch sind in letzter Zeit einige Frauen mit evangelikalem Hintergrund in der Politik in Erscheinung getreten, wie zum Beispiel die Anführerin der Tea Party, Sarah Palin.

Evangelikale Christen machen mehr als ein Viertel der amerikanischen Wählerschaft aus und sie unterstützen in überwiegender Mehrheit die Republikanische Partei. Dort haben sie einen beispiellosen Einfluss auf die Auswahl der Kandidaten und auf die politische Ausrichtung. Diese evangelikalen Republikaner sind überdurchschnittlich häufig der Meinung, dass männliche Politiker besser für ihre Interessen eintreten und besser führen könnten als Frauen.[206]

All dies ist nichts anderes als allgegenwärtiger Sexismus, hauchdünn mit Bibelzitaten kaschiert. Die evangelikalen Christen lassen es dabei jedoch nicht bewenden. Es reicht ihnen nicht, dass Frauen in ihrer eigenen Gemeinschaft aus dem öffentlichen Leben verdrängt werden. Sie wollen der gesamten amerikanischen Gesellschaft die Einschränkungen ihrer Glaubenslehre auferlegen. Dabei sind sie ebenso kämpferisch wie aufdringlich. Sexualität war von Anfang ein wichtiger Streitpunkt für die Evangelikalen. Sie führten massive Kampagnen gegen Pornografie und Unsittlichkeit durch, vor allem im Kino. Sie bekämpften Homosexuelle und widersetzten sich später mit aller Macht der gleichgeschlechtlichen Ehe.

Im speziellen Fokus steht jedoch der Kampf gegen Abtreibung, und das ist relativ neu, denn bis vor einem halben Jahrhundert war dies noch kein so bedeutsamer Streitpunkt. Viele evangelikale Christen akzeptierten die Unterbrechung der Schwangerschaft in einem relativ frühen Stadium. Erst nach und nach wurden sie in ihrem Kampf gegen die Abtreibung fanatischer.[207] Seit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1973 (Roe vs. Wade), mit dem die wichtigsten Abtreibungsbeschränkungen aufgehoben wurden, haben evangelikale Christen beharrlich mit allen Mitteln versucht, das Abtreibungsverbot wieder in Kraft zu setzen. Diese Kampagnen führten regelmäßig zu individuellen Exzessen wie Brandstiftung, Gewalttätigkeiten und sogar zu Mordanschlägen auf Ärzte, die eine Abtreibung durchgeführt hatten. All dies im Namen des höchsten Wertes, der Heiligkeit des Lebens. Die große Mehrheit der evangelikalen Christen befürwortet übrigens auch die Beibehaltung bzw. die Wiedereinführung der Todesstrafe, in der sie offenbar keinen Verstoß gegen dieses Grundprinzip sehen. Erst kürzlich, im Juni 2022, hat der Supreme Court der USA in der Rechtssache Dobbs gegen Jackson entschieden, dass die US-Verfassung kein Recht auf Abtreibung enthält; daher obliegt es den einzelnen Bundesstaaten, ihre eigenen Gesetze zu diesem Thema zu erlassen, bis der US-Kongress sich entschließt, dazu ein Bundesgesetz zu verabschieden.

Die evangelikale Bewegung hat sich in den letzten 40 Jahren in Lateinamerika rasch ausgebreitet und wächst nun auch in Asien und Afrika. Was auf eine intensive Missionstätigkeit, in die sehr viel Geld fließt, und auf einen großen persönlichen Einsatz der Missionare zurückzuführen ist. Die Evangelikalen stehen an der Spitze des Kampfes gegen die Frauenbefreiung. Und dennoch ist ihre Ausbreitung in den USA und anderswo vorwiegend auf ihre Anziehungskraft gerade auf Frauen zurückzuführen. In diesen Kirchen wird den Frauen viel mehr Raum gegeben als in anderen Glaubensrichtungen. Die evangelikale Botschaft harmoniert mit der untergeordneten häuslichen Rolle, die viele Frauen in den ländlichen Gebieten und in der außerwestlichen Welt ohnehin einnehmen. Viele der Neubekehrten leben erst seit relativ kurzer Zeit in der Stadt und tun sich schwer mit den modernen, urbanen Werten. Es herrscht große Sehnsucht nach der »guten alten Zeit«, als die Menschen noch ihren Platz kannten, auf dem Land, im Dorf, »wo nun die früher noch stabile Rechtgläubigkeit ins Wanken geraten ist«.[208] Der Platz der Frau war zu Hause, in der Familie. Dort wurde sie wenigstens für ihr Engagement respektiert. In der evangelikalen – übrigens auch in der katholischen – Kirche bekommen Hausfrauen viel Anerkennung für ihre Arbeit in der Familie. Niemand schaut auf sie herab, weil sie keine Diplome oder Titel haben und keine beeindruckende berufliche Position außerhalb des Hauses einnehmen. Sie können einfach »normal« sein.

In der evangelikalen Kirche finden die weiblichen Mitglieder ein aktives Gemeindeleben vor, in dem die Frauen oft unter sich sind. Gemeinsam bewältigen die Frauengruppen einen großen Teil ihrer Aufgaben eigenverantwortlich – solange sie nicht die Glaubenslehre verkünden oder Autorität über Männer ausüben wollen. Auch die starke Emotionalität und die Intensität, in der der Glaube zum Ausdruck gebracht wird, spricht viele Frauen an. Dass sie nur an zweiter Stelle stehen, ist für sie eine Selbstverständlichkeit und kein Problem: Das war schon immer so, das ist die Ordnung der Dinge.

Frauen werden in den evangelikalen Kirchen respektiert. Durch einen frommen und rechtschaffenen Lebenswandel können sie sich auch über die Männer erhaben fühlen, die sich weniger um Glauben und Moral scheren. Oft gelingt es ihnen sogar, solche Männer doch noch zu bekehren und auf den rechten Weg zu bringen, sodass diese ihre Pflichten als religiöses Oberhaupt einer christlichen Familie akzeptieren. Die Ehefrauen empfinden dies als Belohnung für ihr eigenes Gottvertrauen, als Anerkennung ihres Status als verheiratete Frau und als Erneuerung des ehelichen Bandes.[209]

In ihrem Kampf gegen die »Genderideologie« sind die evangelikalen Kirchen in Lateinamerika eine monströse Allianz mit konservativen Parteien eingegangen. Sie machen dabei auch gemeinsame Sache mit der katholischen Kirche, die sich ebenso vehement gegen Abtreibung, Feminismus und gleiche Rechte für Homosexuelle ausspricht. Diese strategische Allianz von patriarchalischen, homophoben Kirchenoberen und ihrem gläubigen Anhang mit einer rechten Partei, die den Wohlhabenden dient, hat sich als sehr effektiv erwiesen. Die Kirchen liefern die Wähler, die rechten Parteien Netzwerke und Kapital.[210] Dies hat zwischenzeitlich auch in großen Ländern wie den Vereinigten Staaten und Brasilien zu einem Wahlsieg von Kandidaten des äußersten rechten Randes geführt.

Die Evangelikalen in den Vereinigten Staaten erkennen in der Republikanischen Partei zunehmend das geeignete politische Instrument zur Realisierung ihres Programms. Die republikanischen Regierungen haben freilich die Steuern für die höheren Einkommen gesenkt, die Sozialleistungen gekürzt und eine kollektive nationale Krankenversicherung blockiert. Alles Maßnahmen, die den Interessen der weniger wohlhabenden Mehrheit der evangelischen Christen zuwiderliefen. Sie erhielten keine Gegenleistung für ihre Stimmen. Einmal an der Macht, pfiffen die Republikaner auf den evangelikalen Kulturkampf gegen Unsittlichkeit, gleichgeschlechtliche Ehe, Abtreibung und gegen die Emanzipation der Frau.[211] Unter Donald Trump, einem Präsidenten, der gar nichts mit der Kirche am Hut hatte, aber mit ihren Stimmen gewählt wurde, hatten sie nun allerdings endlich die Chance, einige ihrer antifeministischen Forderungen durchzusetzen.

Ultra-orthodoxe Juden

… je mehr die Frauen in der Gesellschaft erreichen können, desto mehr fühlen sich die männlichen Anführer ängstlich und bedroht, und ihre religiösen Extremisten bedienen sich der Rhetorik der Angst, um diesem Fortschritt Grenzen zu setzen.[212]

 

 

Innerhalb des religiösen Judentums zeichnen sich sehr unterschiedliche Gruppierungen ab. Auf der einen Seite die liberalen Richtungen, in denen Frauen in fast allen Belangen den Männern gleichgestellt sind und daher auch als Rabbinerinnen tätig sein können. Auf der anderen Seite die ultra-orthodoxen Haredim mit einer extrem konservativen Auslegung der Tora (der ersten fünf Bücher der jüdischen Bibel und manchmal auch, im weiteren Sinne, der gesamten jüdischen Glaubenslehre). Hier können Frauen weder Rabbinerinnen werden noch Funktionen im Gottesdienst übernehmen. In der Synagoge sitzen sie streng von den Männern getrennt, meist oben auf der Empore.

Die heutigen Haredim manifestierten sich Ende des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa als Reaktion auf die rasch fortschreitende Säkularisierung der Juden in einer Zeit der Industrialisierung und Urbanisierung. Im Holocaust wurden ihre Gemeinden jedoch praktisch vollkommen ausgelöscht. Einige wenige Rabbiner, denen die Flucht gelang, gründeten neue Gemeinden, vor allem in New York und Jerusalem. Die Zahl ihrer Mitglieder ist im letzten Dreivierteljahrhundert rapide angewachsen, vor allem aufgrund der hohen Geburtenrate in diesen Kreisen, dem »natürlichen Zuwachs«.

Die überwiegende Mehrheit der Haredim zieht sich in ihre eigene Gemeinschaft zurück und vermeidet nach Möglichkeit den Kontakt zu Andersdenkenden. Sie streben danach, sich ganz dem Studium der Tora, des Talmuds (der Sammlung jüdischer Gesetzesbücher) und der Traditionen zu widmen. In Israel genießen sie seit der Staatsgründung besondere Privilegien. Sie erhalten eine finanzielle Zulage und sind vom Militärdienst freigestellt. Dabei waren sie von Beginn an gegen die Gründung des Staates Israel, weil diese menschengemachte Initiative Gottes Absichten für das jüdische Volk vorgriff.

Die Haredim sind politisch gut organisiert. Da sie zu aktuellen politischen Themen keine Stellung beziehen, es sei denn, es handelt sich um religiöse Fragen, können sie fast jede politische Koalition unterstützen, solange diese ihre religiösen Standpunkte respektiert. Sie sind das Paradebeispiel für das, was Robert Dahl als intense minorities bezeichnet hat: Minderheiten, die in einigen wenigen Fragen einen sehr starken Standpunkt vertreten und bereit sind, dafür in allen anderen Fragen mit jeder Partei zu stimmen, die sie darin unterstützt. So können sie mit wenigen Sitzen in dieser einen Hinsicht doch ihre Anliegen durchsetzen.[213] Die Orthodoxen erhalten zudem große Unterstützung von Geistesverwandten in den Vereinigten Staaten. Die israelische Bevölkerung tendiert mehrheitlich dazu, sie gewähren zu lassen, schließlich waren es die Orthodoxen, die die jüdische Tradition über Tausende von Jahren am Leben erhalten haben, die von den Nazis beinahe ausgerottet worden waren. Außerdem haben die meisten anderen Israelis ein latent schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht stärker in Glaubensdingen engagieren.

Im überwiegend säkularen Israel hat es die Orthodoxie so doch geschafft, die ausschlaggebende Stimme im Ehe- und Familienrecht zu behalten, und auch bei der Entscheidung, wer jüdisch ist (und somit israelischer Staatsbürger werden kann) das letzte Wort zu haben. Frauen können sich ohne die Zustimmung ihres Mannes nicht scheiden lassen, und gleichgeschlechtliche Paare dürfen nicht heiraten. Viele Hunderttausende Immigranten müssen nachträglich nach den Regeln der Rabbinatsgerichtsbarkeit zum Judentum konvertieren. Da es in Israel keine Zivilehe gibt, müssen die Menschen von einem Rabbiner getraut werden. Der kann das ablehnen, wenn er von ihrem religiösen Status als Juden nicht überzeugt ist. Kurzum: die Trennung von Kirche und Staat wurde in Israel nie umgesetzt, obwohl die große Mehrheit der jüdischen Israelis nicht orthodox ist.[214]

Es wird niemanden überraschen, dass die rabbinische Anwendung von 1000-jährigen religiösen Gesetzen stets zum Nachteil der Frauen ausfällt. Allein die Tatsache, dass sie sich nicht eigenständig für eine Scheidung entscheiden können, bedeutet, dass sich das Machtgleichgewicht in der Ehe zugunsten des Mannes verschiebt. Er kann sich ihrer nämlich entledigen, wann immer ihm danach ist. Sie jedoch kann ihn nicht gegen seinen Willen verlassen. Tut sie es dennoch, verliert sie ihren Anteil am gemeinsamen Vermögen, aber vor allem muss sie ihre Kinder zurücklassen. Ein solches Machtgefälle wirkt sich schnell auf den alltäglichen Verhandlungshaushalt in der Ehe aus: »In Israel wird gewalttätigen Männern die vollkommene Macht über ihre Frauen eingeräumt.«[215]

Wie tief verankert sie in der 1000-jährigen Tradition auch sein mag, ist diese Hinwendung zur Orthodoxie und besonders zur Ultra-Orthodoxie doch recht neu. In allen Religionen und fast überall auf der Welt sind radikale, fundamentalistische Glaubensgemeinschaften auf dem Vormarsch. Das ist nicht nur bei den Orthodoxen in Israel der Fall. Und überall greifen diese orthodoxen Gläubigen auf das Erbe der patriarchalischen, frauenfeindlichen Lehren zurück, die in jeder Religion reichlich zu finden sind. Strenggläubige Männer versuchen nicht nur die Frauen in ihrer Mitte unter das traditionelle Joch zu zwingen, sie wollen es auch anderen Frauen außerhalb ihrer Gemeinschaft auferlegen.

In Israel führt das regelmäßig zu absurden Szenen. Immer öfter werden Männer und Frauen, Jungen und Mädchen voneinander getrennt, um den Ultra-Orthodoxen entgegenzukommen: getrennte Warteschlangen auf der Post, Sonderöffnungszeiten in der Bibliothek, getrennte Eingänge zu Geschäften, Bürgersteige auf verschiedenen Straßenseiten, getrennte Grabseiten bei einer Beerdigung und sogar die Weigerung, eine verstorbene Frau neben ihrem bereits früher verstorbenen Ehemann zu begraben. In all diesen Fällen arbeiteten die beteiligten Beamten unter dem Deckmantel der weltlichen Autoritäten bereitwillig mit.

In Jerusalem terrorisieren die Frommen, mit Bart, einem Hut aus Bibelpelz, in schwarzem Mantel und schwarzen Kniebundhosen, weibliche Fahrgäste in öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie steigen in den Bus und schreien eine zufällig dort sitzende Frau an, weil sie in ihren Augen nicht bescheiden genug gekleidet ist. Außerdem hätte sie sich in den hinteren Teil des Busses setzen sollen, denn dort gehören die Frauen ihrer Meinung nach hin. Wenn diese Fanatiker ihren Willen nicht sofort durchsetzen können, bewerfen sie sie mit Müll oder versuchen, sie von ihrem Platz zu zerren. Im äußersten Fall schrecken sie auch nicht davor zurück, sie zu treten und zu schlagen.[216]

Die Haredim dürfen ihrem Glauben nach nicht neben einer fremden Frau sitzen, und schon gar nicht neben einer Ungläubigen. Frauen könnten unrein sein, sie könnten den gläubigen Mann auf unkeusche Gedanken bringen. Alles gute Gründe, um ein Taxi zu nehmen oder zu Fuß zu gehen. Aber in the back of the bus? Viele Haredim kommen ursprünglich aus den Vereinigten Staaten,[217] wo bis in die 1960er Jahre hinein Schwarze hinten im Bus sitzen mussten. Es handelt sich eindeutig um ein Demütigungsritual. Frauen sollten ihren Platz kennen: im hinteren Teil. Und überhaupt: Eigentlich gehören sie gar nicht in öffentliche Verkehrsmittel, in die Öffentlichkeit, ihr Platz ist zu Hause, bei den Kindern. Auch in vielen asiatischen Städten sind Busse und Straßenbahnen das Schlachtfeld, auf dem aufdringliche Männer allein reisende Frauen belästigen und ihnen Schlimmeres antun.[218] Meistens handeln sie aus sexueller Begierde heraus. Manchmal, wie in Jerusalem, berufen sie sich allerdings gerade auf ihre tief fromme Keuschheit. Was ihr Antrieb auch sein mag, immer versuchen sie, Frauen aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen, es ihnen unmöglich zu machen, zur Schule oder zur Arbeit zu gehen, Bekannte zu besuchen, ins Kino zu gehen oder sich, wohin sie auch möchten, frei zu bewegen.

Nach Auffassung der Haredim haben Frauen auf der Straße gedeckte Farben zu tragen, vorzugsweise schwarz, keinesfalls rot; sie sollen Haare und Gliedmaßen keusch bedecken, ungeschminkt sein, keinen Schmuck und keine hohen Absätze tragen, die provozierend über das Pflaster klackern – das kennt man ja schon … vom IS. Sie dürfen nicht zu laut reden oder lachen, nicht mit ihrem Smartphone telefonieren. Das könnte den Haredi-Mann von seinen frommen Betrachtungen ablenken.

Auch das ist eine Entwicklung, die erst in den letzten zehn oder 20 Jahren aufkam. Immer häufiger sieht man Sittenwächter patrouillieren, die Frauen öffentlich ins Kreuzverhör nehmen, wenn ihnen ihr Aussehen nicht passt. Das endet schnell in Beschimpfungen und lautstarken Schmähungen, Schubsereien und manchmal auch in Schlägen. Auch hier sollen die Frauen aus dem öffentlichen Raum zurückgedrängt werden, den sie doch gerade erst zu erobern begonnen haben. Überraschend ist dabei weniger, dass ultra-orthodoxe Juden im Umgang mit Frauen derart reaktionäre Ansichten und Konventionen vertreten, sondern dass sie darin exakt mit den Fundamentalisten der anderen Religionen übereinstimmen.

Die Welt der weltlichen Rechten

Den Ursprung aller Ängste Himmlers, die vor Homosexualität eingeschlossen, bildete die Gefahr, dass die Arbeitsteilungzwischen den Geschlechtern aufgehoben

werden könne.[219]

 

 

Nach dem Untergang von Nazi-Deutschland begann für die extreme Rechte überall eine Ära der welken Trauer. Aber seit 20 Jahren ist der Rechtsradikalismus im Westen wieder kräftig aufgeblüht. Die Neonazis marschieren immer noch herum, meist Herren im fortgeschrittenen Alter. An ihnen ist nicht besonders viel »Neo«, es sind eher verstockte Nazis, fossile Überbleibsel einer elenden Vergangenheit. Sie feiern Hitlers Geburtstag, wedeln ein bisschen mit Hakenkreuzfahnen, stimmen hin und wieder ein munteres Marschlied an, bekennen sich öffentlich dazu, »dass das mit den Juden doch zu weit gegangen ist«, bedauern aber ganz insgeheim, dass »nicht alle vergast wurden«.

Mittlerweile ist jedoch im Internet eine ganz neue Generation von Nazis aufgetaucht, die in ihrem jugendlichen Elan Judenhass mit Mordlust paart und das Ganze gerne wiederholen würde.[220] In den Niederlanden und im vaterlandslosen Internet tummelt sich diskret die Nazigruppierung Erkenbrand, eine Vereinigung ausschließlich für hochgebildete und reinrassige Rassisten und Antisemiten.[221]

Auf manchen Sites beschränken sich die nationalsozialistischen Todeswünsche etwas wählerisch auf die Juden. Auf anderen werden auch Schwarze oder Latinos in einem Aufwasch in die Massenmordpläne einbezogen. Einige restlos Hirnverbrannte meinen sogar, dass nahezu die gesamte Menschheit aus rassischen Gründen ausgerottet werden sollte, damit danach ein kleiner Rest von lilienweißen Überlebenden einen blutreinen Heilsstaat gründen könne. Sollte sich das als nicht möglich erweisen, würde der weiße Teil der Menschheit notfalls mit einem Raumschiff zu einem anderen Planeten reisen, was jedoch schwierig werden dürfte, da die Erde eine Scheibe ist, und interplanetare Reisen »daher« unmöglich sind. »My point? Es gibt nicht genug Lebensraum, um ihn an Schwarze, Farbige und Semiten zu verschwenden. Kurz gesagt: DIE ERDE IST EINE SCHEIBE, ALSO ROTTET DIE NEGER AUS.«[222]

Das ist selbst für white supremacists, die die Wiederherstellung der weißen Vorherrschaft anstreben, etwas zu heftig. Aber an den Rändern brodelt und blubbert dieser mörderische Obskurantismus. Das ist kein Zufall. Viele Rechtsextremisten glauben, dass die Welt ganz im Geheimen von einer verschworenen Bande regiert wird, die sich aus der katholischen Kirche, den Freimaurern, den Rosenkreuzern, den Juden oder den Illuminaten zusammensetzt – vielleicht auch von allen gleichzeitig, das spielt keine große Rolle. Wichtig ist, dass sie dem Rest der Menschheit etwas vorgaukeln. Nichts ist, wie es scheint, die Presse lügt, die Wissenschaft betrügt, die Ärzte machen krank. Die USA zum Beispiel werden in Wirklichkeit von einem deep state regiert: etwa dem ZOG, dem Zionist Occupied Government. Doch wer einmal die »rote Pille« geschluckt hat, der durchschaut die sogenannte Wirklichkeit als Trugbild, er erkennt die »wirkliche Wahrheit« hinter all dem Betrug.[223] Richard Hofstadter hat diese Mentalität treffend als »den paranoiden Stil in der amerikanischen Politik« analysiert.[224] Selbstredend hängen nicht alle Rechten diesen Wahnvorstellungen an.

In den Vereinigten Staaten ist heute auch der Ku-Klux-Klan wieder präsent, die Mörderbande in Inquisitionsgewändern aus weißen Laken, die in den Südstaaten ein Jahrhundert lang schwarze Mitbürger mit Brandanschlägen, Femegerichten und Lynchings unter der Führung eines grand wizard (eines großen Zauberers) terrorisierte. Seit Jahr und Tag ist dies David Duke, der auch auf Nazi-Sites agitiert. Der Klan hat es auch auf Katholiken und Juden abgesehen. In den 1970er Jahren wurde diese kriminelle Organisation vom FBI großenteils ausgehoben. Aber sie ist zurück, genauso bösartig und mordlustig wie zuvor. Auch der Klan muss zu den white supremacists, den Verfechtern der Vorherrschaft der weißen Rasse, gezählt werden.

Auf diesen rechtsextremen Sites wird regelmäßig bekundet, dass das Christentum bedroht werde, wobei die christliche Religion hier eher als ein kultureller Wert betrachtet wird, den es gegen die Barbaren zu schützen gilt, als ein Glaube, dem die Rechten selbst mit Überzeugung anhängen. In erster Linie instrumentalisieren sie das Christentum: weil andere daran glauben, nutzen sie es, wenn nötig, zu ihrem Vorteil. Auf diese Weise können sie etwa eine »zivilisierte jüdisch-christliche Kultur« gegen einen »unzivilisierten Islam« ins Feld führen. Die »Zivilisationisten« des rechten Flügels setzen sich in diesem Kontext sogar für die Rechte von Homosexuellen und die Emanzipation der Frauen ein, um sich besser von den Muslimen absetzen zu können.[225]

Unter den white supremacists geht es beim ersten Hinhören kaum um Frauen, Frauenrechte oder Frauenhass. Alles, was Frauen betrifft, ist bereits im Kernbegriff des Volkes einkodiert. Dieser Begriff verweist mitunter auf Kategorien wie »Rasse«, dann geht es um Menschen mit übereinstimmenden Erbeigenschaften. Manchmal wird der Begriff Volk auch als »Kultur« kodiert, dann bezieht er sich auf Menschen, die das gleiche kulturelle Erbe teilen. Ein Fremder könne sich diese Kultur nicht zu eigen machen, ein Einheimischer hingegen nimmt dieses kulturelle Erbe gleichsam mit der Muttermilch auf. In dieser Sichtweise ist die Kultur also offensichtlich auch »vererbbar«.

Im Wesentlichen geht es bei dem Begriff »Volk« um die Wahrung der traditionellen Familie. Sie ist der Grundbaustein des Volkes. In dieser Familie ist die Frau vor allem Mutter von künftigen white supremacists. Sie ist die hingebungsvolle Versorgerin ihres prinzipienfesten und heldenhaften Ehemanns. Sie ermutigt ihn und steht ihm in seinem Kampf für das Volk zur Seite. Die white supremacists, einschließlich der Nazis und der Klan-Mitglieder, bilden die unheimlichste Sparte im rechten Spektrum. Eine breitere Bewegung bilden die white identitarians. Sie sind weniger gewaltbereit, wollen aber dennoch die weiße Identität vor fremder Verunreinigung schützen: Eine Flutwelle von Immigranten überschwemmt in ihrer Wahrnehmung die westliche Welt, entwurzelt das historische Erbe und untergräbt die jüdisch-christlichen Werte. Die lateinamerikanische Immigration in die Vereinigten Staaten führt demnach zu einer zunehmenden Latinisierung des Landes, und die fortschreitende Islamisierung in Europa verdünnt die eigene Kultur auf »homöopathische Dosen«.[226] Da eine homöopathische Verdünnung eins zu einer Milliarde bedeutet, liefe dies rein rechnerisch darauf hinaus, dass bald eine halbe Milliarde Import-Europäer in Europa leben würde und nur noch ein halber echter Europäer. Der wird es in der Tat sehr schwer haben.

Diese rechten Grüppchen und Gruppierungen verabscheuen alle, die sie als »die Anderen« betrachten, auch wenn die Anderen jedes Mal anders definiert werden. Die Identitären sind ihrem eigenen – an keiner Stelle näher definierten – Volk treu ergeben. Sie marschieren hinter dem Banner der Nationalkultur her, sprechen aber nie über vaterländische Literatur, Kunst, Wissenschaft oder technische Errungenschaften. Wenn sie mit Kultur und Erbe überhaupt etwas verbinden, dann ist es nationale Folklore, behaglich und gemütlich: Tänze, Melodien und Reime, regionale Leckerbissen, Umzüge, Feste und Maskeraden. Alles in allem dem sehr ähnlich, was in der Nachbarnation hinter der Grenze ebenso gepflegt wird.

 

Ein Großteil des rechtsradikalen Rumors spielt sich in der Unterwasserwelt des Internets ab. Ab und zu tauchen Unterstützer auf der Straße auf. Zuweilen greift einer von ihnen zu Gewalt, dann gibt es Verletzte, vielleicht sogar Tote. Aber die Welt der extremen Rechten ist doch überwiegend virtuell. Wer mehr darüber wissen will, muss sich im World Wide Web informieren und überdies bereit sein, sich die Codes, Abkürzungen, Emoticons und Schimpfwörter anzueignen. Der Neuankömmling betritt eine pubertäre Welt, in der sich jeder unter einem Decknamen in wenigen Worten, aber mit umso größerem Nachdruck an aggressiver, verletzender, obszöner Prahlerei ergötzt: an Sprüchen, wie sie früher an die Innenwände der Schultoilette geschmiert wurden. Provokant, schockierend sogar, aber vermutlich nicht immer ganz ernst gemeint.

Der Cybernaut bewegt sich in diesem virtuellen Raum auf eigenes Risiko. Es kann vorkommen, dass die Website Daten von Passanten speichert, Besucher von böswilligen Stammgästen der Website, von Netzadministratoren oder vielleicht von Nachrichtendiensten nachverfolgt werden, oder dass sie von Schadviren oder Nonsenswerbung heimgesucht werden. Extremistische Websites, die zu Rassenhass und Gewalt aufrufen, werden regelmäßig gesperrt, tauchen aber oft unter einem leicht geänderten Namen oder bei einem Netzwerkbetreiber in einem anderen Land wieder auf. Die Rubriken auf diesen Websites ändern regelmäßig ihren Namen und ihr Layout. Es ist daher gut möglich, dass die hier angegebenen Quellen von Internet-Zitaten nicht mehr erreichbar sind. Bei jedem dieser Zitate handelt es sich um eine wörtliche Wiedergabe oder eine möglichst getreue Übersetzung einer Passage, die auf der betreffenden Website zum Zeitpunkt der Recherche enthalten war. Sollte dieser Text inzwischen unauffindbar geworden sein, wird es in der Regel sehr wenig Mühe kosten, ähnliche Passagen auf Hassseiten zu eruieren.

Die amerikanische Autorin Angela Nagle, die eine Expedition in diese Unterwelt unternommen hat, hat darüber ein sehr aufschlussreiches Buch geschrieben: Kill all Normies.[227] In diesem Slogan klingen die Übertreibung, die Provokation und die Aversion gegenüber dem Durchschnittsmenschen an. Es geht darum, das gemeine Volk der Normalos zu schockieren. Wer sich dabei am weitesten vorwagt, erntet von seinen virtuellen Kameraden den größten Respekt. Es sind daher auch die überdrehtesten Slogans, die in den sozialen Medien, auf Blogs und Websites die meiste Aufmerksamkeit erregen. Jeder »Klick«, jeder Besuch wird gezählt. Je mehr Klicks, desto mehr Anzeigen, desto höher die Tarife. Viele Webmaster können davon leben und manche sogar blendend. Es geht nicht nur darum, zu schockieren, sondern auch darum, abzukassieren.

Dabei ist nicht immer alles ernst gemeint.[228] Man versetzt kleinere Stiche, aber nicht den eigenen Leuten, sondern den »politisch korrekten« Bewohnern der Außenwelt. Alles, was man zu Hause nicht durfte, ist hier erlaubt, ja sogar gefordert: fluchen und schimpfen, unflätig daherreden, über Frauen lästern, Schwarze diffamieren, Juden verletzen, Schwule beleidigen, über Latinos herziehen, Muslime verunglimpfen … Die Liste klingt vertraut, es sind genau jene Minderheiten, auf die anständige Menschen Rücksicht zu nehmen bemüht sind. Eltern lehren ihre Kinder, auf ihre Worte zu achten. Gerade dieses umsichtige, korrekte Verhalten finden die Rechten unerträglich: Sie erkennen darin scheinheilige und herablassende Speichelleckerei. Diese sogenannten zivilisierten linken Codes müssen endlich geknackt werden. Sei ehrlich, sag, was Sache ist, tritt offen für die Interessen deiner eigenen Gruppe ein, halte ein für alle Mal die vorrückenden Minderheiten auf, verteidige die angestammte unvergängliche Überlegenheit des weißen Mannes über die Farbigen, Ausländer, Juden, Schwulen und vor allem: die unverschämten Frauen.

Untereinander müssen die Rechten auf all diese »abweichenden« Gruppierungen keine Rücksicht nehmen. Die rechtsradikalen Jugendlichen müssen sich auch nicht um ihre braven Eltern oder wohlmeinenden Lehrer scheren, die diese benachteiligten Gruppen in Schutz nehmen. Vielleicht sprechen viele der sich hier tummelnden Heranwachsenden etwas laut aus, das die Erwachsenen zu denken vermeiden und bei ihren Kindern nicht mehr aufkommen lassen wollten. Die Rebellion der Jugend geht heute genau in die umgekehrte Richtung wie die Jugendrevolte vor einem halben Jahrhundert: Damals war sie links bis ins kleinste Detail und warf sich im Kampf gegen die herrschenden Mächte zum Verbündeten genau der Minderheiten auf, die heute von den Rechten niedergemacht werden.

Die Provokationen können sehr weit gehen. Es bleibt nicht immer bei ironischen Sticheleien, oft wird es bitterer Ernst. Dann werden in den Texten Todesdrohungen ausgesprochen. Lassen Sie uns in die tiefste Finsternis des Internets hinabsteigen, in die Domäne des Daily Stormer, einer echten Nazi-Seite, die daher auch regelmäßig gesperrt wird. Hier geht es fortwährend um den deep state, den geheimen Staat im Staate, in dem ein Netzwerk hoher politischer Amtsträger sich jeder Kontrolle entzieht und faktisch das ganze Land insgeheim und ohne jegliche Kontrollinstanz regieren könnte. Die Regierung werde, ohne dass die Wähler davon etwas mitbekämen, von Zionisten – einem Codewort für Juden – übernommen. Damit ist die Zionist Occupied Government, ZOG, gemeint. Der Erzfeind des Stormer ist entsprechend das westliche Judentum. Mit ihm muss ein für alle Mal abgerechnet werden. Der Stormer lässt allerdings, sehr diskret, noch nicht verlauten, wie er sich die »Endlösung« vorstellt.

Eine andere, geistesverwandte, Website nennt sich Daily Shoa. Dieser Titel wird als Scherz präsentiert. Es ist ein Fluch: jeden Tag ein neuer Millionenmord. Das passt zu der Strategie der Normalisierung, der Bagatellisierung des Holocaust, der noch immer ein Klotz am Bein des Rechtsextremismus ist. Auch anderswo wuchert die Mordlust weiter: Ein Unterstützer des Daily Sturmer (jetzt Stormer) schrieb: »Ich wünschte, ich könnte die magischen sechs Millionen überweisen, aber hier sind erst einmal 500. 500 sind besser als gar nichts.« Diese »sechs Millionen« ist die Lieblingszahl der alten und neuen Nazis, sie verweist auf die Zahl der im Holocaust ermordeten Juden. Darüber machen sie sich auch heute noch gerne lustig.

So verliert sich etwa ein Benutzer auf der umstrittenen Chat-Site »4chan« in genozidalen Obszönitäten:

Come on shlomo […] you’re no better than all your oven roasted ancestors that got filleted alive […] the only diff is you’re just on borrowed time while we organize your next kebab removal.

(Komm schon, Schlomo […] du bist nicht besser als all deine ofengerösteten Vorfahren, die bei lebendigem Leib filetiert wurden. […] Der einzige Unterschied besteht darin, dass du noch einen Aufschub hast, während wir deine nächste Kebab-Beseitigung organisieren.)[229]

Das schreckt anständige Menschen ab und zieht reine oder halb überzeugte Antisemiten an. Auch Pubertierende, die sich so viel Brutalität und abscheuliche Grobheit zu Hause oder in der Schule niemals erlauben könnten, ergötzen sich daran. Spricht man die Autoren darauf an, dann war das … nur ein Späßchen. Und so treiben, behaglich vor ihrem Computerbildschirm, anonym und unerkannt, ordentliche Jungs und brave Familienväter wie die Wahnsinnigen ihr Unwesen: geifernd, johlend und höhnend in den elektronisch umzäunten Chatrooms des Internets. Und sollte jemand sie darauf ansprechen, wäre das bloß »Spaß«, eine kleine Rebellion gegen den allgemein erstickenden »guten Geschmack«, ein Aufstand gegen die von oben und von links auferlegte politische Korrektheit (noch so ein Lieblingsbegriff). Ist das jetzt auch schon nicht mehr erlaubt? Hinter ihrem angeblichen Humor verbirgt sich purer Ernst, aber sind sie nicht bereit, den Preis für die Ernsthaftigkeit zu zahlen. Sie sind die Gratishelden der Meinungsfreiheit. Sie geben vor, für die Freiheit der Meinungsäußerung einzutreten, indem sie die Grenzen so weit wie möglich ausdehnen. Den Spaß wollen sie, aber die Konsequenzen ihrer Meinungsäußerung scheuen sie.

In den Niederlanden lautet das Motto der parteiunabhängigen rechtsgerichteten Website GeenStijl (KeinStil): »tendenziös, unfundiert und unnötig beleidigend«. Das entspricht zwar tatsächlich der Wahrheit, gemeint ist es jedoch nicht so. Wer sie darauf festlegen will, hat die Ironie dahinter wohl nicht verstanden. Kuckuck! Wieder einmal gibt es einen linken Vorläufer: Die französische satirische Wochenzeitschrift Hara Kiri (1960-1986) schmückte sich von Beginn an mit dem Motto Journal bête et méchant – ein dummes und bösartiges Blatt. Angela Nagle spricht in diesem Zusammenhang von Transgression, einer Überschreitung der etablierten Normen. Das war, so merkt sie an, seit den 1960er Jahren das Privileg der Linken. In einer niederländischen Studentenzeitschrift wurde die Königin als Schaufenster-Prostituierte dargestellt, amerikanische Künstler schufen eine Jungfrau Maria aus Elefantenkot oder einen in Urin getauchten Christus. Das musste nach Ansicht des künstlerischen Flügels der Linken doch wohl erlaubt sein. 50 Jahre später zahlen ihnen das die Rechten mit gleicher Münze heim. »Kill all normies« ist der Schlachtruf einer selbsternannten Avantgarde, die sich weit über die Masse der Durchschnittsbürger erhaben wähnt.

Die Extreme berühren einander, aber sind nicht gleichzusetzen. Die linke Vorhut denkt in Begriffen einer Menschheit, wenngleich zunächst noch in Klassen unterteilt. Die rechte Avantgarde stellt ihr eigenes Volk über alle anderen Völker, die unter Umständen noch fortbestehen dürfen, solange jedes Volk nur separiert auf seiner eigenen Scholle bleibt. Rechte legen allen Nachdruck auf die unveränderlichen geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Linke geben zumindest vor, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern ignorieren oder überwinden zu können. Der Erfolg in der Praxis ist überschaubar.

Tagtäglich wird der Kulturkampf um das Überleben des weißen Erbguts im Internet ausgetragen. Jede Sekte hat ihre eigene Website. Auch Stormfront ist so ein Knotenpunkt nationalsozialistischer Cliquen und Kränzchen. In den USA wurde die Website mehrmals vom Netz genommen. Dann zog die Redaktion auf eine andere Website um, allerdings mit einer ähnlichen Adresse: zuletzt stormfront.org/forum/. Eine Neonazi-Seite ist das nicht, denn »neo« ist nichts daran. Es ist reinster Nazismus der alten Schule, unverdünnt, ohne jegliche Zusätze, direkt von Hitler-Deutschland geerbt. Der Holocaust wird glattweg geleugnet, die Besucher stellen Bilder von Hitler im besten Licht auf die Website, ein Porträt von Himmler als größtes Vorbild aller Zeiten und präsentieren sich selbst, mit hakenkreuzartigen Symbolen und Mottos, die vor Judenhass nur so strotzen.

Der Rassismus gegen die »Injuns« (amerikanische Indianer) und die mud people (Schlammmenschen: Schwarze) könnte nicht widerwärtiger sein. »Neger« sind keine Menschen, höchstens Halbmenschen. Jedes Klischee, jedes Stereotyp wird gegen sie vorgebracht, in einer ständigen Sinnesverblendung von flammendem Rassenhass. Und dabei handelt es sich noch um Websites, die frei zugänglich sind. Was unter den Gullydeckeln der abgeschirmten Blogs und Foren, hinter Benutzername und Passwort alles brodelt, lässt sich nur erahnen.

Stormfront ist eine Sammelstelle für Nazis aus allen Ecken der Welt, natürlich aus den Vereinigten Staaten, aber auch ein Treffpunkt für Norweger, Kroaten, Deutsche und Österreicher, Niederländer und Flamen. Sie alle keifen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Judenhass ist hier der oberste Glaubenssatz, der imposant in fetten Lettern auf der Homepage abgedruckt wurde:

we name the »Jew« as the deadliest, if not the only, threat to our existence as a race. Forge this message in titanium.[230]

([…] wir nennen den Juden die tödlichste, wenn nicht sogar die einzige Bedrohung für unsere Existenz als Rasse. Schmiede diese Botschaft in Titan.)

Viele Rechtsextremisten, wie Anders Breivik, wollen die Juden loswerden, nicht durch Völkermord, sondern durch Emigration oder Deportation nach Israel. Für dieses Land können sie manchmal sogar eine gewisse Sympathie aufbringen: Dort sind die Juden wenigstens unter sich und vermischen sich nicht mit anderen Völkern. Und außerdem: »Zugegeben, diese Juden geben den Muslimen wenigstens ordentlich Zunder.« Die Stormfront-Nazis sind sich alle einig: Die Juden sind die Quelle allen Übels. Sie kontrollieren die Medien, die Unterhaltungsindustrie, den Finanzsektor und haben das Sagen im deep state, dem Zionist Occupied Government.

Die Frauen von Stormfront machen in ihren Blogs und Threads deutlich, dass sie nur ein Ziel verfolgen: beautiful white babies zu gebären. Je mehr, desto besser. Dabei geht es nicht um die Kinder selbst, es richtet sich gegen die schwarzen, braunen und gelben »Bastarde«, die die weiße Gesellschaft zu überschwemmen drohen. Denn darauf könne man wetten, die minderen Rassen vermehren sich auf Teufel komm raus. Für diese Nazis gehört es zur Pflicht der Frau, Kinder zu gebären, die später für ein »europäisches Amerika«, für ein »weißes Europa« kämpfen werden. Frauen werden ihrer Berufung gerecht, indem sie Kindersoldaten, die der weißen Rasse zum Sieg verhelfen sollen, austragen und großziehen. Auch diese Wahnvorstellung von Kindern als Munition im Rassenkampf stammt direkt aus Nazi-Deutschland. Heinrich Himmler hatte das Projekt Lebensborn ins Leben gerufen, bei dem reinrassige SS-Männer mit ebenso reinen germanischen Frauen Kinder für den Führer und das Vaterland zeugen sollten. Heutige Nazis glauben, der Frau mit dieser hohen Mission Ehre zu erweisen, sie sogar auf ein Podest zu stellen. Die Frauen der Stormfront nehmen diese Position anmutig an und bekunden eifrig, wie bereitwillig sie sich ihrem Mann unterordnen: »Er hat bei mir das letzte Wort. Punkt. Aus. Ende.« Er beschützt sie, sie unterstützt ihn.

Zwischen den Zeilen lässt sich herauslesen, dass nicht alle Nazi-Männer so große Frauenbeschützer sind: Sie wettern ziemlich oft gegen die Frauen. Solche Aussagen werden offensichtlich entfernt. Für die »Damen« wurde ein separates Forum eingerichtet, in dem sie ohne ihre »Beschützer« sicher über die Produktion süßer weißer Babys für die Herrscherrasse chatten können.

Auf der schon erwähnten Nazi-Site The Daily Stormer beklagt sich die Redaktion über das mangelnde Interesse an ihrem Judenhass: Der Hass auf Frauen ist in der Öffentlichkeit viel beliebter:

The articles about women on this site are orders of magnitude more popular than the ones about Jews. This has been a statistical constant for years now. Exposing the truth about Jews is the core mission of this website, but it is hardly the way we drive traffic. We have to find other subjects to bring people in on that emotionally resonate with them, and as a consequence they get exposed to the information in our verticles (sic) like »Jewish Problem« and turned into proper anti-Semites.[231]

(Die Beiträge über Frauen auf dieser Website sind um Klassen beliebter als die über Juden. Das ist nun seit Jahren eine statistische Konstante. Im Wesentlichen besteht die Aufgabe dieser Website darin, die Wahrheit über Juden zu enthüllen, aber so bekommen wir keine Besucher. Wir müssen andere Themen finden, die bei den Leuten eine emotionale Resonanz hervorrufen und sie hierherlocken, damit sie mit den Informationen in unseren Artikeln wie »Das jüdische Problem« konfrontiert werden und zu ordentlichen Antisemiten werden).

Die Rechten träumen, ebenso wie die Dschihadisten, von einer innigen Gemeinschaft Gleichgesinnter: ein Volk, eine Nation, ein weltweites Kalifat, in dem alle Menschen in Brüderlichkeit und gegenseitiger Loyalität zusammenleben. Sie sind integer, erhaben und tugendhaft bis ins Mark. Und genau diese von persönlicher Tugend und gegenseitiger Verbundenheit getragene Gemeinschaft wird bedroht. Sie befindet sich in akuter Gefahr. Für die Rechten geht die Bedrohung von fremden Elementen im eigenen Land aus: von Immigranten, Muslimen und Juden, von Schwarzen, von Homosexuellen und anderen Abweichlern, aber auch und besonders von Frauen, die ihren Platz nicht kennen.

Wie auch in Anders Breiviks Manifest sind feministische Frauen nur Marionetten des Kulturmarxismus. Weil es den Marxisten mit ihrem Klassenkampf nicht gelungen ist, die westlichen Gesellschaften zu stürzen, versuchen sie es jetzt mit einem Kulturkampf: Die Emanzipation der Frau wird dazu eingesetzt, männliche Wehrhaftigkeit und weibliche Fürsorglichkeit zu untergraben. Auf diese Weise werden die Grundlagen der europäischen, der westlichen, kurzum der weißen Gesellschaft allmählich geschwächt. Es braucht nicht einmal einen gewaltsamen Kampf. Perverse Propaganda genügt schon, um den Widerstand der weißen Gesellschaft zu brechen. Die white supremacists hingegen ziehen in den Kampf, wenn möglich mit Gegenpropaganda, wenn nötig mit brutaler Gewalt.

Die rechtsextremen Bewegungen lassen sich anhand des Grads ihrer Feindseligkeit gegenüber ihren Widersachern auf einer Skala von »ziemlich extrem« bis »extrem extrem« einordnen. Die durchschnittlichen Extremisten sind der Meinung, dass Schwarze, Juden, Muslime oder Linke im täglichen Leben auf Distanz gehalten werden sollten. Die Gesellschaft sollte entsprechend organisiert sein, mit getrennten Schulen, separaten Krankenhäusern und segregierten Wohnsiedlungen. Die radikaleren Extremisten wollen diese andersartigen »Elemente« möglichst rasch und auf möglichst grausame Weise umbringen. Und die radikalsten unter ihnen haben damit bereits begonnen. Fanatiker wie Terry McVeigh, Anders Breivik, Dylann Roof oder Robert Bowers, die den Erzfeind bereits dutzendweise und eigenhändig niedergeschossen haben.

 

Splittergruppen wie die Minutemen, die Proud Boys, die Alt Knights und die Oath Keepers haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihre eigenen rechtsextremen Reihen zu schützen: gegen die »Antifas«, die Antifaschisten, gegen andere Linksextremisten oder gegen die Frauen vergewaltigenden Muslime und Latinos. Diese Gruppen sind größtenteils aus den Hammerskins hervorgegangen, Fans der gleichnamigen Skinhead-Band, die ein weit verzweigtes Netz von gewaltbereiten Schlägertrupps bildeten.

In der Vorstellung dieser Kampfgruppen kann der war on whites, der Krieg gegen die Weißen, jeden Moment ausbrechen. Diese Milizen bereiten sich bereits auf die unvermeidliche Verteidigung der weißen Rasse gegen ihre farbigen Feinde vor, aber auch gegen die Verräter in den eigenen Reihen, wie etwa die halbherzigen Republikaner, die sich konservativ geben, sich aber in der Praxis stets offen zeigen, Kompromisse mit der ZOG einzugehen, oder die weich gekochten cuckservatives. Gruppen wie die Proud Boys gehörten zu den Stoßtruppen beim Angriff der Massen auf das Kapitol am 6. Januar 2021, als Reaktion auf die nicht allzu subtilen Andeutungen von Ex-Präsident Trump, die Wahl seines Nachfolgers Joe Biden ungeschehen zu machen. Seitdem existiert die extreme Rechte nicht mehr nur in den obskuren Abgründen des Internets, sondern ist Gegenstand intensiver öffentlicher Aufmerksamkeit (und rechtlicher Verfolgung), während eine Reihe von gewählten Vertretern viele ihrer Wahnvorstellungen offen ausspricht.

 

Diese Männer mögen aggressiv und gewalttätig sein, doch sie inszenieren sich gerne als Beschützer. Für ihre eigenen Leute und insbesondere für ihre eigenen Frauen. Es ist die Aufgabe jeden echten Mannes, seine Frau und seine Kinder vor den Angriffen volksfremder Gruppen zu schützen. Frauen können das nicht selbst. Sie brauchen Schutz, sind daher von den Männern abhängig. Also müssen sie sich der männlichen Autorität unterordnen. Nur so können sie in aller Gemütsruhe ihrer Bestimmung gerecht werden, Kinder zu gebären und aufzuziehen, um das Überleben des eigenen Volkes sicherzustellen. Das ist die natürliche Ordnung, und darauf ist das Familienleben ausgerichtet. Aus solchen Familien wird das Volk aufgebaut. Männer müssen sich in Kampfkunst und Waffengebrauch üben. Sie halten ihren Körper in Form und arbeiten an einem muskulösen Erscheinungsbild, selbstbewusst, furchtlos, aber wachsam.

Auch Frauen sind in diesen Milizen aktiv, manchmal in leitenden Positionen und bei Demonstrationen und Auseinandersetzungen in den vordersten Reihen, was nicht zu dem passiven Bild der Frau als »schwaches Geschlecht« zu passen scheint, das in diesen Kreisen so kultiviert wird. Und tatsächlich gelten alle Frauen außerhalb der Kampfgruppen als irrationale und abhängige Wesen, die von Immigranten und anderen volksfremden Elementen bedroht werden – und deshalb den Schutz der Milizen benötigen. Frauen jedoch, die sich der Kampfgruppe anschließen, gelten als dadurch wehrhaft, sie stehen im Kampf ihren Mann. Dieser offenbare Widerspruch wird dadurch aufgelöst, dass den weiblichen Milizen eine Doppelrolle auferlegt wird: Nur im Kampf marschieren sie Seite an Seite mit den Männern, außerhalb des Schlachtfelds müssen sie ihren Platz kennen, sich weiblich verhalten und den Männern den nötigen Respekt zollen.[232]

Eine träge Schlammlawine des Rassenhasses überschwemmt die Niederungen des Internets. Immer wieder wird darin die Obsession für den Feminismus und die Emanzipation der Frau, aber auch für die glückselige Mutterschaft an die Oberfläche gespült. Die Verherrlichung von Volk, Nation oder Rasse, der rabiate Antisemitismus, der manische Rassenhass, die Verunglimpfung des Islams, sie alle haben eine Funktion: All die Bedrohungen, denen sich die »weiße Rasse« ausgesetzt sieht, sollen glaubhaft machen, dass jede weiße Frau den Schutz eines weißen Mannes benötigt. Sie ist von diesem Mann abhängig und muss sich ihm unterordnen. Ohne diese Bedrohungen gäbe es nichts, was beschützt werden müsste. Keinen Rassenkampf und auch keine Notwendigkeit, Heerscharen weißer Babys zu produzieren. Die dämonisierten Juden, Muslime, Schwarzen und Latinos sind für die Rechten unverzichtbar, um die Vorherrschaft weißer Männer über weiße Frauen aufrechtzuerhalten.

Eine viel besuchte rechtsextreme Website ist die American Renaissance. Auch hier geht es um die white supremacy, aber ohne offenen Antisemitismus. Die große Bedrohung der »weißen Rasse« geht hier vom Islam aus. Im 1000-jährigen Kampf gegen das Christentum hätten die Muslime zu allen Zeiten versucht, christliche Mädchen zu erbeuten und sie als Sexsklavinnen zu missbrauchen. Das sei heutzutage nicht anders. Aber manche heutigen Feministinnen, die sonst keine Gelegenheit auslassen, den kleinsten Übergriff in die Belange von Frauen anzuprangern, schweigen zu den Untaten der Muslime an christlichen Frauen, oder schlimmer noch: Sie beschönigen sie. In einem Beitrag auf der Website heißt es: »The unholy alliance between feminism and Islam – and everything African – never fails to amaze me.« (Die unheilvolle Allianz von Feminismus und Islam – und allem was Afrikanisch ist – versetzt mich immer wieder in Erstaunen.)[233] Und: »Feminists don’t care about gang rape … [rapists] are excused by feminists because the perpetrators inflicting the violence tend to have brown skin.« (Gruppenvergewaltigungen kümmern Feministinnen nicht, … [Vergewaltiger] werden von den Feministinnen von Schuld freigesprochen, denn die Gewalttäter haben nur allzu oft eine braune Hautfarbe.) Hier ist es Ayaan Hirsi Ali, die das, nicht ohne Übertreibung, formuliert.[234]

All diese rechtsextremen Gruppen und Grüppchen sind Teil eines viel breiteren Widerstandes gegen Einwanderung: des Nativismus. Nativisten verstehen sich als Patrioten, als Bewahrer der vaterländischen Kultur, »frei von fremden Einflüssen«. Sie sind davon überzeugt, dass Immigranten, Schwarze, Latinos und Muslime ihre eigenen Frauen unterdrücken und missbrauchen. Diese Frauen, die als Minderheit verstanden werden, sind entsprechend beklagenswerte Opfer und verdienen Mitgefühl und Schutz vor ihren eigenen Männern. Aber sie stellen auch eine Bedrohung dar, weil sie so viele Kinder bekommen und damit die »ursprünglichen« Weißen mutmaßlich in die Rolle einer Minderheit drängen. Der rechtsradikale Schlüsselbegriff lautet hier »Umvolkung«, die Bedrohung der Unterwanderung des eigenen Volkes durch »Fremdrassige«, meist als dunkelhäutig imaginierte Völker. Da die nicht-weißen Väter ihre eigenen Frauen nicht versorgen können oder wollen, müssen die alleinerziehenden Mütter und ihre Kinder bei der Sozialhilfe schmarotzen. Und wenn sie ohnehin schon Unterstützung erhalten, bekommen sie einfach noch ein Balg dazu. Hart arbeitende weiße Amerikaner und Europäer werden so dazu gezwungen, Steuern für den Unterhalt der volksfremden Sozialhilfeempfänger zu zahlen.

 

Männer haben seit Jahrhunderten aus ihrer überlegenen Position gegenüber Frauen ein starkes Bewusstsein ihres Selbstwerts abgeleitet. Eine Erschütterung dieser männlichen Überlegenheit untergräbt daher auch ihr Ehrgefühl. Männer, die die neumodische Gleichstellung mit den Frauen akzeptieren und sogar aktiv an der Umsetzung mitwirken, vergehen sich an der Solidarität der Männerbruderschaft. Sie sind nicht nur Weicheier und Faulenzer, im Grunde genommen sind sie nichts weniger als Verräter an der Sache der Männer.

Nicht nur die Emanzipation der Frauen hat das männliche Selbstwertgefühl unterminiert. Allmählich wandelt sich das traditionelle bürgerliche Familienmodell zu einem Modell, in dem Mann und Frau »Doppelverdiener« sind. In der Konsequenz müssen also auch die Kinderbetreuung und die Hausarbeit gemeinsam geleistet werden: also eine Art von Arbeit, die traditionellerweise reine Frauenarbeit ist.

Fast alles, was früher ausschließlich Männerarbeit war, wird heute auch von Frauen ausgeübt, sofern es diese Arbeitsbereiche überhaupt noch gibt. Das schleift das markante männliche Profil davon schon gehörig ab. Mittlerweile wurde in vielen Ländern der allgemeine Wehrdienst aufgehoben, womit im Leben junger Männer auch die lange Zeit, in der sie sich in einem überwiegend männlichen Umfeld bewegt hatten, wegfällt. Nur in den meisten Sportarten sind Männer und Frauen auf dem Spielfeld und in den Umkleidekabinen noch separiert. Auch wenn sie auf den Tribünen zusammensitzen und feiern. Schon allein das macht Mannschaftssportarten für viele Männer besonders attraktiv: es ist immerhin noch eine Möglichkeit, mit seinen Kumpels unter sich zu sein. Darin liegt wohl auch der Hauptgrund für die Existenz vieler Radsportgruppen, Motorradgruppen und anderer ausschließlich Männern offenstehenden Sportvereine.

Männer, die körperlich arbeiten, sehen sich regelmäßig mit Frauen in qualifizierten Positionen konfrontiert, die über ihnen stehen: als Vorgesetzte, Ärztinnen, Psychologinnen, Richterinnen usw. Viele sehen darin das Ergebnis einer feministischen Verschwörung, die auf die Unterstützung einer aus ihrer Sicht viel zu frauenfreundlichen Regierung bauen können. Hinzu kommt, dass sich linke Eiferer als Menschenfreunde, als Do-gooders oder Gutmenschen, kurzum als social justice warriors, als Verfechter der sozialen Gerechtigkeit auf Kosten der hart arbeitenden weißen Bürger in Szene setzen. Sie sind dafür verantwortlich, dass so viele Immigranten wie möglich ins Land strömen, vorzugsweise solche mit einem fremdländischen, exotischen Hintergrund. Womit die einheimischen, traditionell christlichen Werte noch weiter untergraben würden.

 

Diese rechtsextremen Bewegungen werden auch unter dem Sammelbegriff »Alt-Right«, alternative Rechte, zusammengefasst. Dieser Begriff wurde ursprünglich eingeführt, um neonazistische Gruppierungen und weiße Rassisten auf der einen Seite von den traditionelleren Konservativen, Neokonservativen und libertarians, die für die völlige Freiheit des Marktes eintreten und fast alle staatlichen Regulierungen ablehnen, auf der anderen Seite zu unterscheiden. Diese Differenzierung ist im allgemeinen Sprachgebrauch allmählich unscharf geworden. Auf Wikipedia findet sich unter dem Eintrag »Alt-Right« eine bunte Mischung von Bewegungen und Strömungen, die so bezeichnet werden. Deutlich wird immerhin, dass alle diese Gruppen in erster Linie gegen etwas sind, und zwar gegen all jene Menschen, die sie für anders als sich selbst halten.[235]

Ihre Anhänger sehnen sich nach einem imaginären Volk zurück, aus dem Ausländer und Farbige noch ausgeschlossen werden konnten. Damals hätten noch echte Männer das Sagen über echte Frauen gehabt, die ihren Platz und ihre Aufgabe kannten: die Familie. In der sogenannten Volksgemeinschaft seien die Männer stolz darauf gewesen, aus eigener Kraft für den Unterhalt ihrer Frauen und Kinder sorgen und sich mit ihren eigenen Händen gegen fremde Angreifer verteidigen zu können. Sie mussten nicht die Hand aufhalten, und niemand versuchte, von ihren Anstrengungen zu profitieren. All das habe sich mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats geändert, und das viele Gejammer der social justice warriors mache es nur schlimmer.

Die Ausführungen Breiviks und seiner Vorgänger über die Kulturmarxisten, die auf hinterhältigste Weise den Feminismus ins Leben gerufen hätten, schließen daran nahtlos an: Diese weiblichen Hilfstruppen dienen dazu, den Männern ihre Männlichkeit und dem Volk seine Lebenskraft auszusaugen, damit die Kulturmarxisten kampflos die Macht übernehmen können.

So würden Fremde den eigenen Leuten gegenüber bevorzugt, Immigranten den Einheimischen, Schwarze den Weißen, Juden den Christen, Homosexuelle und andere Abweichler den gesunden Männern und Frauen, Sozialhilfeempfänger und Drogenabhängige den ehrlichen Arbeitern, hart arbeitenden Bauern und anständigen Mittelständlern. Und vor allem würden Frauen auf Kosten der Männer begünstigt. In den Worten von Arlie Hochschild: Die schweigende Mehrheit ist zu »Fremden im eigenen Land« geworden.[236]

Zur Ernsthaftigkeit in der Politik

Die meisten Menschen nehmen die Politik ernst. Sie sind aufrichtig in ihren Meinungen und verstehen sie als Teil ihrer Persönlichkeit. Sicher ist ihnen auch bewusst, dass ihre Meinung allein die politische Realität nicht verändern wird. Dennoch ist ihr Engagement von der Vorstellung getragen, gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern politischen Einfluss, ja sogar Macht, ausüben können.

An den Rändern des politischen Lebens gibt es jedoch zunehmend eine Gegenbewegung von Menschen, die Politik und politische Haltungen überhaupt nicht ernst nehmen, nicht einmal ihre eigenen. Ihr politischer Stil ist der des Hohns. Sie präsentieren sich als rebellische Querköpfe, und auch als originelle, freie Geister. Sie trauen sich, den etablierten Meinungen und regierenden Mächten entgegenzutreten. Da die Linke in der Regel seltener an den Hebeln der Macht sitzt, kommen die Spötter häufig von der linken Flanke. Doch es gibt auch Hohn von rechts. Heutzutage sind es die Rechten, die zuletzt und am lautesten lachen.

Zugegeben, um das Kopftuch lächerlich zu machen, landet man mit dem Wort »Kopflappen« einen Treffer. Es ist kurz, und es zündet. »Kopflappensteuer«[237] ist noch besser, es hat die Strukturen eines Lachers:

»Weißt du, was man mit all diesen Muslimas mit so einem Lappen auf ihrem Kopf tun müsste?«

»Nein.«

»Sie auf ihre Kopftücher Steuern bezahlen lassen: die ›Kopflappensteuer‹«.

»Der ist gut, wie kommst du nur darauf: Kopflappensteuer. Haha!«

 

Ein politischer Witz in vier Silben.

Viele Tweets von Donald Trump haben eine ähnliche Struktur:

»Weißt du, was sie mit den mexikanischen Kriminellen tun sollten?«

»Nein, sag mal.«

»Festnehmen, abschieben und dann eine ganz hohe Mauer

zwischen Mexiko und den USA bauen. Und die lässt man dann von den Mexikanern selbst bezahlen.«

»Super Idee. Das sollten wir tun.«

»Ja, nichts da mit Eintrittsgeld, eine Entsorgungsgebühr.«

»Das trifft es. Ha. Ha. Mit dir kann man lachen. Ha. Ha. Ha.«

 

Politischer Humor von rechts. Zugegeben, das muss man erstmal sacken lassen, denn in Europa hatte die Linke seit 1945 das Monopol auf Gelächter.

 

Hitler glaubte, dass er wirklich meinte, was er sagte. Mussolini versuchte, so zu tun, als ob er meinte, was er sagte. Trump macht sich nicht einmal mehr die Mühe, ernsthaft zu erscheinen. Seine Verlautbarungen haben die Struktur eines Witzes. Und genau das ist die verborgene Pointe. Hier ist der Hohn an der Macht. Einmal an der Macht, nimmt der Hohn den Ton des Nihilismus an.

»Der Präsident hat drei Milliarden Dollar und zahlt keine Steuern.«

»Clever!«

»Er ist mit einem Topmodel verheiratet und grapscht den Miezen immer noch an die Muschi.«

»Der traut sich mal was.«

»In den letzten zehn Jahren hat er keine Kirche mehr von innen gesehen, und doch ist er der Held der Christen.«

»Die Herr bedient sich wunderlicher Knechte.« (Kleiner Scherz von Gott).

Mannismus und die Mannosphäre

Die Mannosphäre ist das Inselreich jener Websites, Chatrooms und Hashtags, auf denen Männer noch »echte Männer« sein können. Solche wahren Männer können Frauen auf den Tod nicht ausstehen und wollen möglichst viele Frauen verführen. Das scheint offenbar sehr gut zusammenzugehen: der Hass auf selbstbewusste Frauen und die Begierde nach willigen Weibern.

»Why are women such pieces of shit?« (Warum sind Frauen solche Miststücke?)

»Because they rejected you, or you know they would reject you because you’re a lonely beta faggot.« (Weil sie dich zurückgewiesen haben, oder weil du weißt, dass sie dich zurückweisen würden, weil du eine einsame Beta-Schwuchtel bist.)

[…]

»Because society does not impose consequences on them until the age of 30.« (Weil die Gesellschaft an Frauen, bis sie 30 sind, keine Forderungen stellt.)

»When they get old their holes get big and saggy.« (Wenn sie alt werden, werden ihre Löcher weit und schlaff.)

»I know what those holes need.« (Ich weiß, was diese Löcher brauchen.)

[…]

»What changes when they are 30?« (Was verändert sich, wenn sie 30 sind?)

[…]

»Nearly all women want kids, and at 30 they start to realize that time is running out. These facts combine to make 30 year old women crazy desperate. […] Hold out and don’t have kids, and you’ll be amazed at how good life is for a single guy starting right around 30. […] Fucking sluts.«[238] (Fast alle Frauen wollen Kinder, und mit 30 wird ihnen langsam bewusst, dass ihre Zeit abläuft. Die Kombination dieser beiden Tatsachen macht eine 30-jährige Frau vor Verzweiflung ganz verrückt. […] Halte durch und mach keine Kinder, und du wirst erstaunt sein, wie gut das Leben für einen alleinstehenden Mann ab 30 ist. […] Verdammte Schlampen.)

 

In dieser letzten Passage spricht jemand, der vorgibt, ein erfahrener Verführer zu sein. Er geriert sich als väterlicher Ratgeber für die unbeholfenen Anfänger, die von ihm lernen können, wie man Frauen bezwingen und flachlegen kann. So ein »Frauenbändiger«, der als Lehrmeister auftritt, ist eine typische Figur auf derartigen Websites. Ansonsten herrscht der Ton, den Kerle anschlagen, wenn sie in der Umkleidekabine oder an der Bar unter sich sind: eine Mischung aus Aufschneiderei und Selbstmitleid. Die Frauenfeindlichkeit, die man miteinander teilt, schafft ein gemeinsames Band. Doch sobald eine Frau in ihre Nähe kommt, werden sie kleinlaut. Das wäre jedenfalls zu hoffen.

Auf diesen Websites bekommt ein junger Mann Instruktionen, wie er eine Frau erobern kann, oder zumindest eine Frau findet, die ihm eine Nacht zu Willen ist. Doch eine Frau, die sich auf diese Weise verführen lässt, ist gerade deshalb auch wertlos, eine »Nutte« oder »Fotze« oder eine sluturion, eine Frau, die mit mindestens 100 Männern Sex gehabt hat.[239] Heiraten würde man eine solche Schlampe sicher nicht.

Wenn sich der junge Mann ausgetobt hat, sucht er sich eine unbefleckte Frau, die er heiraten und mit der er Kinder zeugen kann. Aber das kommt später – oder nie. Auf diesen Seiten geht es jedoch speziell darum, wie man Frauen am besten verführen kann. Sozusagen Alt-Light, die »moderate«, weniger mörderische, aber immer noch bösartige Richtung innerhalb des Rechtsextremismus, ebenso ärgerlich wie lächerlich: eine giftige Mischung aus Geilheit und Frauenfeindlichkeit. Es ist die Ideologie des Onanismus.

Wie bereits erwähnt, bestehen viele religiös inspirierte Kampfgruppen ausschließlich aus Männern, die intensiv und über lange Zeit miteinander umgehen. In der Mannosphäre entstehen im weltweiten Netz virtuelle Männergemeinschaften, die sich ganz der in ihren Augen bedrohten und umstrittenen Männlichkeit widmen. Vor allem junge Männer fühlen sich dort unter ihresgleichen offenbar sicher und wüten nach Herzenslust gemeinsam gegen Frauen und alle anderen Menschen, die ihnen nicht gefallen, wie Schwule, Transgender und all jene, die sich nicht passgenau in das binäre Schema einordnen lassen. Die meisten dieser »mannistischen« Websites sind politisch rechts orientiert. Das in allerlei Varianten verhandelte Hauptthema ist die Stellung der echten Männer, die von Frauen allgemein und insbesondere von deren Vorhut, den Feministinnen, bedroht wird. Ihnen sei es gelungen, den Staat auf ihre Seite zu ziehen. So werden Männer Opfer von Zurücksetzung und regelrechter staatlicher Diskriminierung, durch Gesetze und Richter sowie durch die Presse und die öffentliche Meinung. Die mannistischen Websites sind die letzte Front, an der Männer dem vorrückenden Feminismus Paroli bieten.

Dort sitzen diese Männer – nach einem langen Arbeitstag, nach

dem Abendessen – sicher in ihrer Dachkammer und surfen auf Hassseiten nur für Männer, auf denen Frauen und Schwule, Lesben und Transgender die volle Wucht ihrer Verachtung und ihres Zorns abbekommen. Wenn es passt, beziehen sie Juden, Latinos, Muslime und Schwarze gleich mit ein. Niemand widerspricht ihnen, niemand ruft sie zur Ordnung. Sie bekommen ausschließlich Beifall von den gleichgesinnten, ebenso wütenden Männern. Hier treffen sie endlich auf Geistesverwandte. Niemand kann ihnen etwas anhaben, denn sie verstecken sich unauffindbar hinter ihren Pseudonymen im Internet. Ob sie das alles wirklich ernst meinen? Was spielt das schon für eine Rolle? Hauptsache, es ist einmal raus. Und es tut gut.

Die Frau als ein immer verfügbares Wesen, allzeit von einem echten Mann verführbar, das ist die Kernfantasie, um die es sich auf diesen Seiten stets dreht. Ein echter Mann ist hochgewachsen und muskulös, gutaussehend, kontrolliert und selbstbewusst. Er beherrscht die Situation und sich selbst. Er lässt sich von niemandem übertrumpfen oder herumkommandieren. Seinen Vorgesetzten gehorcht er allerdings, schließlich stehen sie gesellschaftlich über ihm. Er ist ein Anführer, ein Kämpfer, niemals ängstlich, immer mutig, bereit sich aufzuopfern und sein Leben hinzugeben. Er interessiert sich nicht wirklich für Frauen, er braucht sie höchstens, ein paar Mal in der Woche, so wie er dreimal am Tag essen muss. Es ehrt den echten Mann, den wahren Verführer, dass er seinen Appetit zu zügeln und seine Begierden zu beherrschen weiß. Er darf nicht nach ihr gieren, denn das würde ihn nur in eine Abhängigkeit führen. Sie muss ihn begehren, sie muss von ihm abhängig sein. Das verstärkt seine Macht über sie:

Instead of slip-streaming into the void of faceless, nutless beta males that women treat with the same consideration they do houseplants, be one of those exciting jerkboys who prematurely deep sixes a date when the girl is cunting out. I promise, she’ll never forget you after that. I also promise that you’ll feel an incomparable rush of power.[240]

(Anstatt in der gesichts- und eierlosen Masse von Betamännern aufzugehen, die von Frauen wie Zimmerpflanzen behandelt werden, sei lieber einer dieser supercoolen Wichser, der die Bitch sofort eiskalt abserviert, wenn sie ihn mal hängen lässt. Ich verspreche dir, sie wird dich danach nie mehr vergessen. Ich verspreche dir auch, du wirst einen unvergleichlichen Machtrausch erleben.)

Männer, die bei Frauen keinen Erfolg haben, erhalten auf diesen Seiten nützliche Tipps von erfolgreicheren Alpha-Männern, die der Vorstellung von echter Männlichkeit entsprechen. Ganz oben in der Hierarchie steht der pickup artist, der Anmachkünstler, der über eine wahre Rezeptur an Tricks und Kniffen verfügt. Er kann jede Frau zu jeder Zeit aufreißen und abschleppen, und er ist bereit, das auch zu demonstrieren. Es gibt sogar Tutorials, in denen Anfänger gegen Gebühr lernen können, wie man Frauen verführt. Interessanterweise sind die Frauen selbst auf diesen Seiten völlig abwesend; dabei wäre es doch naheliegend, sie einmal zu fragen, was sie selbst eigentlich angenehm und verführerisch finden, wenn sich ihnen ein Mann nähert. Man spricht zwar über Frauen, aber es geht nie um sie, sondern, wie es im Untertitel des Buches Alpha mâle von Mélanie Gourarier heißt, darum, »Frauen [zu] verführen, um unter Männern geschätzt zu werden«.[241]

 

Letztlich dreht sich alles um Macht, nicht um Lust. Denn Männer führen ein bedrohtes Dasein; sie könnten sich in eine Frau verlieben. Dann fallen sie der One-itis, der Ein-itis, zum Opfer, der gefürchteten Bindung an eine Person, schlimmer noch, der Bindung an eine Frau. Frauen müssen jederzeit austauschbar bleiben, so läuft der Mann nicht Gefahr, abhängig zu werden. Sollte es doch dazu kommen, drohen Erniedrigung und Demütigung, die Frau wird ihn um sein Geld bringen und im schmerzhaftesten Moment für jemand anderen verlassen, der in der Hackordnung höher steht. Ist man gar Vater geworden, wird sie ihm mithilfe von Anwälten und Richtern die Kinder wegnehmen und ihn einsam und mittellos zurücklassen. Das ist in den prozessfreudigen Vereinigten Staaten in der Tat ein reales Risiko, doch dazu später mehr.

Allem Anschein nach werden hier eine fast schon krankhafte Bindungsangst und Frauenfeindlichkeit zum Großen Männerrecht hochstilisiert. Schließlich gab es im Leben all dieser Männer, ob nun Alpha oder Beta, eine Frau, von der sie einst völlig abhängig waren: ihre Mutter. Offenbar ist ihnen das im späteren Leben nicht gut bekommen und hat eine panische Todesangst vor Frauen hinterlassen. Diese Angst ist so groß, dass sie sich einer Frau nur in der Manier des Löwenbändigers mit Peitsche und Pistole zu nähern wagen.

In dieser kollektiven Fantasie bleibt den Männern immer noch ein Machtinstrument. Frauen suchen, auch wenn sie anderes vorgeben mögen, nach einem starken, dominanten Mann, der sie zähmen und beschützen kann. Die archetypische Frau unterwirft sich willig dem aggressiven Top-Männchen. Tief in ihrem Inneren sehnt sie sich nach dem Höhlenmenschen mit seiner Keule, der die anderen Männer von ihr fernhalten, sie und ihre Kinder ernähren und beschützen kann. Dies ist der absolute Nullpunkt der Anthropologie. Frauen können in dieser Vorstellung nur mit einem virilen Mann, der sie tief und heftig nimmt, einen wirklichen Höhepunkt erleben. Schließlich will sich jede Frau mit einem solchen echten Mann paaren, seine Gene weitergeben. Fortpflanzung ist Schicksal. Dies ist der absolute Nullpunkt der Biologie. Der Verführer macht sich dieses naturgegebene Verlangen gerne zunutze, um sich eine Nacht mit ihr zu vergnügen. Danach macht er sich aus dem Staub: bump and dump, ficken und sich verdrücken.

In der Mannosphäre dominiert der reine Frauenhass, und damit nimmt diese Variante innerhalb des Einzugsgebiets von Alt-Right doch einen Sonderplatz ein. Nazis, white supremacists, Identitäre, sie alle betrachten die Familie als den Baustein der Nation und die Frau als Dreh- und Angelpunkt der Familie. Sie muss strahlend weiße Babys zur Welt bringen, um die Flut von volksfremden Kindern einzudämmen, und so die bedrohte arische Rasse retten. Für die Männer der Mannosphäre hingegen spielt die Familie keine Rolle. Die Ehe ist vor allem eine Fallgrube, in die Frauen einen Mann zu locken versuchen. Zum Glück lernt ein Mann auf diesen Websites, darauf nicht hereinzufallen. Aus dieser Perspektive sind Kinder nicht einmal eine Waffe im Rassenkampf, sie sind bestenfalls ein Missgeschick, genau wie eine Geschlechtskrankheit, die durch umsichtige Vorsichtsmaßnahmen leicht zu vermeiden ist.

 

Eine spezielle Sekte bilden die sogenannten Incels, die involuntary celibates, die Junggesellen wider Willen. Sie haben, kurz gesagt, keine Frau abbekommen. Das ist beschämend. Diese jungen Männer haben das Gefühl, zu kurz zu kommen. Das ist nicht neu. Sie meinen auch, dass ihnen damit Unrecht getan wird. Das ist durchaus neu. Sie sind keine Alpha-Männchen. Sie sind nicht einmal Beta-Jüngelchen, die zumindest Verführungstricks von einem Superman ähnlichen Guru lernen können. Die Incels kommen nicht zum Zug. Sie sind sub 8 males : Auf der Skala der männlichen Attraktivität erreichen sie weniger als acht von zehn Punkten. Die Foids (Femoids), weiblich-humanoide Lebewesen, haben für solche Kerle nichts übrig. Ein Incel ist das glatte Gegenteil von einem Macho. Er präsentiert sich selbst als inkompetenten, abstoßenden Trottel. Keine Frau will von ihm etwas wissen.[242]

Only the top 10 % of men do foids have eyes for. A foid would never approach a sub 8 male. It’s literally over for subhumans. I can’t even begin to comprehend how dating a good looking foid is even possible when her options are literally unlimited.

(Foids haben nur Augen für die oberen 10 Prozent der Männer. Eine Foid würde niemals einen Sub-8-Typen ansprechen. Für Untermenschen ist es im wahrsten Sinn des Wortes vorbei. Ich kann nicht einmal ansatzweise nachvollziehen, wie es überhaupt möglich sein sollte, mit einer gutaussehenden Foid auszugehen, wenn ihre Möglichkeiten buchstäblich unbegrenzt sind.)

Wenn all diese attraktiven Frauen tatsächlich nur an den 10 Prozent der bestaussehenden Männer Interesse zeigten, wären sie ziemlich limitiert in ihrer Auswahl. Manche müssen sich dann wohl doch mit Geringerem begnügen, mit so einem Unter-8-Jüngelchen.

Es ist nicht so, dass die Incels überhaupt kein Mädchen abbekommen würden. Sie haben nur keine Chance bei den gutaussehenden Mädchen, die, was Aussehen und Beliebtheit angeht, auf der 10-Punkte-Skala ganz oben stehen. Offenbar sind die Incels von dieser Rangordnung geradezu besessen und wollen von anderen Frauen nichts wissen. Entsprechend empört sind sie darüber, dass sie von den Top-Foids ignoriert oder abgewiesen werden. Ihnen widerfährt eine große Ungerechtigkeit. Die echten Kerle, die Chads (»Hengste«, »tollen Typen«), schauen auf sie herab, denn als cucks sind sie nicht einmal Betas, sie sind fast schon Omegas (der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets) und damit auf dem Weg zur tiefsten Finsternis.

Ihre Scham und ihr Selbstmitleid blieben unbemerkt, hätten nicht eine Reihe von Mordanschlägen den Ton gesetzt, bei denen die Täter junge Männer waren, die sich dafür rächen wollten, dass sie sich systematisch von jungen Frauen abgewiesen fühlten und nie zum Zuge gekommen waren. Am 23. Mai 2014 tötete der 22-jährige Elliott Rodger sechs Menschen und verletzte 14. Anschließend erschoss er sich selbst. Er hinterließ ein Manifest, in dem er seine Verzweiflungstat rechtfertigte. Er sei noch immer Jungfrau, kein Mädchen habe je etwas mit ihm anfangen wollen. Jetzt suche er Rache:

My War on Women. […] I will attack the very girls who represent everything I hate in the female gender: The hottest sorority of UCSB.

(Mein Krieg gegen die Frauen. […] Ich werde genau die Mädchen angreifen, die für all das stehen, was ich am weiblichen Geschlecht hasse: Die heißeste Studentinnenverbindung der UCSB [der University of California, Santa Barbara]).[243]

Elliott Rodger wird auf manchen Incel-Websites als Rächer des Unrechts verehrt, das suchenden Männern von unwilligen Frauen angetan wird. Seitdem hat es mehrere tödliche Schießereien gegeben, bei denen der Täter erklärte, aus Wut über die Zurückweisung durch Frauen gehandelt zu haben. Rodger war ihr Vorbild. Am 23. April 2018 wurden in Toronto zehn Menschen von einem Lkw überfahren und 14 weitere verletzt. Der Fahrer, Alek Minassian, hatte zuvor auf Facebook gepostet, dass »die Incel-Revolte begonnen habe«. Auch er rühmte Elliott Rodger.[244] Es fällt nicht schwer, so der britische Kriminologe Simon Cottee, Parallelen zum Dschihadismus zu entdecken, bei dem sich eine ebenso extreme Fixierung auf Frauen und Sex beobachten lässt.[245]

 

Was zunächst nicht mehr als pubertäres Gekicher und Gequengel zu sein schien, wurde durch diese Anschläge in ein düsteres Licht gerückt. Auf den Incel-Websites ist eine Litanei von Rachsucht, Frauenhass und Gewaltandrohung zu vernehmen. Und wo alles gesagt werden darf, kommen auch Rassismus, Homophobie und andere rechtsextreme Obsessionen zu Wort. Einige belassen es nicht bei Stoßseufzern, sie morden. Über das wirkliche Leben der übrigen Incels lässt sich nicht viel herausfinden.

Bei diesen Junggesellen wider Willen dreht sich alles um das entitlement, das vermeintliche Recht junger Männer auf Sex mit jeder Frau, die ihnen gefällt. Ein solches Recht gibt es nicht, außer in einer Männerfantasie von einer Welt, in der Frauen nicht selbst entscheiden können, mit wem sie Sex haben wollen und mit wem nicht. In der realen neuen Welt, in der die Incels notgedrungen leben, treffen junge Frauen selbst ihre Studienwahl, ihre Berufswahl – und ihre Partnerwahl. Was die Incels zur Raserei treibt, ist nicht der Umstand, dass sie einen Korb bekommen, und sicher mehr als einen, sondern dass junge Frauen ihre eigene Wahl treffen können, genau wie sie selbst.

Ein echter Mann kommt bei vielen eroberbaren Frauen mit großer Regelmäßigkeit reichlich auf seine Kosten, bis, ja bis er die Richtige trifft. Im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen ist sie im besten Falle noch jungfräulich, zumindest aber keusch, und bereit, sich in der Ehe ganz dem Ehemann, den Kindern und dem Haushalt zu widmen. Darüber hinaus lässt sich nicht viel über das Leben des echten Mannes nach der Phase seiner Promiskuität erfahren. Offensichtlich ist dies kein Thema, mit dem sich die Besucher der mannistischen Websites besonders beschäftigen. Ob er dieser untergebenen, devoten Ehefrau immer treu sein muss, bleibt unklar, und ebenso, ob sie ihn nicht vielleicht auf die Dauer langweilt, nach all den vorangegangenen spannenden und erregenden Abenteuern. Fast scheint es, dass es reines Pflichtbewusstsein ist, welches den Mann dazu nötigt, eine respektable Frau zur Gattin zu nehmen. Der wahre Mann wird seine Frau und Kinder vor jeder Bedrohung und vor ihren eigenen Schwächen als irrationales, emotionales Wesen beschützen. Also braucht es eine Bedrohung. Denn wozu wäre ein echter Mann sonst gut?

 

In der Welt des Mannismus gibt es zwei Arten von Frauen und zwei Arten von Männern. Es gibt die Alpha-Männer, die allen Anforderungen an einen echten Mann entsprechen. So will man sein. Und es gibt die Beta-Männer, die nicht an dieses Profil heranreichen, die – man sollte es besser gleich sagen – Schwächen haben. Sie sind schüchtern, sie haben vielleicht ein fliehendes Kinn, sie haben auch mal keine Erektion, sie sind nicht muskulös (haben kein Sixpack, keinen »Waschbrettbauch«). Kurzum, sie gleichen eigentlich ziemlich Männern, wie sie in Wahrheit nun mal sind – und das sind also gerade keine wahren Männer.

Es gibt auch zwei Arten von Frauen. Das lässt sich kurz fassen: Sie sind Huren oder Madonnen; Schnallen, Schlampen, Bitches oder anständige Frauen.

 

Sonderlich erregend sind diese anständigen Frauen nicht (man stelle sich das nur mal vor! Die mannistischen Websites präsentieren vor allem erotisch pikante, aufregende Kost: Bilder von »leichten«, willigen Mädchen, mit denen die Männer es treiben wollen, um sich anschließend sofort wieder aus dem Staub zu machen. Diese Mädels haben es auf sie abgesehen, auf ihr Geld, ihre Ehre, ihr Prestige, ihre Potenz. Den Alpha-Männern, die auf diesen Seiten den Ton setzen, gelingt es, ihre Beta-Anhänger gleichzeitig mit Bildern und Geschichten von diesen scharfen Frauen aufzugeilen und sie vor ihnen zu warnen. Sie preisen solche Frauen erotisch an und lehnen sie zugleich moralisch ab.

Alles in dieser Gedankenwelt ist klischeehaft, wobei es sich aber seltsamerweise um Klischees aus einer vergangenen Epoche handelt, mehr Fossilien als Klischees. Für Feministinnen, die diese Stereotypen schon seit Mitte des 20. Jahrhunderts an den Pranger stellen, sind sie Lachnummern. Dennoch werden sie von den Verführungsgurus auf den mannistischen Websites noch immer unverdrossen und unvermindert beschworen. Es handelt sich übrigens um durch und durch kommerzielle Websites, die von Werbung für Telefonsex und Pornovideos überschwemmt sind. Darüber hinaus bieten die professionellen Verführer, auf diesen Websites für teures Geld Vorträge, Kurse und persönliches Coaching an.

 

Die US-amerikanische Autorin Kay S. Hymowitz bemerkt einen ähnlich kindischen, frotzelnden, unflätigen und ungeniert frauenfeindlichen Ton in Zeitschriften, Websites und Videospielen, die sich an ein viel breiteres Publikum junger Männer richten.[246] Ihr zufolge lässt sich dieser Typ Männer mit Ehe und Karriere noch Zeit, er scheut die Verantwortung, verbringt seine Zeit mit Videospielen, surft im Internet und hängt vor dem Fernseher oder am Tresen ab. Wann immer sich die Gelegenheit bietet, versucht er Mädchen aufzureißen, mit durchwachsenem Erfolg. Diese der Pubertät nicht entwachsenen Männer bemühen sich gar nicht erst, mit gleichaltrigen Frauen in Studium und Beruf Schritt zu halten. Sie unternehmen nichts, was langfristiges Engagement erfordern würde. Kurz: Sie wollen nicht erwachsen werden. Sie sind in eine kindlich männliche Existenz zurückgefallen.

Allerdings rekonstruiert Hymowitz diesen infantilen Typus Mann ausschließlich anhand von Texten und Abbildungen in Zeitschriften, auf Websites und in Videos. Das ist gewagt. Sehr viele Menschen vergnügen sich mit Medien, ohne dass dies viel über ihre Haltung, geschweige denn über ihr Verhalten oder ihre Stellung in der Gesellschaft aussagen würde. Wer sich Liebesromane anschaut, die sich an ein weibliches Publikum richten, würde nach der Methode Hymowitz zu dem Schluss kommen, dass die Frauenemanzipation noch in den Kinderschuhen steckt. Doch eine gewisse Aussagekraft hat das Medienmaterial durchaus. Und das, was es aussagt, verheißt nichts Gutes. Denn auf jeden Fall haben offenbar sehr viele Männer Spaß an Bildern und Geschichten, in denen Frauen herabgesetzt, verhöhnt oder zu Sexobjekten degradiert werden.

 

Eine ganze Reihe von Websites präsentiert sich als Verteidiger der Männerrechte. Dort dominiert die Vorstellung, dass die Frauenemanzipation inzwischen in ein Matriarchat übergegangen ist. Die Institutionen des Staates würden demnach im Interesse der Frauen heute gegen die Männer in Stellung gebracht. Die Rechtsprechung sei voreingenommen. In der Tat sprechen gerade konservative Richter, vor allem in den USA, bei einer Ehescheidung sehr oft der Mutter die eheliche Wohnung und die Kinder zu. Sie kann dann entscheiden, ob und wie oft der Vater die Kinder sehen darf. Kinder gehörten nun einmal eher zu ihrer Mutter als zu ihrem Vater, und alleinerziehende Mütter könnten nicht selbst für ihren Unterhalt sorgen. Der Vater war schon immer der Ernährer; also, so die Begründung, muss er auch konsequenterweise nach der Trennung Unterhalt für die Ex-Frau und die Kinder zahlen.

Dies kollidiert mit der feministischen Logik, dass sich Mann und Frau die Kinderbetreuung teilen und beide einer Arbeit außer Haus nachgehen können. Richter und Richterinnen sehen das häufig noch nicht so. So kann es vorkommen, dass Männer nach der Scheidung nicht nur das Umgangsrecht mit ihren Kindern und ihr Zuhause verlieren, sondern aufgrund ihrer Unterhaltspflicht auch finanziell in Bedrängnis geraten und sogar obdachlos werden. Solche Fälle sind ein gefundenes Fressen für mannistische Websites, die sich als Verteidiger der Rechte des Mannes aufspielen. Dort lodert eine erbitterte Wut. Der Staat habe sich gegen den Mann und damit gegen die Familie gewandt. Es sei nun an der Zeit, dass die Männer zurückschlagen. Frauen, die ihrem Mann davongelaufen sind, müssen mit Gewalt, notfalls auch mit der Waffe in der Hand, zurückgeholt werden. Ein alles umfassender Gynozentrismus, bei dem sich alles um die Frau dreht, beherrscht heute die Gesellschaft: Die Apokalypse der Frau, die Fempokalypse, steht bevor!

Hier ertönt der Ruf von »voice4men«, »einer Stimme für Männer«, der meistbesuchten Website dieser Art. Der Animateur dieser Seite ist Paul Elam. In seinen Ratgeberkolumnen versucht er, Männer wehrhafter gegen die anmaßenden und vorwurfsvollen Frauen zu machen, die ihnen offensichtlich das Leben vergällen. Viele von Elams Empfehlungen sind ein Spiegelbild jener Ratschläge, die Feministinnen einst den Frauen gaben, die Missbrauch oder Gewalt erlitten hatten. Die Terminologie ist dem Feminismus entlehnt, aber nun mit umgekehrtem Vorzeichen. Hier ist der Mann das Opfer. Elam verkündet eine humanist counter theory in the age of misandry: eine humanistische Gegentheorie im Zeitalter des Männerhasses. Er spricht zu seinem Kundenkreis in einem abgeklärten, leicht belehrenden Tonfall, so wie er sich offenbar einen Psychotherapeuten vorstellt. Elam bietet auch Beratungen per Telefon oder Skype an. Seine Ratgeber können über die Website bestellt werden.

Andernorts auf der Website ist der Ton schon etwas schriller. Männer täten gut daran, überhaupt nicht zu heiraten. Es sei an der Zeit, sich völlig von den Frauen abzuwenden. Paul Elam ist gemeinsam mit Tara Palmatier Begründer einer neuen Bewegung, der MGTOW: Men Going Their Own Way: Männer, die ihren eigenen Weg gehen. Diese exklusive Männerwelt baut auf dem Junggesellendasein und einem ausschließlich männlichen Vereinsleben auf, wie wir es aus dem 19. Jahrhundert kennen. Die in solchen Herrenclubs gepflegte Aversion gegen Frauen lässt sich offensichtlich gut in die Gegenwart übertragen.

Auf einer Website, die mit voice4men verlinkt ist, https://en.wikimannia.org/Register-her.com, findet eine regelrechte Hexenjagd statt. Dort werden Frauen, die Männer fälschlicherweise des sexuellen Fehlverhaltens beschuldigt haben sollen, mit Foto, Vor- und Nachnamen an den Pranger gestellt. Einige von ihnen wurden vom Richter wegen des Straftatbestandes einer falschen Verdächtigung verurteilt und sitzen im Gefängnis. Andere haben ihre Anzeigen inzwischen fallengelassen, werden aber weiterhin als falsche Verdächtigerinnen präsentiert. Eine solche Galerie von Klarnamen ist lebensgefährlich für die so zur Schau gestellten Frauen. Es laufen zu viele Idioten mit oder ohne Waffen herum, die an einer auf diese Weise gebrandmarkten Frau ultimative Rache üben wollen.

 

Die Expedition durch die Welt der Rechten ist damit abgeschlossen. Es waren kurze Etappen, die quasi im Vorbeigehen einen Blick auf die Landschaft boten. Bei näherem Hinsehen wird sie sich sicherlich um einiges komplexer darstellen. Die Männer, die hier zu Wort kamen, ließen etwas von ihren tiefsten Regungen erkennen: dem großen Wunsch, die Frauen kleinzuhalten. Die männliche Vormachtstellung entgleitet ihnen, und vorerst haben sie nicht die Absicht, sich damit abzufinden. Sie sind jedoch auch nicht in der Lage, das Blatt zu wenden, so sehr sie sich auch darum bemühen. Manchmal sind die Männer, die einem hier begegnen, fast anrührend in ihrer Empörung und Ohnmacht, meistens aber sind sie dazu doch zu boshaft und oft auch zu obszön. Auf all diesen Seiten findet sich viel Verrücktes, aber selten auch nur eine innovative Idee, die auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern in der modernen Gesellschaft eingehen würde. Alles soll so bleiben, wie es ihrer Ansicht nach immer war, und wenn es sich anders entwickelt, muss man sich dem mit allen Kräften entgegenstellen.

 

Wie viel Einfluss die rechtsextremen und mannistischen Seiten haben, ist völlig unklar. Manchmal ist die Rede von Zehn- oder sogar Hunderttausenden Besuchern pro Monat. Doch selbst diese Zahl stellt nicht mehr als einen winzigen Bruchteil der Bevölkerung dar. Nur eine kleine Minderheit der Flaneure im Internet sind Anhänger oder auch nur Sympathisanten dieser virtuellen Clubs. Unverkennbar aber ist: die Rechtsextremen sind drauf und dran, sich von ihrer gesellschaftlichen Ächtung zu befreien. Von Zeit zu Zeit kommt es zu Demonstrationen oder Krawallen, die von rechtsgerichteten Websites angestachelte rechtsextreme Aktivisten anziehen. Dort können die Dinge manchmal gehörig außer Kontrolle geraten, mit Gewalttaten, die hin und wieder in Totschlag enden. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit richtet ein schwer bewaffneter Fanatiker ein Massaker an. Im Nachhinein stellt sich oftmals heraus, dass er regelmäßiger Besucher und Beiträger einer rechtsextremen Website war.

In den Vereinigten Staaten sind der ehemalige republikanische Präsident Trump und die überwältigende Mehrheit der republikanischen Politiker immer wieder nur allzu bereit, extreme Meinungen und gelegentliche Gewaltakte zu ignorieren oder zu beschönigen. Sie grinsen ein bisschen und lächeln schief zu den Rechtsextremen hinüber. Ab und an übernehmen sie auch einen Begriff oder leihen sich eine Idee von ihnen.

Die Rechte hat offenbar den Wind im Rücken. Und der kann dort manchmal sehr heftig wehen. Mit der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 brach der Sturm los.