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ZEIT UND ORT

Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Erde aber bleibt immer bestehen.

Kohelet 1,4

 

Die Vorstellungen, die Ruinen in mir hervorrufen, sind erhaben. Alles löst sich in Rauch auf, alles geht zugrunde, nichts hat Bestand, nur die Welt bleibt, nur die Zeit überdauert.

Denis Diderot, Salon von 1767

 

 

Im letzten Kapitel haben wir uns mit der recht komplexen industriellen Chemie befasst, die die Bedürfnisse einer aufstrebenden Gesellschaft im Wiederaufbau über etliche Generationen hinweg befriedigen kann. Jetzt möchte ich wieder zu den grundlegenden Dingen zurückkommen. Was könnten Überlebende tun, um sich die Antwort auf zwei Schlüsselfragen von Grund auf selbst zu erarbeiten: »Wie viel Uhr ist es?« und »Wo bin ich?«. Dies ist keine Bagatelle: Es ist äußerst wichtig, dass Sie in der Lage sind, Ihren Weg durch Zeit und Raum nachzuvollziehen. Das Erste erlaubt Ihnen, das Verstreichen der Zeit während des Tages zu messen und die Tage und Jahreszeiten zu erfassen – eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Landwirtschaft. Wir werden sehen, welche Beobachtungen Sie machen können, um den Kalender erstaunlich genau zu rekonstruieren und, wenn Sie es wollten, selbst in ferner Zukunft auszutüfteln, welches Jahr es ist (die klassische Frage, die dem Helden in jedem Zeitreise-Film über die Lippen kommt). Das Zweite ist wichtig, weil es Ihnen erlaubt, Ihre Position auf dem Globus exakt zu bestimmen, auch wenn es keine wiedererkennbaren Landmarken gibt. Nur so können Sie herausfinden, wo Sie sich im Verhältnis zu einem bestimmten Zielort aufhalten, und es ermöglicht Ihnen außerdem die Navigation zu Zwecken des Handels oder der Erkundung unbekannter Gebiete.

Betrachten wir zunächst die Zeit.

 

Die Zeit bestimmen

 

Für jede Zivilisation ist die Fähigkeit, den Ablauf der Jahreszeiten nachzuvollziehen, die besten Zeitpunkte für Aussaat und Ernte zu kennen und sich so auf das Herannahen des tödlichen Winters oder einer Trockenzeit vorzubereiten, von grundlegender Bedeutung. Und in dem Maße, wie sich eine Gesellschaft weiterentwickelt und ihre Abläufe immer stärker strukturiert werden, wird es immer wichtiger, die genaue Tageszeit angeben zu können. Uhren sind unverzichtbar, um die Dauer verschiedener Aktivitäten zu regeln und das soziale und ökonomische Leben zu synchronisieren. Eine Vielzahl von Dingen, von den Arbeitsstunden von Erwerbstätigen bis zur Öffnung und Schließung der Börse – und in Religionsgemeinschaften der Zeitpunkt, zu dem man sich zum Gottesdienst versammelt –, wird vom Takt der Stunde choreographiert.

Grundsätzlich kann man die Zeit mit Hilfe jedes beliebigen Vorgangs messen, der mit konstanter Geschwindigkeit abläuft. Im Lauf der Geschichte wurde eine Vielzahl von Methoden angewandt, die in der Anfangszeit des zivilisatorischen Wiederaufbaus sehr nützlich sein werden, wenn keine Uhren mehr funktionieren sollten. Dazu gehört das regelmäßige Tropfen einer Wasseruhr, wobei die vergangene Zeit in Form einer gestrichelten Linie an der Seite entweder des Reservoirs oder des Auffangbehälters angegeben wird, oder das Rieseln von Sand oder einem anderen körnigen Stoff durch ein enges Loch, die Füllhöhe des Öls, das in einer Lampe verbleibt, oder die Skala, die in die Seite einer hohen Kerze eingekerbt wird.

Die Funktionsprinzipien von Wasser- und Sanduhr ähneln sich – beide nutzen die Schwerkraft aus –, aber anders als der Druck, der Flüssigkeit durch ein Loch im Boden der Wasseruhr presst, ist die Fließgeschwindigkeit einer Sanduhr weitgehend unabhängig von der Höhe der verbliebenen Säule, und dieser überlegene Zeitmesser setzte sich ab dem 14. Jahrhundert allgemein durch. Doch eine Sanduhr kann nun zwar die Dauer – die vergangene Zeit – messen, nicht aber die Tageszeit angeben (zumindest nicht ohne ein präzises System des wiederholten Umdrehens der Uhr ab dem Moment des Tagesanbruchs). Wie also können Sie aus Grundprinzipien ableiten, welche Zeit es gerade ist?

Die Struktur unseres hektischen modernen Lebens wird heute von der Wanduhr und dem Terminkalender diktiert, aber diese sind lediglich Formalisierungen der ursprünglichen Rhythmen des Planeten, auf dem wir leben. Auf der Zeitskala unserer Alltagserfahrungen manifestieren sich die natürlichen Rhythmen der Erde so langsam, dass die meisten von uns lediglich den regelmäßigen Takt von Tag und Nacht oder den langsameren Kreislauf der Jahreszeiten wahrnehmen. Stellen wir uns vor, wir könnten ein Ziffernblatt manipulieren und den Ablauf der Zeit um uns herum so beschleunigen, dass diese planetarischen Periodizitäten viel deutlicher in Erscheinung treten würden. (Die folgenden Beschreibungen beziehen sich auf eine Position auf der nördlichen Hemisphäre, aber auf der Südhalbkugel gelten die gleichen Grundsätze.)

Da die Sonne entsprechend schneller durch den Himmel zieht, gleiten die Schatten über den Boden, wobei sie sich um die Basis der schattenwerfenden Gegenstände drehen. Während die Sonne nach Westen rast und nach einem drastisch abgekürzten Sonnenuntergang unsichtbar wird, färbt sich der Himmel indigoblau, ehe sich die stockfinstre Nacht auf die Erde herabsenkt. Die das Firmament tüpfelnden Sterne sind nicht die ruhenden Lichtpunkte, wie wir sie kennen, sondern dünne Lichtlinien, die um die Kuppel des Firmaments kreisen. Sie ziehen konzentrische Kreise, die eng ineinander verschachtelt sind, und direkt im Zentrum, am Himmelsnordpol, ist keine Bewegung zu erkennen. Genau in der Mitte dieses Musters liegt ein Stern, Polaris oder Nordstern, um den alle anderen herumzuwirbeln scheinen, ehe das Firmament mit Tagesanbruch wieder hell wird.

Als Nächstes fällt Ihnen auf, dass der feuerrote Streifen der Sonnenbahn am Himmel im Lauf der Wochen nicht gleichförmig ist – vielmehr schwankt der Bogen leicht nach oben und unten. Ihren höchsten Stand erreicht die Sonne im Sommer, wenn sie uns lange, warme Tage schenkt, aber im Winter ist es fast so, als würde die Sonne eine Abkürzung nehmen; sie schafft es kaum über den Horizont, ehe sie schon wieder untergeht. Der höchste und der niedrigste Punkt dieser Schaukelbewegung, wo sich die Bogenbewegung der Sonne scheinbar verlangsamt und zum Stillstand kommt, ehe sie in die entgegengesetzte Richtung zurückschwingt, wird Solstitium (Sonnenwende) genannt (nach dem lateinischen Wort für Stillstand der Sonne). Die Wintersonnenwende (die mit der Sommersonnenwende auf der Südhalbkugel zusammenfällt) ist der kürzeste Tag des Jahres und entspricht dem Aufstieg der Sonne von ihrem südlichsten Punkt am Horizont. Uralte astronomische Stätten wie Stonehenge weisen Monumente auf, die auf die Stelle des Sonnenaufgangs an diesen besonderen Tagen ausgerichtet sind.37

Wie also kann man diese natürlichen Rhythmen und Zyklen nutzen, um die Zeit zu bestimmen?

Auf der elementarsten Ebene gibt die scheinbare Wanderung der Sonne am Himmel, während sich die Erde dreht,38 und infolgedessen die sich verändernde Lage der Schatten die Tageszeit an. Jeder, der schon einmal versucht hat, am Strand im Schatten eines Baumes oder Sonnenschirms zu bleiben, weiß aus leidvoller Erfahrung, dass dieser unentwegt wandert. Wenn Sie daher einen Stock aufrecht in den Boden pflanzen, zeigt die Drehung seines Schattens das Verstreichen der Zeit an. Dies ist das Funktionsprinzip einer Sonnenuhr. Um zwölf Uhr mittags ist der Schatten am kürzesten. Die genauesten Ergebnisse erhält man dann, wenn der Stock direkt zum Himmelsnordpol ausgerichtet wird, der, wie wir auf Seite 280 gesehen haben, durch den Polarstern markiert wird.

Für eine behelfsmäßige Sonnenuhr genügt es bereits, eine halbkugelförmige Schale an der Basis des Stocks anzubringen und die Stundenlinien einfach in regelmäßigen Abständen aufzutragen. Dies erlaubt eine direkte Projektion der Himmelskugel auf die gekrümmte Oberfläche der Sonnenuhr. Eine flache kreisförmige Sonnenuhr lässt sich viel leichter bauen, aber die Markierung der Stundenlinien ist komplizierter, weil der Schatten um die Mittagszeit langsamer wandert als morgens oder abends. Sie können den Tag in so viele Stunden aufteilen, wie Sie wollen. Unsere Konvention, einen ganzen Tag in zwei Hälften aus 12 Stunden aufzugliedern, geht auf die Babylonier zurück (und kann mit den 12 Tierkreiszeichen in Verbindung gebracht werden: dem Band der Sternbilder, das die Sonne und die Planeten auf ihrer Bahn durch den Himmel scheinbar durchlaufen).

Die bedeutendste Revolution im Bereich der Zeitmessung in unserer Geschichte und eine Technologie, die man in der Wiederaufbauphase anstreben sollte, ist die einer mechanischen »Federwerk«-Uhr.39 Dies ist ein wunderbarer Apparat, der mit einem herzartigen Rhythmus tickt. Dieser Mechanismus setzt sich aus vier Schlüsselkomponenten zusammen: einer Antriebsquelle, einem Oszillator (Gangregler), einem Antriebsregler (Hemmung) und dem Zahnradgetriebe des Uhrwerks (Räderwerk).

Der wichtigste Teil jedes mechanischen Uhrwerks ist die Antriebsquelle, und das einfachste Mittel, um die Antriebsenergie bereitzustellen, ist ein Gewicht, das an einer Schnur hängt, die um einen Schaft gewickelt ist, so dass dieser sich dreht, wenn das Gewicht unter Einwirkung der Schwerkraft nach unten sinkt. Die größte Schwierigkeit besteht darin, die Freisetzung dieser gespeicherten Energie so zu regulieren, dass sie die langsamen Bewegungen des Uhrwerks antreibt und das Gewicht nicht einfach geradewegs zu Boden fallen lässt. Die Vorrichtung, die dies leistet, wird Hemmung genannt, und wir werden gleich auf sie zurückkommen.

Das schlagende Herz der mechanischen Uhr, das Bauteil, das die regelmäßigen Zeitsteuerungssignale erzeugt, ist der Oszillator (Gangregler). Die ideale, technisch einfachste Lösung ist ein Pendel: eine schwingende Masse an einem starren Stab. Das physikalische Prinzip, das Sie sich dabei zunutze machen, ist die Tatsache, dass die Periode eines Pendels – die Zeit, die es benötigt, um über einen kleinen Winkel zu schwingen und in seine Ausgangsposition zurückzukehren – von seiner Länge bestimmt wird. Ein Pendel schwingt immer in genau dem gleichen Takt, selbst wenn Reibung und Luftwiderstand nach und nach die Amplitude seiner Schwingung verringern, und es ist diese Regelmäßigkeit, die es zu einer so nützlichen Komponente einer Uhr machen. Das dritte Element, der Antriebsregler (Hemmung), erfüllt die höchst wichtige Funktion, das Zeitsteuerungssignal des Gangreglers zu integrieren, um das Antriebswerk zu regulieren. Die Pendelhemmung ist ein gezacktes Zahnrad, das wiederholt in einen zweiarmigen Hebel, der mit dem Pendelschwung hin- und herschaukelt, einrastet und sich löst. An der höchsten Stelle jedes Ausschlags ruckt die freigegebene Hemmung unter Einwirkung der Zugkraft des Antriebsgewichts eine Stufe weiter, und ihre angeschrägten Zähne schubsen das Pendel leicht an, um es in Schwung zu halten. Diese ausgeklügelte Anordnung fängt den regelmäßigen Impuls des schwingenden Pendelgewichts ein, um die gespeicherte Energie ein Ticken nach dem anderen abzugeben. Die doppelte Forderung nach einem möglichst langen Pendel und einer hohen Fallhöhe für das Antriebsgewicht diktiert die Konstruktionsweise vieler Zeitmesser, so dass sie wie große Standuhren aussehen.

Danach ist es relativ einfach, ein Zahnradgetriebe zu konzipieren, das im Wesentlichen eine mathematische Berechnung ausführt, um die von der Hemmung ausgeführte stufenweise Drehung eines Antriebsrads, das alle 12 Stunden einen vollständigen Kreis beschreibt, an den Stundenzeiger des Ziffernblatts anzupassen und diesen wiederum im Verhältnis 60:1 mit dem Minutenzeiger zu verzahnen. Es ist ein weiteres Vermächtnis der alten Babylonier, dass wir Stunden in 60 Minuten aufteilen (das Wort leitet sich von dem lateinischen Ausdruck partes minutiae primae her, was »erster kleiner Teil« bedeutet) und diese weiter in 60 Sekunden (lateinisch partes minutiae secondae). Pendeluhren erlauben außerdem die präzise Messung natürlicher Prozesse und Experimente, eine Entwicklung, die in unserer Geschichte das Instrumentarium der Forscher im Rahmen der wissenschaftlichen Revolution enorm erweitert hat.40

 

Die wichtigsten Bauteile einer mechanischen Uhr.

Das Gewicht (unten links) treibt beim Senken das Antriebsrad,

die Hemmung (oben) gibt das eingerastete Rad um jeweils

einen Zahn frei, während sie hin- und herschaukelt.

Die Hemmung ist an den regelmäßigen Takt eines Pendels

(nicht abgebildet) gekoppelt.

 

Die Länge der Stunden, die von dem umherziehenden Schatten einer Sonnenuhr angezeigt wird, schwankt im Jahresablauf: Eine Winterstunde ist kürzer als eine Sommerstunde. Nur an zwei Tagen des Jahres sind die Sonnenstunden alle gleich lang: an den Äquinoktien (was wörtlich so viel heißt wie »gleiche Nacht«, weil Tag und Nacht jeweils 12 Stunden lang sind).41Diese besonderen Tage liegen im Frühjahr und im Herbst, und wenn Sie um 12 Uhr mittags am Äquator stehen, zieht die Sonne senkrecht über Sie hinweg und Ihr Schatten verschwindet unter Ihren Füßen. Der Morgen beider Tagundnachtgleichen ist überall auf der Erde leicht als solcher zu erkennen, da die Sonne genau im Osten aufgeht (im rechten Winkel zum Himmelspol, den Sie beobachtet haben). Es ist diese äquinoktiale Standardstunde (die sich mit Hilfe einer Sanduhr von einer Sonnenuhr ablesen lässt, so dass Sie Ihre mechanische Uhr später mit dieser Sanduhr auf die richtige Stundenlänge »eichen« können), die mechanische Uhren zählen sollen. Sonnenuhren zeigen die sogenannte wahre Sonnenzeit an, die um mehr als 16 Minuten von der mittleren Sonnenzeit abweichen kann, welche von mechanischen Uhren mit ihrer festen äquinoktialen Stunde erfasst wird. Mit der Ausbreitung mechanischer Uhren kam jedoch eine potentielle Quelle der Unklarheit auf – welches der beiden Zeitsysteme meinen Sie: die gleichförmige Stunde der Maschine oder die Sonnenzeit, die die Zahl der Stunden seit Sonnenaufgang zählt? Daher wurde es ab dem 14. Jahrhundert notwendig, die Zeit als »Uhrzeit« anzugeben, wie etwa »drei Uhr«.

Tatsächlich besteht ein noch tieferer historischer Zusammenhang zwischen dem modernen Ziffernblatt, das an Ihrer Wand hängt, und der alten Sonnenuhr-Technologie. Mechanische Uhren, die die Zeit mit einem Stundenzeiger angeben, der ein Ziffernblatt überstreicht, wurden so konstruiert, dass sie intuitiv von Menschen verstanden werden konnten, die es gewohnt waren, die Schattenlinie einer Sonnenuhr zu lesen. Sie tauchten erstmals in mittelalterlichen europäischen Städten auf, und auf der Nordhalbkugel dreht sich der Schatten eines Sonnenuhr-Schattenzeigers immer in die gleiche Richtung, die wir aus diesem Grund als »im Uhrzeigersinn« (rechtsdrehend) für den Stundenzeiger festgelegt haben. Wenn eine mechanisch fortgeschrittene Zivilisation während des Neustarts auf der Südhalbkugel die Uhr neu erfindet, drehen sich die Zeiger vielleicht stattdessen in die Richtung, die wir als »entgegen dem Uhrzeigersinn« erachten würden.

So viel zum Messen der Zeit während des Tages. Was können Sie, ausgehend von diesen ganz einfachen Grundlagen, tun, um längere Zeitzyklen zu erfassen – den Puls der Jahreszeiten zu fühlen und einen Kalender zu rekonstruieren?

 

Den Kalender rekonstruieren

 

Kommen wir auf unseren Stock im Boden zurück. Wir haben bereits gesehen, wie Sie dem Kürzer- und Längerwerden seines Schattens während des Tages folgen können, um den Zeitpunkt zu ermitteln, an dem die Sonne ihren höchsten Stand erreicht (»Mittag«). Wenn Sie die Länge des mittäglichen Schattens an aufeinanderfolgenden Tagen notieren, wobei Sie im Wesentlichen den maximalen Erhebungswinkel der Sonne messen, wird Ihnen eine Periodizität über die Jahreszeiten während des Umlaufs der Erde um die Sonne auffallen.42

Wenn Sie etwas länger aufbleiben und nicht die Bewegung der Sonne beobachten, sondern den Nachthimmel, haben Sie Zugang zu einer viel größeren Auswahl himmlischer Orientierungspunkte, die Ihnen helfen, das Jahr zu unterteilen und Ihren Gang durch den Kreislauf der Jahreszeiten nachzuverfolgen. Viele der Sternbilder, die an einem bestimmten Standort sichtbar sind, verändern sich im Lauf eines Jahres. So liegt zum Beispiel das bekannte Sternbild »Orion der Himmelsjäger« quer über dem Himmelsäquator und ist daher auf der Nordhalbkugel nur während der Wintermonate sichtbar. Genauer gesagt, einzelne Sterne sind zunächst sichtbar und verschwinden dann wieder an bestimmten Daten (was Ihnen erlaubt, die 365 Tage des Jahres genau zu zählen). Diese stellaren Ereignisse lassen sich mit den von Ihnen festgelegten besonderen Tagen des Jahres in Verbindung bringen – den Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen –, und diese können daher dazu benutzt werden, Ihr Fortschreiten durch das Jahr nachzuvollziehen und den Wechsel der Jahreszeiten vorwegzunehmen. Die alten Ägypter zum Beispiel sagten die Nilschwemme und die damit verbundene Regenerierung ihrer Böden anhand des ersten Erscheinens von Sirius vorher, des hellsten Sterns am Himmel, was in unserem modernen Kalender etwa dem 28. Juni entspricht.

Indem Sie eine Reihe einfacher Beobachtungen aufzeichnen, können Sie also ein Jahr aus 365 Tagen rekonstruieren43 und in Ihrem Kalender die Tagundnachtgleichen und die Sonnenwenden vermerken, die als vier gleichabständige Orientierungspunkte im Jahr dienen – zeitliche Monumente für den Wechsel der Jahreszeiten und die Koordinierung der landwirtschaftlichen Aktivitäten. Herbst- und Frühlingsäquinoktien – die, wie wir gesehen haben, auch dazu dienen, die Uhrstunde zu definieren – fallen ungefähr auf den 22. September beziehungsweise den 20. März (auf der Nordhalbkugel) und die Sonnenwenden etwa auf den 21. Dezember und den 21. Juni. Also selbst wenn sich die postapokalyptische Gesellschaft so weit zurückentwickeln sollte, dass der Faden der Geschichte in einer Epoche abreißt, in der niemand Aufzeichnungen macht, könnten Sie noch immer das Datum berechnen, indem Sie Ihre Augen eine Weile auf das himmlische Uhrwerk richten. Wenn Sie wollten, könnten Sie sogar den gregorianischen Kalender mit seiner angenehm vertrauten Struktur von 12 Monaten von Januar bis Dezember wieder aufleben lassen und mit den von Ihnen festgelegten Sondertagen verknüpfen.

Aber könnte man das Jahr auch dann noch berechnen, wenn vielleicht über mehrere Generationen hinweg niemand Buch über die Jahre geführt hätte, die seit der Katastrophe vergangen sind? Wie lange dauerte das Dunkle Zeitalter nach dem katastrophalen Untergang unserer Zivilisation? Eine gute Methode, um dies herauszufinden, stützt sich auf eine erstaunliche Erkenntnis über die Sterne, die über den Nachthimmel verstreut sind.

Im Lauf einer Nacht bewegen sich die Sterne durch den Himmel, als wäre dieser eine riesige Kuppel mit stecknadelkopfgroßen Löchern, die über unseren Köpfen Pirouetten drehen, wobei jeder Lichtpunkt in einer festen Konstellation mit anderen bleibt: die Muster der Sternbilder. Doch ist es eine erstaunliche Tatsache, dass sich alle Sterne über Zeiträume, die sehr viel länger sind als die Lebensspanne eines Menschen, aneinander vorbeibewegen. Wenn Sie die Zeit schnell vorlaufen lassen könnten (diesmal unter Ausklammerung der Erddrehung), würden Sie beobachten, wie die Sterne aneinander vorbeigleiten und wie Schaumflecken auf einem dunklen Ozean herumwirbeln. Dies wird Eigenbewegung genannt, und sie ist darauf zurückzuführen, dass die anderen Sonnen auf ihren eigenen Umlaufbahnen das Zentrum der Galaxis umkreisen.

Wenn man an einem unbekannten Zeitpunkt in der nahen Zukunft das laufende Jahr bestimmen will, sollte man sich an Barnards Pfeilstern orientieren. Er ist einer der erdnächsten Sterne, allerdings eine sehr kleine, alte Sonne, die nur noch mattrot schimmert und daher trotz ihrer Erdnähe nicht mit bloßem Auge zu sehen ist. Doch lässt sich Barnards Pfeilstern leicht mit einem bescheidenen Fernrohr mit einer Linse oder einem Spiegel von nur wenigen Zoll Durchmesser ausmachen. Obwohl dieser Stern also nicht ganz leicht zu beobachten ist, lässt er sich als ein natürlicher Zeitmarker am Himmel nutzen. Aufgrund seiner Erdnähe hat Barnards Pfeilstern die schnellste Eigenbewegung aller bekannten Sterne. Er jagt mit einer Geschwindigkeit von fast drei Tausendstel eines Grades pro Jahr durch den Himmel. Das mag sich nicht nach viel anhören, aber verglichen mit allen umliegenden Sternen ist das ein rasantes Tempo, und im Lauf eines Menschenlebens legt er fast den halben Durchmesser eines Vollmonds zurück. Um in der Zukunft das Datum zu ermitteln, müsste eine neustartende Zivilisation also lediglich den kleinen Himmelsausschnitt beobachten – was mit der Fotografie sogar noch leichter wäre –, der im Schaubild auf Seite 290 gezeigt wird. Notieren Sie sich die gegenwärtige Position von Barnards Pfeilstern und lesen Sie das aktuelle Jahr von der Zeitachse ab.

Über einen viel längeren Zeitraum können Sie sich die sogenannte Präzession der Erdachse zunutze machen. Wie bei einem sich drehenden Kreisel beschreibt auch die Rotationsachse unseres Planeten im Lauf der Zeit eine kreisförmige Bahn. Der Nordstern, Polaris, steht zufälligerweise in der Verlängerung der Rotationsachse der Erde in ihrer gegenwärtigen Ausrichtung, und er ist daher der einzige Punkt, der scheinbar nicht am Himmel kreist. Im Moment gibt es keinen entsprechenden »Südstern«, da die Verlängerung der Erdachse gegenwärtig eine leere Region des Südhimmels durchstreift. Innerhalb von tausend Jahren wird der Nordpol durch den leeren Himmel in die Nähe anderer Sterne gewandert sein, und im Jahr 25.700 n. Chr. wird er einen vollständigen Kreis beschrieben haben und zu seiner Position bei Christi Geburt zurückkehren. (Eine weitere Folge dieses Umherziehens besteht darin, dass die Punkte, an denen die Bahn der Sonne den Himmelsäquator kreuzt, die Frühlings- und Herbstäquinoktien, über den Himmel wandern, und daher wird dieser Vorgang Präzession der Tagundnachtgleichen genannt.) Die gegenwärtige Position des Himmelspols lässt sich relativ leicht beobachten, vor allem wenn Sie einfache Fotoapparate neu entwickelt haben und die infolge der Erdrotation verschmierten Sternschweife abbilden können (mit einer Belichtungszeit von etwa einer Viertelstunde). Vergleichen Sie dies mit der nebenstehenden Sternkarte, um Ihr aktuelles Jahrtausend abzulesen.

 

Barnards Pfeilstern hat die schnellste Eigenbewegung am Nachthimmel, und mit Hilfe von

astronomischen Beobachtungen ließe sich nach einer Unterbrechung in den historischen

Aufzeichnungen das laufende Jahr bestimmen.

 

Die Aufzeichnung der verschiedenen Bewegungen der Erde wird Ihnen erlauben, die Tageszeit zu bestimmen und einen Kalender neu zu erstellen, um den Wechsel der Jahreszeiten für die Landwirtschaft vorherzusagen. Aber wie finden Sie heraus, wo auf der Erde Sie sich aufhalten, und wie können Sie die optimale Route zwischen verschiedenen Orten ermitteln?

 

Wo bin ich?

 

Es ist relativ leicht, anhand vertrauter Landmarken ein Gelände zielgerichtet zu durchstreifen oder mit einem Schiff der Küstenlinie zu folgen. Wenn aber diese beruhigenden Orientierungspunkte fehlen – zum Beispiel beim Überqueren der grenzenlosen, gleichförmigen Weite der Ozeane –, stellt sich die Frage, was Sie tun können, um sicherzustellen, dass Sie sich in die richtige Richtung bewegen. Chinesische Seefahrer machten sich im 11. Jahrhundert als Erste das unglaubliche richtungssuchende Verhalten von natürlichem Magneteisenstein und später von magnetisierten Eisennadeln zunutze. Diese Kompassnadel dreht sich von selbst so, dass sie parallel zu den Linien des Erdmagnetfeldes liegt, das heißt, sie richtet sich der Länge nach zwischen den Polen aus: Es ist hilfreich, die nach Norden zeigende Nadelspitze zu markieren. Ein Kompass erlaubt Ihnen nicht nur, einen konstanten Steuerkurs beizubehalten, wenn andere äußere Orientierungspunkte fehlen; vielmehr können Sie, wenn zwei (oder mehr) hervorstechende Landmarken in Sichtweite sind, eine Kompasspeilung auf sie vornehmen und so Ihren Standort auf einer Land- oder Navigationskarte genau triangulieren. Auch wenn Sie bei sternenklarem Nachthimmel immer Nord und Süd finden können, ist der Kompass ein ausgezeichnetes Navigationsinstrument, wenn der Himmel bedeckt ist. Sie sollten allerdings bedenken, dass der Himmelspol, der durch die Erdrotation verursacht wird, und der Magnetpol, der sich dem aufgewühlten eisenreichen Erdkern verdankt, nicht vollkommen deckungsgleich sind. Am Äquator beträgt die Abweichung nur ein paar Grad, aber je näher Sie einem der beiden Pole kommen, umso größer wird die Fehlweisung gegenüber der wahren Nordrichtung.

 

Das Kreisen des Himmelsnord- (oben) und -südpols (unten) als Folge

der Kreiselbewegung der Erdrotationsachse in den nächsten 26.000 Jahren.

 

Wenn Sie ganz von vorn anfangen müssen und keine Magneten finden können, können Sie mit Hilfe der Elektrizität ein vorübergehendes Magnetfeld erzeugen. In Kapitel 8 haben wir gesehen, wie man aus einer Säule abwechselnd übereinandergestapelter Plättchen zweier verschiedener Metalle eine primitive Batterie bauen kann, die einen Strom entlang einem zu einem Draht ausgezogenen und zu einer Spule gewickelten Kupferklumpen weiterleitet, der dadurch zu einem Elektromagneten wird. Solange diese Spule unter Strom steht, kann man mit ihr beliebige Gegenstände aus Eisen dauerhaft magnetisieren, etwa eine dünne Nadel, die sich für einen Kompass eignet. (Wenn Sie wirklich von Grund auf neu beginnen, sollten Sie in Kapitel 6 nachlesen, wie man zunächst einmal Metalle schmilzt.)

Ein Kompass zeigt Ihnen eine Richtung, und in Verbindung mit einer zuvor erstellten Karte und Landmarken kann er auch Ihren Standort angeben. Aber wie steht es nun mit einem allgemeinen System zur Bestimmung Ihrer Position an jedem beliebigen Punkt der Erdoberfläche? Es zeigt sich, dass die Lösungen der beiden in diesem Kapitel erörterten grundlegenden Probleme – wie spät ist es und wo bin ich? – tiefer miteinander zusammenhängen, als Sie vielleicht geglaubt haben.

Um Ihren Standort genau bestimmen zu können, müssen Sie zunächst für alle Punkte auf dem Planeten ein System einzigartiger Adressen konzipieren. Es genügt völlig, wenn man die Lage eines Sees als »fünf Kilometer südwestlich der Stadt« beschreibt, aber wie lokalisiert man eine neu entdeckte Insel oder seine gegenwärtige Position inmitten eines gleichförmigen Ozeans? Der Trick besteht darin, ein natürliches Koordinatensystem für die Erde selbst zu finden.

Es ist relativ leicht, sich in einer Stadt wie New York mit ihrem streng geometrischen Gitternetz-Stadtplan zu orientieren. Die »Avenues« verlaufen alle annähernd in nordöstlicher Richtung, während die »Streets« die Avenues rechtwinklig schneiden, und zudem sind die meisten Straßen fortlaufend durchnummeriert. Es ist trivial, sich in Manhattan zurechtzufinden: Man geht eine Avenue hinauf, bis diese sich mit der gesuchten Straße kreuzt, dann geht man diese Straße entlang, bis man sein Ziel erreicht. Um einen Treffpunkt im Zentrum von Manhattan eindeutig zu lokalisieren, genügt es manchmal schon, die Kreuzung anzugeben, an der er sich befindet: 23rd Street und Seventh Avenue. Und wenn sich alle darauf verständigten, immer die Straßenzahl vor der Avenue anzugeben, bräuchte man lediglich ein Paar: (23, 7) oder (4, Broadway). Hier ist eine Adresse weit mehr als ein Etikett: Es ist ein Koordinatenpaar, das den Standort innerhalb der Stadt genau festlegt. Und wenn man zu den Schildern an einer Kreuzung aufsieht, um seinen gegenwärtigen Standort innerhalb des Straßennetzes abzulesen, kann man sofort den direkten Weg zu seinem Ziel herausfinden, indem man abzählt, wie viele Straßen man noch geradeaus und/oder quer gehen muss.

Ein ähnliches Koordinatensystem funktioniert auch für den gesamten Planeten. Die Erde ist eine fast perfekte Kugel, deren Rotationsachse einen Nord- und Südpol definiert sowie den Äquator als die Kreislinie, die um die Taille des Planeten verläuft. Aufgrund ihrer Kugelgeometrie ist es sinnvoll, die Fläche mit Linien zu unterteilen, die, anders als ein idealisiertes städtisches Straßennetz, keine gleichmäßigen Abstände aufweisen, sondern in bestimmten Winkeln zueinander verlaufen. Stellen Sie sich also vor, Sie stehen am Nordpol und schießen eine Schnur genau nach Süden bis zum Südpol, dann drehen Sie sich um 10° und schießen eine weitere Schnur und so weiter, bis sie sich um 360° gedreht und einen vollständigen Kreis beschrieben haben. In ähnlicher Weise können Sie am Äquator beginnen, der bereits als der Kreis um den Planeten, der in gleichem Abstand von den Polen verläuft, definiert wurde. Nun stellen Sie sich vor, dass Sie, während Sie sich nach Norden und Süden bewegen, im Abstand von jeweils 10° stetig kleiner werdende Ringe fallen lassen, so dass die Pole also bei 90° liegen.

Diese Linien, die zwischen den Polen von Nord nach Süd verlaufen, werden Längengrade genannt, und die ostwestlichen Ringe, die den Planeten nördlich und südlich des Äquators umgeben, sind die Breitengrade. Breitengrade sind parallel, und die Längengrade schneiden diese im rechten Winkel. In der Nähe des »Hosenbundes« der Erde nähern sich die Breite-Länge-Koordinaten dem Street-Avenue-System auf der Ebene von Manhattan, wohingegen das Quadratnetz zu den Polen hin aufgrund der Kugelgeometrie der Erde zunehmend verzerrt wird. Wie bei den Straßen von Manhattan muss man Ausgangspunkte festsetzen, denen Zahlenkoordinaten zugeordnet werden. Der Äquator ist der naheliegende Breitengrad null, aber es gibt keine entsprechende natürliche Nullmarke für die Nummerierung der Längengrade: Wir benutzen allein aufgrund einer willkürlichen historischen Festlegung Greenwich, London, als den »Nullmeridian«.

Um Ihren eigenen Standort irgendwo auf dem Planeten mit Hilfe dieses universellen Adresssystems genau zu bestimmen, müssen Sie lediglich angeben, wie viele Grade nördlich oder südlich des Äquators Sie sich befinden – Ihre geographische Breite – und wie viele Grade östlich oder westlich des Nullmeridians – Ihre geographische Länge. In diesem Moment sagt mir mein Smartphone, dass mein Standort 51’56°N und 0’09°W ist (ich bin in Nordlondon, nicht weit weg von Greenwich).

Das ursprüngliche Problem, das wir uns selbst stellten – wie finde ich die beste Route zwischen mir bekannten Orten –, lässt sich fein säuberlich in zwei getrennte Fragen aufspalten: Wie bestimme ich meine geographische Breite? Und wie bestimme ich meine geographische Länge?

Die Breite lässt sich recht leicht ermitteln: Der reich gemusterte Nachthimmel liefert mehr als genug Informationen. Polaris, der stationäre Fixpunkt in den kreisenden Sternschweifen, steht fast senkrecht über dem Nordpol, weshalb es unmittelbar einleuchtend ist, dass der Winkelabstand Ihrer gegenwärtigen Position vom Äquator dem Höhenwinkel des Polarsterns über dem Horizont entspricht. Das Problem der Bestimmung Ihrer geographischen Breite lässt sich also direkt übersetzen in die Messung des Höhenwinkels von Sternen über dem Horizont (Elevation).

Aus herumliegendem Krimskrams könnten Sie einen einfachen Navigationsquadranten basteln. Markieren Sie einen Viertelkreis aus Karton oder dünnem Holz mit einer unterteilten Winkelskala von 0° bis 90° um den gekrümmten Bogen. Bringen Sie Kimme und Korn an den Enden einer der geraden Kanten an, so dass Sie darüber das Zielobjekt anvisieren können, und befestigen Sie eine Lotschnur (Senklot) an der Ecke, so dass sie gerade herunterhängt und auf der Skala den Höhenwinkel anzeigt. Auch wenn es nicht besonders ausgetüftelt ist, erlaubt Ihnen ein einfaches Instrument wie dieses, den Polarstern anzuvisieren und auf diese Weise mit einer Genauigkeit von einigen Graden Ihre geographische Breite zu bestimmen; Sie können also bis auf wenige hundert Kilometer genau ermitteln, wie weit nördlich des Äquators Sie sich befinden.

Ein weitaus eleganteres und präziseres Instrument wurde in den 1750er Jahren entwickelt, und es wird auch heute noch auf hoher See als Notfall-Navigationsgerät bei einem Stromausfall oder einer Störung des GPS-Geräts benutzt. Der Sextant, der auf einem Kreissektor von etwa einem Sechstel eines Kreises basiert – und nach dieser Eigenschaft benannt wurde, entsprechend dem Muster, das der ältere Quadrant, der Oktant, begründet hatte –, kann den Winkel zwischen zwei beliebigen Objekten messen. Besonders nützlich für die Navigation ist die Tatsache, dass der Sextant den Höhenwinkel über dem Horizont der Sonne beziehungsweise des Polarsterns oder auch irgendeines anderen Sterns sehr präzise messen kann. Die Konstruktion eines so wunderbar nützlichen Geräts lässt sich im Rückblick leicht reproduzieren, und sobald Ihre neustartende Gesellschaft die grundlegenden Fähigkeiten der Formung von Metall, des Schleifens von Linsen und des Verspiegelns von Spiegeln wiedererworben hat, sind die notwendigen technologischen Voraussetzungen für die Herstellung von Sextanten erfüllt.

Der Rahmen des Sextanten ist ein keilförmiger Kreisausschnitt von 60°, der an ein vertikal gehaltenes Stück Pizza erinnert, wobei das spitze Ende zum Himmel zeigt. Ein drehbarer Arm, der an der Spitze geschwenkt wird, hängt herunter und zeigt auf eine Winkelskala, die um den gekrümmten Rand läuft. Das wichtigste Bauteil des Sextanten ist ein halbdurchlässig verspiegelter Spiegel (»Halbspiegel«), der an der Stirnseite angebracht ist, so dass der Navigator geradeaus nach vorn durch diesen hindurchblicken kann. Ein auf dem Drehpunkt des Arms befestigter schräger Spiegel wirft das Bild des Objekts, auf das er ausgerichtet wird, auf den halbdurchlässigen Spiegel, so dass der Beobachter zwei überlagerte Bilder sieht.

 

Der Sextant mit seinem Fernrohr (a),

Halbspiegel (d) und Winkelskala (h).

 

Sie bedienen den Sextanten folgendermaßen: Blicken Sie durch das kleine Fernrohr und neigen Sie das Instrument, bis es durch den vorderen Halbspiegel den Horizont anvisiert. Drehen Sie jetzt den Arm, bis das Spiegelbild der Sonne oder irgendeines anderen Zielsterns nach unten schwingt und direkt auf dem Horizont zu sitzen scheint (getönte Gläser können zwischen den Spiegeln eingesetzt werden, um die blendende Helligkeit so stark zu vermindern, dass sie für Ihre Augen unschädlich ist). Der Höhenwinkel lässt sich jetzt auf der unteren Skala des Schwenkarms ablesen.

Sobald Sie die Sternenmuster wieder gelernt und die Positionen der hellsten Orientierungssterne für verschiedene Daten und Zeitpunkte in Tabellen aufgezeichnet haben, können Sie dadurch, dass Sie irgendeinen dieser Sterne anvisieren, die geographische Breite Ihres Standorts auch dann bestimmen, wenn der Polarstern verdeckt ist. Und sobald Sie die Höhe der Sonne um zwölf Uhr mittags für verschiedene Daten und Breiten tabelliert haben, können Sie mit Hilfe eines Sextanten und eines Kalenders Ihre geographische Breite auch am Tage ermitteln. Wenn Sie erst einmal wissen, wie Sie den Himmel lesen müssen, ist der Sextant ein phantastisches Kombinationswerkzeug – sowohl Kompass als auch eine Uhr für die Ortszeit.

Die zweite Komponente des Koordinatenpaares, das man benötigt, um seinen Standort exakt zu bestimmen, die geographische Länge, lässt sich leider nicht annähernd so leicht ermitteln. Es ist schwer, anhand der Sterne herauszufinden, wie weit östlich des Nullmeridians man sich befindet, weil uns die Erdrotation fortwährend in diese Richtung dreht. Um die New-York-Analogie auf die Spitze zu treiben: Im 17. Jahrhundert konnten die Seefahrer leicht herausfinden, auf welcher Street sie unterwegs waren, aber es war für sie fast unmöglich, die Avenue in Erfahrung zu bringen. Sie konnten nur mit Hilfe der sogenannten Koppelnavigation – indem sie ihre Kursrichtung und die geschätzte Geschwindigkeit extrapolierten und hofften, sie würden durch unbekannte Strömungen nicht allzu weit von ihrem Kurs abgetrieben – zur richtigen Breite an einem Punkt segeln, an dem sie davon ausgehen konnten, nicht über das Ziel hinausgeschossen zu sein, und dann, entlang dieser Breite, genau nach Osten oder Westen segeln, bis sie mit etwas Glück ihr Ziel erreichten.

Die Erde dreht sich ostwärts, was die scheinbare Bewegung der Sonne am Himmel und das Kreisen der Sterne bei Nacht verursacht. Anhand der Position der Sonne definieren wir die Tageszeit (was uns direkt zu den Grundlagen von Sonnenuhren zurückführt), und so läuft das Problem der Ermittlung Ihrer geographischen Länge – wie weit sind Sie sind in östlicher oder westlicher Richtung von einer gewählten Bezugslinie auf der Erdoberfläche entfernt – darauf hinaus, die Differenz der Tageszeit im gleichen Moment zwischen der Bezugslinie und Ihrer gegenwärtigen Position festzustellen. Die Erde dreht sich in 24 Stunden um 360°, so dass eine Differenz von einer Stunde zwischen den Mittagszeiten am Referenzort und an Ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort einer Distanz in der geographischen Länge von 15° entspricht. Die Bestimmung der geographischen Länge basiert daher auf der Messung einer Zeitdifferenz, die in eine räumliche Entfernung umgesetzt wird. Tatsächlich haben Sie die Lösung des Längenproblems mit Sicherheit schon am eigenen Leib erlebt: Moderne Verkehrsflugzeuge befördern uns zu weit entfernten Zielen mit völlig anderen Ortszeiten, und es dauert eine Weile, bis sich unsere Körper daran anpassen – vor der Einführung des GPS machten sich Navigatoren das gleiche Prinzip der Zeitdifferenz zunutze, das wir als Jetlag erleben!

Um die für die genaue Bestimmung Ihrer Position unabdingbare zweite Koordinate festzustellen, können Sie daher einen Sextanten benutzen, mit dem Sie Ihre gegenwärtige Ortszeit bestimmen, die Sie dann mit der aktuellen Zeit am Nullmeridian vergleichen. Aber wie lässt sich diese Referenzzeit in entlegene Regionen der Erde übermitteln?

Das Längengrad-Problem wurde schließlich durch die Erfindung geeigneter Uhren gelöst: Uhren, die unempfindlich gegen das Stampfen und Schlingern eines Schiffs auf hoher See sind und während einer monate- oder gar jahrelangen Reise hinreichend genau gehen. Für eine Schiffsuhr wäre ein Pendel- und Gewichtsantriebsystem eindeutig ungeeignet, und es war die Feder, die diese beiden Bedingungen erfüllte. Ein geeigneter Oszillator lässt sich aus einer Unruhfeder herstellen: ein dünner Metallstreifen, der um den Schaft eines mit einem Gewicht belasteten Rings zu einer Spirale gewickelt wird. Sie funktioniert ähnlich wie ein Pendel, allerdings mit einer Rückstellkraft an den Endpunkten der Schwingung, die durch das Spannen einer Spiralfeder statt durch die Schwerkraft erzeugt wird. Eine Spiralfeder, die straff aufgezogen ist und in ihrer Spannung Energie speichert, kann auch die Antriebskraft für das Uhrwerk liefern. Dies ist eine viel kompaktere Energiequelle als ein stetig sinkendes Gewicht. Aber wenn man eine Feder in dieser Weise nutzt, wirft dies ein neues Problem auf, das seinerseits mit einer weiteren Erfindung gelöst werden muss. Das Problem besteht darin, dass sich die von einer Feder ausgeübte Kraft in dem Maße ändert, wie sie sich abwickelt: Sie ist am Anfang am stärksten und wird dann mit dem Abbau der aufgestauten Spannung kontinuierlich schwächer. Die beste Methode, um diese Energie gleichmäßig fließen zu lassen und so die Geschwindigkeit der Uhr zu regeln, besteht darin, das freie Ende der aufgespulten Feder mit einer Kette zu verbinden, die um eine kegelförmige Walze gewickelt wird, die man als Schnecke bezeichnet. Auf diese Weise wirkt die Feder, während sie sich abwickelt, immer mehr auf das dicke Ende der Schnecke ein und profitiert so von einer verstärkten Hebelwirkung, die ihre nachlassende Kraft ausgleicht.

Eine angemessen komplexe Uhr mit Mechanismen zum automatischen Ausgleich von Feuchtigkeits- und Temperaturänderungen (die sich auf die Zähflüssigkeit von Schmierölen und die Steifigkeit von Federn auswirken) und anderen Ursachen von Schwankungen ist ein wunderbares Gerät, ein beinahe magischer Käfig, der die Zeit selbst, perfekt konserviert, wie ein gefangenes Genie festhalten kann.44 Das Bemühen, während des Wiederaufbaus der Zivilisation direkt zu diesem Punkt zu springen, ist mit der Schwierigkeit verbunden, dass es manchmal nicht genügt, die Lösung eines Problems zu kennen. Der Teufel steckt oft in extrem feinen Details, und während der Erholungsphase einer fortgeschrittenen Zivilisation mag es nicht immer Abkürzungen oder Gelegenheiten für solche technologischen Sprünge geben. Es kostete den monomanen Uhrmacher John Harrison den größten Teil seines Lebens, eine hinreichend genaue Schiffsuhr zu entwerfen und zu bauen. Zuvor musste er viele neue Mechanismen erfinden, wie etwa Kugellager, um die Reibung zu verringern, und den Bimetallstreifen, um die temperaturbedingte Ausdehnung auszugleichen.

Gibt es also eine andere Lösung für das Problem? Wenn zuverlässige mechanische oder digitale Uhren überlebt haben sollten, dann müssen Sie selbstverständlich nur eine davon auf die Ortszeit (Ihres Abfahrtsortes) einstellen, wenn Sie aufbrechen. Behalten Sie sie während Ihrer Odyssee in Ihrer Tasche und nehmen Sie sie heraus, um sie mit der aktuellen Ortszeit zu vergleichen (die Sie nach wie vor durch Sextanten-Beobachtung herausfinden müssen) und so Ihre gegenwärtige geographische Länge zu bestimmen. Was aber ist, wenn keine Zeitmesser erhalten geblieben sind?

Das Problem im frühen 18. Jahrhundert bestand darin, dass man zwar die Ortszeit berechnen konnte, aber keine Möglichkeit hatte, die aktuelle Uhrzeit in Greenwich über größere Entfernungen zu übermitteln. Harrison löste dieses Problem schließlich mit einer Schiffsuhr, die auf die Greenwich-Zeit eingestellt war und diese getreulich wiedergab, aber es würde genauso gut funktionieren, wenn Greenwich seine Zeit irgendwie regelmäßig Schiffen weltweit mitteilen könnte. Ein aberwitziger Vorschlag sah vor, mitten auf hoher See ein Netz von Signalschiffen zu errichten, die über Kanonenschüsse das akustische Signal für zwölf Uhr mittags in London weiterleiten sollten. Wir kennen jedoch eine viel praktischere Methode, um Nachrichten über große Entfernungen zu übermitteln: Rundfunk.

Eine postapokalyptische Zivilisation, die auf einem anderen Pfad durch das Netz wissenschaftlicher Entdeckungen und technologischer Erfindungen »rebootet«, wird vielleicht zu einer anderen Lösung für die globale Navigation gelangen. Es mag ihr leichter fallen, einfache Rundfunkempfänger (siehe Kapitel 10) zu bauen, als das unglaublich filigrane Getriebe und die Ausgleichsmechanismen einer hinreichend präzisen Uhr nachzubilden. (Dies aber wird offensichtlich davon abhängen, wie schnell sie sich verschiedene Technologien wiederaneignet – wie lässt sich die relative Komplexität kleinster Zahnrädchen und Federn mit der elektronischer Bauteile vergleichen?) Regelmäßige Zeitsteuerungssignale lassen sich von jedem beliebigen Nullmeridian aus, der als Referenzgröße der geographischen Länge ausgewählt wird, per Funk übermitteln und von Bodenstationen oder anderen Schiffen zu entlegenen Regionen weiterleiten. Und so ist es durchaus möglich, dass in der Anfangszeit des zivilisatorischen Neuanfangs Segelschiffe mit Holzrumpf, die auf den Weltmeeren kreuzen, ein vertrauter Anblick sein werden. Sie sehen ihren Vorläufern aus der großen Zeit der Seefahrt sehr ähnlich, allerdings mit einem feinen Unterschied: Der Hauptmast ist mit einem als Signalantenne dienenden Metalldraht bespannt.

Die helle städtische Beleuchtung und die Lichtverschmutzung der modernen, industrialisierten Zivilisation haben viele von uns einer engeren Vertrautheit mit den Gestirnen beraubt. Aber nach der Katastrophe müssen Sie sich wieder mit den Himmelskonstellationen vertraut machen und Ihre Verbindung mit dem Rhythmus der Jahreszeiten zurückerlangen. Dies sind keine obskuren astronomischen Belanglosigkeiten: Es wird Sie vielmehr in die Lage versetzen, den landwirtschaftlichen Anbauzyklus zu planen, damit Sie nicht verhungern, und verhindern, dass Sie sich in der Wildnis verirren.

 

 

37 Die parallelen Straßen des netzartigen Stadtplans von Manhattan sind so ausgerichtet, dass sie 30° östlich des Himmelsnordpols verlaufen, und zweimal im Jahr (Ende Mai und Mitte Juli) verhält sich Manhattan wie ein Stonehenge in Stadtgröße: Die Sonne geht dann genau in der Mittellinie der Canyon-artigen Straßen unter.

 

38 Falls Sie überzeugt werden müssen: Sie können nachweisen, dass die scheinbare Bewegung der Sonne am Himmel und die Drehung des von Sternen übersäten Nachthimmels auf die Bewegung der Erde, nicht auf die der Himmelskörper zurückzuführen ist. Hängen Sie ein schweres Pendelgewicht an einer langen Schnur auf, und zwar an einem windgeschützten Ort, und versetzen Sie es nun vorsichtig in Bewegung, so dass es ohne die leiseste Querschwingung in gerader Linie vor und zurück pendelt. Die Schwingung dieses »Foucault’schen Pendels« streicht im Tagesverlauf scheinbar kreisförmig über den Boden. Aber da das Pendel frei in der Luft hängt, kann diese Drehbewegung nicht durch eine von außen einwirkende Kraft hervorgerufen werden; tatsächlich schwingt das Pendel die ganze Zeit in die gleiche Richtung, in die sich die Erde selbst unter ihm dreht.

 

39 Die ersten tauchten im späten 13. Jahrhundert in Klöstern auf; ihr Glockenspiel rief die Mönche zum Gebet. Tatsächlich gehen die wichtigsten Mechanismen der Einführung von Ziffernblättern und Zeigern um über hundert Jahre voraus (und der Minutenzeiger tauchte sogar erst dreihundert Jahre später auf): Die ältesten Uhren konnten die Zeit nicht anzeigen, sondern waren vielmehr ausgetüftelte automatisierte Systeme zum Läuten von Glocken (tatsächlich leitet sich der englische Name »clock« vom keltischen Wort für Glocke her).

 

40 Alle Uhren sind im Grunde Instrumente zum Zählen der Oszillationen eines regelmäßigen Prozesses und zur Anzeige des Ergebnisses. Bei modernen Uhren verhält es sich im Prinzip nicht anders; sie machen sich lediglich andere physikalische Phänomene zunutze, die schneller und regelmäßiger »ticken«: In einer digitalen Uhr werden die elektronischen Oszillationen eines Quarzkristalls gezählt, während in einer Atomuhr die Mikrowellen-Oszillationen einer Cäsiumwolke gezählt werden.

 

41 Auch wenn der Tag tatsächlich etwas länger dauert, weil das Sonnenlicht in der Erdatmosphäre abgelenkt wird und so morgens und abends eine Dämmerlichtphase auftritt.

 

42 Wie können Sie beweisen, dass die Erde die Sonne umläuft und nicht umgekehrt (und dass wir uns daher nicht in einer bevorzugten Position im Zentrum des Sonnensystems befinden)? Dazu benötigen Sie lediglich eine entsprechend genaue Uhr. Im Verlauf mehrerer Nächte werden Sie feststellen, dass jeder beliebige Stern jede Nacht fast genau vier Minuten später aufgeht. Wenn die einzige daran beteiligte Bewegung die der Erde wäre, die sich wie ein Kreisel um ihre eigene Achse dreht, würden die Sterne jede Nacht exakt zur gleichen Zeit sichtbar werden. Tatsächlich aber ändert sich die Position der Erde geringfügig, weshalb es ein wenig länger dauert, bis ihre Rotation die gleiche Ansicht wie in der vorhergehenden Nacht zurückbringt. Vier Minuten sind 1/365-stel von 24 Stunden: die Erde ist auf ihrer einjährigen Wanderung um die Sonne einen Tag vorangeschritten.

 

43 Bei der Auswertung der Aufzeichnungen, die Sie während der ersten Jahrzehnte des Neustarts gemacht haben, wird Ihnen auffallen, dass sich bei einem Kalender von 365 Tagen das Datum der stellaren Ereignisse im Jahr immer weiter nach hinten verschiebt. Dies sagt Ihnen, dass das Jahr nicht genau 365 Tage zählt, sondern ein wenig länger ist. (Wenn man darüber nachdenkt, erkennt man, dass es keinen Grund dafür gibt zu erwarten, die Umlaufzeit des Planeten um die Sonne sei ein genaues Vielfaches der Zeit, die er benötigt, um sich ein Mal um die eigene Achse zu drehen.) Im Verlauf von 1460 Jahren gleitet ein stellarer Marker durch das gesamte Jahr zu dem Tag zurück, an dem Sie ihn zum ersten Mal beobachteten. Relativ zum himmlischen Hintergrund dreht sich die Erde also im Verlauf von über 1460 Jahren zusätzliche 365 Tage. Es gibt somit jedes Jahr einen zusätzlichen Vierteltag, den man berücksichtigen muss, da der Kalender ansonsten in unangenehmer Weise nicht mehr mit den Jahreszeiten in Einklang steht. Aus diesem Grund ordnete Julius Cäsar im Jahr 46 v. Chr. eine tiefgreifende Kalenderreform an und führte das Schaltjahr ein, das dafür sorgen soll, dass die Jahreszeiten und der Kalender weiterhin miteinander übereinstimmen.

 

44 Große Vermessungsschiffe führten oft mehrere Chronometer mit sich, um Fehler zu glätten und für mehrfache Redundanzen zu sorgen. Die HMS Beagle stach 1831 mit nicht weniger als 22 Chronometern in See, um die geographische Lage fremder Gebiete mit hinreichender Genauigkeit messen zu können (einschließlich der Galapagosinseln, wo Darwins Beobachtungen an der Tier- und Pflanzenwelt die Grundlage für seine revolutionäre Theorie legten).