KAPITEL SECHSUNDVIERZIG

Declan

Zur gleichen Zeit wie jeden Morgen schicke ich Iris eine weitere Nachricht. Ich hänge ein Foto von uns beiden im botanischen Garten an und schreibe ein Wort, das exakt beschreibt, wie sehr ich mich nach ihr sehne.

Ich: Sehnsucht ******** .

Ich starre viel länger, als ich sollte, auf das Display meines Telefons und warte auf eine Antwort, die jedoch nicht kommt. Mein Herz zieht sich mit jeder ignorierten Nachricht mehr zusammen.

Du kannst dich entweder aufregen oder deinen Plan durchziehen.

Ich atme tief ein und aus, fahre meinen Computer runter und schließe mein Büro ab.

»Wo willst du hin?« Cal schaut von seinem Computer auf.

»Ich nehme mir den Rest des Tages frei.«

»Was?«

»Bitte sage alle Termine für heute ab. Ich habe keine Zeit.«

»Alle acht Termine?«

»Ist das ein Problem?«

»Nein, aber …«

»Super. Bis morgen.« Ich gehe in Richtung Ausgang, bleibe aber noch einmal stehen, um mich zu meinem Bruder umzuschauen, dessen Mund noch immer offen steht. »Danke, dass du mir hilfst. Mir ist klar, dass du das nicht musst, daher weiß ich es zu schätzen, dass du für Iris einspringst.«

»Ich tue es für Iris. Nicht für dich.«

»Ich weiß. Deshalb schätze ich es noch mehr.« Ich verlasse das Büro erhobenen Hauptes und bereit, meinen Plan in die Tat umzusetzen.

* * *

Harrison und ich fahren durch ganz Chicago, damit ich in einem Tierheim nach dem anderen nach dem perfekten Hund suchen kann. Iris hat genau beschrieben, was sie möchte, und ich will sie nicht enttäuschen.

Mein Enthusiasmus schwindet mit jedem Heim, in dem ich erfolglos bin. Beim zehnten Halt verliere ich die Hoffnung.

»Vielleicht können wir es morgen noch mal versuchen, Sir.« Harrison hält die Autotür für mich auf.

Ich stoße ein schweres Seufzen aus. Dies war ein wichtiger Teil meines Plans, und schon daran scheitere ich. Wie schwer kann es sein, einen großen, flauschigen Hund zu finden, der Iris auf Schritt und Tritt folgt?

Offenbar ist es so gut wie unmöglich.

Ich hole mein Handy hervor und schaue nach, welches Tierheim das nächste auf meiner Liste ist. »Lassen Sie uns noch eins versuchen, dann machen wir Schluss für heute.«

Harrison fährt mich zum letzten Tierheim. Es befindet sich nicht im besten Viertel der Stadt, daher habe ich nicht vor, mich lange dort aufzuhalten, sonst sind Harrison und der Maybach vielleicht nicht mehr da, wenn ich rauskomme.

Eine Glocke ertönt über mir, als ich das Gebäude betrete. Die einzige Mitarbeiterin schaut nicht von ihrer Zeitschrift auf.

»Hallo.« Ich bleibe vor dem Tresen stehen.

Sie macht eine Blase mit ihrem Kaugummi und lässt sie platzen. »Wir haben geschlossen.«

Ich betrachte das Schild an der Tür. »Sie haben noch eine halbe Stunde geöffnet.«

Ihre Augen werden erst groß, ehe sie sie verengt, als würde sie mich wiedererkennen, aber könnte sich nicht erinnern, wo sie mich schon einmal gesehen hat. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich suche einen großen, flauschigen Hund, der unter Trennungsangst leidet.«

»Das ist ziemlich spezifisch.«

»Stimmt. Haben Sie einen Hund, auf den diese Beschreibung zutrifft?«

»Ääähm … nicht, dass ich wüsste.«

Das letzte Fünkchen Hoffnung in mir erlischt. Ich muss es morgen erneut versuchen, wenn ich nach einer erholsamen Nacht neue Energie habe. Oder zumindest so erholsam, wie es geht, wenn Iris auf der anderen Seite von Chicago in der Wohnung meines Bruders schläft.

Ich klopfe mit der Hand auf den Tresen. »Ich verstehe. Danke für Ihre Zeit.«

»Wollen Sie sich hinten umschauen, nur zur Sicherheit?«

Ich mache den Mund auf, um Nein zu sagen, überlege es mir dann aber anders.

Du bist die ganze Strecke bis hierher gefahren. Du kannst dich genauso gut umsehen, wo du schon einmal hier bist.

»In Ordnung. Ich folge Ihnen.«

Sie führt mich in den hinteren Raum. Die Wände sind mit Zwingern voller Hunde und anderer Tiere gesäumt, die alle auf ein neues Zuhause hoffen. Einige kauern in der Ecke ihres Käfigs, als wir vorbeigehen, andere fauchen oder bellen uns an.

»Sagt Ihnen irgendeiner zu?«

»Nein.« Alle sind entweder zu klein, haben zu kurzes Fell oder sehen zu gefährlich aus, als dass sie sich eignen würden.

Ein Bellen ertönt aus dem hintersten Käfig.

»Was ist das?«

»Der Zwinger ist immer für den Hund reserviert, der bald eingeschläfert wird. Er hat wahrscheinlich ein wenig Angst, weil er von den anderen getrennt wurde.«

»Sie haben vor, ihn zu töten?«

»Wir haben nicht genug Platz und Geld, um alle zu beherbergen. Wenn sie also eine bestimmte Zeit lang hier waren, ohne dass sie ein neues Zuhause gefunden haben … Sie wissen schon.«

Verdammt. Ich gehe einen Schritt auf den hintersten Zwinger zu. Zwei dunkle Augen schauen zu mir auf, die halb von einer Mähne aus weiß-grauem Fell bedeckt sind.

»Welche Rasse ist das? Eisbär?«

Sie kommt herüber und betrachtet die Plakette. »Man vermutet, dass es ein Bobtail-Mix ist. Schwer zu sagen ohne DNA -Test.«

Er sieht alt aus. Laut dem Schild wurde er schätzungsweise vor mehr als fünf Jahren geboren. Das ist in Hundejahren tatsächlich alt.

»Können Sie ihn rauslassen?«

»Sind Sie sicher? Er ist etwas … unruhig.« So, wie sie sich in alle Richtungen umsieht, könnte man meinen, dass sie einen Elektroschocker bräuchte, um mit dem Hund fertigzuwerden.

»Öffnen Sie einfach den Käfig.«

Sie zuckt mit den Schultern und gehorcht. Der Hund kommt herausgeschossen wie der Blitz und rammt mich. Ich versuche, das Gleichgewicht zu halten, aber lande auf dem Hintern.

Nun leckt der Hund mein Gesicht vom Kinn bis zum Haaransatz. Es ist absolut ekelhaft, und dennoch muss ich lachen, als er das Gleiche auf der anderen Seite meines Gesichts wiederholt, ohne eine Stelle auszulassen.

»Und er soll morgen eingeschläfert werden?«

»Ja, gleich morgen früh.«

Der Hund winselt, als könnte er uns verstehen. Er setzt sich auf meinen Schoß, als wäre er klein, wobei er Schmerzen in meinem Schritt verursacht.

Ich drücke ihn von mir und erhebe mich. »Niemand wollte ihn?«

»Nein.« Sie schaut wieder auf seine Karte. »Ach, schauen Sie mal. Er ist gern in Gesellschaft und mag es nicht, für mehr als ein paar Stunden allein zu sein. Sonst zerfetzt er vielleicht Ihr Lieblingssofa oder pinkelt Ihnen auf den Teppich.«

Klasse. Aufgabe gelöst.

Er blinzelt zu mir herauf, als würde er mir stumm versprechen, sich vorbildlich zu benehmen. Das kann ich nur schwer glauben, wenn ich mir anschaue, wie er auf meine Schuhe sabbert, als wollte er sie zu seinem neuen Kauspielzeug machen.

»Das klingt für mich nach Trennungsangst.«

»Dann nehmen Sie ihn mit?«

»Ja. Machen Sie die Unterlagen fertig.«

Nun bin ich stolzer Vater eines anhänglichen Hundes, der wahrscheinlich mein Haus demolieren wird, bevor Iris es wieder betreten wird.

Perfekt. Einfach perfekt.

* * *

Am nächsten Tag komme ich mit dem Hund, der noch keinen Namen hat, zur Arbeit. Nachdem er meinen Lieblingsschuh zerkaut hat, während ich abends joggen war, werde ich ihn nicht mehr mit Dingen allein lassen, die mir wichtig sind. Ihn mit ins Büro zu nehmen, ist eine Übergangslösung. Ich muss schnell eine Hundeschule finden, wo man tagsüber mit ihm trainiert.

»Was ist das?« Cal bleibt an meiner Bürotür stehen.

»Ein Hund.« Ich schaue nicht von meinem Computer auf.

Das Tier bellt und versucht erfolglos, sich von seiner Leine zu lösen, mit der ich es am Schreibtisch angebunden habe.

»Das sehe ich selbst, aber warum ist er hier? In deinem Büro?«

»Er ist nicht gern allein.«

Der Hund bellt zustimmend.

»Gehört er dir?« Cal kommt zögerlich einen Schritt auf das Tier zu.

»Und Iris.«

»Sag mir nicht, du hast ihr einen Hund gekauft, weil du dachtest, es würde sie glücklich machen.«

»Okay, dann lasse ich es.«

Er reibt sich das Gesicht. »Scheiße.«

»Wenn du meinen Plan verurteilen willst, geh lieber zurück an die Arbeit. Ich bin so schon gestresst genug.«

Ich schaue mich nach Aushilfen um, die Iris vertreten könnten, und konzentriere mich auf den Rest meines Plans, ich habe also einiges zu tun.

»Was hast du vor?«

Ich verenge die Augen. »Warum interessiert dich das?«

»Weil ich dein Bruder bin und mich verpflichtet fühle, dir zu helfen, bevor du irgendetwas Drastisches unternimmst.«

»Gibt es etwas Drastischeres, als einen Hund zu adoptieren?«

»Das möchte ich lieber nicht herausfinden.« Er streichelt das Tier am Kopf.

Ich funkele ihn wütend an. »Ich dachte, du bist sauer auf mich.«

»Das bin ich auch, aber ich will nur das Beste für Iris, selbst wenn du es bist.«

»Vielen Dank für das versteckte Kompliment, Arschloch.«

Er zuckt mit den Schultern. »Als bräuchtest du mehr Selbstbewusstsein.«

»Da meine Frau nichts mit mir zu tun haben will, kann ich jede Hilfe gebrauchen, die ich bekommen kann.«

»Wer hätte gedacht, dass dich die Liebe so armselig machen würde?«

»Wenn du das für armselig hältst, dann warte ab, was ich als Nächstes geplant habe.«

********   Sehnsucht: Substantiv, Deutsch: inniges schmerzliches Verlangen nach jemandem oder etwas