Dritter Aufzug

Erster Auftritt

IPHIGENIE. OREST.

IPHIGENIE. Unglücklicher, ich löse deine Bande

Zum Zeichen eines schmerzlichern Geschicks.

Die Freiheit, die das Heiligtum gewährt,

Ist wie der letzte, lichte Lebensblick

930

Des schwer Erkrankten, Todesbote. Noch

Kann ich es mir und darf es mir nicht sagen,

Dass ihr verloren seid! Wie könnt ich euch

Mit mörderischer Hand dem Tode weihen?

Und niemand, wer es sei, darf euer Haupt,

935

Solang ich Priesterin Dianens bin,

Berühren. Doch verweigr’ ich jene Pflicht,

Wie sie der aufgebrachte König fordert;

So wählt er eine meiner Jungfraun mir

Zur Folgerin, und ich vermag alsdann

940

Mit heißem Wunsch allein euch beizustehn.

O werter Landsmann! Selbst der letzte Knecht,

Der an den Herd der Vatergötter streifte,

Ist uns in fremdem Lande hoch willkommen;

Wie soll ich euch genug mit Freud und Segen

945

Empfangen, die ihr mir das Bild der Helden,

Die ich von Eltern her verehren lernte,

Entgegenbringet und das innre Herz

Mit neuer schöner Hoffnung schmeichelnd labet!

OREST. Verbirgst du deinen Namen, deine Herkunft

950

Mit klugem Vorsatz? oder darf ich wissen,

Wer mir, gleich einer Himmlischen, begegnet?

IPHIGENIE. Du sollst mich kennen. Jetzo sag mir an,

Was ich nur halb von deinem Bruder hörte,

Das Ende derer, die von Troja kehrend

955

Ein hartes unerwartetes Geschick

Auf ihrer Wohnung Schwelle stumm empfing.

Zwar ward ich jung an diesen Strand geführt;

Doch wohl erinnr’ ich mich des scheuen Blicks,

Den ich mit Staunen und mit Bangigkeit

960

Auf jene Helden warf. Sie zogen aus,

Als hätte der Olymp sich aufgetan

Und die Gestalten der erlauchten Vorwelt

Zum Schrecken Ilions herabgesendet,

Und Agamemnon war vor allen herrlich!

965

O sage mir! Er fiel, sein Haus betretend,

Durch seiner Frauen und Ägisthus’ Tücke?

OREST. Du sagst’s!

IPHIGENIE.             Weh dir, unseliges Mycen!

So haben Tantals Enkel Fluch auf Fluch

Mit vollen wilden Händen ausgesät!

970

Und gleich dem Unkraut, wüste Häupter schüttelnd

Und tausendfält’gen Samen um sich streuend,

Den Kindeskindern nahverwandte Mörder

Zur ew’gen Wechselwut erzeugt! – Enthülle,

Was von der Rede deines Bruders schnell

975

Die Finsternis des Schreckens mir verdeckte.

Wie ist des großen Stammes letzter Sohn,

Das holde Kind, bestimmt des Vaters Rächer

Dereinst zu sein, wie ist Orest dem Tage

Des Bluts entgangen? Hat ein gleich Geschick

980

Mit des Avernus Netzen ihn umschlungen?

Ist er gerettet? Lebt er? Lebt Elektra?

OREST. Sie leben.

IPHIGENIE.           Goldne Sonne, leihe mir

Die schönsten Strahlen, lege sie zum Dank

Vor Jovis Thron! denn ich bin arm und stumm.

985

OREST. Bist du gastfreundlich diesem Königshause,

Bist du mit nähern Banden ihm verbunden,

Wie deine schöne Freude mir verrät:

So bändige dein Herz und halt es fest!

Denn unerträglich muss dem Fröhlichen

990

Ein jäher Rückfall in die Schmerzen sein.

Du weißt nur, merk ich, Agamemnons Tod.

IPHIGENIE. Hab ich an dieser Nachricht nicht genug?

OREST. Du hast des Gräuels Hälfte nur erfahren.

IPHIGENIE. Was fürcht ich noch? Orest, Elektra leben.

995

OREST. Und fürchtest du für Klytämnestren nichts?

IPHIGENIE. Sie rettet weder Hoffnung, weder Furcht.

OREST. Auch schied sie aus dem Land der Hoffnung ab.

IPHIGENIE. Vergoss sie reuig wütend selbst ihr Blut?

OREST. Nein, doch ihr eigen Blut gab ihr den Tod.

1000

IPHIGENIE. Sprich deutlicher, dass ich nicht länger sinne.

Die Ungewissheit schlägt mir tausendfältig

Die dunkeln Schwingen um das bange Haupt.

OREST. So haben mich die Götter ausersehn

Zum Boten einer Tat, die ich so gern

1005

Ins klanglos-dumpfe Höhlenreich der Nacht

Verbergen möchte? Wider meinen Willen

Zwingt mich dein holder Mund; allein er darf

Auch etwas Schmerzlichs fodern und erhält’s.

Am Tage da der Vater fiel, verbarg

1010

Elektra rettend ihren Bruder: Strophius,

Des Vaters Schwäher, nahm ihn willig auf,

Erzog ihn neben seinem eignen Sohne,

Der, Pylades genannt, die schönsten Bande

Der Freundschaft um den Angekommnen knüpfte.

1015

Und wie sie wuchsen, wuchs in ihrer Seele

Die brennende Begier des Königs Tod

Zu rächen. Unversehen, fremd gekleidet,

Erreichen sie Mycen, als brächten sie

Die Trauernachricht von Orestens Tode

1020

Mit seiner Asche. Wohl empfänget sie

Die Königin, sie treten in das Haus.

Elektren gibt Orest sich zu erkennen;

Sie bläst der Rache Feuer in ihm auf,

Das vor der Mutter heil’ger Gegenwart

1025

In sich zurückgebrannt war. Stille führt

Sie ihn zum Orte, wo sein Vater fiel,

Wo eine alte leichte Spur des frech-

Vergossnen Blutes oftgewaschnen Boden

Mit blassen ahndungsvollen Streifen färbte.

1030

Mit ihrer Feuerzunge schilderte

Sie jeden Umstand der verruchten Tat,

Ihr knechtisch elend durchgebrachtes Leben,

Den Übermut der glücklichen Verräter,

Und die Gefahren, die nun der Geschwister

1035

Von einer stiefgewordnen Mutter warteten;

Hier drang sie jenen alten Dolch ihm auf,

Der schon in Tantals Hause grimmig wütete,

Und Klytämnestra fiel durch Sohneshand.

IPHIGENIE. Unsterbliche, die ihr den reinen Tag

1040

Auf immer neuen Wolken selig lebet,

Habt ihr nur darum mich so manches Jahr

Von Menschen abgesondert, mich so nah

Bei euch gehalten, mir die kindliche

Beschäftigung, des heil’gen Feuers Glut

1045

Zu nähren, aufgetragen, meine Seele

Der Flamme gleich in ew’ger frommer Klarheit

Zu euern Wohnungen hinaufgezogen,

Dass ich nur meines Hauses Gräuel später

Und tiefer fühlen sollte? – Sage mir

1050

Vom Unglücksel’gen! Sprich mir von Orest! –

OREST. O könnte man von seinem Tode sprechen!

Wie gärend stieg aus der Erschlagnen Blut

Der Mutter Geist

Und ruft der Nacht uralten Töchtern zu:

1055

»Lasst nicht den Muttermörder entfliehn!

Verfolgt den Verbrecher! Euch ist er geweiht!«

Sie horchen auf, es schaut ihr hohler Blick

Mit der Begier des Adlers um sich her.

Sie rühren sich in ihren schwarzen Höhlen,

1060

Und aus den Winkeln schleichen ihre Gefährten,

Der Zweifel und die Reue, leis herbei.

Vor ihnen steigt ein Dampf vom Acheron;

In seinen Wolkenkreisen wälzet sich

Die ewige Betrachtung des Geschehnen

1065

Verwirrend um des Schuld’gen Haupt umher.

Und sie, berechtigt zum Verderben, treten

Der gottbesäten Erde schönen Boden,

Von dem ein alter Fluch sie längst verbannte.

Den Flüchtigen verfolgt ihr schneller Fuß;

1070

Sie geben nur um neu zu schrecken Rast.

IPHIGENIE. Unseliger, du bist in gleichem Fall,

Und fühlst was er, der arme Flüchtling, leidet!

OREST. Was sagst du mir? Was wähnst du gleichen Fall?

IPHIGENIE. Dich drückt ein Brudermord wie jenen; mir

1075

Vertraute dies dein jüngster Bruder schon.

OREST. Ich kann nicht leiden, dass du große Seele

Mit einem falschen Wort betrogen werdest.

Ein lügenhaft Gewebe knüpf’ ein Fremder

Dem Fremden, sinnreich und der List gewohnt,

1080

Zur Falle vor die Füße; zwischen uns

Sei Wahrheit!

Ich bin Orest! und dieses schuld’ge Haupt

Senkt nach der Grube sich und sucht den Tod;

In jeglicher Gestalt sei er willkommen!

1085

Wer du auch seist, so wünsch ich Rettung dir

Und meinem Freunde; mir wünsch ich sie nicht.

Du scheinst hier wider Willen zu verweilen;

Erfindet Rat zur Flucht und lasst mich hier.

Es stürze mein entseelter Leib vom Fels,

1090

Es rauche bis zum Meer hinab mein Blut,

Und bringe Fluch dem Ufer der Barbaren!

Geht ihr, daheim im schönen Griechenland

Ein neues Leben freundlich anzufangen.

(Er entfernt sich.)

IPHIGENIE. So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter

1095

Des größten Vaters, endlich zu mir nieder!

Wie ungeheuer steht dein Bild vor mir!

Kaum reicht mein Blick dir an die Hände, die

Mit Frucht und Segenskränzen angefüllt

Die Schätze des Olympus niederbringen.

1100

Wie man den König an dem Übermaß

Der Gaben kennt: denn ihm muss wenig scheinen

Was Tausenden schon Reichtum ist; so kennt

Man euch, ihr Götter, an gesparten, lang

Und weise zubereiteten Geschenken.

1105

Denn ihr allein wisst was uns frommen kann,

Und schaut der Zukunft ausgedehntes Reich,

Wenn jedes Abends Stern und Nebelhülle

Die Aussicht uns verdeckt. Gelassen hört

Ihr unser Flehn, das um Beschleunigung

1110

Euch kindisch bittet; aber eure Hand

Bricht unreif nie die goldnen Himmelsfrüchte;

Und wehe dem, der ungeduldig sie

Ertrotzend, saure Speise sich zum Tod

Genießt. O lasst das lang erwartete,

1115

Noch kaum gedachte Glück nicht, wie den Schatten

Des abgeschiednen Freundes, eitel mir

Und dreifach schmerzlicher vorübergehn!

OREST (der wieder zu ihr tritt).

Rufst du die Götter an für dich und Pylades,

So nenne meinen Namen nicht mit euerm.

1120

Du rettest den Verbrecher nicht zu dem

Du dich gesellst, und teilest Fluch und Not.

IPHIGENIE. Mein Schicksal ist an deines fest gebunden.

OREST. Mitnichten! Lass allein und unbegleitet

Mich zu den Toten gehn. Verhülltest du

1125

In deinen Schleier selbst den Schuldigen;

Du birgst ihn nicht vorm Blick der immer Wachen,

Und deine Gegenwart, du Himmlische,

Drängt sie nur seitwärts und verscheucht sie nicht.

Sie dürfen mit den eh’rnen frechen Füßen

1130

Des heil’gen Waldes Boden nicht betreten;

Doch hör ich aus der Ferne hier und da

Ihr grässliches Gelächter. Wölfe harren

So um den Baum, auf den ein Reisender

Sich rettete. Da draußen ruhen sie

1135

Gelagert; und verlass ich diesen Hain,

Dann steigen sie, die Schlangenhäupter schüttelnd,

Von allen Seiten Staub erregend auf

Und treiben ihre Beute vor sich her.

IPHIGENIE. Kannst du, Orest, ein freundlich Wort vernehmen?

1140

OREST. Spar es für einen Freund der Götter auf.

IPHIGENIE. Sie geben dir zu neuer Hoffnung Licht.

OREST. Durch Rauch und Qualm seh ich den matten Schein

Des Totenflusses mir zur Hölle leuchten.

IPHIGENIE. Hast du Elektren, Eine Schwester nur?

1145

OREST. Die Eine kannt ich; doch die ältste nahm

Ihr gut Geschick, das uns so schrecklich schien,

Beizeiten aus dem Elend unsers Hauses.

O lass dein Fragen, und geselle dich

Nicht auch zu den Erinnyen; sie blasen

1150

Mir schadenfroh die Asche von der Seele,

Und leiden nicht, dass sich die letzten Kohlen

Von unsers Hauses Schreckensbrande still

In mir verglimmen. Soll die Glut denn ewig,

Vorsetzlich angefacht, mit Höllenschwefel

1155

Genährt, mir auf der Seele marternd brennen?

IPHIGENIE. Ich bringe süßes Räuchwerk in die Flamme.

O lass den reinen Hauch der Liebe dir

Die Glut des Busens leise wehend kühlen.

Orest, mein Teurer, kannst du nicht vernehmen?

1160

Hat das Geleit der Schreckensgötter so

Das Blut in deinen Adern aufgetrocknet?

Schleicht, wie vom Haupt der grässlichen Gorgone,

Versteinernd dir ein Zauber durch die Glieder?

O wenn vergossnen Mutterblutes Stimme

1165

Zur Höll hinab mit dumpfen Tönen ruft:

Soll nicht der reinen Schwester Segenswort

Hülfreiche Götter vom Olympus rufen?

OREST. Es ruft! es ruft! So willst du mein Verderben?

Verbirgt in dir sich eine Rachegöttin?

1170

Wer bist du, deren Stimme mir entsetzlich

Das Innerste in seinen Tiefen wendet?

IPHIGENIE. Es zeigt sich dir im tiefsten Herzen an:

Orest, ich bin’s! sieh Iphigenien!

Ich lebe!

OREST.       Du!

IPHIGENIE.      Mein Bruder!

OREST.                                     Lass! Hinweg!

1175

Ich rate dir, berühre nicht die Locken!

Wie von Kreusas Brautkleid zündet sich

Ein unauslöschlich Feuer von mir fort.

Lass mich! Wie Herkules will ich Unwürd’ger

Den Tod voll Schmach, in mich verschlossen, sterben.

1180

IPHIGENIE. Du wirst nicht untergehn! O dass ich nur

Ein ruhig Wort von dir vernehmen könnte!

O löse meine Zweifel, lass des Glückes,

Des lang erflehten, mich auch sicher werden.

Es wälzet sich ein Rad von Freud und Schmerz

1185

Durch meine Seele. Von dem fremden Manne

Entfernet mich ein Schauer; doch es reißt

Mein Innerstes gewaltig mich zum Bruder.

OREST. Ist hier Lyäens Tempel? und ergreift

Unbändig-heil’ge Wut die Priesterin?

1190

IPHIGENIE. O höre mich! O sieh mich an, wie mir

Nach einer langen Zeit das Herz sich öffnet,

Der Seligkeit, dem Liebsten, was die Welt

Noch für mich tragen kann, das Haupt zu küssen,

Mit meinen Armen, die den leeren Winden

1195

Nur ausgebreitet waren, dich zu fassen.

O lass mich! Lass mich! Denn es quillet heller

Nicht vom Parnass die ew’ge Quelle sprudelnd

Von Fels zu Fels ins goldne Tal hinab,

Wie Freude mir vom Herzen wallend fließt,

1200

Und wie ein selig Meer mich rings umfängt.

Orest! Orest! Mein Bruder!

OREST.                                         Schöne Nymphe,

Ich traue dir und deinem Schmeicheln nicht.

Diana fordert strenge Dienerinnen

Und rächet das entweihte Heiligtum.

1205

Entferne deinen Arm von meiner Brust!

Und wenn du einen Jüngling rettend lieben,

Das schöne Glück ihm zärtlich bieten willst;

So wende meinem Freunde dein Gemüt,

Dem würd’gern Manne zu. Er irrt umher

1210

Auf jenem Felsenpfade; such ihn auf,

Weis ihn zurecht und schone meiner.

IPHIGENIE.                                                     Fasse

Dich, Bruder, und erkenne die Gefundne!

Schilt einer Schwester reine Himmelsfreude

Nicht unbesonnene, strafbare Lust.

1215

O nehmt den Wahn ihm von dem starren Auge,

Dass uns der Augenblick der höchsten Freude

Nicht dreifach elend mache! Sie ist hier,

Die längst verlorne Schwester. Vom Altar

Riss mich die Göttin weg und rettete

1220

Hierher mich in ihr eigen Heiligtum.

Gefangen bist du, dargestellt zum Opfer,

Und findest in der Priesterin die Schwester.

OREST. Unselige! So mag die Sonne denn

Die letzten Gräuel unsers Hauses sehn!

1225

Ist nicht Elektra hier? damit auch sie

Mit uns zugrunde gehe, nicht ihr Leben

Zu schwererem Geschick und Leiden friste.

Gut, Priesterin! ich folge zum Altar:

Der Brudermord ist hergebrachte Sitte

1230

Des alten Stammes; und ich danke, Götter,

Dass ihr mich ohne Kinder auszurotten

Beschlossen habt. Und lass dir raten, habe

Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne;

Komm, folge mir ins dunkle Reich hinab!

1235

Wie sich vom Schwefelpfuhl erzeugte Drachen

Bekämpfend die verwandte Brut verschlingen,

Zerstört sich selbst das wütende Geschlecht;

Komm kinderlos und schuldlos mit hinab!

Du siehst mich mit Erbarmen an? Lass ab!

1240

Mit solchen Blicken suchte Klytämnestra

Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen;

Doch sein geschwungner Arm traf ihre Brust.

Die Mutter fiel! – Tritt auf, unwill’ger Geist!

Im Kreis geschlossen tretet an, ihr Furien,

1245

Und wohnet dem willkommnen Schauspiel bei,

Dem letzten, grässlichsten, das ihr bereitet!

Nicht Hass und Rache schärfen ihren Dolch:

Die liebevolle Schwester wird zur Tat

Gezwungen. Weine nicht! Du hast nicht Schuld.

1250

Seit meinen ersten Jahren hab ich nichts

Geliebt, wie ich dich lieben könnte, Schwester.

Ja, schwinge deinen Stahl, verschone nicht,

Zerreiße diesen Busen, und eröffne

Den Strömen die hier sieden einen Weg.

(Er sinkt in Ermattung.)

1255

IPHIGENIE. Allein zu tragen dieses Glück und Elend

Vermag ich nicht. – Wo bist du, Pylades?

Wo find ich deine Hülfe, teurer Mann?

(Sie entfernt sich suchend.)

Zweiter Auftritt

OREST (aus seiner Betäubung erwachend und sich aufrichtend).

Noch einen! reiche mir aus Lethes Fluten

Den letzten kühlen Becher der Erquickung!

1260

Bald ist der Krampf des Lebens aus dem Busen

Hinweggespült; bald fließet still mein Geist,

Der Quelle des Vergessens hingegeben,

Zu euch, ihr Schatten, in die ew’gen Nebel.

Gefällig lasst in eurer Ruhe sich

1265

Den umgetriebnen Sohn der Erde laben! –

Welch ein Gelispel hör ich in den Zweigen,

Welch ein Geräusch aus jener Dämmrung säuseln?

Sie kommen schon den neuen Gast zu sehn!

Wer ist die Schar, die herrlich miteinander

1270

Wie ein versammelt Fürstenhaus sich freut?

Sie gehen friedlich, Alt’ und Junge, Männer

Mit Weibern; göttergleich und ähnlich scheinen

Die wandelnden Gestalten. Ja, sie sind’s,

Die Ahnherrn meines Hauses! – Mit Thyesten

1275

Geht Atreus in vertraulichen Gesprächen,

Die Knaben schlüpfen scherzend um sie her.

Ist keine Feindschaft hier mehr unter euch?

Verlosch die Rache wie das Licht der Sonne?

So bin auch ich willkommen, und ich darf

1280

In euern feierlichen Zug mich mischen.

Willkommen, Väter! euch grüßt Orest,

Von euerm Stamm der letzte Mann;

Was ihr gesät, hat er geerntet:

Mit Fluch beladen stieg er herab.

1285

Doch leichter träget sich hier jede Bürde:

Nehmt ihn, o nehmt ihn in euern Kreis! –

Dich, Atreus, ehr ich, auch dich Thyesten;

Wir sind hier alle der Feindschaft los. –

Zeigt mir den Vater, den ich nur Einmal

1290

Im Leben sah! – Bist du’s, mein Vater?

Und führst die Mutter vertraut mit dir?

Darf Klytämnestra die Hand dir reichen;

So darf Orest auch zu ihr treten

Und darf ihr sagen: sieh deinen Sohn! –

1295

Seht euern Sohn! Heißt ihn willkommen.

Auf Erden war in unserm Hause

Der Gruß des Mordes gewisse Losung,

Und das Geschlecht des alten Tantalus

Hat seine Freuden jenseits der Nacht.

1300

Ihr ruft: Willkommen! und nehmt mich auf!

O führt zum Alten, zum Ahnherrn mich!

Wo ist der Alte? dass ich ihn sehe,

Das teure Haupt, das vielverehrte,

Das mit den Göttern zu Rate saß.

1305

Ihr scheint zu zaudern, euch wegzuwenden?

Was ist es? Leidet der Göttergleiche?

Weh mir! es haben die Übermächt’gen

Der Heldenbrust grausame Qualen

Mit eh’rnen Ketten fest aufgeschmiedet.

Dritter Auftritt

OREST. IPHIGENIE. PYLADES.

1310

OREST. Seid ihr auch schon herabgekommen?

Wohl Schwester dir! Noch fehlt Elektra:

Ein güt’ger Gott send’ uns die Eine

Mit sanften Pfeilen auch schnell herab.

Dich, armer Freund, muss ich bedauern!

1315

Komm mit! Komm mit! zu Plutos Thron,

Als neue Gäste den Wirt zu grüßen.

IPHIGENIE. Geschwister, die ihr an dem weiten Himmel

Das schöne Licht bei Tag und Nacht herauf

Den Menschen bringet, und den Abgeschiednen

1320

Nicht leuchten dürfet, rettet uns Geschwister!

Du liebst, Diane, deinen holden Bruder

Vor allem, was dir Erd und Himmel bietet,

Und wendest dein jungfräulich Angesicht

Nach seinem ew’gen Lichte sehnend still.

1325

O lass den einz’gen spätgefundnen mir

Nicht in der Finsternis des Wahnsinns rasen!

Und ist dein Wille, da du hier mich bargst,

Nunmehr vollendet, willst du mir durch ihn

Und ihm durch mich die sel’ge Hülfe geben;

1330

So lös ihn von den Banden jenes Fluchs,

Dass nicht die teure Zeit der Rettung schwinde.

PYLADES. Erkennst du uns und diesen heil’gen Hain

Und dieses Licht, das nicht den Toten leuchtet?

Fühlst du den Arm des Freundes und der Schwester,

1335

Die dich noch fest, noch lebend halten? Fass

Uns kräftig an; wir sind nicht leere Schatten.

Merk auf mein Wort! Vernimm es! Raffe dich

Zusammen! Jeder Augenblick ist teuer,

Und unsre Rückkehr hängt an zarten Fäden,

1340

Die, scheint es, eine günst’ge Parze spinnt.

OREST (zu Iphigenien).

Lass mich zum ersten Mal mit freiem Herzen

In deinen Armen reine Freude haben!

Ihr Götter, die mit flammender Gewalt

Ihr schwere Wolken aufzuzehren wandelt,

1345

Und gnädig-ernst den lang erflehten Regen

Mit Donnerstimmen und mit Windesbrausen

In wilden Strömen auf die Erde schüttet;

Doch bald der Menschen grausendes Erwarten

In Segen auflöst und das bange Staunen

1350

In Freudeblick und lauten Dank verwandelt,

Wenn in den Tropfen frischerquickter Blätter

Die neue Sonne tausendfach sich spiegelt,

Und Iris freundlich bunt mit leichter Hand

Den grauen Flor der letzten Wolken trennt;

1355

O lasst mich auch an meiner Schwester Armen,

An meines Freundes Brust, was ihr mir gönnt

Mit vollem Dank genießen und behalten.

Es löset sich der Fluch, mir sagt’s das Herz.

Die Eumeniden ziehn, ich höre sie,

1360

Zum Tartarus und schlagen hinter sich

Die eh’rnen Tore fernabdonnernd zu.

Die Erde dampft erquickenden Geruch

Und ladet mich auf ihren Flächen ein,

Nach Lebensfreud und großer Tat zu jagen.

1365

PYLADES. Versäumt die Zeit nicht, die gemessen ist!

Der Wind der unsre Segel schwellt, er bringe

Erst unsre volle Freude zum Olymp.

Kommt! Es bedarf hier schnellen Rat und Schluss.