IPHIGENIE. Denken die Himmlischen
1370
Einem der Erdgebornen
Viele Verwirrungen zu,
Und bereiten sie ihm
Von der Freude zu Schmerzen
Und von Schmerzen zur Freude
1375
Tief-erschütternden Übergang;
Dann erziehen sie ihm
In der Nähe der Stadt,
Oder am fernen Gestade,
Dass in Stunden der Not
1380
Auch die Hülfe bereit sei,
Einen ruhigen Freund.
O segnet, Götter, unsern Pylades
Und was er immer unternehmen mag!
Er ist der Arm des Jünglings in der Schlacht,
1385
Des Greises leuchtend Aug in der Versammlung:
Denn seine Seel ist stille; sie bewahrt
Der Ruhe heil’ges unerschöpftes Gut,
Und den Umhergetriebnen reichet er
Aus ihren Tiefen Rat und Hülfe. Mich
1390
Riss er vom Bruder los; den staunt ich an
Und immer wieder an, und konnte mir
Das Glück nicht eigen machen, ließ ihn nicht
Aus meinen Armen los, und fühlte nicht
Die Nähe der Gefahr die uns umgibt.
1395
Jetzt gehn sie ihren Anschlag auszuführen
Der See zu, wo das Schiff mit den Gefährten
In einer Bucht versteckt aufs Zeichen lauert,
Und haben kluges Wort mir in den Mund
Gegeben, mich gelehrt was ich dem König
1400
Antworte, wenn er sendet und das Opfer
Mir dringender gebietet. Ach! ich sehe wohl,
Ich muss mich leiten lassen wie ein Kind.
Ich habe nicht gelernt zu hinterhalten,
Noch jemand etwas abzulisten. Weh!
1405
O weh der Lüge! Sie befreiet nicht,
Wie jedes andre wahrgesprochne Wort,
Die Brust; sie macht uns nicht getrost, sie ängstet
Den der sie heimlich schmiedet, und sie kehrt,
Ein losgedruckter Pfeil von einem Gotte
1410
Gewendet und versagend, sich zurück
Und trifft den Schützen. Sorg auf Sorge schwankt
Mir durch die Brust. Es greift die Furie
Vielleicht den Bruder auf dem Boden wieder
Des ungeweihten Ufers grimmig an?
1415
Entdeckt man sie vielleicht? Mich dünkt, ich höre
Gewaffnete sich nahen! – Hier! – Der Bote
Kommt von dem Könige mit schnellem Schritt.
Es schlägt mein Herz, es trübt sich meine Seele,
Da ich des Mannes Angesicht erblicke,
1420
Dem ich mit falschem Wort begegnen soll.
IPHIGENIE. ARKAS.
ARKAS. Beschleunige das Opfer, Priesterin!
Der König wartet und es harrt das Volk.
IPHIGENIE. Ich folgte meiner Pflicht und deinem Wink,
Wenn unvermutet nicht ein Hindernis
1425
Sich zwischen mich und die Erfüllung stellte.
ARKAS. Was ist’s, das den Befehl des Königs hindert?
IPHIGENIE. Der Zufall, dessen wir nicht Meister sind.
ARKAS. So sage mir’s, dass ich’s ihm schnell vermelde:
Denn er beschloss bei sich der beiden Tod.
1430
IPHIGENIE. Die Götter haben ihn noch nicht beschlossen.
Der ältste dieser Männer trägt die Schuld
Des nahverwandten Bluts, das er vergoss.
Die Furien verfolgen seinen Pfad,
Ja in dem innern Tempel fasste selbst
1435
Das Übel ihn, und seine Gegenwart
Entheiligte die reine Stätte. Nun
Eil ich mit meinen Jungfraun, an dem Meere
Der Göttin Bild mit frischer Welle netzend
Geheimnisvolle Weihe zu begehn.
1440
Es störe niemand unsern stillen Zug!
ARKAS. Ich melde dieses neue Hindernis
Dem Könige geschwind, beginne du
Das heil’ge Werk nicht eh bis er’s erlaubt.
IPHIGENIE. Dies ist allein der Priestrin überlassen.
1445
ARKAS. Solch seltnen Fall soll auch der König wissen.
IPHIGENIE. Sein Rat wie sein Befehl verändert nichts.
ARKAS. Oft wird der Mächtige zum Schein gefragt.
IPHIGENIE. Erdringe nicht, was ich versagen sollte.
ARKAS. Versage nicht, was gut und nützlich ist.
1450
IPHIGENIE. Ich gebe nach, wenn du nicht säumen willst.
ARKAS. Schnell bin ich mit der Nachricht in dem Lager,
Und schnell mit seinen Worten hier zurück.
O könnt ich ihm noch Eine Botschaft bringen,
Die alles löste was uns jetzt verwirrt:
1455
Denn du hast nicht des Treuen Rat geachtet.
IPHIGENIE. Was ich vermochte, hab ich gern getan.
ARKAS. Noch änderst du den Sinn zur rechten Zeit.
IPHIGENIE. Das steht nun einmal nicht in unsrer Macht.
ARKAS. Du hältst unmöglich, was dir Mühe kostet.
IPHIGENIE.
1460
Dir scheint es möglich, weil der Wunsch dich trügt.
ARKAS. Willst du denn alles so gelassen wagen?
IPHIGENIE. Ich hab es in der Götter Hand gelegt.
ARKAS. Sie pflegen Menschen menschlich zu erretten.
IPHIGENIE. Auf ihren Fingerzeig kommt alles an.
1465
ARKAS. Ich sage dir, es liegt in deiner Hand.
Des Königs aufgebrachter Sinn allein
Bereitet diesen Fremden bittern Tod.
Das Heer entwöhnte längst vom harten Opfer
Und von dem blut’gen Dienste sein Gemüt.
1470
Ja mancher, den ein widriges Geschick
An fremdes Ufer trug, empfand es selbst,
Wie göttergleich dem armen Irrenden,
Umhergetrieben an der fremden Grenze,
Ein freundlich Menschenangesicht begegnet.
1475
O wende nicht von uns was du vermagst!
Du endest leicht was du begonnen hast:
Denn nirgends baut die Milde, die herab
In menschlicher Gestalt vom Himmel kommt,
Ein Reich sich schneller, als wo trüb und wild
1480
Ein neues Volk, voll Leben, Mut und Kraft,
Sich selbst und banger Ahndung überlassen,
Des Menschenlebens schwere Bürden trägt.
IPHIGENIE. Erschüttre meine Seele nicht, die du
Nach deinem Willen nicht bewegen kannst.
1485
ARKAS. Solang es Zeit ist, schont man weder Mühe
Noch eines guten Wortes Wiederholung.
IPHIGENIE. Du machst dir Müh und mir erregst du Schmerzen;
Vergebens beides: darum lass mich nun.
ARKAS. Die Schmerzen sind’s, die ich zu Hülfe rufe:
1490
Denn es sind Freunde, Gutes raten sie.
IPHIGENIE. Sie fassen meine Seele mit Gewalt,
Doch tilgen sie den Widerwillen nicht.
ARKAS. Fühlt eine schöne Seele Widerwillen
Für eine Wohltat, die der Edle reicht?
1495
IPHIGENIE. Ja, wenn der Edle, was sich nicht geziemt,
Statt meines Dankes mich erwerben will.
ARKAS. Wer keine Neigung fühlt, dem mangelt es
An einem Worte der Entschuld’gung nie.
Dem Fürsten sag ich an, was hier geschehn.
1500
O wiederholtest du in deiner Seele,
Wie edel er sich gegen dich betrug
Von deiner Ankunft an bis diesen Tag!
IPHIGENIE (allein).
Von dieses Mannes Rede fühl ich mir
Zur ungelegnen Zeit das Herz im Busen
1505
Auf einmal umgewendet. Ich erschrecke! –
Denn wie die Flut mit schnellen Strömen wachsend
Die Felsen überspült, die in dem Sand
Am Ufer liegen: so bedeckte ganz
Ein Freudenstrom mein Innerstes. Ich hielt
1510
In meinen Armen das Unmögliche.
Es schien sich eine Wolke wieder sanft
Um mich zu legen, von der Erde mich
Empor zu heben und in jenen Schlummer
Mich einzuwiegen, den die gute Göttin
1515
Um meine Schläfe legte, da ihr Arm
Mich rettend fasste. – Meinen Bruder
Ergriff das Herz mit einziger Gewalt:
Ich horchte nur auf seines Freundes Rat;
Nur sie zu retten drang die Seele vorwärts.
1520
Und wie den Klippen einer wüsten Insel
Der Schiffer gern den Rücken wendet: so
Lag Tauris hinter mir. Nun hat die Stimme
Des treuen Manns mich wieder aufgeweckt,
Dass ich auch Menschen hier verlasse mich
1525
Erinnert. Doppelt wird mir der Betrug
Verhasst. O bleibe ruhig, meine Seele!
Beginnst du nun zu schwanken und zu zweifeln?
Den festen Boden deiner Einsamkeit
Musst du verlassen! Wieder eingeschifft
1530
Ergreifen dich die Wellen schaukelnd, trüb
Und bang verkennest du die Welt und dich.
IPHIGENIE. PYLADES.
PYLADES. Wo ist sie? dass ich ihr mit schnellen Worten
Die frohe Botschaft unsrer Rettung bringe!
IPHIGENIE.
Du siehst mich hier voll Sorgen und Erwartung
1535
Des sichern Trostes, den du mir versprichst.
PYLADES. Dein Bruder ist geheilt! Den Felsenboden
Des ungeweihten Ufers und den Sand
Betraten wir mit fröhlichen Gesprächen;
Der Hain blieb hinter uns, wir merkten’s nicht.
1540
Und herrlicher und immer herrlicher
Umloderte der Jugend schöne Flamme
Sein lockig Haupt; sein volles Auge glühte
Von Mut und Hoffnung, und sein freies Herz
Ergab sich ganz der Freude, ganz der Lust,
1545
Dich seine Retterin und mich zu retten.
IPHIGENIE. Gesegnet seist du, und es möge nie
Von deiner Lippe, die so Gutes sprach,
Der Ton des Leidens und der Klage tönen!
PYLADES. Ich bringe mehr als das: denn schön begleitet,
1550
Gleich einem Fürsten pflegt das Glück zu nahn.
Auch die Gefährten haben wir gefunden.
In einer Felsenbucht verbargen sie
Das Schiff und saßen traurig und erwartend.
Sie sahen deinen Bruder, und es regten
1555
Sich alle jauchzend, und sie baten dringend
Der Abfahrt Stunde zu beschleunigen.
Es sehnet jede Faust sich nach dem Ruder,
Und selbst ein Wind erhob vom Lande lispelnd,
Von allen gleich bemerkt, die holden Schwingen.
1560
Drum lass uns eilen, führe mich zum Tempel,
Lass mich das Heiligtum betreten, lass
Mich unsrer Wünsche Ziel verehrend fassen.
Ich bin allein genug der Göttin Bild
Auf wohlgeübten Schultern wegzutragen;
1565
Wie sehn ich mich nach der erwünschten Last!
(Er geht gegen den Tempel unter den letzten Worten, ohne zu bemerken, dass Iphigenie nicht folgt; endlich kehrt er sich um.)
Du stehst und zauderst – sage mir – du schweigst!
Du scheinst verworren! Widersetzet sich
Ein neues Unheil unserm Glück? Sag an!
Hast du dem Könige das kluge Wort
1570
Vermelden lassen, das wir abgeredet?
IPHIGENIE. Ich habe, teurer Mann; doch wirst du schelten.
Ein schweigender Verweis war mir dein Anblick!
Des Königs Bote kam, und wie du es
Mir in den Mund gelegt, so sagt ich’s ihm.
1575
Er schien zu staunen, und verlangte dringend
Die seltne Feier erst dem Könige
Zu melden, seinen Willen zu vernehmen;
Und nun erwart ich seine Wiederkehr.
PYLADES. Weh uns! Erneuert schwebt nun die Gefahr
1580
Um unsre Schläfe! Warum hast du nicht
Ins Priesterrecht dich weislich eingehüllt?
IPHIGENIE. Als eine Hülle hab ich’s nie gebraucht.
PYLADES. So wirst du, reine Seele, dich und uns
Zugrunde richten. Warum dacht ich nicht
1585
Auf diesen Fall voraus, und lehrte dich
Auch dieser Fordrung auszuweichen!
IPHIGENIE. Schilt
Nur mich, die Schuld ist mein, ich fühl es wohl;
Doch konnt ich anders nicht dem Mann begegnen,
Der mit Vernunft und Ernst von mir verlangte,
1590
Was ihm mein Herz als recht gestehen musste.
PYLADES. Gefährlicher zieht sich’s zusammen; doch auch so
Lass uns nicht zagen, oder unbesonnen
Und übereilt uns selbst verraten. Ruhig
Erwarte du die Wiederkunft des Boten,
1595
Und dann steh fest, er bringe was er will:
Denn solcher Weihung Feier anzuordnen
Gehört der Priesterin und nicht dem König.
Und fordert er den fremden Mann zu sehn,
Der von dem Wahnsinn schwer belastet ist;
1600
So lehn es ab, als hieltest du uns beide
Im Tempel wohl verwahrt. So schaff uns Luft,
Dass wir aufs Eiligste, den heil’gen Schatz
Dem rau unwürd’gen Volk entwendend, fliehn.
Die besten Zeichen sendet uns Apoll,
1605
Und, eh wir die Bedingung fromm erfüllen,
Erfüllt er göttlich sein Versprechen schon.
Orest ist frei, geheilt! – Mit dem Befreiten
O führet uns hinüber, günst’ge Winde,
Zur Felseninsel die der Gott bewohnt;
1610
Dann nach Mycen, dass es lebendig werde,
Dass von der Asche des verloschnen Herdes
Die Vatergötter fröhlich sich erheben,
Und schönes Feuer ihre Wohnungen
Umleuchte! Deine Hand soll ihnen Weihrauch
1615
Zuerst aus goldnen Schalen streuen. Du
Bringst über jene Schwelle Heil und Leben wieder,
Entsühnst den Fluch und schmückest neu die Deinen
Mit frischen Lebensblüten herrlich aus.
IPHIGENIE. Vernehm ich dich, so wendet sich, o Teurer,
1620
Wie sich die Blume nach der Sonne wendet,
Die Seele, von dem Strahle deiner Worte
Getroffen, sich dem süßen Troste nach.
Wie köstlich ist des gegenwärt’gen Freundes
Gewisse Rede, deren Himmelskraft
1625
Ein Einsamer entbehrt und still versinkt.
Denn langsam reift, verschlossen in dem Busen,
Gedank ihm und Entschluss; die Gegenwart
Des Liebenden entwickelte sie leicht.
PYLADES. Leb wohl! Die Freunde will ich nun geschwind
1630
Beruhigen, die sehnlich wartend harren.
Dann komm ich schnell zurück und lausche hier
Im Felsenbusch versteckt auf deinen Wink –
Was sinnest du? Auf einmal überschwebt
Ein stiller Trauerzug die freie Stirne.
1635
IPHIGENIE. Verzeih! Wie leichte Wolken vor der Sonne,
So zieht mir vor der Seele leichte Sorge
Und Bangigkeit vorüber.
PYLADES. Fürchte nicht!
Betrüglich schloss die Furcht mit der Gefahr
Ein enges Bündnis; beide sind Gesellen.
1640
IPHIGENIE. Die Sorge nenn ich edel, die mich warnt,
Den König, der mein zweiter Vater ward,
Nicht tückisch zu betrügen, zu berauben.
PYLADES. Der deinen Bruder schlachtet, dem entfliehst du.
IPHIGENIE. Es ist derselbe, der mir Gutes tat.
1645
PYLADES. Das ist nicht Undank, was die Not gebeut.
IPHIGENIE.
Es bleibt wohl Undank; nur die Not entschuldigt’s.
PYLADES. Vor Göttern und vor Menschen dich gewiss.
IPHIGENIE. Allein mein eigen Herz ist nicht befriedigt.
PYLADES. Zu strenge Fordrung ist verborgner Stolz.
1650
IPHIGENIE. Ich untersuche nicht, ich fühle nur.
PYLADES. Fühlst du dich recht, so musst du dich verehren.
IPHIGENIE. Ganz unbefleckt genießt sich nur das Herz.
PYLADES. So hast du dich im Tempel wohl bewahrt;
Das Leben lehrt uns, weniger mit uns
1655
Und andern strenge sein; du lernst es auch.
So wunderbar ist dies Geschlecht gebildet;
So vielfach ist’s verschlungen und verknüpft,
Dass keiner in sich selbst, noch mit den andern
Sich rein und unverworren halten kann.
1660
Auch sind wir nicht bestellt uns selbst zu richten;
Zu wandeln und auf seinen Weg zu sehen
Ist eines Menschen erste, nächste Pflicht:
Denn selten schätzt er recht was er getan,
Und was er tut weiß er fast nie zu schätzen.
1665
IPHIGENIE. Fast überredst du mich zu deiner Meinung.
PYLADES. Braucht’s Überredung wo die Wahl versagt ist?
Den Bruder, dich, und einen Freund zu retten
Ist nur Ein Weg; fragt sich’s ob wir ihn gehn?
IPHIGENIE. O lass mich zaudern! denn du tätest selbst
1670
Ein solches Unrecht keinem Mann gelassen,
Dem du für Wohltat dich verpflichtet hieltest.
PYLADES. Wenn wir zugrunde gehen, wartet dein
Ein härtrer Vorwurf, der Verzweiflung trägt.
Man sieht, du bist nicht an Verlust gewohnt,
1675
Da du dem großen Übel zu entgehen
Ein falsches Wort nicht einmal opfern willst.
IPHIGENIE. O trüg ich doch ein männlich Herz in mir,
Das, wenn es einen kühnen Vorsatz hegt,
Vor jeder andern Stimme sich verschließt!
1680
PYLADES. Du weigerst dich umsonst; die eh’rne Hand
Der Not gebietet, und ihr ernster Wink
Ist oberstes Gesetz, dem Götter selbst
Sich unterwerfen müssen. Schweigend herrscht
Des ew’gen Schicksals unberatne Schwester.
1685
Was sie dir auferlegt, das trage; tu
Was sie gebeut. Das andre weißt du. Bald
Komm ich zurück, aus deiner heil’gen Hand
Der Rettung schönes Siegel zu empfangen.
IPHIGENIE. Ich muss ihm folgen: denn die Meinigen
1690
Seh ich in dringender Gefahr. Doch ach!
Mein eigen Schicksal macht mir bang und bänger.
O soll ich nicht die stille Hoffnung retten,
Die in der Einsamkeit ich schön genährt?
Soll dieser Fluch denn ewig walten? Soll
1695
Nie dies Geschlecht mit einem neuen Segen
Sich wieder heben? – Nimmt doch alles ab!
Das beste Glück, des Lebens schönste Kraft
Ermattet endlich! Warum nicht der Fluch?
So hofft ich denn vergebens, hier verwahrt,
1700
Von meines Hauses Schicksal abgeschieden,
Dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen
Die schwer befleckte Wohnung zu entsühnen.
Kaum wird in meinen Armen mir ein Bruder
Vom grimm’gen Übel wundervoll und schnell
1705
Geheilt; kaum naht ein lang erflehtes Schiff
Mich in den Port der Vaterwelt zu leiten:
So legt die taube Not ein doppelt Laster
Mit eh’rner Hand mir auf: das heilige,
Mir anvertraute, viel verehrte Bild
1710
Zu rauben und den Mann zu hintergehn,
Dem ich mein Leben und mein Schicksal danke.
O dass in meinem Busen nicht zuletzt
Ein Widerwillen keime! der Titanen,
Der alten Götter tiefer Hass auf euch,
1715
Olympier, nicht auch die zarte Brust
Mit Geierklauen fasse! Rettet mich,
Und rettet euer Bild in meiner Seele!
Vor meinen Ohren tönt das alte Lied –
Vergessen hatt ich’s und vergaß es gern –
1720
Das Lied der Parzen, das sie grausend sangen,
Als Tantalus vom goldnen Stuhle fiel:
Sie litten mit dem edlen Freunde; grimmig
War ihre Brust, und furchtbar ihr Gesang.
In unsrer Jugend sang’s die Amme mir
1725
Und den Geschwistern vor, ich merkt es wohl.
Es fürchte die Götter
Das Menschengeschlecht!
Sie halten die Herrschaft
In ewigen Händen,
1730
Und können sie brauchen
Wie’s ihnen gefällt.
Der fürchte sie doppelt
Den je sie erheben!
Auf Klippen und Wolken
1735
Sind Stühle bereitet
Um goldene Tische.
Erhebet ein Zwist sich:
So stürzen die Gäste
Geschmäht und geschändet
1740
In nächtliche Tiefen,
Und harren vergebens,
Im Finstern gebunden,
Gerechten Gerichtes.
Sie aber, sie bleiben
1745
In ewigen Festen
An goldenen Tischen.
Sie schreiten vom Berge
Zu Bergen hinüber:
Aus Schlünden der Tiefe
1750
Dampft ihnen der Atem
Erstickter Titanen,
Gleich Opfergerüchen,
Ein leichtes Gewölke.
Es wenden die Herrscher
1755
Ihr segnendes Auge
Von ganzen Geschlechtern,
Und meiden, im Enkel
Die ehmals geliebten,
Still redenden Züge
1760
Des Ahnherrn zu sehn.
So sangen die Parzen;
Es horcht der Verbannte,
In nächtlichen Höhlen
Der Alte die Lieder,
1765
Denkt Kinder und Enkel
Und schüttelt das Haupt.