In den 1980er Jahren unternahm ich jedes Jahr eine Pilgerfahrt nach Kalamazoo, wo an der Western Michigan University zahlreiche Mediävisten zusammenkamen, um über ihre aktuellen Forschungen zu berichten. Als Verleger besuchte ich den Kongress auf der Suche nach interessanten Ideen für neue Bücher und fand die Zusammenkünfte stets sehr erfreulich. Für jemanden, der wie ich in England aufgewachsen ist, war Michigan ein magischer Ort. Ich konnte nie genug bekommen von den schier endlosen kontinentalen Weiten, von den kuriosen Rotflügelstärlingen mit ihren roten Federepauletten und von den großen Seen. Einmal fuhr ich in weitem Bogen von Kalamazoo über die kanadische Seite des Huronsees und die Obere Halbinsel wieder zurück nach Kalamazoo.
Es waren fast schon kitschig glückliche Tage. Jede Kleinstadt hatte ihre eigene seltsame Geschichte zu erzählen, von den Finnen in Sudbury bis zu den kornischen Einwanderern der Oberen Halbinsel mit ihrer sehr urtümlichen Variante von Cornish Pasties. Und auch beim Kongress selbst begegnete man höchst ungewöhnlichen Menschen. Einige Forscher aus Toronto hatten ein Trebuchet (eine mittelalterliche Wurfwaffe) in Originalgröße nachgebaut, das sie ausgelassen auf einem Sportplatz vorführten. Sie schleuderten Gegenstände über große Distanzen und demonstrierten auf diese Weise, wie furchterregend die mittelalterliche Technik gewesen war. Jedes Jahr kamen auch Trappistenmönche aus der Abtei Gethsemani in Kentucky, die den Argwohn ihres Ordens gegenüber trivialem Gerede geradezu meisterhaft zum Ausdruck brachten, indem sie Schachteln mit zähem Walnuss-Bourbon-Fudge verkauften. Tatsächlich erinnerte dieses Kalamazoo mit all den kleinen Ständen, an denen Ikonen, Rosenkränze, Gebetbücher, Plakate und Statuen feilgeboten wurden, im 20. Jahrhundert stark an das Brügge des 13. Jahrhunderts – von der großen Sporthalle, in der das Ganze stattfand, einmal abgesehen.
Den Höhepunkt des Kongresses bildete stets die abendliche Disco, eine heikle, mit zahlreichen Peinlichkeiten verbundene Veranstaltung, bei der sich gereifte Persönlichkeiten die gleichen Fehlgriffe bei der Wahl ihrer Sexualpartner leisteten, wie sie es schon als Studenten getan hatten. Man kam immer sehr schnell mit jemandem ins Gespräch, der genau wusste, wer wen in der Vergangenheit aufs Übelste betrogen hatte, und sich genüsslich daran erinnerte, wie Person A Person B einen Becher Met ins Gesicht gekippt hatte. Einmal – als wie üblich »Rock Lobster« der B-52s gespielt wurde – fiel eine ganze Gruppe mitten auf der Tanzfläche auf Hände und Knie, wippte mit dem Kopf und imitierte aus Spaß die wackelnden Hummer. Zumindest glaubte ich das, bis sich herausstellte, dass bloß jemand eine Kontaktlinse verloren hatte.
Wenn die Teilnehmer nicht gerade klösterliche Süßigkeiten verdrückten oder einander auf der Tanzfläche näherkamen, wurden Vorträge zu allen möglichen Themen gehalten, doch das wahrhaft Spektakuläre, Neue und Aufregende jener Dekade war das plötzliche Auftauchen Hildegards von Bingen. Diese zuvor eher unbekannte rheinische Mystikerin aus dem 12. Jahrhundert war der wahr gewordene Traum der Achtzigerjahre. Ihre außerordentlichen Leistungen wiesen Berührungspunkte mit so gut wie jeder aktuellen Strömung auf, seien es soziale Fragestellungen, Feminismus, Musik, Homosexualität oder Politik. Fast wirkte sie wie die Erfindung oder zumindest wie eine bewusste Projektionsfläche ihrer glühendsten Verehrer, während sie selbst den Kongress in Kalamazoo wahrscheinlich als Ausgeburt der Hölle betrachtet hätte.
Hildegard wurde in einer kleinen Stadt unweit des westlichen Rheinufers bei Worms geboren. Ihr Schicksal war von dem Umstand bestimmt, dass sie als zehntes Kind der Familie zur Welt kam. Dem universellen Anspruch gehorchend, dass der zehnte Teil der Besitztümer eines Menschen (Geld, Ernten, Wein) der Kirche gebühre, gaben ihre Eltern sie schon als junges Mädchen ins Kloster, wo sie später zusammen mit der etwas älteren Jutta von Sponheim als Klausnerin eingeschlossen wurde. Diese religiöse Zeremonie und ihre Folgen erinnern an einen Albtraum: Es wurde ein Gottesdienst abgehalten, ganz so, als seien die jungen Frauen in weltlicher Hinsicht nicht mehr am Leben, und das Ganze endete damit, dass ihre Zelle zugemauert wurde. Durch ein kleines Fenster konnte Nahrung hinein- und Abfall herausgereicht werden, ansonsten waren diese sogenannten Inklusinnen vollständig von der Welt abgeschieden. Bis zu ihrem Tod hatten sie für die Erlösung der Menschheit zu beten – eine der Waben im riesengroßen christlichen Bienenkorb des Gebets zur Rettung der Menschen. Unter strenger Aufsicht wurden ihnen gelegentlich Gespräche mit Außenstehenden gestattet, allerdings verhinderten ausgeklügelte Vorrichtungen dabei jeglichen Augenkontakt. So verbrachte Hildegard mehr als zwanzig Jahre. Jutta kasteite sich auf grauenvolle Weise, indem sie Ketten um ihren Körper schlang, die im Laufe der Jahre mit ihrem Fleisch verwuchsen; sie verweigerte jegliche Nahrung, schrie und hatte Visionen. In mancherlei Hinsicht bleiben die wahren Umstände von Hildegards Leben in der Klause mysteriös, da die Isolation sie nicht daran gehindert zu haben scheint, lesen zu lernen und ein Instrument zu spielen. Aber wie auch immer ihr Dasein in der Zelle gewesen sein mag, es war unbestritten hart.
Nach Juttas Tod gab Hildegard das Leben als Klausnerin auf. Sie verließ das Kloster, gründete ihre eigene Abtei und war fortan von einer Ehrengarde aus jungen Nonnen mit üppigen Schleiern und goldenen Krönchen umgeben. Hildegard wurde achtzig Jahre alt und leistete auf allen Gebieten, mit denen sie sich beschäftigte, Außerordentliches. Sie wurde von überwältigenden Visionen heimgesucht, die sie anschließend niederschrieb und von den Nonnen in ihrem Kloster Rupertsberg illustrieren ließ. Heute fällt es uns schwer, die Schilderungen dieser Visionen zu lesen, weil sie für uns kompletter Unsinn sind oder – anders ausgedrückt – höchstens in einer Zeit geschätzt werden konnten, deren Werte kaum etwas mit den unsrigen gemein hatten. Aber die Illustrationen sind einfach umwerfend: ein über und über mit Augen bedeckter goldener Lenkdrachen, das dreiflügelige Haupt Gottes, Luzifer und seine Anhänger, die als schwarze Sterne in einen Abgrund geschleudert werden, das kosmische Ei, der mit Exkrementen verschmierte Kopf des Antichrist, aus den Genitalien einer besudelten Mutter Kirche hervorkommend, oder eine fast sufi-artig anmutende Darstellung Christi im goldenen Lichtkreis des Heiligen Geistes. Hildegard zieht den nichts ahnenden Betrachter in eine sehr eigenartige Welt hinein. Sie hat ihre eigene Sprache mit eigenen Schriftzeichen erfunden – wozu, ist bis heute ein Rätsel. Diese Sprache enthält einige wunderschöne Wörter, kulzphazur etwa bedeutet Urururgroßvater, zuuenz Heiliger und limzkil Kind. Sie schrieb Faszinierendes über Medizin und wurde zu einer Ikone des New-Age-Heilens, das ihre teilweise doch recht seltsamen Empfehlungen praktisch umzusetzen versuchte. Unter all ihren kuriosen Ratschlägen dürfte der zur Behandlung von Gelbsucht unübertroffen sein, wonach man sich vorsichtig eine betäubte Fledermaus auf die Lenden binden soll und dann abwartet, bis sie stirbt. Sie reiste umher und predigte in Städten wie Metz, Mainz und Köln wider das Übel der aufkeimenden Katharerbewegung. Wie ihr dies als Frau in einem Umfeld möglich war, in dem lediglich Männer in der Öffentlichkeit eine religiöse Rolle spielten, ist bis heute unklar.
In vielerlei Hinsicht beruht Hildegards Bedeutung schlicht darauf, dass wir von ihr wissen. Unzählige mittelalterliche Manuskripte stammen von anonymen Verfassern, über deren Leben wir keine Kenntnis haben, aber Hildegards Leben ist gut dokumentiert. Ihr Werk ist zwar völlig unverständlich, aber zumindest klar umrissen und von überschaubarem Umfang. Diese Frau war so vielseitig begabt, dass aus heutiger Sicht unmöglich zu erkennen ist, was allein von ihr stammt und was in Zusammenarbeit mit anderen entstand. So haben wir insbesondere nicht die geringste Ahnung, ob sie die Abbildungen ihrer Visionen selbst zeichnete oder ob die Darstellungen nach ihren Anweisungen von Nonnen geschaffen wurden – wovon wir ausgehen, weil es kaum vorstellbar ist, dass so viel Genialität in einem einzigen Menschen vereint gewesen sein soll. Ihr musikalisches Werk stammt dagegen unzweifelhaft von ihr selbst, und es nimmt nicht nur deshalb eine Sonderstellung ein, weil es sich um großartige Kompositionen handelt, sondern auch weil wir diese im Zusammenhang eines ganzen Korpus betrachten können (und nicht, wie bei einem Großteil der zeitgenössischen Musik, als einzelne Werke anonymer Schöpfer). Die Texte ihrer Lieder sind sprachlicher Ausdruck von Visionen (sie handeln von Türmen, Gewürzen, Juwelen und Wolken), doch sind sie eingebettet in geradezu magische Melodien und wurzeln häufig in der rheinischen Welt – so etwa ihre fantastischen Gesänge an den heiligen Eucharius, der neunhundert Jahre vor Hildegards Lebzeiten als Bischof von Trier wirkte, oder an die heilige Ursula und ihre elftausend Jungfrauen, deren zahllose Gebeine in Köln ausgegraben wurden, als Hildegard ein Kind war.
Passenderweise begann Hildegards Renaissance im 20. Jahrhundert damit, dass eine neue Generation von Ordensfrauen sie für sich entdeckte, ihre Schriften neu herausgab und die Illustrationen ihrer Visionen kopierte. Seither wurde sie von unzähligen Gruppierungen vereinnahmt, die so gut wie nichts miteinander verbindet. Damit ist sie eine ungleich attraktivere Gestalt als beispielsweise ihr Zeitgenosse Konrad III., für den nur ein winziger Zirkel von Spezialisten bestenfalls lauwarme Gefühle hegt. Sogar ihre Rezepte werden heute noch nachgekocht. In einem norddeutschen Kloster überließ man mir einmal freundlicherweise ein Rezept für »beruhigende Kekse«, die so viel Muskat enthielten, dass ich sie völlig ungenießbar fand. Eines meiner Kinder hat dennoch einen gegessen, war danach allerdings kein bisschen ruhiger als zuvor. 2012 wurde Hildegard, nachdem über die Jahrhunderte immer wieder Diskussionen um sie aufgeflackert waren, schließlich von Papst Benedikt XVI. heiliggesprochen (eine kleine Hilfestellung unter Deutschen) – nur wenige Jahre nachdem ihre geliebte heilige Ursula und die elftausend Jungfrauen eine schmerzhafte Degradierung hatten hinnehmen müssen. Bei aller Verehrung kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Hildegard im Grunde eine schroffe, gequälte Persönlichkeit war und in einer Welt lebte, die von der unsrigen geradezu aberwitzig weit entfernt ist. Wir mögen ihre Vorliebe für Dinkel übernommen haben und ihre Kompositionen lieben (in den 1990er Jahren liefen sie, mit zusätzlichem Bass unterlegt, in den Clubs auf Ibiza – und danach garantiert auch bei der abendlichen Disco in Kalamazoo), doch dem Großteil ihres Werkes und ihrer Forderung nach bedingungslosem Gehorsam und einem ausschließlich auf das Jenseits ausgerichteten Leben begegnen wir bestenfalls mit ängstlicher Skepsis. Manchmal erscheint sie in ihrer Bilderwelt und ihrer plastischen Eigentümlichkeit wie ein Dante des 12. Jahrhunderts, doch dann entschwebt sie wieder in einen spirituellen Kosmos, in den die meisten von uns ihr nicht folgen können.
Nachdem das Westfränkische Reich endgültig das Nachsehen gehabt hatte und Lotharingien dem Ostfränkischen Reich zugefallen war, wurden die Grenzen zwischen den beiden Blöcken zu einem prägenden Element für die Zukunft Europas, da die großen Herzöge und Grafen als Vasallen entweder dem französischen oder dem deutschen König Gefolgstreue schuldeten. Frankreich war damals noch von schlankerer Gestalt und lag weiter im Westen als das klobige Sechseck, zu dem es sich seither entwickelt hat. Von den »deutschen« Landen unterschied es sich durch seine strikte Ausrichtung auf die Hauptstadt Paris und deren reiches, fruchtbares Umland, die Île-de-France. Die deutschen Herrscher dagegen waren noch jahrhundertelang in Bewegung, reisten – gleich König Lear – von Pfalz zu Pfalz und von Stadt zu Stadt. Für die meisten deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts war dies ein Grund zur Scham, galt ihnen das Wanderkönigtum doch als entehrend, schwach und ursächlich für Deutschlands Elend. Daher richteten sie ihr Augenmerk vor allem auf »starke« Kaiser wie Otto den Großen oder Friedrich Barbarossa und sahen es als historische Tragödie an, dass es bedeutenden Kaiserstädten wie Nürnberg, Aachen oder Regensburg nie gelungen war, sich zu einem deutschen Paris zu erheben, wodurch das Kaiserreich zu Ohnmacht und Demütigung verdammt gewesen sei. Diese Pickelhaubensicht der Geschichte ist aus naheliegenden Gründen inzwischen ein wenig in Verruf geraten.
Die Unterschiede zwischen Westfränkischem und Ostfränkischem Reich beruhten im Wesentlichen auf ihrer jeweiligen Geografie. Mit welchen Widrigkeiten der Herrscher in Paris auch zu kämpfen hatte, er konnte sich darauf verlassen, dass ein Großteil seines Reichs vom Meer oder hohen Bergen begrenzt und auch die Ostgrenze zum Heiligen Römischen Reich annähernd verbindlich festgelegt war. Es war nahezu unmöglich, Frankreich zu erobern, und selbst die hartnäckigen Engländer wurden letzten Endes vor die Tür gesetzt. Das Ostfränkische Reich hingegen war ein Kolonialreich, das im Kampf gegen Slawen, Wikinger, Magyaren und lateinisch geprägte Völker immer weiter nach Zentraleuropa vorstieß. Im späten Mittelalter wurde der Kampf gegen den Islam, der nahezu ohne Unterbrechung an einer schier endlosen Frontlinie ausgetragen wurde, zu einer der wesentlichen Aufgaben der Kaiser. Dadurch fiel die Wahl der »Hauptstadt« schließlich auf Wien (vorgeblich weil man von dort aus die Osmanen am besten im Blick hatte, in Wahrheit war es lediglich die Heimatstadt der Habsburger) – eine Rolle, die die Stadt bis zum 18. Jahrhundert übernahm. Dies alles führte dazu, dass das Heilige Römische Reich (von nun an verwende ich den Begriff Ostfrankenreich nicht mehr) wie von einem Magneten immer weiter nach Osten gezogen wurde, wobei viele der Heerführer, die sich im Kampf gegen die Osmanen auszeichneten, aus dem fernen Lothringen und dem Rheinland stammten. Aufgrund dieses komplexen Gemenges aus Perspektiven (der Kolonisierung »neuer« Gebiete in Schlesien oder Brandenburg) und Gefahren (ganze Städte wurden bei Tatareneinfällen niedergebrannt) entwickelten sich die Geschicke des Heiligen Römischen Reichs nahezu unabhängig von denen Frankreichs. Der Kaiser war gezwungen, unablässig durch sein Reich zu reisen, um alle möglichen Krisen zu bewältigen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als einen Teil der Verantwortung auf Dauer regionalen Herrschern zu übertragen, die im Allgemeinen Markgrafen oder Herzöge genannt wurden und in ihrem Herrschaftsbereich die Grenzsicherung übernahmen.
Im 14. Jahrhundert wurden diese Strukturen in eine feste Form gegossen, die allerdings sehr viel ältere Praktiken widerspiegelte. In dem als Goldene Bulle bekannt gewordenen Dokument wurden alle erforderlichen Schritte zur Wahl eines neuen deutschen Königs festgeschrieben. Die recht überschaubare Wählerschaft umfasste lediglich sieben Personen: die drei rheinischen Fürstbischöfe von Mainz, Köln und Trier sowie vier weltliche Herrscher – im Westen der Pfalzgraf bei Rhein und im Osten der König von Böhmen, der Markgraf von Brandenburg und der Herzog von Sachsen. Abgesehen von einigen wenigen Wechseln in späteren Jahrhunderten hatte das Gremium in dieser Form Bestand, bis Napoleon kam und die ganze Bande hinwegfegte. Jede Wahl stellte die Kurfürsten vor ein ernstes Dilemma. Natürlich wäre es amüsant, sich für einen unfähigen Kandidaten zu entscheiden und anschließend einfach nach eigenem Gusto zu schalten und zu walten, allerdings barg dies stets die Gefahr verhängnisvoller Anarchie – weshalb ihnen im Grunde gar nichts anderes übrig blieb, als jemanden aus dem engen Kreis der Familien zu wählen, die reich genug und mit ausreichend mächtigen Territorien ausgestattet waren, um die Aufgabe überhaupt erfolgreich meistern zu können. Wie bei der zweiten großen Wahl jener Zeit, der Papstwahl, drohten immer das Risiko eines fundamentalen Zerwürfnisses und die Ausrufung von Königen und Gegenkönigen, doch in der Realität kam es dazu nur selten. Die Kaiser entstammten verschiedenen Herrscherhäusern, hauptsächlich den Staufern und den Luxemburgern, bis Friedrich III. von Habsburg 1440 eine sensationelle Serie begründete, die mit einer kurzen Unterbrechung bis 1806 anhielt, als das Heilige Römische Reich abgeschafft wurde. Die Habsburger herrschten danach in eingeschränkter, aber durchaus nicht gering zu schätzender Funktion als Kaiser von Österreich noch bis 1918 weiter.
Während die römisch-deutschen Könige gewählt wurden, entwickelte sich in Frankreich eine Erbmonarchie. Nachdem Hugo Capet 987 zum König der Franken gewählt worden war, herrschten seine Nachkommen durch alle Wechselfälle der Geschichte hindurch, bis Louis Philippe 1848 ins Exil floh. Beide Monarchien schlugen sich – wie alle Monarchien – mit den üblichen Problemen herum: allzu mächtige Untertanen, Wahnsinn, schlechtes Urteilsvermögen, demütigende Niederlagen auf dem Schlachtfeld, persönliche Abneigungen, Senilität, intrigante Ehefrauen und Kinder, Fettleibigkeit, zu viel Zeit, die mit Falkenjagd, Unzucht, Gebeten oder dem Erwerb von Wandteppichen vergeudet wurde, und so weiter. Und beide Monarchien litten – wie alle Monarchien – unter der »Erbsünde«, das heißt: Niemand, der je den Thron bestieg, tat dies völlig unbelastet. So mag der König nach dem Krönungseid zwar in eine leuchtende Aura religiöser Erwählung und weltlicher Macht gehüllt sein, doch er versteht sich weiterhin nicht mit seiner Mutter, und sein jüngerer Bruder ist ein besserer Reiter als er und außerdem – da sind sich alle einig – sowieso viel sympathischer.
Die größte Unwägbarkeit jedoch, die einem Herrscher mit seinem Thronantritt zufiel, war die Beziehung zu seinen wichtigsten Vasallen. In Frankreich nahm die Situation im 12. Jahrhundert eine besonders heikle Entwicklung, als das ursprünglich aus Anjou stammende Haus Plantagenet immer mächtiger wurde, seinen Herrschaftsbereich auf fast den gesamten Westen Frankreichs ausdehnte und zu allem Überfluss auch noch die Könige von England stellte. Die lange Regierungszeit des unglücklichen französischen Königs Ludwig VII. war eine schier endlose Abfolge von Demütigungen. So verpfuschte er nicht nur den Zweiten Kreuzzug, sondern musste auch hinnehmen, dass die Ehe mit seiner ersten Frau Eleonore, der bedeutendsten Erbin der Zeit, annulliert wurde. Eleonore heiratete daraufhin Heinrich Plantagenet, den Grafen von Anjou und künftigen König Heinrich II. von England, wodurch dieser in den Besitz des riesigen Herzogtums Aquitanien gelangte, das den gesamten Südwesten Frankreichs umfasste. Dadurch schmolz das eigentliche Herrschaftsgebiet des französischen Königs, die Krondomäne, auf einen winzigen Rest zusammen, der zum großen Teil von angevinischen Besitzungen umgeben war. Aber selbst dieser Tiefpunkt verdeutlicht nur, dass das französische Königtum mittelfristig immer den Sieg davontrug. Vielleicht wird man in ferner Zukunft ein grässliches Spielzeug erfinden, einen Robo-Teddy oder dergleichen, von dem man Teile abschneiden, den man zusammenpressen und sogar anzünden kann. Doch selbst wenn sein psychotischer kindlicher Besitzer ihn in einen glimmenden Fetzen verwandelt, wird er wenig später in der gleichen Gestalt und mit dem gleichen freundlichen Lächeln wie einst im Laden wieder zu neuem Leben erwachen. Frankreich erscheint mir ähnlich. »Na, das lief ja nicht so toll«, muss Ludwig VII. bei seinem Tod gedacht haben, doch seinem Sohn Philipp August gelang es innerhalb kürzester Zeit, die Angeviner zu vernichten und das gesamte Königreich zu alter Größe zurückzuführen.
Den entscheidenden Schauplatz dafür lieferte ihm die Grafschaft Flandern. Nach der Dreiteilung des karolingischen Reichs war Flandern zunächst an den Westen gefallen, wodurch die Grenze zwischen der Grafschaft und ihrem unmittelbaren Nachbarn, dem zu Lotharingien und später dem Heiligen Römischen Reich gehörenden Brabant, von fundamentaler Bedeutung wurde. Auf alten Karten findet man unmittelbar westlich von Antwerpen noch einen kleinen Flecken namens Waasland, der als Teil Flanderns abgebildet ist, im Laufe des 11. Jahrhunderts jedoch auf Brabant überging. Historiker haben es inzwischen aufgegeben, nach dem Grund dafür zu suchen – wahrscheinlich handelte es sich um derart sumpfiges, wertloses Marschland, dass es einfach niemandem auffiel, als sich die Ufer von Schelde und Durme verschoben. Doch das nur nebenbei. Flandern jedenfalls entwickelte sich zu einer außerordentlich mächtigen, wirtschaftlich erfolgreichen Region. Es verfügte über den unschätzbaren Vorteil einer langen Küste, was es ihm (gleich einem Frankreich in Miniaturformat) erlaubte, sich auf die Verteidigung seiner Landgrenzen zu konzentrieren, wo Angriffe nur aus wenigen Richtungen erfolgen konnten. Seine Städte Ypern, Brügge und Gent gelangten als bedeutende Umschlagplätze für englische Wolle zu enormem Wohlstand, und ein Großteil der städtischen Bevölkerung fand Arbeit in der Tuchherstellung. Ganz in der Nähe lag die Grafschaft Boulogne, ein kleineres, aber ebenfalls wohlhabendes Gebiet, dessen Grafen wie die von Flandern eine wichtige Rolle bei den Kreuzzügen spielten. Doch ganz gleich, wie eigenständig die Grafen auch agieren mochten, Boulogne und Flandern waren von Frankreich abhängige Territorien und schuldeten dem König Vasallentreue.
In seinem Bestreben, der französischen Monarchie zu alter Stärke zu verhelfen, richtete Philipp August den Blick schließlich nach Norden. Dort hatte sich eine große Koalition zusammengefunden, bestehend aus den nach Unabhängigkeit strebenden Grafen von Flandern und Boulogne, Kaiser Otto IV. sowie dem Liebling aller englischen Schulkinder, dem englischen König Johann Ohneland (der Sohn Heinrich Plantagenets), dessen unfassbarer, inkompetenter Treulosigkeit wir alle so viel zu verdanken haben – nicht zuletzt den wunderbaren Film Robin Hood, König der Vagabunden mit Errol Flynn, der in unserer Familie mindestens zweimal pro Jahr geschaut wird. In der Schlacht bei Bouvines, tief in flämischem Territorium, brachte Philipp August den Verbündeten 1214 eine vernichtende Niederlage bei. Dass kein englisches Schulkind jemals von der Schlacht bei Bouvines gehört hat, obwohl diese England wieder einmal zu einem isolierten Inselstaat machte und somit unmittelbar für die sich ausbreitende Atmosphäre verhängnisvollen Niedergangs verantwortlich war, die auf direktem Wege zur Magna Charta führte, ist ein interessantes Beispiel dafür, wie nationale Geschichtsschreibung funktioniert.
In seiner Freizeit widmete sich Philipp August übrigens dem Bau der Kathedrale Notre-Dame, des Louvre und der Pariser Markthallen, doch sein größter Erfolg bestand darin, dass er zum Zeitpunkt seines Todes mit Fug und Recht behaupten konnte, die Zeit der französischen Demütigungen sei vorüber. Aber es sollte nicht lange dauern, bis dem französischen Robo-Teddy der nächste furchtbare Schlag versetzt wurde.
Das Hochmittelalter ist eine Epoche, die sich der Errichtung riesiger Kirchen und Burgen verschrieben hatte und durch bedeutende intellektuelle und religiöse Strömungen geprägt war, und doch lohnt es, den Blick zunächst auf einige kleinere Objekte zu richten. Das erste davon ist geradezu winzig. Es handelt sich um eine kleine durchbrochene Kugel – kaum größer als ein Christbaumschmuck –, die in einer der Maas-Städte, wahrscheinlich Dinant, gefertigt wurde. Sie besteht aus ziseliertem Messing und diente dem Verbrennen von Weihrauch. Sie ist mit stilisierten Geschöpfen und Laubwerk verziert, aber das wahrhaft Geniale sind die drei Figürchen oben auf der Kugel, in deren Zügen sich aufrichtiges Erstaunen über ihre Lage spiegelt. Sie verkörpern Schadrach, Meschach und Abed-Nego (welch faszinierende Namen), jene jüdischen Männer, deren Glaube von König Nebukadnezar im glühenden Feuerofen geprüft wurde. Eigentlich ist es traurig, dass diese winzigen Gestalten in einer Museumsvitrine in Lille gefangen sind und nicht mehr der originellen Beschäftigung nachgehen können, sich duftende Rauchschwaden um die Nase wehen zu lassen, wozu sie vor neunhundert Jahren geschaffen wurden. Vielleicht existiert irgendwo in Lille eine geheime Untergrundbewegung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die drei zu befreien und wieder ihrer wahren Bestimmung zuzuführen.
Das andere, kaum größere Objekt, das ich schlicht deshalb immer wieder besuche, weil es so rätselhaft ist, befindet sich hoch oben an einem Pfeiler im Freiburger Münster, wo man es leicht übersehen kann. Das kleine Steinrelief muss einst Teil eines längst verschwundenen umfangreicheren Bildprogramms gewesen sein, von dem nur diese wenigen Figuren als Erinnerung bewahrt wurden – vielleicht hat man sie aber auch verschont, weil sie einfach so wunderschön sind. Das Relief zeigt drei menschliche Gestalten im Kampf gegen drei riesige Tiere mit fürchterlichen Mäulern, von denen zwei wie Menschen gekleidet sind. In der Luft schwebt ohne erkennbaren Bezug zu dem Tohuwabohu darunter ein gewaltiger Widderkopf, der wahrscheinlich zu einem mittlerweile fehlenden Teil des Frieses gehörte. Nur ein kleines Stück davon entfernt ist ein weiteres, leider recht verwittertes, aber nichtsdestoweniger herrliches Fragment zu sehen, das Alexander den Großen in einem von Greifen gezogenen Fluggerät zeigt. Wenn ich im Laufe der Jahre immer wieder zu diesen Bestien zurückgekehrt bin, dann nicht zuletzt deshalb, weil sie mich auf eigentümliche Weise an die Tiermasken der Kwakwaka’wakw im amerikanischen Nordwesten erinnern (ich erwähne das hier nicht aus dem pathologischen Drang, meine ethnografische Bildung zur Schau zu stellen, sondern weil die Familie meiner Frau am Rande der Salish Sea lebt und ich im Sommer jede sich bietende Gelegenheit nutze, Beispiele dieser großartigen künstlerischen Tradition zu bewundern). Die Freiburger Bestien haben etwas seltsam Disneyhaftes. Obwohl der Bildhauer ihnen den Anschein furchterregender Muskelkraft verliehen hat, bleiben die Menschen von ihnen vollkommen unbeeindruckt. Dass ich die Figuren für rätselhafte Grotesken gehalten hatte, erwies sich allerdings als Zeichen meiner Unwissenheit. Bei meinem letzten Besuch in Freiburg eröffnete mir ein Mitarbeiter zu meiner leisen Bestürzung vergnügt, dass es sich bei der rechten Gestalt (scheinbar eine Frau, die auf einer Bestie reitet) in Wirklichkeit um Samson handle, der einen Löwen bändigt (das lange Haar ein Zeichen seiner Stärke), während die beiden Männer in Mönchskutten mit den beiden bekleideten Bestien zwei Episoden aus der Geschichte vom Wolf Isegrim darstellten, in der ein Mönch einen Wolf wie einen Menschen kleidet und versucht, ihm etwas beizubringen (man erkennt ein kleines Buch und einen Stift). Doch der Wolf wird von einem sich nähernden Schaf abgelenkt, wendet sich – unfähig, seine Wolfsnatur zu verleugnen – von dem Mönch ab und stürzt sich mit einem Satz auf das Schaf. Zunächst enttäuscht darüber, dass das, was ich aus reiner Gedankenlosigkeit für ein altes Mysterium gehalten hatte, sich als etwas ganz anderes entpuppte, erkannte ich bald, dass es keinen Unterschied machte – diese Kreaturen brachten auf vollendete Weise eine universelle menschliche Angst und Faszination zum Ausdruck.
Die Wölfe wurden um das Jahr 1200 während der ersten Bauphase des Freiburger Münsters gestaltet. Finanziert wurde der Bau von Herzog Berthold V., dem letzten Spross der Dynastie der Zähringer, der kurz zuvor auch schon die Stadt Bern gegründet hatte, die sich als ebenso beständig erweisen sollte wie das Münster. Solche Initiativen waren typisch für die in vielerlei Hinsicht aufregendste, fröhlichste und unterhaltsamste Epoche in der gesamten europäischen Geschichte. Wir könnten natürlich wie üblich über die geringe Lebenserwartung mosern, die mangelnde Hygiene und die endlose Plackerei auf den Feldern, aber das entspräche lediglich der herablassenden und intellektuell unsinnigen Haltung, dass sämtliche bisherigen menschlichen Aktivitäten auf dem gesamten Planeten zu bedauern und zu ignorieren seien, weil die Leute noch keinen Breitbandzugang hatten.
Die Gründung Berns ist ein gutes Beispiel für mittelalterliche Mobilität und jene Ambitionen, die in unmittelbarer Nähe zu alten Römerstädten wie Basel oder Konstanz auf älteren Traditionen aufbauen und zugleich etwas Neues hervorbringen konnten. 1191 befahl Berthold die Rodung einer bis dahin unbeachteten dicht bewaldeten und hervorragend zu verteidigenden Halbinsel in einer Flussschlinge der Aare. Eine Reihe höchst unzuverlässiger, aber hübscher Gemälde, die viele Jahre später angefertigt wurden, zeigen die Entdeckung des Ortes, den undurchdringlichen Wald und – als absoluten Höhepunkt – die Erlegung des Bären, der zum Wappentier der Stadt werden und viele Generationen unglücklicher Tiere dazu verdammen sollte, ihr Dasein in den Berner Bärengräben zu fristen. Bei Bertholds Tod 1218 war die Siedlung bereits so wohlhabend, dass sie Verhandlungen mit dem Kaiser aufnahm und aus diesen als Freie Reichsstadt hervorging. Künftige Herrscher aus den Familien Valois und Habsburg sollten diese Entwicklungen ebenso schmerzlich bedauern wie einen weiteren entscheidenden Durchbruch jener Jahrzehnte: die Öffnung des Sankt-Gotthard-Passes.
Obwohl der Weg über den Pass noch jahrhundertelang ein furchterregendes Erlebnis blieb (wozu unter anderem eine schwankende Brücke über einem tiefen Abgrund beitrug, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ), konnten Soldaten und Kaufleute den Weg von Nordeuropa über Bern nach Italien nun durchgehend auf dem Rücken eines Pferdes zurücklegen – wobei sich allerdings ein gewisser Prozentsatz der armen Tiere jedes Jahr zu den windgedörrten Stapeln gesellte, die sich bereits auf dem Grund diverser Schluchten türmten. Während Bern dank des Fernhandels über den Pass allmählich reich wurde, gelangten nun auch die kraftstrotzenden, autarken und bis dahin gnädigerweise in ihren Bergen eingeschlossenen Bewohner der drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden, die den Kern der künftigen Schweiz bilden sollten, hinab in die tiefer gelegenen Gebiete. Das Bild der Schweizer als ein Volk von ungemein tüchtigen, unerbittlichen, in einer Art Eisfestung lebenden Menschen hat sich auch der heutige »Nordrand« des Landes angeeignet, freundliche Handelsstädte wie Basel, Schaffhausen, Zürich oder Bern, die als südliche Ausläufer des Heiligen Römischen Reichs bestenfalls an steilen Hängen liegen. In Wirklichkeit waren es jedoch Uri, Schwyz und Unterwalden, die drei ursprünglichen Waldstätte, mit denen der ganze Ärger begann, als nun von Norden her aus Luzern und von Süden über den Gotthardpass Handel, Menschen und Ideen in die die bislang unzugängliche Region einströmten. Was der Grund dafür war, lässt sich im Nachhinein nicht mehr genau sagen, aber im Gegensatz zu anderen regionalen Schutzbünden, die sich im gesamten Heiligen Römischen Reich bildeten, entwickelte sich die Schweizer Eidgenossenschaft zu einem ernst zu nehmenden und beständigen Zusammenschluss. Bei den rauen Gesellen, die auf den Wandfresken im Rathaus von Basel und anderen Orten abgebildet sind, handelt es sich also mitnichten um die Softies, die tatsächlich in dieser Stadt lebten, sondern um die echten, wortkargen Muskelberge, die aus den Bergen herabstürmten und für Chaos und Verderben sorgten, sobald die Habsburger oder die Herzöge von Burgund in späteren Jahrhunderten ihre Heere versehentlich auch nur einen Schritt zu weit südlich in Richtung der Alpen marschieren ließen und dadurch eine Art Schweizer Stolperdraht-Alarm auslösten. Ich werde später noch einmal auf die besondere Schweizer Beziehung zu den Habsburgern zurückkommen, doch die Ursprünge dieser Kräfteverschiebung liegen im 13. Jahrhundert, und zu ihren langfristigen Auswirkungen gehört nicht zuletzt, dass sie den bis dahin herrschenden Dualismus aus Westfränkischem und Ostfränkischem Reich aufbrach. In den Alpen wurden erstmals gewisse Formen von Unabhängigkeit möglich, auch wenn die kaiserliche Obrigkeit diesen Umstand weitgehend zu ignorieren suchte und (da sie nun einmal nichts daran ändern konnte) mehr oder weniger so tat, als existierten die Schweizer gar nicht (ihre förmliche Anerkennung durch die Habsburger erfolgte erst 1648).
Auch in anderen Teilen des Heiligen Römischen Reichs erwuchsen den Habsburgern Probleme. Zur gleichen Zeit, als im Süden Bern gegründet wurde, sorgten einige tatkräftige Fischer am äußersten nördlichen Ende Lotharingiens in einer tristen Einöde aus Schlamm, Sand, Fröschen und Flüssen, die unentwegt ihr Bett verschoben, für ähnlich düstere Zukunftsaussichten, indem sie am Fluss Amstel einen Damm errichteten. Auch wenn dieses Buch Amsterdam nur am Rande berührt, ist ein wenig historischer Hintergrund vonnöten. Während Bern im Süden die Vorreiterrolle darin übernahm, den Habsburgern die Suppe zu versalzen, bildete Amsterdam den entsprechenden Gegenpart im Norden, und es ist ein kurioser Zufall, dass die beiden Städte beinahe gleichzeitig gegründet wurden. Amsterdam entstand in einer zähflüssigen, morastigen Welt, einem vermeintlich wertlosen Gebiet ohne nennenswerte feudale Strukturen, das von seinen nominellen Oberherren in Utrecht wenig beachtet wurde. Der Aufschwung der jungen Siedlung beruhte nicht nur auf ihrem immer ausgeklügelteren Schleusensystem, sondern ebenso sehr auf einem religiösen Glücksfall: Ein besonders absurdes Wunder um eine feuerfeste Hostie machte Amsterdam zu einem bedeutenden Pilgerort. Später stand die Stadt an der Amstel mit Fischfang, Seefahrt und Seifensiederei für eher derbe Industrie (im Gegensatz zu den hochnäsigen südlichen Niederlanden, deren Wohlstand auf schlabbrigen Wandteppichen, zarten Handschuhen und sonstigem Firlefanz beruhte) und wurde steinreich.
Irgendwann fand jemand heraus, dass Heringe sich länger hielten und auch viel besser schmeckten, wenn man sie nicht vollständig ausnahm, sondern die Bauchspeicheldrüse drinließ, bevor man sie in Fässer mit Salzlake einlegte. In einer Zeit, die von verheerenden saisonalen Schwankungen zwischen Überfluss und Hungersnot geprägt war, waren Fässer voller haltbarer Heringe ein Geschenk des Himmels. Außerdem konstruierten die Amsterdamer spezielle robuste Schiffe, auf denen die Fische bereits ausgenommen und eingelegt wurden, während sie noch über der Doggerbank (einem Überbleibsel von Doggerland) vor Anker lagen, wo es einen schier unerschöpflichen Vorrat an Heringen gab. Zu Hochzeiten wurden pro Jahr zweihundert Millionen Stück gefangen.
Dies genügt als Information zu Amsterdam, abgesehen davon, dass die Interessen der Stadt stets mehr nach Norden, Osten und Übersee ausgerichtet waren – nach Deutschland, in die Ostseeregion, die nordischen Länder, die Neue Welt und auf die Gewürzinseln in Fernost. Ihr Verhältnis zum Rest der Niederlande war dagegen von Beginn an eher distanziert. Amsterdam gehörte zwar zur Grafschaft Holland, zeigte aber nur eine geringe Affinität zu allem, was in seinem Süden lag. Teils religiöse, teils durch die Politik der Habsburger bedingte Entwicklungen führten dazu, dass Amsterdam sich – wenn auch unfreiwillig – zu einem ebenso unerbittlichen und furchteinflößenden Kämpfer gegen äußere Gegner entwickelte wie Bern, und keinem der zahllosen Herrscher, die allein schon bei der Erwähnung der beiden Städte vor Wut mit den Zähnen knirschten, gelang es jemals, eine von ihnen zu erobern, bis Ende des 18. Jahrhunderts schließlich die revolutionären französischen Truppen einmarschierten.
Das politische Chaos in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erwies sich nicht nur für Bern und Amsterdam als Segen, sondern auch für viele andere Städte und Fürsten. Wie die Magna Charta letztlich das Resultat von Johann Ohnelands Unfähigkeit war (eine Schwäche, für die wir ihm alle dankbar sein sollten), so machte die Herrschaft Kaiser Friedrichs II. sämtliche Aussichten zunichte, dass das Heilige Römische Reich jemals zu einem zweiten Frankreich werden könnte (dessen Könige wiederum das 13. Jahrhundert dazu nutzten, ihr Reich sehr viel wärmer und angenehmer zu gestalten, indem sie die Provence übernahmen und im Süden Ketzer massakrierten). Friedrich war ein faszinierender Mann mit außergewöhnlichen Talenten, doch er richtete sein Augenmerk so sehr auf Italien und den Mittelmeerraum, dass seine deutschen Vasallen ihm erhebliche Zugeständnisse abringen und einzelne Fürsten immer unabhängiger über ihr Lehen verfügen konnten. Ob er nun während des Sechsten Kreuzzugs höchstpersönlich auf Arabisch über einen erneuten Zugang der Christen nach Jerusalem verhandelte, in Palermo, wo er viele Jahre hofhielt, eine Abhandlung über die Falkenjagd verfasste oder wieder einmal beschuldigt wurde, der Antichrist zu sein – was auch immer Friedrich tat, er war seinen deutschen Untertanen keine große Hilfe. Das Verhältnis zwischen Adligen, Ratsherren und dem Kaiser war immer schon kompliziert gewesen, doch nun wurden die deutschen Lande endgültig zu einer Art geopolitischem Schotterfeld, in dem die einzelnen Herrscher ihren kreativen Neigungen freien Lauf ließen und jenes dichte Netz aus topmodernen Palästen, Burgen, Kirchen und Klöstern finanzierten, das zum Teil noch heute zu bewundern ist.
Das 13. Jahrhundert war geprägt von aufregenden Neuheiten wie etwa dem aus der arabischen Welt stammenden Papier, das schon bald nach seiner – unter anderem Friedrich zu verdankenden – Einführung das unpraktische Pergament verdrängte. Zwar hatte dies einige unerfreuliche Konsequenzen für Archive, da Papier sehr viel empfindlicher ist als Pergament, trotzdem überwogen die Vorteile, nicht zuletzt wurden die Bücher viel billiger und erreichten so ein breiteres Publikum. Für Aufregung sorgten auch die Mongoleneinfälle während der 1240er Jahre, die in Osteuropa verheerende Folgen hatten, weiter westlich jedoch lediglich einen wohligen Schauer auslösten, da die Eindringlinge nach einer Weile auf ebenso mysteriöse Weise wieder verschwanden, wie sie gekommen waren – allerdings nicht ohne das Rezept für chinesisches Schießpulver zurückzulassen, dessen mannigfaltige Anwendungsmöglichkeiten in den folgenden Jahrhunderten ausgiebig erprobt und verfeinert wurden. Es kam zu religiösen Erneuerungsbewegungen mit erheblichen Folgen, wenn auch auf völlig anderem Gebiet. Dominikaner, Franziskaner, die sich später von diesen abspaltenden Minoriten und Beginengemeinschaften sollten dem Christentum ein ganz neues Gesicht verpassen, indem sie sich – jeder auf seine Weise – bemühten, die »stinkende Jauche der Häresie« auszutrocknen, wie Papst Alexander III. es so plastisch ausgedrückt hatte. Neben dominikanischen Genies wie Meister Eckhart und Thomas von Aquin brachte die Zeit auch aufsehenerregende Mystikerinnen wie Christina die Wunderbare hervor, eine Kuhhirtin aus Brabant, die Latein sprach und spektakuläre Dinge vollbrachte, sich wie ein Derwisch im Kreis drehte oder in Trance auf Kirchendächer und sogar Turmspitzen kletterte.
Ich weiß, ich wiederhole mich, aber in vielen Städten auf dem Gebiet des einstigen Lotharingien beschleicht einen immer wieder aufs Neue das geradezu überwältigende Gefühl, Teil eines jahrhundertealten Kontinuums zu sein. In diesen Straßen ist die Erinnerung an Ideen und alltägliche Bedürfnisse, die unverändert aus Zeiten überdauert haben, als es noch keine schriftlichen Aufzeichnungen gab, so deutlich präsent, dass man sich unweigerlich als Letzter in jener langen Reihe von Menschen wähnt, die sie im Laufe der Zeit bevölkert haben. Am deutlichsten ist dieser Eindruck in Brügge, weil der Wohlstand der Stadt zurückging, nachdem ihr Zugang zum Meer um das Jahr 1500 versandet war, und so eine verblüffend altertümliche Stadtkulisse zurückblieb. Auf eine vitalere Weise spürt man es auch in Gent, das zwar im 19. Jahrhundert zu einem bedeutenden industriellen Zentrum mit moderneren Bauten wurde, dessen Innenstadt jedoch weitgehend unangetastet blieb, sodass Straßenbahnschienen und Ramschläden die Kontinuität noch unterstreichen.
Wenn man in Gent von der Burg der Grafen von Flandern Richtung Süden schlendert, passiert man zunächst den Fischmarkt, überquert beim alten Fleischhaus das Flüsschen Leie und gelangt über den Gemüsemarkt zum Kornmarkt. Gleich hinter den Gebäuden an der Westseite des Kornmarkts liegen die Zunfthäuser, und weiter südlich erhebt sich am gegenüberliegenden Flussufer »Het Pand«, der mächtige Bau des ehemaligen Dominikanerklosters, der immer noch das Stadtzentrum beherrscht. Zweigt man vom Kornmarkt in östlicher Richtung ab, liegen gleich hinter der massigen Sint-Niklaas-Kirche der Geflügelmarkt,3 die Tuchhalle, der Belfried und die Sint-Baafs-Kathedrale. Und am nördlichen Rand des Platzes, beim Buttermarkt, befindet sich das mehrfach um- und ausgebaute Rathaus.
Dieser Spaziergang hätte vor tausend Jahren nicht viel anders ausgesehen als heute, auch wenn manches sich damals an anderer Stelle befand und von Sint-Baafs noch eine frühere Version stand. Tatsächlich scheint die ganze Stadt um das ursprüngliche Kloster herum gewachsen zu sein, das dem heiligen Bavo geweiht war, einem merowingischen Taugenichts, der zum Asketen wurde und auf einem Baum lebte. Seine Reliquien standen jahrhundertelang im Zentrum der Genter Prozessionen. Um 1100 wurde der Vorläuferbau der Sint-Niklaas-Kirche errichtet. Die Tuchhalle und der Belfried kamen später hinzu. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an war im Untergeschoss der Tuchhalle das Stadtgefängnis untergebracht, und in den Jahrhunderten zuvor wäre dem glücklichen Spaziergänger der Anblick des höchst befremdlichen Steinreliefs erspart geblieben, das sich bis heute über dem Eingang zu dem kleinen Anbau mit der einstigen Wärterwohnung befindet. Es zeigt die irritierend anzügliche römische Geschichte des alten Cimon, der zum Hungertod verurteilt und in ein Verlies gesperrt wird. Obwohl man ihm nichts zu essen gibt, stirbt er nicht, weil seine Tochter ihn bei ihren Besuchen heimlich an ihrer Brust trinken lässt. Es ist mir nicht gelungen, herauszufinden, wie jemand auf die Idee kommen konnte, dies sei ein passendes Motiv für ein Relief (ich habe einen steinreichen perückentragenden, pedantischen Antikenverehrer im Verdacht), aber man könnte immerhin argumentieren, dass einer der wenigen erfreulichen Aspekte eines Aufenthalts im Genter Gefängnis darin lag, nicht länger am Bildnis des genüsslich nuckelnden Alten vorbeilaufen zu müssen.
Am Stadtbild von Gent lassen sich die komplexen Funktionsweisen alter Städte und das vielschichtige Zusammenspiel von weltlichen Herrschern, Kirche und Kaufleuten noch immer ablesen. Schon vor Beginn der schriftlichen Aufzeichnungen war ein solcher Ort ein schwieriges Pflaster: Wer gehörte dazu und wer nicht, wer hatte das Recht, Hühner zu verkaufen, und wer nicht, wer übte welche religiöse Funktion aus, und was erhielt er dafür als Gegenleistung? So modern erscheinende Angelegenheiten wie Bebauungspläne, Genehmigungen, Hygiene, Steuern, Fahrplanerstellung, Transport, Qualifikationen, Sicherheit und Kommunikation wurden um 1200 oder 1500 nicht weniger streng geregelt und kontrolliert als heute. Jedem Gemüsekarren wurden ein bestimmter Standort und bestimmte Termine zugewiesen und die dafür zu entrichtenden Gebühren an unterschiedliche religiöse und weltliche Stellen abgeführt. Gewichte und Maße waren von entscheidender Bedeutung und an jedem beliebigen Marktflecken ein nie versiegender Quell von Manipulationen und Streit. Die Glocken des Belfried bestimmten den religiösen Tagesablauf und gaben in militärischen Notzeiten das Signal für die verschiedenen städtischen Truppen. Innerhalb der Stadtmauern hielt sich nur auf, wer die Erlaubnis dazu hatte. Alle, die lediglich einen Tagespass hatten, mussten vor dem Abendläuten und der Schließung der Tore wieder verschwunden sein. Wer in einer Herberge übernachtete, wurde registriert und benötigte einen Bürgen. Beamte in Diensten des Grafen oder des Heiligen Römischen Reichs verfügten über Amtsinsignien, die ihnen das Recht auf Durchreise oder Unterbringung sicherten. Klöster wie Het Pand boten jedermann Obdach, ganz gleich, ob es sich um Gäste des Abts oder durchziehende Pilger handelte.
Gent war vor allem für seine gebuurten bekannt – Gemeinschaften, die gewöhnlich eine bestimmte Straße und deren Seitengassen umfassten. Sie organisierten die Nachtwache, führten Feuerschutzübungen durch, bei denen die Flucht aus brennenden Gebäuden und das Löschen von Bränden trainiert wurden, beteiligten sich mit Prozessionswagen und Kostümen an Feierlichkeiten des Viertels oder der gesamten Stadt und kümmerten sich um die Beerdigung verstorbener Mitglieder, die aus der Gemeinschaftskasse bezahlt wurden. Sie spielten eine entscheidende (inzwischen aus offiziellen Aufzeichnungen nahezu verschwundene) Rolle im Leben von Dienstboten, einfachen Ladenbesitzern und Handwerkern, die in Städten wie Gent für einen geregelten Ablauf sorgten. Viele Bürger trugen Abzeichen oder eine Art Uniform, was von einem einfachen Band als Verweis auf eine bestimmte Bruderschaft bis hin zu den in verschiedenen Farben gehaltenen Gewändern der Geistlichen und den Kutten der auf den ersten Blick zu unterscheidenden Mönchsorden reichte.
Wie unschwer zu erkennen, liebe ich diese Atmosphäre. Mein Traum wäre es, mit einem Beutel voller Münzen am Gürtel, bunten Strumpfhosen und einem kaiserlichen Geleitbrief lärmend und zechend durch eine mittelalterliche Stadt zu streifen, allerdings mit der Lebenserwartung des 21. Jahrhunderts und einem Knopf, der mich unverzüglich wieder zurück in die Gegenwart versetzt, sobald die Lage brenzlig wird. Abgesehen von dem Risiko, aus blankem Neid auf meine schrillen Beinkleider bei lebendigem Leib verbrannt zu werden, wäre ich aber wohl relativ sicher gewesen. Soweit wir wissen, war das Stadtleben in hohem Maß reguliert, und darüber hinaus sorgten die aufwendig begangenen religiösen Feste sowie der alltägliche Rhythmus aus Messen und privaten Gebeten für Ordnung. Die bedeutendsten Familien aus dem Umfeld der Grafen von Flandern bestimmten das weltliche wie das religiöse Leben. Sie stellten die wichtigsten Amts- und Würdenträger und herrschten mit eiserner Hand über das Gemeinwesen.
Gent, Brügge und Ypern entwickelten schon sehr früh enge Beziehungen zu London und werden bereits in den Chroniken Æthelreds des Unberatenen am Ende des 10. Jahrhunderts als Handelspartner erwähnt. Im 12. Jahrhundert hatte sich England zum Motor des flämischen Wohlstands entwickelt und lieferte gewaltige Mengen an Getreide, Tierhäuten, Kohle und Käse auf den Kontinent. Die Verarbeitung der Wolle von unzähligen englischen Schafen beförderte zudem das unaufhaltsame Wachstum der flämischen Textilproduktion. Selten hatten Schafe ein derartiges politisches Gewicht. Ihre schier unermessliche Zahl sicherte ganzen Heerscharen von um ihr Wohl bemühten Menschen den Lebensunterhalt: Sie legten riesige Weiden an, um die Schafe mit köstlichem Gras zu versorgen, sie wuschen sie, damit ihr Fell glänzend und lockig wurde. Den Schafen verdanken wir die riesigen Kirchen in den Cotswolds und East Anglia, die auch heute noch, viele Jahrhunderte später, wie gleichsam pharaonische Monumente vergangener Schafsglorie in die Höhe ragen. Anfang des 12. Jahrhunderts wurden flämische Tuche an so fernen Orten wie Nowgorod gehandelt, und die damaligen Beziehungen zwischen England und Flandern müssen von einer Dynamik geprägt gewesen sein, die man eher mit dem 19. Jahrhundert assoziieren würde.
Flandern umfasste zu jener Zeit ein viel größeres Gebiet als der heutige belgische Teilstaat, mit Küstenstädten wie dem seinerzeit noch unbedeutenden Dünkirchen sowie den weiter südlich gelegenen Städten Lille, Douai und Cassel (Rijsel, Dowaai und Kassel). Das Geniale an den Wolltuchen war, dass sich europaweit eine Industrie rund um ein Produkt entwickelte, das im Gegensatz zu Lebensmitteln nicht verderblich war, sich aber durch Gebrauch abnutzte und somit immer wieder ersetzt werden musste. Schafe finanzierten auch all die herrlichen Handelsgebäude, die in den flämischen Städten noch heute bewundert werden können – allerdings manchmal nur als Rekonstruktion. Die gewaltige, 1304 errichtete Tuchhalle in Ypern, in der sich Regale voller Stoffe aneinanderreihten, muss so etwas wie eine immerwährende Fashion Week der Luxusklasse gewesen sein. Dieses märchenhafte Gebäude wurde im Ersten Weltkrieg vollständig zerstört, allerdings später wieder aufgebaut.
In Brügge wiederum kannte der Einfallsreichtum nahezu keine Grenzen, wenn es um ausgeklügelte Konstruktionen und neuartige Architekturen ging. Ursprünglich wurde in den weitläufigen Hallen am Fuß des Belfrieds mit Wolltuchen, aber auch Gewürzen, Färbemitteln, Handschuhen und feinsten Stoffen gehandelt. Doch dann errichteten die Brügger eines jener großartigen Bauwerke der europäischen Geschichte, die leider nicht erhalten geblieben sind: die Wasserhalle, die nach acht Jahrzehnten stetigen Werkelns 1366 endlich vollendet war. Dieser erstaunliche Bau war mit dem Kanalnetz der Stadt verbunden, sodass die Boote einfach unter einer mit Häusern bebauten Brücke hindurch in die Halle hineinfahren konnten. Das Innere des Dachraums bestand aus einem riesigen, raffiniert konstruierten Tuchlager, in dem sich Schaffelle, Tuchballen, Muster und exotische Stoffe türmten. Doch im Brügger Hafenbereich gab es noch weitere Konstruktionsleistungen zu bewundern. Ganz in der Nähe der Wasserhalle stand am Ufer einer Gracht ein mächtiger Kran, der über eine Tretmühle von sogenannten Krankindern angetrieben wurde und Weinfässer und andere Güter aus den Booten löschte. All das ist mittlerweile Geschichte, der Kanal wurde zugeschüttet, die Wasserhalle abgerissen. Neben dem überwältigenden Groeningemuseum, in dem Gemälde von van Eyck, van der Weyden, Memling und anderen zu bestaunen sind, deren Arbeiten dank einer späteren Neuauflage des flämischen Tuchwohlstands finanziert wurden, liegt ein winziger Park mit zwei traurigen kleinen Säulen. Sie sind alles, was von der Wasserhalle noch übrig ist.
Allmählich geht mir der Platz aus, und ich gerate in Panik – ich könnte ohne Weiteres das ganze Buch mit Geschichten aus dem damaligen Flandern füllen. Wenn ich mich jedoch für eine allerletzte Kostbarkeit entscheiden muss, dann fällt meine Wahl auf das in den 1240er Jahren erbaute Hospital der Gräfin Johanna von Flandern in Lille. Johannas Vater, Graf Balduin IX., machte einige unangenehme Erfahrungen auf dem Balkan, wo sein Schädel in eine Trinkschale verwandelt wurde, und ihr Ehemann, ein glückloser portugiesischer Prinz, verbrachte nach der verheerenden Niederlage in der Schlacht bei Bouvines viele Jahre in französischer Gefangenschaft, weshalb Johanna die Herrschaft über ihre Grafschaft selbst in die Hand nahm. Sie war eine bemerkenswerte Persönlichkeit in der klassischen Tradition flämischer Regenten, die ihre Zeit zwischen aufwendigem Gewässermanagement und der Gründung von Klöstern (vornehmlich Zisterzienserabteien) und Beginenhöfen aufteilten. Das heutige Hospital im Zentrum von Lille umfasst leider nur Gebäude aus späterer Zeit und ist dennoch von einer eigentümlichen Aura des Vergangenen umgeben. Augustinerinnen kümmerten sich dort um Kranke, Mittellose und Pilger auf der Durchreise. Wie alle derartigen Einrichtungen wurde auch dieses Hospital vom Sturm der Französischen Revolution hinweggefegt (bis 1939 war dort ein Heim für Waisen und alte Männer untergebracht), aber zuvor hatte es – abgesehen von gelegentlichen Bränden, Unruhen und Invasionen – fünfhundertfünfzig Jahre ununterbrochen als Hospital gedient. Ich war sehr beeindruckt davon, wie stark auch dort die enge Verbindung zwischen Alltäglichem und Spirituellem zu spüren ist, die man im heutigen Gent noch antrifft, jenes Gefühl, dass Kirchen und Märkte einst als unterschiedliche Aspekte ein und desselben Ganzen betrachtet wurden.
In einigen Räumen im Hospital der Gräfin wird dies besonders deutlich. Die Augustinerinnen schoren sich die Haare, verfügten über keinerlei persönlichen Besitz und legten die Arbeit erst nieder, wenn Gebrechlichkeit oder Tod sie dazu zwangen. Die Mahlzeiten nahmen sie schweigend ein, während eine von ihnen aus der Bibel vorlas. Sie bereiteten alle möglichen Heilmittel zu, für die gewöhnlich Pflanzen die Grundlage bildeten, die sie selbst anbauten und in Sirup oder Salbentöpfen konservierten. Sie stellten auch jene seltsame Mixtur her, die als Theriak bekannt war, einen Trank mit erstaunlich vielen Zutaten nach einem Rezept von Galen, der eigentlich nicht die geringste Wirkung gehabt haben kann, aber es muss großen Spaß gemacht haben, die unterschiedlichsten Bestandteile diverser Früchte und Tiere sowie Samen, Blätter und Gummi zu diesem Brei zu zerstampfen. Das wirklich Interessante und Berührende an der Krankenpflege der Nonnen war, dass es für sie völlig unerheblich war, ob sie jemanden gesund pflegten oder ihn beim Sterben begleiteten – beides waren hingebungsvolle, in ihrem Glauben begründete Akte der Nächstenliebe, und weder der eine noch der andere Ausgang war vorzuziehen.
Lille, und damit auch Johannas Vermächtnis, sollte indes nicht mehr lange bei Flandern bleiben. Über viele Generationen von Schafen hatten sich deutlich weniger Generationen von Grafen vergeblich bemüht, Flandern aus der Abhängigkeit von Frankreich zu befreien. Nachdem Philipp August durch seinen Sieg in der Schlacht von Bouvines 1214 die französische Autorität über Flandern gefestigt hatte, bildeten sich im 13. Jahrhundert in den Städten zunehmend gegensätzliche Parteien heraus, die profranzösisch gesinnten Leliaards (benannt nach der Lilie im Wappen der französischen Könige) und die antifranzösischen Klauwaards (nach den Klauen des flämischen Löwen, des Wappentiers der Grafen von Flandern). Im Zuge einer erneuten Machtausdehnung der französischen Krone unter Philipp IV., dem Schönen (einem erschreckend effizienten Herrscher), wurde Graf Guido I. von Flandern 1300 gefangengenommen, und Frankreich errichtete nach einer Reihe grausamer, vernichtender Schlachten über ganz Flandern verstreut Garnisonen. Daraufhin erhoben sich in den frühen Morgenstunden des 18. Mai 1302 die Klauwaards in Brügge und richteten unter den Franzosen und ihren Unterstützern ein Blutbad an, dem etwa zweitausend Menschen zum Opfer fielen. Philipp entsandte ein Heer, um die Ordnung wiederherzustellen, doch die zum Äußersten entschlossenen, mit Spießen und kurzen, schweren Speeren bewaffneten flämischen Fußsoldaten rieben die Blüte des französischen Ritterstands in der Schlacht von Kortrijk vollständig auf. Nach den rund fünfhundert Sporenpaaren, die die Sieger den gefallenen französischen Adligen abnahmen und in der nahen Liebfrauenkirche aufhängten, wurde die Auseinandersetzung auch als die »Schlacht der goldenen Sporen« bekannt (leider blieben diese Sporen nicht lange in der Kirche – stattdessen hängt dort heute ein furchtbar deprimierendes Gemälde von van Dyck, das die Kreuzaufrichtung zeigt).
Inzwischen gibt es in Kortrijk ein ganzes Museum zu dieser Schlacht, deren Jahrestag einer der wichtigsten Termine im Kalender flämischer Nationalisten ist. Damals waren die Auswirkungen vergleichsweise gedämpft. Der erste Schock war immens, doch dann erwiesen sich die Ereignisse geradezu als Paradebeispiel für die große Bedeutung des Erbfolgeprinzips in mittelalterlichen Gesellschaften: Auf einen Schlag kam ein breiter Querschnitt des älteren französischen Adels ums Leben, und Dutzende fassungsloser Erben – jüngere Brüder, Regenten und Minderjährige – traten ohne jede Vorwarnung an ihrer Stelle in zahllosen größeren und kleineren Territorien die Herrschaft an. Philipp IV. mangelte es trotz der Niederlage weder an Mitteln noch an Entschlossenheit, und so gelang es ihm nach erbitterten Kämpfen, an die man sich vor Ort weniger gern erinnert, den Aufstand niederzuschlagen. Der 1305 geschlossene folgenschwere Vertrag von Athis-sur-Orge erhielt zwar Flandern als eigenständige Grafschaft mit besonderen Privilegien, aber die Städte Douai, Bouvines und Lille gingen in französischen Besitz über, wodurch ein französischsprachiges Flandern entstand, das seitdem für noch kompliziertere Verhältnisse sorgt.
Wie in Gent habe ich auch in Lille viel Zeit mit Spaziergängen verbracht. In beiden Städten hatte ich dabei das Gefühl, durch Straßen zu gehen, die sich – zumindest in den alten Vierteln – nicht sonderlich verändert haben. Sie mögen zwar von jüngeren Gebäuden gesäumt sein, aber ihre Breite entspricht immer noch der von Kutschen, und die Autos müssen zusehen, wie sie damit zurechtkommen. Immer noch drängen sich in den Erdgeschossen Läden, während darüber die Menschen wohnen, und die Symbole der kleinen Werbeschilder, die von den Häusern in die Straße hineinragen, wären auch vor Jahrhunderten auf den ersten Blick verständlich gewesen: Stiefel, Brezeln, Bier. In vielerlei Hinsicht scheinen diese Straßen vor achthundert Jahren genauso gewerblich, geschäftig und »modern« gewesen zu sein wie heute. Nachdem meine Arbeit an diesem Buch jetzt beendet ist und ich keinen Grund mehr habe, mich noch länger in diesen Städten herumzutreiben, kommt es mir vor, als sei ich nun selbst zu einem jener Geister geworden, die für alle Zeiten von der Burg der Grafen über den Fischmarkt und weiter zum Buttermarkt wandeln.
Zwar strahlen die großen mittelalterlichen Kirchenbauten eine schier unbesiegbare Kraft und Beständigkeit aus, aber manchmal habe ich den Eindruck, als sei das alles nur ein Bluff, als seien sie in Wirklichkeit den Launen von Mensch und Natur hilflos ausgeliefert. Unfähig, sich zu ihrer Verteidigung auch nur einen Zoll zu bewegen, sind diese Kathedralen ebenso auf unsere nie nachlassende Aufmerksamkeit und Fürsorge angewiesen wie eine Kuh im Stall. Kriege, vor allem Belagerungen, stellen die offensichtlichste Bedrohung dar, doch genauso gefährlich sind die völlig unvorhersehbaren Unglücke, die sich im Laufe der Zeit immer wieder ereignen. Die Buntglasfenster des Aachener Doms waren in gutem Zustand, bis ein gewaltiger Hagelsturm sie im frühen 18. Jahrhundert innerhalb weniger Augenblicke zerstörte. 1857 war Mainz an der Reihe, als die Explosion eines nahen Pulverturms die Fenster des nach jahrelanger Nutzung als französische Kaserne gerade erst wieder restaurierten Doms über die gesamte Innenstadt verteilte. Die Fenster im Dom zu Worms fielen 1921 der verheerenden Explosion in einer Fabrik vor den Toren von Ludwigshafen zum Opfer, bei der rund fünfhundert Menschen getötet wurden und noch fünfzehn Kilometer entfernt sämtliche Fensterscheiben barsten. Die herrliche Grote Kerk in Zwolle besaß einst einen hohen Turm. Nachdem dieser 1669 vom Blitz getroffen worden war, baute man ihn wieder auf, doch 1682 schlug der Blitz erneut ein und ließ eine Seite des Turms in sich zusammenstürzen. Jan Grasdorp, einem örtlichen Maler, war das ungewöhnliche Glück beschieden, gleich beide Katastrophen mitsamt den besorgt dreinblickenden Bürgern der Stadt verewigen zu können. Der Kirchenrat dachte lange über die Ereignisse nach und kam zu dem durchaus nachvollziehbaren Schluss, dass Gott die Gemeinde wohl auf den Anflug von Hochmut hinweisen wolle, der durch einen derart hohen Kirchturm in einer ansonsten flachen Umgebung zum Ausdruck kam. Und so entschied man, den Turm nicht wieder aufzubauen, sondern an seinem früheren Standort einen äußerst hübschen, eleganten Versammlungsraum einzurichten, mit dem Ergebnis, dass Zwolle heutzutage für eine Kirche ohne Turm berühmt ist.
Dies sind nur einige Beispiele für die physische Verwundbarkeit dieser scheinbar für die Ewigkeit bestimmten Bauten – ganz zu schweigen von mutwilligen Grausamkeiten, wie sie etwa Ludwig XIV. beging, als er aus reiner Missgunst einen Teil des Speyerer Doms niederbrennen ließ. In engem Zusammenhang mit Naturkatastrophen steht auch ein weiteres Problem der Kirchen, nämlich die Notwendigkeit, die Beziehung zu den Menschen in ihrer Umgebung aufrechtzuerhalten, um als Institution weiterhin gebraucht zu werden. Gerade über diesen Punkt habe ich mir viele Gedanken gemacht, während ich durch die Kathedrale von Amiens wanderte, deren Ausstrahlung, Größe und Schönheit sie zu einem der wahrscheinlich großartigsten Bauwerke Europas macht. Sie wirkt wie ein einziger riesiger Block, der aus einem Steinbruch geschnitten, auf eine Hügelkuppe versetzt, in Kathedralenform gehauen und zu guter Letzt von zahllosen Männern mit Meißeln ausgehöhlt wurde.
Mit ihrem Bau, der bis zur Fertigstellung etwa ein halbes Jahrhundert dauerte, wurde 1220 begonnen, und das stellt uns vor unbequeme Fragen hinsichtlich des Wesens der westlichen Zivilisation: Seit jener Zeit wurden viele herrliche Gebäude errichtet, aber ich bin mir nicht sicher, ob irgendeines davon besser ist. Die Tatsache, dass ein so überwältigend komplexes, elegantes, ungewöhnliches, riesiges Bauwerk vor so langer Zeit entstehen konnte, spricht unserem unerschütterlichen Fortschrittsglauben Hohn. Aber vielleicht noch wichtiger ist, dass die Kathedrale immer noch genutzt wird, weil sie über die Jahrhunderte hinweg ihre Bestimmung bewahrt hat. Bemerkenswerte Ereignisse fanden dort im Beisein der Könige von Frankreich und der Herzöge von Burgund statt, und auch die Alliierten begingen dort nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ihren großen Dank- und Gedenkgottesdienst. Doch die Ideologien, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kathedrale aufkeimen und wachsen, stellen eine beständige Bedrohung für das Gebäude selbst und die unzähligen kleinen Statuen, Objekte und Gemälde dar, die es mit seiner schützenden Hülle umgibt. Natürlich bedeuten Konflikte stets eine große Gefahr (im Ersten Weltkrieg verkleidete man die Schätze der Kathedrale, die nicht fortgebracht werden konnten, mit Stahlgerüsten und stapelte darauf tonnenweise mit Erde gefüllte Säcke; eine einzige deutsche Granate drang durch das Dach und fiel, ohne zu explodieren, auf den Boden), schlimmere Auswirkungen jedoch haben Überzeugungen. Im 16. Jahrhundert etwa beraubten die protestantischen Bilderstürmer viele Kirchen ihres Schmucks. Ende des 18. Jahrhunderts plünderten die säkularen Revolutionäre sie erneut und machten sie in manchen Fällen gar dem Erdboden gleich. So verschwanden unter anderem die gewaltigen, einst berühmten Kathedralen von Arras und Lüttich, die man nach der Französischen Revolution Stein für Stein abgetragen hat, um damit neue Gebäude zu errichten. In Frankreich selbst, aber auch im Rheinland und in den südlichen Niederlanden, die auf dem Höhepunkt des revolutionären Furors erobert wurden, loderten riesige Scheiterhaufen, auf denen sakrale Kunst aus Jahrhunderten in Flammen aufging. Die Kathedrale von Amiens ist ein spektakulärer Bau, aber ihre Ausstattung besteht zum großen Teil aus tristen, feuchten, vernachlässigten dekorativen Ersatzstücken des 19. Jahrhunderts.
In diesem Kontext kommt mir stets (es folgt ein kurzer geografischer Abstecher) die sensationelle Quwwat-ul-Islam-Moschee bei Delhi in den Sinn. Sie wurde nur wenig früher als die Kathedrale von Amiens erbaut, und zwar aus den Trümmern zerstörter Hindu- und Jain-Tempel, deren dekorative Elemente noch heute zu erkennen sind. Die Moschee ist mittlerweile eine Ruine. Die Region, in der sie steht, wurde nach ihrem Bau erneut für kurze Zeit von Hindus beherrscht, dann von Muslimen, später von Christen, und nun regieren dort wieder mehrheitlich Hindus. Ich erwähne dies, weil die Moschee im Laufe ihrer Geschichte viele Male von der vollständigen Zerstörung bedroht war. Mehr als diese zerschlagenen Überreste konnte man im Grunde nicht erwarten. Was große Teile Westeuropas von den meisten anderen Regionen der Welt unterscheidet, ist die Kontinuität des Glaubens. Selbst die Bedrohung durch die Französische Revolution hatte für Amiens keine gravierenden Folgen, und obwohl die Zahl der Gläubigen in der heutigen Zeit rapide gesunken ist, gibt es weder Stimmen, die eine Zerstörung des Gebäudes fordern, noch eine gesellschaftliche Strömung, die sich gegen die verbliebenen Nutzer wendet. Das macht Westeuropa zu etwas Besonderem, denn es gibt nur wenige Orte auf der Welt, die nie einen vollständigen Umbruch der religiösen und sozialen Ordnung erleben mussten. Ob es nun die Mongolen in Bagdad waren, die Spanier in Mexiko, die Briten in Australien oder eben die Tadschiken in Delhi – das Bestreben, andere Kulturen auszulöschen, war in der menschlichen Geschichte beinahe die Regel. Von der großen, entsetzlichen Ausnahme des periodisch aufflammenden Antisemitismus einmal abgesehen, blieb Westeuropa von dieser Erfahrung weitgehend verschont. Selbst die religiösen Differenzen innerhalb des Christentums schufen, insgesamt betrachtet, eher symbolische Märtyrer, da man nicht danach strebte, sich gegenseitig auszurotten, und die meisten Abweichler dank der fragmentierten politischen Gestalt Westeuropas doch noch irgendwo einen Zufluchtsort fanden.
An Stätten wie der Kathedrale von Amiens treibt mich seit Jahren die Frage um, ob die atemberaubende Zuversicht und Pracht dieses Gotteshauses in einer Kultur wurzeln, in deren Tradition wir auch heute noch stehen, oder ob sich darin eine andere, ältere Kultur ausdrückt. Über dieses Thema wurde bereits endlos gestritten, und wahrscheinlich gibt es auch keine befriedigende Antwort darauf, aber man könnte doch argumentieren, dass die Katastrophen, die im 14. Jahrhundert über weite Teile Europas hereinbrachen, derart extrem waren, dass sie zu einer tiefen Kluft zwischen uns und jener hochmütigen, ja geradezu arroganten Kultur führten, die Amiens hervorbrachte. Im 13. Jahrhundert zeigten sich viele Städte von dem fast schon hysterischen Drang getrieben, ihre gesamten Mittel in den Bau von Kathedralen zu stecken, wie wir sie heute noch in Metz, Straßburg oder Köln vor uns sehen – grenzenlos ehrgeizige Bauten, deren Vollendung Jahrhunderte in Anspruch nahm und eine Gesellschaft voraussetzte, die über Stabilität, Ressourcen und genügend Zeit verfügte. Doch das sollte sich bald ändern.
Jedes Jahrhundert durchlebt seine Katastrophen – sie sind Teil unserer Beziehung zu anderen Menschen und zu unserem Planeten –, doch in der Spanne zwischen den Jahren 1315 und 1420 kam es zu einer außergewöhnlichen Serie fürchterlicher Katastrophen. Was deren Schilderung in einer Erzählung wie dieser problematisch macht, ist die Tatsache, dass sie weder sichtbare Spuren hinterlassen haben, die man betrachten könnte, noch Texte, die sich als Lektüre anbieten. Was blieb, war eine gewaltige unsichtbare Narbe in Gestalt der Millionen von Menschen, die ihr Leben verloren, und jener Millionen, die infolgedessen gar nicht erst geboren wurden. Mehrere Male erlebten die Menschen jener Zeit einen vollständigen Zusammenbruch ihrer Gesellschaft, wie er in Europa seither kaum wieder vorgekommen ist. Natürlich gab es auch ruhige Phasen, einzelne Generationen mögen Glück gehabt haben oder die Bewohner eines bestimmten Dorfes verschont geblieben sein, aber insgesamt muss das Gefühl verbreitet gewesen sein, man sei von gewaltigen Umwälzungen bedroht, die weit mächtiger waren als eine herannahende Armee.
Der erste Schlag erfolgte in Gestalt einer Hungersnot, die weite Teile Nordwesteuropas erfasste und von der dreißig Millionen Menschen betroffen waren. Natürlich wusste jeder, dass man Getreide für schlechte Zeiten vorrätig halten sollte, doch jahrelang waren die Ernten gut gewesen, und über Generationen hinweg wäre jemand, der längerfristige Vorratshaltung anmahnte, zu Recht als närrischer Schwarzmaler abgetan worden. Zudem bestand bei der Lagerung von Getreide stets die Gefahr, dass es verfaulte oder von Schädlingen gefressen wurde. Im 13. Jahrhundert waren die Bevölkerungszahlen stark gestiegen, und die Bauern sicherten die Versorgung von immer mehr Menschen, indem sie jedes halbwegs fruchtbare Stück Land zum Anbau nutzten. Es ist nur ein Detail (und ziemlich überflüssig obendrein), aber es kann nicht schaden, zu erwähnen, dass dies in den nördlichen Regionen der Niederlande und den angrenzenden deutschen Gebieten durch sogenannte Plaggendüngung erfolgte. Dazu mischte man eine Art künstlichen Boden aus Tierdung, Heidewurzeln, Waldabfällen, Grassoden und Torf zusammen, der auf kargen Böden ausgebracht wurde, wo er nach mehreren Jahren »anwuchs« und so die unfruchtbare Erde in Ackerland verwandelte, ein Vorgang, der nicht nur Geduld, sondern auch Glück erforderte. Längst hatten sich die Menschen an das gute Wetter gewöhnt und planten entsprechend. Im Jahr 1315 scheint es jedoch ununterbrochen geregnet zu haben – fast so, als spielte jemand ohne Sinn und Verstand an den Reglern herum. Felder wurden überschwemmt, Flüsse traten über die Ufer, und ein Großteil der Ernten verfaulte, bevor sie eingebracht werden konnten. Für Getreidebrand, Schimmel, Mehltau und Rostpilz schuf die anhaltende Feuchtigkeit geradezu paradiesische Bedingungen. Schaf- und Rinderseuchen dezimierten die Herden. Es war das goldene Zeitalter des Großen Leberegels – wenn schon für niemanden sonst. In Xanten wurden bereits in diesem ersten Jahr verzweifelte Reliquienprozessionen organisiert, überall in der Stadt beteten und fasteten die Menschen. 1316 lag der Getreidepreis bis zu achtmal höher als üblich. Einige wenige verdienten ein Vermögen, aber das machte die Sache nur noch schlimmer, da Spekulanten die knappen Vorräte in die hungernden Küstenregionen schafften, wo die Preise förmlich explodiert waren, und so den Mangel im Landesinnern verschärften. Deiche brachen, die Ochsen, die man zum Pflügen brauchte, starben. Einige der Viehseuchen waren hoch ansteckend und absolut widerlich – ich kann mich beim besten Willen nicht dazu durchringen, die Symptome zu beschreiben. Sommerliche Hagelstürme vernichteten die wenigen Ernten, die es fast bis zur Reife geschafft hatten, und die Winter waren so kalt, dass das Eis bis weit in die Nordsee hineinreichte und das letzte verbliebene Vieh erfror.
Da die Not anhielt, waren sämtliche Hilfsmöglichkeiten irgendwann erschöpft. Es gibt keine verlässlichen Zahlen, doch ein Gelderländer Chronist bezeichnete 1315 als das Jahr des »großen Sterbens«. Aus einem erhaltenen Register der Stadt Ypern geht hervor, dass zwischen Mai und Oktober 1316 von rund fünfundzwanzigtausend Einwohnern dreitausend starben. In Brügge wurden in jenem Sommer zwischen hundertsechzehn und hundertsechsundfünfzig Leichen pro Woche aus den Häusern und von den Straßen geholt. Da diese Städte mittlerweile von Flüchtlingen überlaufen waren, ist unklar, ob es sich bei den Toten um Einheimische oder Zugezogene handelte. Nachdem sämtliche Herden verendet waren, aßen die Menschen das Fleisch halbwilder Schweine, bis auch deren Population 1316 aufgezehrt war. Die Siedepfannen, in denen das zur Konservierung von Fleisch und Fisch benötigte Salz produziert wurde, stellten den Betrieb ein, da die Kristalle bei der hohen Luftfeuchtigkeit nicht trocknen konnten – woraufhin auch der Salzpreis in die Höhe schoss. Die Menschen suchten ihr Heil im Osten und wanderten in die vergleichsweise dünn besiedelten Habsburgergebiete und nach Polen aus (viele der »deutschen« Siedler waren also in Wirklichkeit flämischer oder niederländischer Herkunft).
In Flandern waren zwischen zehn und dreißig Prozent der Gehöfte verlassen, die Klöster standen leer. Alles Essbare war aufgebraucht. Wie es scheint, hörte man über mehrere Jahre in ganz Nordeuropa kein Vogelzwitschern mehr. Niemand vermochte über die akute Panik hinaus zu planen, die jeden Tag erfüllte, und selbst so robuste Tiere wie Gänse wurden eher geschlachtet als zur Eierproduktion am Leben erhalten. Wohlhabende Städte wie Brügge, die über einen Zugang zum Meer verfügten, konnten Getreide aus Südwestfrankreich importieren, doch weiter im Landesinnern blieb die Lage katastrophal, bis sich das Blatt nach einem letzten bitterkalten Winter 1317/18 allmählich wendete.
Hungersnöte kamen in Westeuropa nur sehr selten vor. Ein Löwener Chronist wusste noch Jahrhunderte später zu berichten, dass 1146, 1197, 1316 und 1530 Hunger geherrscht hatte, weil sich diese Phasen tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hatten. Es gab noch einige Nachbeben (ein Aachener Chronist spricht für 1322 von »Unwettern, Hagelstürmen und Epidemien«), doch insgesamt scheint sich die Region rasch wieder erholt zu haben. Bis jene zweite verheerende Katastrophe über sie hereinbrach, die als der Schwarze Tod bekannt werden sollte. Diese schreckliche Kombination tödlicher Krankheiten wurde erstmals 1333 in China erwähnt, 1346 erreichte sie Sizilien, 1348 Frankreich und Deutschland. Einer realistischen Schätzung zufolge fielen fünfundvierzig bis fünfzig Prozent der gesamten europäischen Bevölkerung der Pest zum Opfer, wobei der Anteil im Mittelmeerraum wahrscheinlich höher lag als weiter nördlich. Und natürlich hatte niemand die geringste Ahnung, wie diese Krankheit tötete oder warum.
Die Ursache vermutete man im Zorn Gottes, wahlweise auch in der fatalen Konjunktion dreier Planeten. Abgeschiedenere Dörfer, etwa in der Schweiz, oder dünner besiedelte Landstriche in Flandern und den Niederlanden kamen entweder ungeschoren davon oder wurden komplett entvölkert. Rund zwei Drittel der jüdischen Gemeinden starben aus. Im Sommer 1349 erreichte die Pest Tournai, wo ihr als einer der Ersten der Bischof erlag. Es folgten ein paar ruhige Wochen, aber dann geriet die Epidemie völlig außer Kontrolle und raffte rund dreißig Prozent der Stadtbevölkerung dahin. Die Ratsherren versuchten, die Stadt moralisch zu reinigen, indem sie Flüche, Glücksspiel, die Arbeit am Sonntag sowie das Zusammenleben unverheirateter Paare verboten – »jedermann erwartete Tag für Tag den Willen des Herrn«, schrieb der Chronist Gilles Li Muisis. Kein Geld durfte für Trauerkleidung ausgegeben werden, die Glocken sollten nicht läuten. Die berühmten Würfelmacher der Stadt – noch so ein absurdes Detail – machten keine Geschäfte mehr und verlegten sich auf das Schnitzen kleiner Gegenstände, die zum Beten genutzt werden konnten.
Die Sozialstrukturen scheinen vollständig zusammengebrochen zu sein. Roma, Aussätzige, Pilger und Fremde wurden umgebracht, sobald man ihrer ansichtig wurde. 1349 wurden in Straßburg rund zweitausend Juden getötet, weitere Massaker folgten im Verlauf des Sommers in Mainz und Köln. Flagellantenprozessionen zogen durch die Straßen, und in den Kirchen wurden feierliche Messen abgehalten, bei denen sich vermutlich zahllose Gemeindemitglieder unwissentlich ansteckten. Schließlich flaute die Pest ab, aus welchem Grund, kann niemand mit Gewissheit sagen, aber eine plausible Theorie lautet, die Krankheit habe sich nicht weiter verbreitet, nachdem ihre Hauptüberträger, die Ratten, selbst daran gestorben waren. Alle späteren Ausbrüche der Pest (die zwar auf lokaler Ebene noch grausam wütete, aber nie wieder den gleichen europaweiten Schrecken verbreitete wie beim ersten Mal) scheinen auf die Einschleppung neuer Ratten aus Asien zurückzugehen. Die Auswirkungen des Schwarzen Todes waren verheerender als alles, was Europa in seiner Geschichte jemals erleben musste – schlimmer noch als die Folgen der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert. Ganze Regionen wurden durch die Epidemie entvölkert, und es dauerte Jahrhunderte, bis sie sich davon erholt hatten. Hundert Jahre später waren immer noch etwa vierzigtausend deutsche Ortschaften unbewohnt.
Zum Abschluss dieses deprimierenden Kapitels dürfen auch die beiden Elisabethenfluten nicht unerwähnt bleiben. Die Niederlande verdanken ihre Gestalt dem Zusammenspiel aus mehr oder weniger katastrophalen Sturmfluten und dem Bemühen, gegen diese in Zukunft gewappnet zu sein. Dadurch entstand entlang der Küsten eine Landschaft, die auf jemanden, der so etwas nicht gewohnt ist (mich zum Beispiel), einen geradezu furchterregenden Eindruck macht. Wenn ich Felder sehe, die je nach Jahreszeit so glatt und eben erscheinen wie die grüne oder braune Oberfläche eines Gewässers, und mir dann in Erinnerung rufe, dass diese Felder unterhalb des Meeresspiegels liegen, fällt es mir schwer, nicht in Panik zu geraten. Einer der Nachteile beim Besuch der Scheldemündung, die zu meinen absoluten Lieblingsorten gehört, besteht darin, dass ich – wenn ich nicht gerade beim Anblick der riesigen Schiffe ekstatisch auf der Stelle hüpfe – das Dorf Breskens sehen muss, wie es sich dort im Schatten eines hohen Deichs zusammenkauert, während die Nordsee wie eine bedrohliche Migräne mehrere Meter über ihm lauert. Offensichtlich hält der Deich, aber wenn ich dort leben sollte, würde ich vermutlich über einen Umzug nachdenken.
Die gewaltigen Sturmfluten, die in den Niederlanden wiederholt für verheerende Schäden sorgten, und die gigantischen Gegenmaßnahmen, mit denen die Menschen das Flusswasser kanalisierten und das Meerwasser zurückzuhalten versuchten, sind der Stoff für eines der großen Epen der europäischen Geschichte. Die Zuiderzee, die in etwa dem heutigen Ijsselmeer entspricht, war das Ergebnis mehrerer mittelalterlicher Katastrophen, die große Landstriche verschlangen – tatsächlich verdankt Amsterdam seinen bedeutenden Hafen dem Umstand, dass sich das Meer Stück für Stück dorthin vorgearbeitet hat. Den Sturmfluten des ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts ist dagegen gar nichts abzugewinnen, denn sie waren durch und durch zerstörerisch. 1375, 1404 und 1421 brachen sie über Flandern, Zeeland und Holland herein, die beiden letzten seltsamerweise jeweils am 19. November, weshalb sie nach der heiligen Elisabeth von Thüringen benannt wurden, deren Namenstag an diesem Tag gefeiert wird. Auf eine Art und Weise, die man sich damals nur als Gnade oder Strafe Gottes erklären konnte, blieben manche Dörfer verschont, während andere in den Wassermassen untergingen. Die Wucht der zweiten Flut war so groß, dass die Inseln, die bis dahin in der Scheldemündung gelegen hatten (Überreste des alten Doggerland), in die Nordsee hinausgerissen wurden und für immer verschwanden. Herzog Johann Ohnefurcht befahl daraufhin die Errichtung eines Deichs entlang der Küste südlich der Scheldemündung, von dem Teile bis heute erhalten sind (der Graaf Jansdijk). Niemand weiß genau, wie viele Menschen bei diesen drei Sturmfluten ums Leben kamen – insgesamt waren es sicher mehrere Zehntausend. Die letzte große Sturmflut in den Niederlanden, die 1953 auf Zeeland traf und aufgrund der Schäden und des vernachlässigten Zustands der Deiche nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als fünfzehnhundert Einwohner der Provinz das Leben kostete, macht deutlich, wie hoch das Risiko zu jeder Zeit gewesen ist. Fast erscheinen all die Festungen, Stadtmauern und sonstigen Bollwerke im restlichen Westeuropa nur wie ein blasser Abglanz jener Bauten von schwindelerregenden Dimensionen, mit denen eine ganze Küstenlinie gegen die See befestigt wird. Ein bis weit ins Hinterland reichendes, schier endloses System aus Schleusen und Deichen reguliert parallel dazu Europas größtes Flussdelta und hält Ströme im Zaum, die in früheren Zeiten durch die Gegend gepeitscht wären wie eine Schlange, die man am Schwanz gepackt hält. Ich weiß noch, dass ich einmal im weit im Landesinnern gelegenen Zutphen darüber klagte, wie eintönig die Ijssel dort aussehe, im Grunde sei sie nichts weiter als eine überdimensionierte Gosse – doch diese Eintönigkeit dient einem äußerst sinnvollen Zweck.
Vor vielen Jahren besuchte ich mit einem Teil meiner Familie das burgundische Städtchen Beaune. Den Nachmittag verbrachten wir im Hôtel-Dieu, einem berückend schönen Hospitalkomplex aus dem 15. Jahrhundert, der von Nicolas Rolin, dem Kanzler Philipps des Guten, und seiner Frau Guigone de Salins gestiftet worden war. Unser Baby bekam an jenem Abend Fieber, und wir mussten mit ihm ins städtische Krankenhaus. Kaum war klar, dass wir Engländer waren, machte das Klinikpersonal sich einen Spaß daraus, so zu tun, als verstünde niemand ein Wort von dem, was wir sagten, obwohl meine Schwester Französisch studiert und mehrere Jahre in Frankreich verbracht hatte. Noch heute erinnere ich mich an den seltsamen Kontrast zwischen meiner Angst um das Baby, dessen Gesicht sich inzwischen dunkelrot verfärbt hatte, und dem grotesken Verhalten des Personals, das unter theatralischen Gesten (Grimassen, weit aufgerissene Augen, langsames Nicken, erhobene Handflächen) nur Bruchstücke von dem herauspickte, was in der Sprache Racines über die Lippen meiner Schwester kam. Gleichzeitig überkommt mich ein Anflug von schlechtem Gewissen, wenn ich daran zurückdenke, wie wütend ich darüber war, dass wir bereits das Jahr 1994 schrieben. Zwischen 1443 und 1980 nämlich hätten wir mit einem kranken Baby auf schnellstem Wege in das magische Hôtel-Dieu eilen können. Wir wären bei Rogier van der Weydens großartigem Jüngsten Gericht links abgebogen, durch die Tür getreten, hinter der haubentragende Nonnen Weinmolken zubereiteten und Salben mischten, und dann weiter zu dem herrlichen großen Saal gerannt, dessen Fliesenboden mit der Devise der Rolins geschmückt war: »Du einzige«. Es frustrierte mich, dem zeitlich so nah und doch so fern zu sein – eine jahrhundertealte Institution war ein paar Jahre zu früh geschlossen worden, und jetzt saßen wir in diesem klinisch sauberen modernen Raum, während die Unterhaltung unausweichlich auf das beliebte französische Thema »Rektalzäpfchen« zusteuerte.
Das Hôtel-Dieu in Beaune ist etwas Besonderes, weil die prächtigen Bauten der Burgunder ansonsten weitgehend verschwunden sind. Als Kaiser Karl V. im 16. Jahrhundert einen Großteil der Territorien der Herzöge erbte, ließ er nicht nur deren Lieblingspalast in Hesdin dem Erdboden gleichmachen, sondern verlegte gleich auch noch die ganze Stadt um mehrere Kilometer. In Brüssel führt eine der kurioseren Besichtigungstouren in die Kellergewölbe unter dem heutigen Königspalast, wo kürzlich die Überreste des alten, 1731 vollständig niedergebrannten Coudenberg-Palasts freigelegt wurden. Die Aula Magna, der große Bankettsaal Herzog Philipps des Guten, einst das prunkvollste Bauwerk Europas, liegt da unten, allerdings nur noch in Gestalt eines Stücks Kachelboden, das in den Keller gefallen sein muss, als das ganze Gebäude einstürzte. Einige der großartigen Kunstwerke, die mit der Herrschaft der Burgunder verbunden sind, blieben bis heute erhalten, dazu ein paar Waffen und einige stark restaurierte Bürgerbauten (die Rathäuser von Löwen, Brüssel und Middelburg), doch im Großen und Ganzen wurde ihre dominante Präsenz entweder durch ihre habsburgischen Nachfolger oder durch zahllose Wellen von Gewalt und schierem Pech erfolgreich ausgelöscht. Trotzdem prägten ihre Taten Europas Zukunft. Noch heute leben wir in einer Welt, die durch ihre Gier, ihr Glück und ihren rücksichtslosen Ehrgeiz gestaltet wurde.
Die vier Herzöge – Philipp der Kühne, Johann Ohnefurcht, Philipp der Gute und Karl der Kühne – herrschten etwas mehr als ein Jahrhundert, von 1363 bis 1477. In vielerlei Hinsicht war ihre Macht reine Illusion, denn sie lag nicht in eigener Stärke begründet, sondern verdankte sich hauptsächlich der Schwäche ihrer Gegner. Deren Tiefpunkt war wohl 1398 erreicht, als Philipp der Gute in Reims einem Treffen des römisch-deutschen Königs Wenzel mit Karl VI. von Frankreich beiwohnte, bei dem Wenzel (dessen Autorität ohnehin kaum über den Stuhl hinausreichte, auf dem er saß) betrunken war und Karl wieder einmal einen Anfall von Wahnsinn erlitt.
Das Reich der Herzöge erstreckte sich in nordsüdlicher Ausdehnung ebenso weit wie das einstige Lotharingien. Obwohl die einzelnen Gebiete, aus denen sich das Herzogtum zusammensetzte, im Laufe der Zeit dem deutschen beziehungsweise dem französischen Einfluss entglitten waren, unterstanden die Burgunder in ihren Territorien als Vasallen auch weiterhin entweder dem deutschen Kaiser oder dem französischen König. Allerdings ignorierten sie diese Verpflichtungen kurzerhand und hielten an der erfolgversprechenden Strategie fest, ihre Rivalen (und nominellen Lehnsherren) einfach weiter in deren Trunksucht und Wahnsinn zu bestärken. Auch die Verwüstung Frankreichs durch englische Truppen kam ihnen sehr gelegen. Doch kaum hatten sich die beiden Monarchien – im Osten unter den Habsburgern, im Westen unter Karl VII. und Ludwig XI. – wieder gefangen und die Franzosen die Engländer endgültig vertrieben, war der Spaß für die Burgunder vorbei.
Philipp der Kühne, der Erste in der Reihe, war als vierter Sohn König Johanns II. in vielerlei Hinsicht ein ganz gewöhnlicher französischer Prinz. Dass die französischen Monarchen eine übernatürliche Macht und Größe besessen hätten, ist zwar schwer zu glauben, wurde von ihnen aber von jeher behauptet. Nach ihrem Selbstverständnis hatte Gott ihnen die Herrschaft übertragen, und so thronten sie nun im Mittelpunkt eines weiten, komplizierten Netzes aus weltlichen und kirchlichen Beziehungen, über die alles im gesamten Königreich geregelt wurde. Die Dynastie der Kapetinger, die seit 987 auf dem Thron saß, verfügte im Grunde nur über eine einzige Kernkompetenz: die Fähigkeit, mindestens einen Sohn zu zeugen, der das Erwachsenenalter erreichte. Das verlieh ihnen mit der Zeit ein erstaunliches Gewicht, waren sie doch weder ehemalige Wikingerpiraten wie die normannischen Glücksritter in London noch peinliche gewählte Mandatsträger wie der römisch-deutsche König oder der Papst. Nachdem Philipp II. August seine englischen, normannischen, flämischen und deutschen Widersacher 1214 in der Schlacht bei Bouvines Mores gelehrt hatte, bezeichneten er und seine Nachkommen sich nicht mehr als Könige der Franken (was inzwischen doch ein wenig altmodisch und nach Stammesfürstentum klang), sondern als Könige von Frankreich. Die Frage, innerhalb welcher Grenzen dieses »Frankreich« liegen solle, bestimmte von da an die westeuropäische Geschichte – und wurde womöglich erst mit der Rückgabe des Saarlands an die Bundesrepublik 1957 und der Unabhängigkeit Algeriens 1962 endgültig geklärt.
Macht und Prestige der französischen Monarchie führten dazu, dass der Mensch auf dem Thron weit weniger wichtig war als die Funktion des Herrschers. Doch nach einem sensationellen Lauf, bei dem mehr als drei Jahrhunderte lang Sohn auf Sohn gefolgt war, geriet der Motor der Kapetinger ins Stottern. Ludwig X. brachte es 1316 lediglich zu einem Sohn, und dieser Johann I., der erst nach Ludwigs Tod zur Welt kam, starb bereits fünf Tage nach der Geburt. Dadurch verlagerte sich die Nachfolge zurück in die Generation seines Vaters, und Ludwigs ältester Bruder übernahm als Philipp V. das Zepter. Allerdings hatte auch er keine männlichen Nachkommen, woraufhin der nächste Bruder, gleichermaßen ohne Sohn, als Karl IV. in die Bresche sprang. Diese Abfolge extrem kurzer Regierungszeiten (vier Könige in nicht einmal vierzehn Jahren) bedeutete einen höchst verschwenderischen Umgang mit dem heiligen Öl, das der Heilige Geist einst freundlicherweise geliefert hatte, vor allem aber war es eine Katastrophe für die weitere Erbfolge. Denn nach Karls Tod konnte – mit gleichermaßen plausiblen Argumenten auf beiden Seiten – sowohl Philipp von Valois Anspruch auf den Thron erheben (der nächste, wenn auch nicht gerade sehr nahe Verwandte in direkter männlicher Linie) als auch der Sohn Isabellas, der Schwester der drei königlichen Brüder. Dieser war allerdings nicht nur unglücklicherweise der aktuelle König von England, sondern ausgerechnet auch noch der psychopathische Teenager Eduard III. Am Ende trug Philipp den Sieg davon und bestieg als Philipp VI. den Thron. Aber von da an wurde die Debatte um widerstreitende Erbfolgeprinzipien aus der Schublade gekramt, sobald eine der beiden Seiten gerade in der passenden Stimmung war, was letztlich zum Hundertjährigen Krieg, zum finanziellen Ruin Frankreichs und zur endgültigen Vertreibung der Engländer vom Kontinent führte. Offiziell gaben die englischen Könige den Anspruch auf den französischen Thron erst 1802 auf.
Die erste Seeschlacht des Hundertjährigen Krieges, die Schlacht von Sluis im heutigen Seeländisch-Flandern, fand 1340 in einer Bucht statt, in der man heute irritierenderweise festen Ackerboden unter den Füßen hat. Es ist ein äußerst merkwürdiges Gefühl, in einem Bus durch endlose Felder zu fahren und sich dabei vorzustellen, dass hier einst Hunderte Kriegsschiffe voller Bogenschützen gegeneinander kämpften. Die Schlacht endete mit einem derart triumphalen Sieg der Engländer, dass jede Hoffnung der Franzosen auf eine Invasion der Insel dahin war; mindestens sechzehntausend französische Seeleute und Soldaten kamen ums Leben, 190 von 213 Schiffen wurden zerstört oder erobert. 1346 standen sich Engländer und Franzosen in der Schlacht bei Crécy an der Somme erneut gegenüber, und auch diesmal wurden Letztere vernichtend geschlagen (was sich bei der gleichermaßen verheerenden Schlacht von Azincourt 1415 noch einmal auf eigentümliche Weise wiederholen sollte). Der Graf von Flandern wurde ebenso getötet wie der Herzog von Lothringen. Calais fiel an die Engländer und wurde für mehr als zwei Jahrhunderte eine englische Garnison.
Philipp der Kühne, der vierte Sohn König Johanns II. von Frankreich, trat erstmals 1356 bei der Schlacht von Poitiers in Erscheinung, die ebenso katastrophal verlief wie die vorherigen. Tatsächlich endete sie sogar noch schlimmer, denn Johann und der vierzehnjährige Philipp wurden gefangen genommen und Philipp begleitete seinen Vater als Geisel nach London, wo er sich die Zeit beim Schachspiel mit dem Schwarzen Prinzen vertrieb. Nachdem Frankreich im ruinösen Frieden von Brétigny den gesamten Südwesten des Landes vollständig und auf Dauer an England abgetreten hatte, kehrten die beiden nach Frankreich zurück, und der König belehnte Philipp mit dem Herzogtum Burgund, einem großen und reichen Territorium mit der Hauptstadt Dijon. Zeit seines Lebens sah sich Philipp nicht nur mit den erbärmlichen Zuständen in Frankreich konfrontiert, das von bewaffneten Banden und der Pest heimgesucht wurde, sondern auch mit einem verheerenden Mangel an königlicher Autorität, den er geschickt für sich zu nutzen wusste. Er war nie ein großer Feldherr. 1369 sollte er eine Invasion Englands befehligen, doch das Unternehmen scheiterte unter tragikomischen Umständen: Philipp versammelte ein großes Heer und ließ in der Normandie den Bausatz für eine hölzerne Burg anfertigen (mit kilometerlangen Wänden, so die reichlich unglaubwürdige Behauptung). Die Einzelteile wurden auf Schiffen über den Ärmelkanal transportiert, aber eines der Schiffe wurde von den Engländern aufgebracht, und ohne die verlorenen Teile wurde der gigantische Bausatz unbrauchbar. In London rissen die Engländer derweil in Erwartung eines französischen Angriffs Vororte nieder, um ein freies Schussfeld zu schaffen, und riefen den Notstand aus. Doch die Wochen verstrichen, ohne dass etwas geschah. Philipp, der bibbernd im kalten, regnerischen Sluis saß, schaute auf einen immer stürmischeren winterlichen Ärmelkanal hinaus und blies die Invasion schließlich ab. Damit waren die Franzosen für die nächsten Jahre erneut in die Rolle der Verteidiger gedrängt.
Inzwischen kennt kaum noch jemand den Namen Sluis. Ich bin in Kent aufgewachsen, und es kommt mir seltsam vor, in einer niederländischen Kleinstadt zu stehen, die so sehr an Kent erinnert – die gleiche gewundene Hauptstraße, in der die Leute den lieben langen Tag alle möglichen Kleinigkeiten einkaufen, von Weiden gesäumte Gewässer, auf denen Enten schaukeln, und eine ähnliche Vorliebe für Kuchen. Doch was heute ein kleiner Marktflecken im Landesinnern ist, bildete früher den schwer befestigten Zugang zu jenem Fluss, der Brügge zu einem der bedeutendsten Häfen der Welt machte. Man kann es sich heute kaum noch vorstellen, weil der Ort so verschlafen wirkt, seit der Fluss versandete, aber seinerzeit waren Brügge, Gent und Ypern der Motor, der Flandern zu einer der dynamischsten Regionen in ganz Europa werden ließ. Die beste Entscheidung, die Philipp von Burgund in seinem ganzen Leben getroffen hat, war, nach dem überraschenden Tod Philipps von Rouvres dessen erst zwölfjährige Witwe Margarete von Flandern zu heiraten, die eines Tages die Grafschaft Flandern, die Freigrafschaft Burgund (seit jener Zeit Franche-Comté genannt), das Artois, Nevers und Rethel erben würde. Da Flandern französischer Lehnshoheit unterstand, arrangierte der soeben aus englischer Gefangenschaft entlassene König Johann II. in Windeseile die Hochzeit seines Sohnes mit der künftigen Erbin – wobei er allerdings zunächst durch einige hinterhältige Intrigen beim Papst noch Eduard III. ausstechen musste, der Margarete mit einem seiner eigenen Söhne verheiraten wollte.
In Flandern herrschten zu jener Zeit erbitterte Auseinandersetzungen, die sich vor allem auf Gent konzentrierten, das revolutionäre Kräfte in einen Stadtstaat verwandeln wollten, wie man sie in ganz Europa kannte (beispielsweise die Hansestädte – Heimat der »Oosterlinge«, so der hübsche Name, mit dem flämische Chronisten die Kaufleute der Hanse bezeichneten). Gents Pech war, dass es geografisch gerade noch zu Frankreich gehörte. Hätte die Stadt am anderen Scheldeufer gelegen, wäre sie Teil des Heiligen Römischen Reichs gewesen und hätte sich mehr oder weniger unbehelligt zu einem flämischen Hamburg entwickeln können. So aber riefen Philipp der Kühne und sein Schwiegervater Ludwig von Male ein französisches Heer zu Hilfe, das sich durch die Region nach Norden kämpfte, Ypern und Poperinge einnahm und sogar Brügge gefährlich zu werden drohte. Bei Kämpfen im Waasland entkam ein Teil der Genter Truppen über die Deiche, indem sie mit ihren Piken wie beim Stabhochsprung darüber hinwegsetzten. Als seine Verbündeten nach und nach fielen, blieb Gent nichts anderes übrig, als sich einer offenen Feldschlacht zu stellen, für die städtische Milizen im Allgemeinen schlecht ausgerüstet sind. Ihre Anführer gaben die Parole aus: »Selbst wenn sie alle Flamen hinrichten, werden noch unsere ausgedörrten Gebeine den Kampf fortsetzen.« Im dichten Nebel wurde ihr Heer 1382 in der Schlacht bei Roosebeke nördlich von Passendale vollständig vernichtet. Der englische König – im Geiste auch König von Frankreich –, der Gent Unterstützung zugesagt hatte, sah nun die Gelegenheit gekommen, seine Autorität geltend zu machen. Im darauffolgenden Jahr eroberte ein aus Calais entsandtes englisches Heer Dünkirchen und belagerte anschließend Ypern. Diese Belagerung war eines der größten Desaster der Zeit. Zwar konnte Ypern nicht eingenommen werden, aber die Stadt und ihr gesamtes Umland waren danach in einem solchen Ausmaß verwüstet, dass sie sich nie mehr davon erholten. Ypern, einst so bedeutend wie Gent und Brügge, wurde zu einem unscheinbaren Marktflecken und ist es bis heute geblieben. Zum Abzug zwang die Engländer schließlich der große Gleichmacher und Zerstörer aller Pläne: die unkontrollierbare Ruhr. Wütend und unter gegenseitigen Beschuldigungen zogen sie sich in einem heillosen Durcheinander erst nach Cassel und dann weiter an die Küste zurück. Und ein englischer Chronist schrieb bedauernd: »Gott hat uns einen Tritt in den Hintern verpasst.«
3 Ein hübsches Beispiel für einen Gleichklang in den westeuropäischen Sprachen: Poeljemarkt auf Niederländisch, Marché des Poulets auf Französisch und Poultry Market auf Englisch.