Bei den Recherchen für meine Bachelorarbeit über Zolas Nana und Dreisers Schwester Carrie stellte ich verblüfft fest, dass Wissenschaftler die Idee einer weiblichen Flâneuse weitgehend verworfen hatten. »Die Erfindung einer Flâneuse steht nicht zur Debatte«, schreibt Janet Wolff in einem vielzitierten Essay zu dem Thema; »eine solche Figur wurde durch die Geschlechtertrennung des neunzehnten Jahrhunderts verunmöglicht.«1 Die große feministische Kunsthistorikerin Griselda Pollock vertrat die gleiche Ansicht: »Es gibt keine weibliche Entsprechung zu dieser, ihrem Wesen nach männlichen Figur, dem Flâneur: Eine weibliche Flâneuse gibt es nicht und kann es nicht geben.«2 »Der urbane Beobachter […] wurde als ausschließlich männliche Figur gesehen«, notiert Deborah Parsons. »Die Möglichkeiten und Aktivitäten der Flânerie waren vorwiegend das Privileg begüterter Männer, und somit verstand es sich von selbst, dass der ›moderne Lebenskünstler‹ notwendigerweise ein Mann aus der bürgerlichen Schicht war.«3 In ihrem Buch Wanderlust: Eine Geschichte des Gehens wendet sich Rebecca Solnit von ihren »ausschweifenden Philosophen, Flâneuren und Bergsteigern« ab, um die Frage zu stellen, »warum Frauen nicht auch draußen herumlaufen.«4
Den meisten Kritikern zufolge war diese Frau auf der Straße höchstwahrscheinlich eine Prostituierte. Also las ich weiter und stieß auf zwei Probleme mit dem Konzept der Flâneuse als Hure: Erstens gab es Frauen auf der Straße, die nicht ihren Körper verkauften, und zweitens haftete dem Auf- und Abgehen dieser Frauen nichts von der Freiheit eines Flâneurs an; Prostituierte konnten sich nicht frei in der Stadt bewegen. Ihre Bewegungen waren streng reguliert: Mitte des neunzehnten Jahrhunderts schrieben alle möglichen Gesetze vor, wann und zu welchen Uhrzeiten sie Männer ansprechen durften. Für ihre Kleidung galten strenge Reglementierungen, sie mussten sich bei der Stadt registrieren lassen und regelmäßig bei der Gesundheitspolizei vorstellig werden. Mit Freiheit hatte das nichts zu tun.
Die meisten leicht zugänglichen Quellen, aus denen man erfährt, wie das Straßenbild im neunzehnten Jahrhundert ausgesehen hat, sind männlich und sehen die Stadt auf ihre eigene Weise. Wir dürfen ihre Zeugnisse nicht als objektive Wahrheit ansehen; ihnen fielen bestimmte Dinge auf, über die sie dann Vermutungen anstellten. Baudelaires geheimnisvolle und verführerische passante, die er in seinem Gedicht »Einer Vorübergehenden« verewigt, wurde oft als Prostituierte interpretiert, doch für ihn war sie nicht einmal eine echte Person, sondern nur seine lebendig gewordene Fantasie:
Es tost betäubend in der strassen raum.
Gross schmal in tiefer trauer majestätisch
Erschien ein weib ihr finger gravitätisch
Erhob und wiegte kleidbesatz und saum
Beschwingt und hehr mit einer statue knie.
Ich las · die hände ballend wie im wahne
Aus ihrem auge (heimat der orkane):
Mit anmut bannt mit liebe tötet sie.5
Baudelaire hat kaum Zeit, sich ein Urteil über sie zu bilden: Sie ist zu schnell (und gleichzeitig statuenhaft). Er will nicht darüber nachdenken, wer sie in Wirklichkeit sein könnte, woher sie kommt, wohin sie geht. Für ihn ist sie die Hüterin eines Geheimnisses und verfügt über die Macht, zu verzaubern oder zu vergiften.
Natürlich hängt der Grund dafür, dass die Flâneuse in der Geschichte des Durch-die-Stadt-Streifens keine Berücksichtigung findet, mit den gesellschaftlichen Bedingungen zusammen, unter denen Frauen im neunzehnten Jahrhundert lebten – der Zeit, in der unser Begriff vom Flâneur entstand. Die früheste Erwähnung eines Flâneurs stammt aus dem Jahr 1585, möglicherweise entlehnt vom skandinavischen Wort flana, »eine Person, die umherstreift«. Eine Person – nicht notwendigerweise ein Mann. Durchgesetzt hat sich das Wort allerdings erst im neunzehnten Jahrhundert, und diesmal hat es ein Genus: 1806 nahm der Flâneur die Form des »M. Bonhomme« an, eines Lebemanns aus vermögenden Verhältnissen, der über genug Zeit verfügt, um nach Belieben durch die Stadt zu streifen, in Cafés zu sitzen und die verschiedentlichen Bewohner der Stadt bei Arbeit und Spiel zu beobachten. Er interessiert sich für Klatsch und für Mode, aber nicht besonders für Frauen. In einem Wörterbuch von 1829 ist ein Flâneur ein Mann, der gern untätig ist, der den Müßiggang mag. Balzacs Flâneur gestaltete sich in zwei Grundformen aus: im gewöhnlichen Flâneur, der gern ziellos durch die Straßen streift, und im künstlerischen Flâneur, der die Wahrnehmung der Stadt in seine Arbeit einfließen lässt. Dies sei die unglücklichere Form, wie Balzac 1837 in seinem Roman Cäsar Birotteaus Größe und Niedergang schrieb, genauso oft ein verzweifelter Mann wie ein Müßiggänger.
Baudelaires Flâneur ist ein Künstler, der »Zuflucht in der Menge« sucht; Vorbild dafür war sein Lieblingsmaler Constantin Guys, der selbst durch die Stadt flanierte und vielleicht in Vergessenheit geraten wäre, hätte Baudelaire ihn nicht berühmt gemacht. Edgar Allen Poes Kurzgeschichte »Der Mann in der Menge« wirft weitere Fragen auf: Ist der Flâneur derjenige, der folgt, oder dem gefolgt wird? Mischt er sich in die Menge und entschwindet, oder tritt er zurück und schreibt auf, was er sieht? Auf Französisch sind die Wörter für »ich bin« und »ich folge« identisch: je suis. »Sag mir, wem du folgst, und ich sage dir, wer du bist«, schrieb André Breton in Nadja. Selbst für den männlichen Flâneur steht die flânerie nicht notwendigerweise für Freiheit und Muße; in Flauberts Version der flânerie spiegelt sich seine eigene soziale Unsicherheit wieder.6 Im frühen neunzehnten Jahrhundert wird der Flâneur mit einem Polizisten gleichgesetzt. In Québec, erzählt mir ein Freund, der dort einige Zeit lebte, sei ein Flâneur eine Art Trickbetrüger.
Als Beobachter und gleichzeitig Beobachteter ist der Flâneur ein verführerisches, aber leeres Gefäß, eine nackte Leinwand, auf die verschiedene Epochen ihre jeweiligen Sehnsüchte und Ängste projizierten. Er erscheint, wenn man ihn braucht, und zwar in der Form, in der man ihn braucht.7 Unsere Vorstellung vom Flâneur enthält viele Widersprüche, was uns womöglich gar nicht bewusst ist, wenn wir von ihm sprechen. Wir glauben zu wissen, was wir meinen, aber dem ist nicht so.
Das Gleiche könnte man über die Flâneuse sagen. Natürlich ist es eine relevante Frage, zu welchen Räumen Frauen Zugang hatten, und von welchen sie ausgeschlossen waren. 1888 schrieb Amy Levy: »Die weibliche Clubgängerin, die Flâneuse in der St James Street mit dem Schlüssel in der Tasche und der Brille auf der Nase, bleibt ein Geschöpf der Fantasie.«8 Schön und gut. Aber es gab zu allen Zeiten viele Frauen in der Stadt, und eine Menge Frauen, die über Städte schrieben, Aufzeichnungen über ihr Leben festhielten, Geschichten erzählten, fotografierten, Filme drehten und sich auf alle möglichen Arten mit der Stadt auseinandersetzten – einschließlich Levy selbst. Die Freude daran, durch die Stadt zu streifen, ist Männern und Frauen gleichermaßen zu eigen. Zu behaupten, es könne keine weibliche Version des Flâneurs geben, bedeutet, die Möglichkeiten, wie Frauen mit der Stadt in Kontakt stehen, auf die zu beschränken, wie Männer mit der Stadt interagiert haben. Wir können über gesellschaftliche Gepflogenheiten und Einschränkungen diskutieren, aber wir können nicht negieren, dass Frauen da waren; wir müssen versuchen zu begreifen, was es für sie bedeutet hat, sich in der Stadt zu bewegen. Vielleicht liegt die Antwort darin, Frauen nicht in einen männlichen Begriff einpassen zu wollen, sondern den Begriff selbst neu zu definieren.
Wenn wir in der Zeit zurückreisen, war da schon immer eine Flâneuse, die auf der Straße an Baudelaire vorüberging.
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Liest man nach, wie Frauen im neunzehnten Jahrhundert über sich selbst sprachen, stellt sich tatsächlich heraus, dass bürgerliche Frauen in der Öffentlichkeit unentwegt Gefahr liefen, der eigenen Tugend und dem eigenen Ruf zu schaden; sich allein in die Öffentlichkeit zu wagen, bedeutete, Schimpf und Schande zu riskieren.9 Frauen der Oberschicht zeigten sich in offenen Kutschen im Bois de Boulogne oder unternahmen, in Begleitung, Gesundheitsspaziergänge im Park. (Eine Frau im geschlossenen Wagen erregte ein gewisses Misstrauen, wie die berühmte Kutschenszene in Madame Bovary belegt.) Die großen gesellschaftlichen Risiken für eine alleinstehende junge Frau im späten neunzehnten Jahrhundert kommen deutlich in den achtbändigen Tagebüchern von Marie Bashkirtseff zum Ausdruck (auf Englisch und gekürzt erschienen unter dem unglaublichen Titel I Am the Most Interesting Book of All (Ich bin das interessanteste Buch der Welt)). Die Tagebücher berichten über ihre Entwicklung von der verwöhnten jungen russischen Aristokratin zur erfolgreichen Künstlerin, deren Arbeiten im Pariser Salon ausgestellt werden – nur zweieinhalb Jahre, nachdem sie ernsthaft anfängt, Malerei zu studieren –, und die mit fünfundzwanzig an Tuberkulose stirbt. Im Januar 1879 schrieb sie in ihr Tagebuch:
Ich sehne mich nach der Freiheit, alleine auszugehen: zu kommen und zu gehen, im Jardin des Tuileries auf einer Bank zu sitzen und ganz besonders, in den Jardin du Luxembourg zu gehen, mir Schaufensterdekorationen anzusehen, in Kirchen und Museen zu gehen und am Abend durch die alten Straßen zu schlendern. Das wünsche ich mir. Ohne diese Freiheit kann man kein großer Künstler werden.10
Marie hatte vergleichsweise wenig zu verlieren. Sie wusste, dass ihr ein früher Tod bevorstand – warum hätte sie nicht allein herumlaufen sollen? Doch sie hegte noch bis einen Monat vor ihrem Tod die Hoffnung, wieder gesund zu werden, und während sie mit Freuden Schande über ihre Familie gebracht hätte, hatte sie gleichzeitig die kulturelle Abneigung gegen junge Frauen, die sich allein auf der Straße zeigten, so tief verinnerlicht, dass sie sich schon für den bloßen Wunsch danach schämte. In ihr Tagebuch schrieb sie, selbst wenn sie sich den gesellschaftlichen Strukturen widersetzen würde, wäre sie nur »halb frei, denn eine Frau, die sich herumtreibt, ist töricht.«
Mit ihrer Entourage im Schlepptau lief sie dennoch ganze Tage mit ihrem Notizbuch in der Hand durch die Armenviertel von Paris und skizzierte alles, was sie sah. Aus dieser Recherche sollten zahlreiche Gemälde hervorgehen, darunter Das Treffen von 1884, das jetzt im Musée d’Orsay in Paris hängt und eine Gruppe Gassenjungen an einer Straßenecke abbildet. Einer von ihnen hält ein Vogelnest in den Händen, die anderen beugen sich mit jenem jungenhaften Interesse darüber, das sich als völlige Gleichgültigkeit tarnt.
Und Marie hat einen Weg gefunden, sich selbst in das Bild einzubringen. Im Hintergrund, rechts von den Jungen, in einer anderen Straße, sehen wir ein Mädchen von hinten; ein geflochtener Zopf fällt ihr auf den Rücken, sie entfernt sich von der Gruppe, womöglich allein, obwohl sich das nicht mit Gewissheit sagen lässt, weil das Bild hier abgeschnitten ist. Wir sehen nicht einmal ihren rechten Arm. Für mich ist das der schönste Teil an diesem Gemälde: Maries Signatur befindet sich am unteren rechten Bildrand, unter dem Mädchen. Wir dürfen wohl vermuten, dass sich Marie hier selbst auf die Leinwand gebracht hat: in Gestalt eines Mädchens, das vielleicht allein davongeht und die Jungen sich selbst überlässt.
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Das Argument gegen die Existenz der Flâneuse ist manchmal mit der Frage der Sichtbarkeit verknüpft. »Für den Flâneur ist es entscheidend, praktisch unsichtbar zu sein«, schreibt Luc Sante, um sein Verständnis des Flâneurs als ein männliches, und nicht weibliches zu verteidigen.11 Diese Anmerkung ist zugleich unfair und schmerzlich zutreffend. Wie gern wären wir so unsichtbar wie es Männer sind. Nicht wir selbst machen uns im Sinne Santes sichtbar, im Sinne der Aufregung also, die eine Frau auslösen kann, wenn sie sich allein in der Öffentlichkeit bewegt; es ist der Blick des Flâneurs, durch den eine Frau, die sich in seine Reihen begeben wollte, zu sichtbar wird, um unbemerkt vorbeizugehen. Wenn wir aber so sehr ins Auge fallen, warum wurden wir dann aus der Geschichte der Stadt herausgeschrieben? Es ist an uns, uns wieder in dieses Bild hineinzumalen, und zwar auf eine Art, die uns gerecht wird.
Wenngleich Frauen aus Marie Bashkirtseffs Schicht bis ins späte neunzehnte Jahrhundert weitgehend mit dem eigenen Zuhause assoziiert wurden, hatten Frauen der Mittel- und Unterschicht reichlich Gründe, sich auf der Straße aufzuhalten, sei es zum Spielen oder um einer Arbeit nachzugehen, als Ladenmädchen, in einer Wohltätigkeitsorganisation, als Dienstmädchen, Näherin, Wäscherin oder eine von vielen anderen Beschäftigungen auszuüben. Und wenn sie das Haus verließen, war das nicht nur zweckdienlicher oder beruflicher Art; in seinen farbenfrohen Gemälden, die das Leben von Frauen der Arbeiterschicht darstellten, zeigt David Garrioch, dass die Straße in gewisser Hinsicht ihnen gehörte. Sie betrieben die meisten Stände auf den Pariser Märkten, und auch zu Hause saßen sie gemeinsam draußen vor den Türen ihrer Wohnungen und Häuser und taten das, was Jane Jacobs zweihundert Jahre später »ein Auge auf die Straße haben« nennen würde: Sie »hatten ein Auge darauf, was vor sich ging, und waren oftmals die Ersten, die bei Streitigkeiten eingriffen und dazwischengingen, um sich prügelnde Männer zu trennen. Ihre Bemerkungen über die Kleidung und das Verhalten der Passanten stellte eine Form sozialer Kontrolle dar.«12 Sie wussten besser als jeder andere, was in ihrem Viertel geschah.
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts konnten in Städten wie London, Paris und New York Frauen aller Schichten den öffentlichen Raum nutzen. Die wachsende Verbreitung der Kaufhäuser in den 1850er und 1860er-Jahren trug viel dazu bei, dass sich das Bild von Frauen in der Öffentlichkeit normalisierte; in den 1870er-Jahren führten bereits einige Reiseführer »Orte in London« auf, »an denen Damen in Ruhe zu Mittag essen konnten, wenn sie einen Tag lang ohne Begleitung eines Gentleman zum Einkaufen in der Stadt waren.«13 James Tissots Reihe Fünfzehn Porträts der Pariserin aus den 1880er-Jahren zeigt Frauen bei allen möglichen Betätigungen in der Stadt: in einem Park sitzend (in Begleitung von Maman), bei einem Künstler-Dinner mit ihren Ehemännern (in ihren Korsetts, so steif wie die Karyatiden im Hintergrund) oder auf einem Streitwagen, verkleidet als römische Krieger im Circus, mit einem Strahlenkranz auf dem Kopf wie die Freiheitsstatue. Sein Gemälde The Shop Girl von 1885 zieht den Betrachter direkt in das Bild hinein: Das namensgebende Ladenmädchen, groß und schlank, in nüchternes Schwarz gekleidet, hält uns zur Begrüßung oder zum respektvollen Abschied die Tür auf. Auf dem Tisch liegt ein Durcheinander von Seidenstoffen, ein Band ist zu Boden geglitten. Das Gemälde bringt die Frau in der Öffentlichkeit in Verbindung mit dem harten Kommerzialismus des Marktes, doch es suggeriert auch lockere Sitten, ein ungeordnetes Privatleben und intimere Orte, an denen Bänder zu Boden gleiten.
In den 1890er-Jahren gab es auf einmal die neue Frau, die mit ihrem Fahrrad überallhin fuhr, wo es ihr gefiel, und junge Mädchen ermöglichten sich durch Arbeit in Geschäften und Büros ihre Unabhängigkeit. Seit sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Kino und andere Freizeitaktivitäten durchsetzten und seit dem massenhaften Eintritt von Frauen in die Arbeitswelt während des Ersten Weltkriegs, ist die Anwesenheit von Frauen auf den Straßen sichtbar. Möglich war dies jedoch nur durch das Aufkommen semi-öffentlicher Orte wie Cafés und Teestuben, an denen Frauen allein Zeit verbringen konnten, ohne belästigt zu werden. Und natürlich durch den intimsten aller öffentlichen Orte: die Damentoilette.14 Ein weiterer Schlüsselfaktor für die urbane Unabhängigkeit der Frau waren respektable, bezahlbare Pensionen für Unverheiratete; oft genug war es schwierig, beide Eigenschaften in ein und derselben Einrichtung vereint zu finden. Wie Jean Rhys’ Romane belegen, bewegten sich viele Frauen am Rande der Ehrbarkeit in heruntergekommenen Häusern, deren Moralvorstellungen direkt proportional zum Grad ihrer Schäbigkeit anstiegen. Je zwielichtiger ein Etablissement war, umso strenger die patronne. Rhys’ alleinstehende Frauen in der Stadt liegen im ewigen Zwist mit den Vermieterinnen ihrer Absteigen.
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Die Namen, die eine Stadt ihren Sehenswürdigkeiten – und insbesondere ihren Straßen – gibt, spiegeln die Werte dieser Stadt wider und zeigen, wie sich diese im Laufe der Zeit verändern. In dem Bemühen, den öffentlichen Raum zu säkularisieren (und angeblich zu demokratisieren), wurden Straßennamen, die einst weibliche Heilige, Herrscherinnen und Frauenfiguren der Mythologie geehrt hatten, in der Moderne durch säkulare, demokratische Helden ersetzt – allesamt Männer. Intellektuelle, Wissenschaftler, Revolutionäre.15 Doch in solcher Unvoreingenommenheit können jene übersehen werden, denen das kulturelle oder geschlechtsspezifische Kapital fehlt, sich in einer Kultur durchzusetzen, was dazu führt, dass Frauen mit dem überholten Regime identifiziert und mit »dem Privaten, dem Traditionellen und Anti-Modernen« assoziiert wurden.16
Wenn sie doch vorkommen (und das ist nicht oft der Fall, in Edinburgh gibt es doppelt so viele Statuen von Hunden wie von Frauen), werden Frauen dekorativ oder idealisiert dargestellt, in Stein gehauen als Allegorien oder Sklavinnen. Der Obelisk an der Pariser Place de la Concorde, wo der König guillotiniert wurde (und die Königin, und Charlotte Corday, Danton, Olympe de Gouges, Robespierre und Desmoulins und Tausende andere, deren Namen die Geschichte vergessen hat), ist von Frauenstatuen umringt, die verschiedene französische Städte repräsentieren. Das Vorbild für James Pradiers Skulptur von Straßburg soll entweder Victor Hugos Geliebte Juliette Drouet oder Flauberts Geliebte Louise Colet gewesen sein.17 Deshalb ist diese Statue für mich nicht nur eine Allegorie auf Straßburg, sondern steht für alle Geliebten von großen Schriftstellern und Künstlern, die selbst zeichneten und malten und vielleicht nie aus dem Schatten ihrer Liebhaber heraustreten konnten, obwohl sie, abstrahiert als eine von zwei Staaten umkämpfte Stadt, am helllichten Tag mitten in Paris sitzen.18
1916 besprach Virginia Woolf London Revisited von E. V. Lucas für die Literaturbeilage der Times. Seine Darstellung von Londons Vergangenheit und Gegenwart umfasst eine Auflistung der Denkmäler der Stadt. Doch ein bestimmtes verschweigt er, und Woolf fragt: »Warum wird die Frau mit der Amphore vor den Toren des Foundling Hospitals nicht erwähnt?«19 Noch heute kniet sie dort mit ihrem Krug, an einem modern aussehenden Trinkbrunnen auf einer Verkehrsinsel gegenüber von Coram’s Fields.20 Der Bildhauer ist unbekannt. Die Statue, eine Frau, bekleidet mit einer Toga oder Tunika, die Haare in offenen Locken herabfallend, wird manchmal »Die Wasserträgerin« oder »Die Frau aus Samaria« genannt, nach jener Frau, die an einem Brunnen mit Jesus sprach und ihn als Propheten erkannte.
In den Straßen einer jeden großen Stadt wird einem, wenn man darauf achtet, eine weitere Art Frau auffallen, die unbewegt dasteht. Die französische Regisseurin Agnès Varda produzierte in den 1980er-Jahren einen Kurzfilm mit dem Titel Les dites-cariatides (Die sogenannten Karyatiden), in dem sie mit ihrer Kamera durch Paris streift, um nach Beispielen für eine architektonische Kuriosität zu suchen: die Karyatiden, jene steinernen Frauen, die als lastentragende Säulen die großen Gebäude der Stadt stützen. Man findet sie überall in Paris. Sie treten jeweils zu zweit oder zu viert auf, manchmal auch in deutlich größeren Gruppen, je nach Prunkfaktor des Gebäudes. Manchmal sind es auch Männer. Dann nennt man sie Atlanten, nach Atlas, der die Welt auf seinen Schultern trägt. Die männlichen Karyatiden, die Varda beobachtet, werden mit schwellenden Muskeln dargestellt, während die Frauen alle rank und schlank sind und mit müheloser Eleganz posieren: Falls ihnen das Bauwerk, das sie tragen müssen, zu schwer ist, würden wir es ihnen nie ansehen.
Andererseits sehen wir sie eigentlich nie richtig an. Vardas Film endet mit einer enorm großen Karyatide im dritten Arrondissement. Sie ist so groß, dass sie an einem Gebäude in der belebten Rue Turbigo über drei Stockwerke reicht. Varda fragt Anwohner nach deren Meinung zu dieser Frau, doch die hatten die Figur noch nicht einmal bemerkt. Wie der Schriftsteller Robert Musil feststellte, ist es das Wesen eines Denkmals, unbemerkt zu bleiben. »Sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden, ja geradezu, um die Aufmerksamkeit zu erregen; aber gleichzeitig sind sie durch irgendetwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert.« Und dennoch nehmen wir sie auf einer unterschwelligen Ebene wahr. In ihrem Buch Monuments & Maidens mutmaßt Marina Warner, würde jemand die Statue des Gesetzes (allegorisch als Frau dargestellt) von der Place du Palais-Bourbon entfernen, würden wir alle irgendwie spüren, dass etwas fehlt, selbst wenn wir nicht wüssten, was. Wir sind stärker auf unsere Umgebung eingestimmt als uns bewusst ist.
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Auch heute noch hat die Flâneuse mit ihrer Sichtbarkeit zu kämpfen, obwohl sie sich in der Stadt inzwischen mehr oder weniger frei bewegen kann.
Heutzutage findet man eher einen politisch motivierten Nachfahren der baudelaireschen flânerie in den Städten, einen, der sich eher der Methode des dérive oder »Treibenlassens« bedient. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erfand eine Gruppe radikaler Dichter und Künstler, die sich Situationisten nannten, die »Psychogeografie«, bei der aus ziellosem Umherstreifen ein Treibenlassen wurde und aus losgelöster Beobachtung eine Kritik des Nachkriegsurbanismus. Urbane Entdecker nutzten das dérive, um das emotionale Kraftfeld der Stadt zu kartografieren und zu erkunden, wie sich Architektur und Topografie zu »psychogeografischen Konturen« verbinden.21 Robert Macfarlane, ein Schriftsteller und Fußgänger, der weniger in der Stadt als auf dem Land unterwegs ist, fasst die Methode zusammen: »Man klappt einen Stadtplan von London auf, stellt ein Glas mit der Öffnung nach unten darauf und umfährt den Rand mit einem Stift. Dann nimmt man die Karte, geht raus in die Stadt und folgt diesem Kreis, wobei man sich so nah wie möglich an die gezeichnete Linie hält. Unterwegs hält man das Erlebnis mit einem Medium seiner Wahl fest: Film, Foto, Handschrift, Tonband. Man fängt die textlichen Abschwemmungen der Straße auf, die Graffitis, die Markennamen auf Verpackungsmüll, Gesprächsfetzen. Man liest Spuren, protokolliert den Datenstrom, achtet auf zufällige Metaphern, hält Ausschau nach visuellen Reimen, Zufällen, Analogien, Familienähnlichkeiten, den wechselnden Launen der Straße.«22 Der Ausdruck »Psychogeografie« wird von vielen von Macfarlanes Zeitgenossen (manchmal ironisch) übernommen oder aber abgelehnt: Will Self verwendete den Terminus als Überschrift für einen Essay. Ian Sinclair sah das Wort skeptisch, da es vereinnahmt worden und zu einem »sehr hässlichen Markenzeichen« geworden sei. Er bevorzuge den Ausdruck »tiefe Topografie«, den er von Selfs gutem Freund Nick Papadimitriou hat (dieser spricht davon, auf bestimmten Spaziergängen eine festgelegte Umgebung »eingehend zu studieren«).
Wie man sie auch nennen will, diese Erben der Situationisten im ausgehenden letzten Jahrhundert haben jedenfalls Baudelaires beschränkte Vorstellung von der Frau auf der Straße geerbt. Self erklärte die Psychogeografie – nicht ohne eine gewisse persönliche Enttäuschung – zur Männerarbeit und verfestigte damit das Bild des Fußgängers in der Stadt als das einer Figur mit männlichen Privilegien.23 Self ging so weit, die Psychogeografen als eine »Burschenschaft« zu beschreiben: »mittelalte Männer in Gore-Tex, bewaffnet mit Kamera und Notizbüchern, die sich auf Vorortbahnsteigen die Stiefel platttreten, die Betreiber von Teeständen in moosigen Parks höflich bitten, unsere Thermoskannen aufzufüllen, und nach den Zielorten von Überlandbussen fragen […] und sich mit schwellender Prostata über die Glasscherben hinter einer stillgelegten Brauerei am Stadtrand bücken.«
Er klingt tatsächlich gar nicht so viel anders als Louis Huart, der 1841 den Flâneur definiert: »Gute Beine, gute Ohren, gute Augen, […] das sind die grundlegenden physischen Eigenschaften, die ein Franzose mitbringen muss, um in den Club der Flâneure aufgenommen zu werden, sobald wir ihn gegründet haben werden.«24 Die großen urbanen Schriftsteller, die großen Psychogeografen, von denen man am Wochenende im Observer liest: Sie alle sind Männer, und sie schreiben stets über die Arbeiten anderer Männer und schaffen so einen reifizierten Kanon schreibender, spazierengehender Männer.25 Als wäre ein Penis eine Art Wanderstab, ein notwendiges Anhängsel, das man zum Gehen braucht.
Ein Blick in das psychogeografische Fanzine Savage Messiah, entworfen von der Grafikerin Laura Oldfield Ford, zeigt, dass dem eigentlich nicht so ist; Ford geht zu Fuß durch ganz London, sie zieht es von der Innenstadt hinaus in die Vororte, und überall skizziert sie, was sie sieht. Ihre Skizzen enthüllen eine Hauptstadt inmitten von Ballard’schen Vororten: Wohnblöcke, verlassene Behelfsbauten, Anker in einem Meer aus Unrat, Abfall und Zorn. Selbst Woolf, Großbritanniens schicklichste Modernistin und Lieblingszielscheibe männlicher Literaten, die sie niedermachten, um ihre Männlichkeit aufzupolieren, streifte gern durch die hässlichen Ecken von London. Eines Tages im Jahr 1939 verschlug es sie in die Nähe der Southwark Bridge, sie »sah eine Treppe, die zum Fluß hinunterführte. Ich ging sie hinunter – unten ein Seil. Entdeckte das Themseufer, unter den Lagerhallen – übersät mit Steinen, Drahtstücken […] Sehr glitschig; die Lagerhallenmauern verkrustet, voller Unkraut, abgewetzt. Bei Flut müssen sie unter Wasser stehen.«26
Es wäre schön, ja ideal, wenn wir nicht nach Geschlechtern unterteilen müssten – Spaziergänger und Spaziergängerinnen, Flâneure und Flâneusen –, doch die Narrative des Gehens lassen die weiblichen Erfahrungen zu sehr vermissen.27 Sinclair räumt ein, die von ihm bewunderten Arbeiten der tiefen Topografie sähen den Spaziergänger als eine typisch britische Figur: den Naturbeobachter.28 Diese Art der Interaktion mit der Welt interessiert mich nicht sonderlich. Ich mag die bebaute Umgebung, ich mag Städte. Nicht ihre Grenzen oder die Orte, an denen sie zu Nicht-Städten werden. Städte selbst. Ihre Zentren. Ihre vielfältigen Viertel, Bezirke, Gegenden. Und es waren die Stadtzentren, in denen Frauen an Macht gewannen: indem sie sich mitten hineinstürzten und Orte betraten, die nicht für sie vorgesehen waren. Orte, an denen sich andere (Männer) bewegen konnten, ohne Anlass zu einem Kommentar zu geben. Das ist der grenzüberschreitende Akt. Eine Frau braucht nicht in Gore-Tex herumzustapfen, um subversiv zu sein. Sie braucht einfach nur vor die Haustür zu gehen.
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Fast zwei Jahrzehnte nach diesen ersten Experimenten in der Flâneuserie laufe ich immer noch zu Fuß durch Paris, nachdem ich durch New York, Venedig, Tokio und London gelaufen bin, wo ich, der Arbeit oder der Liebe wegen, vorübergehend gewohnt habe. Es ist eine Gewohnheit, und sie lässt sich schwer ablegen. Warum gehe ich zu Fuß? Weil ich es mag. Ich mag den Rhythmus, ich mag, dass mir mein Schatten auf dem Bürgersteig immer ein kleines Stück voraus ist. Ich mag es, jederzeit stehen bleiben zu können, wenn mir danach ist, mich an eine Hauswand zu lehnen und eine Notiz in mein Tagebuch zu schreiben oder eine E-Mail zu lesen oder eine Nachricht zu verschicken, und dass die Welt währenddessen stillsteht. Paradoxerweise erschafft das Gehen für mich die Möglichkeit des Stillstands.
Gehen ist Kartografieren mit den Füßen. Es hilft, sich die Stadt zusammenzusetzen, Viertel miteinander zu verknüpfen, die sonst separate Entitäten geblieben wären, verschiedene Planeten, die fest, aber über eine große Entfernung miteinander verbunden sind.
Ich mag es, Übergänge zu betrachten und die Grenzen zwischen den Vierteln zu entdecken. Gehen hilft mir, mich zu Hause zu fühlen. Es bereitet mir ein gewisses Vergnügen zu sehen, wie gut ich eine Stadt durch meine Spaziergänge bereits kennengelernt habe; dabei streife ich durch verschiedene Viertel, einige, die ich einmal sehr gut kannte, andere, die ich vielleicht schon länger nicht mehr besucht habe, als würde man jemanden neu kennenlernen, dem man mal auf einer Party begegnet ist.
Manchmal gehe ich spazieren, weil mir etwas im Kopf herumgeht und mir das Gehen hilft, meine Gedanken zu ordnen. Solvitur ambulando, wie man sagt.
Ich gehe, weil es mir ein Gefühl der Verortung verleiht – oder zurückgibt. Der Geograf Yi-Fu Tuan sagt, Räume werden zu Orten, wenn wir ihnen mittels Bewegung eine Bedeutung einschreiben, wenn wir sie als etwas betrachten, das wahrgenommen, erfasst, erfahren werden kann.29
Ich gehe, weil es in gewisser Hinsicht wie lesen ist. Wir bekommen Einblicke in das Leben und die Gespräche anderer Menschen, die nichts mit uns selbst zu tun haben; wir können sie belauschen. Manchmal ist es zu voll, und manchmal sind die Stimmen zu laut. Aber man ist immer in Gesellschaft. Wir sind nicht allein. Wir gehen Seite an Seite mit den Lebenden und den Toten durch die Stadt.
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Nachdem ich einmal angefangen hatte, nach der Flâneuse Ausschau zu halten, fand ich sie überall.
Ich entdeckte sie an Straßenecken in New York, sah sie aus Türen in Tokio kommen, Kaffee trinken an einem Bistrotisch in Paris, ich sah sie am Fuß einer Brücke in Venedig oder auf einer Fähre in Hongkong.
Sie geht irgendwohin oder kommt von irgendwoher; sie ist der Inbegriff des Dazwischen-Seins.
Vielleicht ist sie Schriftstellerin, vielleicht Künstlerin, vielleicht Sekretärin oder Au-pair-Mädchen. Vielleicht ist sie arbeitslos. Vielleicht arbeitsunfähig. Vielleicht ist sie Ehefrau oder Mutter oder völlig ungebunden. Wenn sie müde ist, nimmt sie vielleicht den Bus oder die Bahn. Aber meistens geht sie zu Fuß. Sie lernt die Stadt kennen, indem sie durch ihre Straßen streift, ihre dunklen Ecken erkundet, hinter Fassaden blickt und in geheime Innenhöfe vordringt. Sie nutzt die Stadt als Bühne und als Versteck, um Ruhm und Reichtum zu finden oder die Anonymität, um sich aus Unterdrückung zu befreien oder anderen Unterdrückten zu helfen, um ihre Unabhängigkeit zu erklären, um die Welt zu verändern oder sich von ihr verändern zu lassen.
Ich habe viele Schnittstellen zwischen ihnen gefunden; diese Frauen haben alle übereinander gelesen und voneinander gelernt, und ihre Lektüre bildet mit der Zeit ein so weit verzweigtes Netz, dass sie sich einer Katalogisierung entzieht. Die Porträts, die ich hier zeichne, belegen, dass die Flâneuse mehr ist als nur ein weiblicher Flâneur, sie steht für sich allein, ist eine beachtenswerte und inspirierende Gestalt.30 Sie geht auf Reisen, sie geht an Orte, die nicht für sie bestimmt sind; sie konfrontiert uns damit, wie die Wörter Zuhause und Zugehörigkeit gegen Frauen verwendet werden. Sie ist ein entschlossenes, kreatives Individuum mit einem tiefen Gespür für das schöpferische Potenzial einer Stadt und die befreiende Kraft eines guten Spaziergangs.
Die Flâneuse existiert, und zwar überall dort, wo wir vorgeschriebene Wege verlassen und uns neue Gebiete erschließen.