PARIS

PROTEST

Zehntausend Bürgerinnen mit guten Musketen konnten das Hôtel de Ville erzittern lassen!

– Gustave Flaubert, Lehrjahre des Herzens

Es ist 1848. Wieder einmal ist in Paris ein revolutionäres Fieber ausgebrochen, ein Aufruhr der Entrüstung, der sich über Europa ausbreiten wird, und diesmal zahlt sich das Gambit der Rebellen tatsächlich aus. Am 24. Februar dankt König Louis Philippe ab und flieht mithilfe seines amerikanischen Zahnarztes nach England. Die Königin und er sind als Bürgerliche verkleidet und nennen sich »Mr und Mrs Smith«. Die Menschen verschwenden keine Zeit, sie reißen das Palais des Tuileries nieder, plündern, brandschatzen und zerstören. Sie setzen sich der Reihe nach auf den Thron, um ihn dann aus dem Fenster zu werfen und an dem Ort zu verbrennen, an dem sechzig Jahre zuvor die Bastille gestanden hatte. Zwei Tage später wird die zweite Republik ausgerufen.1

Während des Aufstands am 15. Mai – ein Tag, der noch aus einem anderen Grund wichtig werden wird, aber dazu kommen wir später – nahm George Sand, die inzwischen im ganzen Land berühmt ist, an einer Kundgebung für die Unabhängigkeit Polens teil. Auf dem Weg dorthin kam sie an einer Menschenmenge vorbei; die Leute hörten einer Frau zu, die in einem Fenster stand und eine Rede schwang. »Wer ist diese Frau?«, fragte sie jemanden in der Menge. »George Sand«, bekam sie als Antwort.

Den Leichenzug für die bei dem Aufstand gestorbenen Männer sah sie nicht vom Balkon ihrer winzigen Wohnung aus, sondern bei François Guizot, dem kürzlich abgesetzten Premierminister. Ihrer Adoptivtochter Augustine berichtete sie: »An diesem Morgen sah ich von Guizots Fenster aus den Trauerzug vorbeiziehen, während ich mich mit Lamartine unterhielt. Er war sehr schön, schlicht und berührend […] vierhunderttausend Menschen zwischen der Madeleine und der Julisäule; kein einziger Polizist, kein einziger Wachtmeister, und doch so viel Ordnung, Anstand, Ruhe und gegenseitige Rücksichtnahme, dass niemand dem anderen auf den Fuß trat oder den Hut zerdrückte. Es war bewundernswert. Die Pariser sind die besten Menschen der Welt.«2

Sand war hingerissen von der Fête de la Fraternité, die am 20. April stattfand: eine riesige Demonstration, die in einem Feuerwerk am Arc de Triomphe gipfelte. In einem Brief an ihren Sohn nannte sie es »das gewaltigste Ereignis, das die Menschheit je hervorgebracht hat!« »Andererseits«, bemerkt ihre Biografin Belinda Jack trocken, »haben große, friedliche Menschenmengen Sand schon immer zu Übertreibungen verleitet.« Ich kann das nachvollziehen, da mich der Ausdruck von Solidarität immer zutiefst bewegt. Es ist ungemein beeindruckend, wenn Menschen in der Öffentlichkeit zusammenkommen, um für eine gemeinsame Idee einzustehen. Aber es ist auch gefährlich, wie Sand erkannte.

Die Demonstration zur Unterstützung Polens an jenem 15. Mai begann an der Bastille und bewegte sich zur Place de la Concorde. Ein Teil der Gruppe überquerte den Fluss und zog zum tempelartigen Palais Bourbon, wo die Assemblée Nationale tagte (und dies bis heute tut). Dort erklärte die Splittergruppe die Versammlung für aufgelöst und marschierte weiter zum Hôtel de Ville (nicht gerade kurze Distanzen), wo sie erfolglos versuchten, eine Regierung der Aufständischen zu errichten. Die Rädelsführer wurden umzingelt und ins Gefängnis geworfen.

Sand war bestürzt. Sie sei drei Stunden lang mitmarschiert, berichtete sie dem Polizeipräfekten Caussidière, ebenso wie viele andere in der Menge in dem Glauben, es handele sich um eine Demonstration zur Unterstützung Polens. »Niemand hätte die Szenen der Gewalt und des Chaos’ vorhersehen können, die in der Nationalversammlung ausbrachen«, sagte sie. Die Mehrheit der Assemblée Nationale war für eine Resolution zur Unterstützung Polens gewesen; das gefiel der Menge, die daraufhin überrascht war, eine gewalttätige Untergruppe in ihren Reihen vorzufinden, die »in keiner Weise« den »Willen der Mehrheit« ausdrückte. Doch sie registrierte ebenso das allzu enthusiastische, ja sadistische Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten. Zum Schluss warnte sie Caussidière davor, »Ordnung, diesen förmlichen Begriff aus der Vergangenheit, mit Misstrauen zu verwechseln, das Menschen verbittert und provoziert. Man kann die Ordnung leicht aufrechterhalten, ohne individuelle Freiheiten anzugreifen. Sie haben kein Recht, das Volk zu unterwerfen.«3 Sand wusste, dass man Fanatikern misstrauen musste, ganz egal, unter welcher Fahne sie marschierten.

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Seit ich in Paris lebe, ist mir permanent bewusst, dass die Menschen hier unter den richtigen Umständen in Rebellion ausbrechen können. In einem Text für den New Yorker über die Unruhen im Mai 1968 beschreibt die kanadische Kurzgeschichtenautorin Mavis Gallant ihre Ambivalenz gegenüber den Ereignissen jenes Mais, ihre Bewunderung für den Mut der Studierenden, gedämpft durch ihre Unduldsamkeit gegen die »Pseudo-Belagerungs-Psychose«, der sich die Bevölkerung hingibt und so eine Krisensituation erschafft, die sich über Monate hinweg nicht beruhigt. Es ist eine universelle Wahrheit: Eine soziale Bewegung ist immer zu gleichen Teilen aufrichtig und selbstmythisierend. Aber die Bereitschaft der Pariser, aufzustehen und auf die Straße zu gehen, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen und den Protest sichtbar zu machen, hat mich immer beeindruckt; unter anderem deshalb wollte ich dort leben. Ich kann nicht behaupten, vom Wunsch nach Mythisierung frei zu sein, aber mir ist bewusst, dass das eine gefährliche Sache ist.

»Straßen sind die Wohnstätte der Gemeinschaft«, schrieb Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk. Auf der Straße können wir zusammen für eine Idee einstehen. Demonstrieren zu gehen, ist eine instinktive Reaktion auf das Gefühl, dass einem Unrecht widerfährt, wenn man verzweifelt ist oder das Bedürfnis hat, Stellung zu beziehen. Als Teil einer Gruppe fühlt man sich stärker, es ist ein gutes Gefühl. Demonstrieren ist ein politischer Akt, aber auch ein sozialer. Es gibt so wenige Gelegenheiten, zur gleichen Zeit das Gleiche zu tun, und wenn es passiert, haben wir das Gefühl, Teil von etwas zu sein, das größer ist als wir selbst.

Nachdem das neunzehnte Jahrhundert von Revolutionen durchsetzt und das zwanzigste von Kriegen, Streiks und Studentenprotesten bestimmt war, etablierte sich die Pariser manifestation schließlich zu einer institutionalisierten Form des Widerstands und ersetzte das wilde Errichten von Barrikaden durch langsames politisches Gehen. Die Orte, an denen die Demonstrationen noch heute beginnen oder enden, sind sehr bezeichnend: Linke Demonstrationen verlaufen entlang der Orte von revolutionärer oder republikanischer Bedeutung wie der Place de la Bastille, der Place de la Nation oder der Place de la République, vor allem im Osten von Paris. Gelegentlich schlängeln sie sich am linken Seineufer entlang und enden vor der Assemblée Nationale. Die Demonstrationen der Rechten hingegen starten oder enden in den betuchten Vierteln des siebten Arrondissements oder an der lateinischen Kirche an der Station Maubert-Mutualité im fünften Arrondissement.

Die manif ist für die Menschen hier ein Initiationsritus – sie werden als Kinder von ihren Eltern mitgenommen – und Teil des Erwachsenwerdens in der Schulzeit: Den Unterricht zu schwänzen, um protestieren zu gehen, ist die Rebellion der französischen lycéens. An der Uni laufen sie auch bei einigen Demos mit, und als Erwachsene gehen sie dann noch etwa einmal im Jahr auf die Straße. Manifs sind durchorganisierte Angelegenheiten und repräsentieren meist die Interessen mehrerer Gruppen, die sich zusammenschließen, um imposanter zu wirken. Einige geschäftstüchtige Händler stellen ihre Grills auf und verkaufen Merguez-Würstchen für einen Euro das Stück, andere bieten Bier in Plastikbechern an. Vorausgesetzt, dass nichts wirklich Tragisches auf der Tagesordnung steht, kann das eine ziemlich heitere Veranstaltung sein. Als eine Freundin aus Frankreich am 15. Februar in New York an einem Protest gegen den Irakkrieg teilnahm, war sie geschockt, dass die Menge von berittener Polizei angegriffen wurde. Sie und ihre Freundin mussten sich in eines der Geschäfte auf der First Avenue retten.

Pariser Kundgebungen enden nicht immer so friedlich, wie sie beginnen. 2005 zogen Proteste gegen ein Arbeitsgesetz, bei denen die Studierenden anfangs Sticker trugen und für sichere Arbeitsplätze auf die Straße gingen, zum Schluss auch Anarchisten und Aufwiegler an – die casseurs, der französische Ausdruck für »Leute, die Sachen kaputt machen« –, die bei einem guten Protest selten fehlen. Die Gesichter unter Kapuzen und Kufiyas verborgen, schlugen sie Schaufenster ein, steckten Autos in Brand, überfielen Menschen auf der Straße, warfen Gegenstände auf die Bereitschaftspolizisten und zerstörten eine legendäre Buchhandlung an der Place de la Sorbonne.

1986 wurde ein junger Mann namens Malik Oussekine irrtümlich getötet, als er sich in der Nähe einer manif aufhielt; die Polizei hielt ihn (angeblich) fälschlicherweise für einen casseur. Die Studierenden demonstrierten gegen grundlegende Änderungen am französischen Universitätssystem: die Studiengebühren sollten um umgerechnet zweihundert Euro angehoben werden (eine Steigerung um beinahe hundert Prozent). Außerdem sollte eine Richtlinie in Kraft treten, die Universitäten das Recht gab, bestimmte Studierende aufzunehmen und andere nicht, was der Idee einer öffentlichen Universität zuwiderlief. Jeder, der Abitur hat, kann an einer französischen Universität studieren. Am 17. November demonstrierten zweihunderttausend Studierende, am 4. Dezember waren es fast fünfhunderttausend. Am Tag darauf besetzte eine Gruppe von Studierenden die Sorbonne und versuchte, an der Ecke Rue de Monsieur-le-Prince und Rue de Vaugirard eine Barrikade zu errichten. Oussekine selbst nahm offenbar nicht an der Demonstration teil, sondern kam in den frühen Morgenstunden aus einem Jazz-Club. Die Polizei verfolgte ihn auf Motorrädern und prügelte ihn zu Tode.

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Als ich nach Paris zog, hielt ich mich anfänglich von den Demonstrationen fern. Man konnte nie wissen, in was man hineingeriet. Ich hatte noch die Stimme meiner Mutter im Ohr: Vergiss nicht, dass du Ausländerin bist. Mach keinen Ärger. Verhalte dich unauffällig. Ich muss daran denken, wie mein Vater 1968 erlebt hat: Er machte seinen Master in Architektur an der Uni in Philadelphia. Es war kurz vor Semesterende. Ein paar Studenten kamen (seinem Bericht zufolge) ins Atelier und wollten alle wegen der Proteste an der Columbia aufwiegeln. Aber mein Vater und seine Kommilitonen zeichneten einfach weiter. Sorry, sagten sie, wir müssen unsere Abschlussarbeiten fertigkriegen.

Ich habe mich immer gefragt, ob ich es anders gemacht hätte. Wahrscheinlich nicht. Wenn die Bewegung bereits im Gange war, welche Rolle spielte es da noch, ob ein Student mehr oder weniger hinter den Barrikaden hockte? Zudem war der Cousin meines Vaters, Andrew Goodman, 1964 vom Ku-Klux-Klan umgebracht worden, als er nach Mississippi zog, um sich für die Bürgerrechte einzusetzen. Das war 1968 noch sehr präsent in der Familiengeschichte. Ich kann den Impuls meines Vaters verstehen, sich nicht in die Schusslinie zu begeben.

Für die meisten von uns auf den letzten Metern der Generation X waren erst der 11. September und der folgende Krieg gegen den Terror mit der zweifachen Invasion in Afghanistan und dem Irak – eine für jeden Turm – nötig, um uns von unseren Sofas zu holen und auf die Straße zu bringen. Obwohl es mich entsetzte, wie blind und verbissen die Bush-Regierung in den Krieg marschierte, schloss ich mich den Protesten nicht sofort an. Irgendwie erschien das alles so schamlos verdorben, getrieben von den Interessen von Unternehmen und Waffenherstellern, als dass wir normale Bürger irgendetwas dagegen hätten ausrichten können. Was sollte das bringen?, dachte ich. Keiner der Mächtigen würde uns zuhören, wenn wir auf den Straßen Kein Blut für Öl! riefen. Sie würden uns einfach als Hippies und Idealisten abtun.

Während jener verwirrenden Tage im Vorfeld des Irak-Kriegs war es schwer zu sagen, auf wen man hören sollte. Ich erinnere mich an ein allgemeines Gefühl der Hilflosigkeit und Frustration in New York – unsere Stadt war angegriffen worden, die Gefühle kochten hoch. Ich weiß noch, dass ich dachte, wir bräuchten eine echte Debatte, damit die Antikriegsbewegung richtig in Gang käme (was sich später als massives Versagen seitens der amerikanischen Medien erweisen würde). Was wir nicht brauchen konnten, von keiner Seite, war leere Rhetorik.

Es war also keine Absicht, dass ich im Winter 2003 in einer Demonstration gegen den Krieg landete. Ich war auf dem Heimweg von der Bibliothek und lief vom Washington Square Park kommend Richtung Norden den University Place entlang. Ich versuchte mich gerade durch eine Gruppe von Demonstranten zu schlängeln, als die Polizei auftauchte und mich zusammen mit den Teilnehmern der Kundgebung einkesselte. Die Polizisten drängten uns zu einem Menschenkloß zusammen, umzingelten uns, sie hatten sich untergehakt, und schufen so eine Schlagstockbarriere, aus der wir nicht entkommen konnten. Im einen Moment war ich eine Masterstudentin mit einem Rucksack voller Bibliotheksbücher, im nächsten drückte sich direkt unter meinen Rippen ein Schlagstock in meinen Bauch. Sie unterschieden nicht zwischen Demonstranten und Unbeteiligten, und auch nicht zwischen friedlichen Demonstranten und gewalttätigen.

Es ist mir peinlich zu sagen, dass es jener Tag war, jener Moment, als ich physisch von einer Gruppe Bereitschaftspolizisten festgehalten wurde, an dem sich meine ambivalenten Gefühle gegenüber den Demonstrationen auflösten und an ihre Stelle so etwas wie eine späte Offenbarung trat. Wegen dieses Krieges wurden unschuldige Menschen in einen Konflikt hineingezogen, mit dem sie nichts zu tun hatten, und diese Menschen würden sehr viel mehr Leid erfahren als einen Schlagstock unter dem Rippenbogen zu spüren. Als ich an diesem Tag aus dem Haus gegangen war, hatte ich mich nicht mit den Protestierenden verbunden gefühlt, doch als ich endlich wieder zu Hause ankam, war ich eine von ihnen.

Wir brauchen die Massenbewegungen, wir brauchen Menschen, die sich zusammenschließen und durch die Straßen ziehen oder auch nur auf der Stelle stehen. Nicht nur, damit die Mächtigen sehen, was die Bevölkerung will, sondern auch, damit Menschen, die wirklich machtlos sind, uns dort sehen und in ihren Köpfen vielleicht einen winzigen Stein ins Rollen bringen. Der Protest demonstriert nicht nur der Regierung, dass man mit ihrem Handeln nicht einverstanden ist, sondern auch den Mitbürgern – selbst den kleinsten –, dass man sich gegen gewisse politische Vorgehensweisen aussprechen kann und sollte. Um eine Veränderung in Gang zu setzen. Um allzu simple Anschauungen aufzubrechen.

Man zeigt sich. Man bringt sich ins Spiel. Man marschiert.

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Bei meiner ersten manif in Frankreich lief ich am 29. Januar 2009 mit.

Von den 65 000 bis 300 000 Menschen, die an diesem Tag demonstrierten (je nachdem, wen man fragt), waren viele dort, um gegen das Verhalten der Regierung in der Wirtschaftskrise zu protestieren. Manche waren dort, weil sie für jede Chance zu haben waren, zu zeigen, wie sehr sie Sarkozy hassten. Und andere waren dort, weil es eine gute Entschuldigung war, um nicht zur Arbeit zu gehen. Doch diese manif war ungewöhnlich, weil zum ersten Mal seit Jahren sowohl die Professoren und Professorinnen als auch die Studierenden streikten. Meine Kollegen und Kolleginnen waren einheitlich gegen die Reformen des Hochschulsystems, die die damalige Bildungsministerin Valérie Pécresse durchsetzen wollte; die Forschung in den Naturwissenschaften sollte zulasten der Geisteswissenschaften bevorzugt werden. Diese Reformen berührten nicht die wahren Probleme im System und würden nur zum Verlust von Arbeitsplätzen, Geldern und in einigen Fällen ganzer Institute führen.

Einige Professorinnen und Professoren riefen auf der alten Place de la Grève – dem Platz des Streiks – eine Dauerdemonstration ins Leben, nannten sich »ronde infinie des obstinés« oder »unendlichen Tanz der Starrköpfigen« und schritten sieben Wochen lang im Kreis. Es war gut gemeint, traf aber auf die zu erwartenden Witze, und der unglückliche Slogan, den sie im Mittelpunkt ihres Kreises auf den Boden geschrieben hatten, machte es nicht besser: Ich denke, also bin ich nutzlos.

In einer klügeren Demonstration organisierte eine Gruppe Professorinnen und Professoren eine Marathonlesung von Madame de Lafayettes Roman La Princesse de Clèves aus dem siebzehnten Jahrhundert. Acht Stunden lang waren Studierende, Lehrende und Passanten eingeladen, einen Teil des Romans laut vorzulesen. La Princesse de Clèves ist ein Buch mit einer schwerwiegenden anti-sarkozianischen Konnotation: 2007, als er für die Präsidentschaft kandidierte, hatte er seine Verblüffung darüber ausgedrückt, dass dieses Buch auf der Pflichtlektüreliste für verschiedene Einstellungsprüfungen für Beamte stand. Auch wenn umfassende Kenntnisse der französischen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts für jemanden, der an einem Finanzamtsschreibtisch arbeitet, nicht so wahnsinnig nützlich erscheinen mögen, entbrannte eine allgemeine Empörung über die Vorstellung, dass große Literatur einem bestimmten Zweck dienen sollte – ausgerechnet in Frankreich, dem Land der exception culturelle. Der Filmemacher Christophe Honoré ließ sich von Sarkozys Ignoranz dazu inspirieren, die Geschichte im einundzwanzigsten Jahrhundert fortzuschreiben; sie spielte an einem vornehmen Pariser lycée, und der Star des Films, Louis Garrel, war einer der Lesenden beim Panthéon-Protest 2009. Sein Mitwirken verlieh dem Film zusätzliche revolutionäre frisson, da er ebenfalls in Bernardo Bertoluccis Film Die Träumer über den Mai 1968 mitgespielt hatte. Aus Solidarität setzte ich den Roman auf meinen Lehrplan für den Kurs in Weltliteratur, den ich in jenem Jahr unterrichtete.

Wir vom Englischen Institut hatten eine erfreuliche Auswahl an fachspezifischen Schildern: »I Am Not a Number, I Am a Teacher«, »For Us the Bell Tolls« und »University Strikes Back«. Wir taten uns mit dem Französischen Institut zusammen, das seine eigenen Schilder hatte: »Fac culturelle, pas fac poubelle!« und »Quand on cherche, on ne compte pas!« Wir starteten an der Place de la Bastille, wo wir sehr lange herumstanden, während nach und nach die einzelnen Gruppen eintrudelten. Ich war ziemlich aufgeregt, wollte Parolen skandieren und die Faust in die Luft recken, aber außer mir schien das niemand zu wollen. Es gab keine Sprechchöre. Der Himmel war bedeckt, und alle froren. Stunden um Stunden später, wir waren auf dem Boulevard Beaumarchais noch nicht einmal einen Kilometer weit gekommen, wurde es langsam dunkel, und ich beschloss, dass es Zeit für den Heimweg war. Während sich das Blau des Himmels zu Violett vertiefte, fingen ein paar Jugendliche am Ende der Demo an, Bengalos zu zünden; Rauch stieg auf, roter Lichtschein hüllte die Demonstranten ein und verwandelte die Straßenlaternen am Rand des Boulevards in eine Reihe im Dunst glühender Sonnen. Als ich über die Place de la Bastille nach Hause ging, wurde auch ein Stapel Plakate angezündet, und eine Gruppe stand feierlich darum herum und hielt Fahnen und Banner hoch. Der Rauch stieg an der Julisäule empor, und der rote Dunst verdichtete sich. Ich machte ein Foto, und es war, als wäre das neunzehnte Jahrhundert wie ein Geist aus dem Film erschienen.

In der Woche darauf waren wir wieder auf der Straße und demonstrierten. Es herrschte gute Stimmung, die Presse war überall, und alle freuten sich, an einem so schönen Tag draußen zu sein und zu demonstrieren. Wir zogen von Jussieu los, vorbei am Jardin des Plantes zur Censier, die Rue Claude Bernard hinauf, rechts auf die Rue d’Ulm, an der ENS, der École normale supérieure, vorbei und dann zum Panthéon, wo die Demonstration zum Halt kam. Wir wollten bis zum Sitz des Bildungsministers ziehen, doch die Polizei hatte sämtliche Straßen abgesperrt, die zum Ministerium führten, also zog der Tross weiter die Rue Victor Cousin hinauf (»A la Sorbooooonne!«, riefen die Anführer), nach links in die Rue des Écoles, dann rechts auf den Boulevard Saint-Michel.

Hier gerieten die Dinge außer Kontrolle. Die Hälfte der Demonstranten zog nach links auf den Boulevard Saint-Germain. Die andere Hälfte blieb auf dem Saint-Michel, wo die Demonstration kurz darauf zu Ende war. Dass wir uns im falschen Teil befanden, bemerkten wir erst später, als klar wurde, dass wir einer Gruppe Anarchisten folgten, die uns den Boulevard hinunterführte, mitten in den Straßenverkehr hinein. Wir liefen einfach zwischen den Autos hindurch, die uns vorwurfsvoll anhupten. (Oder wollten sie uns unterstützen?) Es war berauschend. Das war eine Pariser Demo!

Als mir klar wurde, was passiert war, kam ich mir ein bisschen dumm vor. Das war keine manif mehr für oder gegen irgendetwas, sondern eine Abspaltung, angeführt von einem Haufen Unruhestifter. Ich war genau das geworden, was ich in New York hatte vermeiden wollen – jemand, dem mehr am Ritual lag als an den Inhalten. Aber das war zu einfach. Im gemeinsamen Marschieren lag eine ungezähmte Macht; zum ersten Mal in meinem Leben war ich teil der Meute, und ich fühlte mich unwohl. Es war zu einfach, sich von wer-weiß-wem wer-weiß-wohin führen zu lassen, um wer-weiß-was zu tun.

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1848 wollte Sand mehr tun, als nur zuzusehen, wie sich die Geschichte entwickelte: Sie glaubte, die Menschen aus allen Gesellschaftsschichten ebenso wie deren Anführer zu verstehen, und das war ihre Chance, eine echte Veränderung zu bewirken. Für ein moralisches Miteinander, glaubte sie, müsse man sich in das Kollektiv einbringen. Als inoffizielle Propagandaministerin übernahm sie eine tragende Rolle dabei, die Botschaft der neuen Regierung zu gestalten. Mit Feuereifer stürzte sie sich in das Leben im Dienste der Öffentlichkeit, schlug Kandidaten für Kabinettposten vor, und der neue Innenminister Ledru-Rollin hörte tatsächlich auf sie. Sie gründete eine eigene Zeitung La Cause du Peuple und schrieb Artikel für den Bulletin de la République, das Organ der neuen Regierung, wo sie die Bürger Frankreichs, egal wo sie lebten, aufrief, die Ereignisse in Paris aufmerksam zu verfolgen. »Bürger«, schrieb sie, »Frankreich bricht zur größten Unternehmung der Neuzeit auf: die Gründung einer Regierung für das ganze Volk, die Organisation der Demokratie, die Republik aller Rechte, aller Interessen, aller Informationen und aller Vorteile.«4

Sie sah, wie wichtig die bevorstehenden Wahlen waren, und wollte das auch ihren Lesern vor Augen führen. In jenen ersten Monaten der neuen Republik traf sie sich mit dem legendären Staatsmann Tocqueville, der sich in seinen Memoiren an ihre Worte erinnert: »Versuchen Sie von Ihren Freunden zu erreichen, mein Herr, daß sie das Volk nicht beunruhigen und reizen und so auf die Straße treiben; auch ich möchte meine Leute zur Geduld bringen. Denn glauben Sie mir, wenn der Kampf einmal begonnen hat, wird er uns alle vernichten.«5

Es sah aus, als würden Frauen unter der neuen Regierung die Chance bekommen, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Sie forderten finanzielle Unabhängigkeit, Kinderbetreuung, das Recht auf Arbeit. Sie wollten mehr von dieser Revolution als nur zuzusehen, wie echte Frauen mit echten Bedürfnissen auf Allegorien der Nation reduziert wurden: barbusige Mariannen, die liberté für alle versprachen – nur nicht für ihresgleichen. Doch die meisten Männer hielten es immer noch mit dem Schriftsteller und Pamphletisten Claude Tillier: »Wer hätte je erlebt, dass ein politischer Gedanke unter einer Spitzenhaube zu Hause ist?« Offenbar konnten im neunzehnten Jahrhundert nur wenige Männer dem utopischen Sozialisten Charles Fourier zustimmen, der erklärte: »Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation«,6 oder Victor Hugos Äußerung beipflichten, die er 1853 beim Begräbnis von Louise Julien tätigte, die für ihren Protest gegen Louis Napoleons coup d’état erst ins Gefängnis und dann ins Exil geschickt worden war: »Wurden im achtzehnten Jahrhundert die Menschenrechte ausgerufen, so werden im neunzehnten die Frauenrechte verkündet werden.«

In Lehrjahre des Herzens nahm Flaubert die Feministinnen in Gestalt der Mademoiselle Vatnaz sanft aufs Korn, für die »die Befreiung des Proletariats nur durch die Befreiung der Frau möglich« war. Sie wollte »den Zugang von Frauen zu jeder Art von Beschäftigung, Untersuchung der Vaterschaft unehelicher Kinder, ein neues Gesetzbuch und entweder die Abschaffung der Ehe oder aber allermindestens eine intelligentere Regelung dieser Institution«. Und sollte ihnen diese Regierung diese Rechte nicht einräumen, setzt Mademoiselle Vatnaz mit Nachdruck hinzu, »müssten sie eben Gewalt mit Gewalt besiegen. Zehntausend Bürgerinnen mit guten Musketen konnten das Hôtel de Ville erzittern lassen.«7

Dennoch konnte Sand sich nicht für die Rechte von Frauen unabhängig von den Rechten aller anderen starkmachen. Einige Frauengruppen trugen ihr eine Kandidatur an, doch sie lehnte ab. »Die Gesellschaft hätte so viel zu gewinnen, würden einige unserer Geschlechtsgenossinnen in die öffentliche Verwaltung gehen«, schrieb sie, aber »die große Menge der armen, ungebildeten Frauen hätte dadurch nichts zu gewinnen.« Das ist schwer zu schlucken. Zum ersten Mal seit der Revolution wurde das allgemeine Wahlrecht für Männer eingeführt, und obwohl sich die Schriftstellerin Delphine de Girardin, die unter dem männlichen Pseudonym Le Vicomte de Launay schrieb, dafür aussprach, auch Frauen einzubeziehen (»in ihrem schönen Versprechen des allgemeinen Wahlrechts haben sie die Frauen vergessen«), fanden andere wie Sand und ihre Freundin Marie d’Agoult, die ebenfalls unter einem männlichen Pseudonym, David Stern, schrieb, das Frauenwahlrecht sollte nicht auf einen Schlag eingeführt, sondern schrittweise umgesetzt werden. Sand glaubte, die Gesellschaft müsste grundlegend umgestaltet werden, bevor Frauen von dieser Macht würden profitieren können. Wenn sie die Gleichberechtigung innerhalb des Hauses erlangt hätten, könnten sie eine Gleichberechtigung auch außerhalb anstreben. In einem Brief vom April 1848 drückte Sand ihre Sorge aus, Frauen könnten sich lächerlich machen, wenn sie das Stimmrecht einforderten; es sei zu früh zu viel gewollt.

Sand verteidigte Frankreich, ein sozialistisches Frankreich, das Chancen für alle bot. Doch in Paris trat sie für ihre eigenen Rechte ein und sah, wie andere sich ebenfalls für ihre eigenen Rechte starkmachten. Wie Flauberts Frédéric Moreau war Sand vom »Überschwang der Massen« inspiriert, die Aufregung der Revolution ließ sie »Ausströmungen einer grenzenlosen Liebe«, spüren, »einer überwältigend zärtlichen und weltumfassenden Rührung, als schlüge das Herz der ganzen Menschheit in [d]er Brust«8. Von allen Orten, über die Sand geschrieben und von denen sie geträumt hatte, bot Paris – das alltägliche, schmutzige, empörende, schöne Paris – die besten Chancen darauf, die neue Welt Wirklichkeit werden zu lassen.

Doch die Dinge entwickelten sich nicht so, wie Sand gehofft hatte. Die Wahlen am 23. April, direkt nach der Fête de la Fraternité, waren enttäuschend. Die Menschen, für die sie sich einsetzte, gingen nicht wählen, und die neue Versammlung war letztendlich fast genauso konservativ wie die alte. Einen sozialistischen Staat würde es nicht geben. Sands ambivalente Haltung gegenüber den Feministinnen sollte bald schon keine Rolle mehr spielen; die feministischen Bünde, die sich in jenen ersten Monaten des Jahres gebildet hatten, wurden am 28. Juli verboten. Die wenigen Vorteile, die zum Wohle der Arbeiter errungen worden waren – besonders in Form von Nationalwerkstätten, die Arbeitsplätze boten –, waren bis Juni aufgelöst. Also erhob sich das Volk wieder. Das Militär brauchte zwei Tage, um den Aufstand niederzuschlagen.

Sand brannte als Politikerin sehr schnell aus. Innerhalb eines Jahres hatte sie von der Wirkungslosigkeit der Politik genug; sie war zu pragmatisch und zugleich zu idealistisch.9 Sie hätte der Diplomatie stets den Vorzug gegeben. Da jedoch Konflikt und Konservativismus vorherrschten, zog sich Sand aus der Politik zurück und verließ Paris. Das Geld ging ihr aus, und sie fürchtete, ihr Sohn könnte wegen seiner Beteiligung an der Rebellion inhaftiert werden. Ihre Besorgnis über die weitere Entwicklung der Proteste formulierte sie wieder in Begriffen der eingeschränkten Bewegungsfreiheit in der Stadt: »Den ganzen März über konnte ich mich zu jeder Stunde allein in der ganzen Stadt bewegen, wie ich wollte, und nie bin ich einem Arbeiter begegnet, einem Rüpel, der mir nicht mit freundlichem Wohlwollen aus dem Weg gegangen wäre. Am 17. Mai konnte ich selbst am helllichten Tag und in Begleitung von Freunden kaum noch aus dem Haus gehen: Es herrschte ›Ordnung‹!«10 Ihre Haltung gegenüber der Kommune von 1871 sollte ihr von kommenden Generationen von Sozialisten vorgehalten werden. »Das arme Volk!« sagte sie. »Sie werden Exzesse und Verbrechen begehen, doch mit welch einer Vergeltung werden sie niedergeschlagen!« Paris wurde in Sands Worten »ein Schlupfloch für Banditen aller Art, die einen Haufen Feiglinge und Schwachköpfe unterdrücken und den Zufluchtsort, den sie beschmutzt haben, letztendlich zerstören werden!«

Vielleicht lehnte sie die Commune ab, weil sie eine »Rückkehr zum citoyen [Bürger] auf Kosten des promeneurs [Fußvolks]«11 darstellte. Die Figur des Kommunarden galt in den Medien als Bedrohung für die neu geordnete, ästhetisierte, sanierte Stadt. Doch die Figur der weiblichen Revolutionärin wurde als noch viel gefährlicher dargestellt. Für den Flâneur mochten die Straßen zu einem entpolitisierten Raum geworden sein, für die Flâneuse jedoch war das weder möglich noch wünschenswert. Zur Zeit der Kommune entstand, basierend auf einem fragwürdigen Artikel eines amerikanischen Journalisten, der Frauen dabei beobachtet haben wollte, wie sie eine Art Molotowcocktail des neunzehnten Jahrhunderts in die Keller von Pariser Häusern warfen, die Figur der petroleuse – einer Brandstifterin. Revolutionäre Frauen wurden von ihren Zeitgenossen als völlig unkontrollierbar und sehr viel gefährlicher dargestellt als eine Gruppe von Männern es je sein könnte. Während der Französischen Revolution wurden Versammlungen von fünf oder mehr Frauen verboten. All das muss Sand bewusst gewesen sein, und es dürfte ihre Wut darüber angefacht haben, dass Frauen im privaten ebenso wie im öffentlichen Raum nicht dieselben Rechte hatten wie Männer. »Es gibt nur ein Geschlecht«, schrieb sie an Flaubert. »Mann und Frau sind sich in so vielem so ähnlich, dass ich die vielen Unterscheidungen und spitzfindigen Argumente, in denen sich die Gesellschaft ergeht, kaum begreifen kann.«12

Sands Beitrag zur Revolution von 1848 ist in seiner Raffinesse bis heute nicht gewürdigt worden. Sie hatte erkannt, dass sowohl das Volk als auch die Regierung jeweils eine hermetische Mythologie entwickelt hatte, um ihre Handlungen zu rechtfertigen, und begriff, dass es nirgendwohin führen würde, die beiden Polaritäten aufeinanderprallen zu lassen. Sie vertrat eine dritte Position, eine des Protests und der Mediation, wie ihre Verhandlungen mit dem Polizeipräfekten zeigten.

Sie hätte sich auf die Seite der Frauen schlagen sollen, hätte ihren Namen für diese Sache hergeben sollen. Dann hätte man sie vielleicht weniger ambivalent in Erinnerung behalten. Doch sie hielt sich an keine Linie und durchkreuzte alle Positionen.

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Ich war in Paris, als es passierte. Nach und nach sammelten sich die Menschen in einem Park in der Nähe der Wall Street und fingen an, Zelte aufzubauen, um gegen die Missstände und die Gier des Finanzsystems zu protestieren. Binnen kurzer Zeit hatten sie eine Bibliothek, eine Küche, eine Handy-Ladestation und ein Erste-Hilfe-Zelt eingerichtet. Wessen Straßen? Unsere Straßen!, riefen sie. Hunderte Menschen wohnten im Zuccotti Park. Besser als jede Rede, jeder Zeitungskommentar und jeder Leitartikel schafften sie es herauszustellen, was in den USA schieflief, wo vierzig Prozent des Vermögens des Landes einem Prozent der Bevölkerung gehören. Wir, die neunundneunzig Prozent, wurden von dem einen Prozent, das mit jeder Minute mehr Geld an uns verdiente, in eine beschissene wirtschaftliche Lage gestürzt. Früher war New York eine lebendige, bunte Stadt; heute ist es eine Spielwiese für Konzerninteressen. Es war bewegend, die Videos vom »people’s mic«, dem menschlichen Mikrofon, zu sehen: Rhetorik-Wellen rollten durch die Menge. Demonstranten marschierten über die Brooklyn Bridge und wurden von der Polizei festgenommen.

Auf einem Poster aus der Anfangszeit der Occupy-Bewegung sind deren Ideale wunderbar eingefangen: Eine Ballerina steht in einer Attitude-Position auf der Statue des angreifenden Bullen vor der New Yorker Börse. Die Bulligkeit des Marktes, der alle anderen Bereiche des Lebens überrollt – von der Kunst über das Gesundheitswesen bis zum Wohnungsbau; die Tänzerin triumphiert über den Markt. Ihre Pose erinnert uns daran, dass eigentlich alles in Balance sein sollte, von den Staatsgewalten über die Wirtschaft bis hin zum komplexen urbanen Ballett, an dem wir alle jeden Tag mitwirken. What is our one demand?, fragt das Poster. Was ist unsere Forderung? Und niemand hat es je konkret und definitiv ausgesprochen. Es war interessanter, die Antwort offenzulassen.

Auch ließ sich diese Antwort quasi unmöglich artikulieren; sie war mehr, als sich mit Worten ausdrücken ließ. Deshalb war eine derart grenzüberschreitende Bewegung notwendig. Doch diese physische Offenheit ließ dem Autoritarismus Raum, hineinzustürmen und die Bewegung für illegal zu erklären. Die Polizei riss die Zeltstadt ab, konfiszierte Bücher, nahm Menschen, vor allem solche, die Guy-Fawkes-Masken trugen, wegen Herumlungerns fest. Dabei berief sie sich auf ein Gesetz der Stadt New York aus dem Jahr 1845, das öffentliche Versammlungen untersagte. Die Angriffe weiteten sich auf Occupy-Orte im ganzen Land aus, und wir sahen an unseren Computern alle entsetzt zu, wie die Campuspolizei jungen Studierenden aus nächster Nähe Pfefferspray ins Gesicht sprühte. Und obwohl die Einschüchterung durch die Polizei nur allzu real war, wurde die echte Abscheu gegen die Taktik der Polizei ab einem gewissen Punkt von einer performativen Empörung überschattet. Wie wenn jemand zu schnell über einen Witz lacht. Niemand konnte sich vom Vorwurf der Manipulation freisprechen.

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In Paris hatte die Occupy-Bewegung nie richtig Fahrt aufgenommen (»Wir protestieren immer«, sagten meine französischen Freunde, »und überhaupt, wer will schon im Zelt leben.«) Als ich sah, wie in Paris die Zelte abgebaut wurden, musste ich an die Energie und das Scheitern der »Ereignisse« von 1968 in Paris denken. Es beginnt meistens friedlich, doch es endet nie so. Und dann ist alles vorbei, und jeder macht einfach weiter. Was bleibt, ist das Vermächtnis.

Was mythisierte gemeinschaftliche Aufstände angeht, kann man es kaum besser machen als 1968 in Paris. Alles begann an der Uni von Nanterre, einem modernen, in den 1960er-Jahren errichteten Campus in einem der westlichen Vororte von Paris. Innerhalb weniger Jahre erhielt die Uni wegen ihrer radikal linken Aktivitäten den Beinamen »Nanterre Rouge«. Diesen Spitznamen hatte die Uni auch vierzig Jahre später noch, als ich dort auf einem von brutalistischen Betongebäuden bestimmten Campus unterrichtete, dessen Bauten inzwischen größtenteils marode sind. Manche werden von Eisensäulen gestützt, die nun Passagen bilden, vor anderen finden sich Treppen, die auf junge Studierende wenig einladend wirken, sich zusammenzusetzen, gemeinsam zu essen und zu flirten. Der Campus ist ziemlich modern, aber nicht sehr hübsch. Und Mitte der 1960er-Jahre waren die Regeln dort genauso drakonisch wie die Architektur.

Im März 1968 bildete sich eine Gruppe mit dem Namen »Les erangés«, die Wütenden, die dagegen protestierten, dass männliche Studenten in den Wohnheimen der Frauen übernachten durften. Der Sportminister war zu Besuch, um ein neues Schwimmbecken zu eröffnen, und ein temperamentvoller Student namens Daniel Cohn-Bendit unterbrach dessen Rede und ging ihn wegen eines Berichts an, der kurz zuvor vom Minister für Jugend veröffentlicht worden war. »400 Seiten über die Jugend, und kein einziges Wort über Sexualität!«13 Cohn-Bendit wurde fast exmatrikuliert und ein Volksheld für die Studierenden. Um ihn zu verteidigen, protestierten sie, bis die Uni geschlossen wurde, und dann zogen sie ins Quartier Latin, ins Zentrum von Paris, um weiterzuprotestieren (»Quartier Latin, Treffpunkt und Stellvertretermythos«, schreibt Antonio Quattrocchi in seinem Kult gewordenen Bericht über die Ereignisse). Dort wurden sie verhaftet, während andere Studenten die Sorbonne besetzten, immer die Sorbonne, »Sorbonne, mater dolorosa, wo dunkle Riten der Initiation und der Weihe zelebriert werden. Sorbonne, mater dulcissima, wo die goldenen Früchte gebildeter Geister in abgeschiedenen Kreuzgängen blühen, wohlbehütet vor dem Wind der Geschichte und den unendlichen Ansteckungen des Ordinären. Sorbonne, die Zitadelle. Sorbonne, die Festung.«14 Der Rektor schloss die Universität und ließ die Polizei hinein, um die Studierenden zu vertreiben. Nach einigen Tagen der Proteste und Rangeleien mit der Polizei verkündeten deren Anführer mit vom Schreien heiserer Stimme und Daniel Cohn-Bendit an seiner Seite ihre Forderungen: Amnestie für alle Demonstrierenden. Wiedereröffnung der Universitäten. Und den Abzug sämtlicher Polizisten aus der Sorbonne.

Wenige Wochen nach dem Beginn der Studentenproteste riefen die Gewerkschaften für Montag, den 13. Mai, einen Generalstreik aus. Eine Fabrik nach der anderen wurde in dieser Woche bestreikt. Am Donnerstag sagte (so berichtet Quattrocchi) ein junger Arbeiter in einer Renault-Fabrik ganz in der Nähe von Paris: »Mir reicht’s«, und stand von seiner Maschine auf. Seine Kollegen folgten ihm einer nach dem anderen, und binnen einer halben Stunde war die Werkhalle leer.15

Mehr braucht es nicht: Jemanden, der aufsteht und sagt: Mir reicht’s. Revolutionen werden von Individuen gemacht. Gebt mir den pavé.

Aber von allem, was ich über 1968 gelesen und gesehen habe – von wissenschaftlichen Studien bis zu Kino und Fernsehfilmen –, fängt Mavis Gallant das Paris während jener ereignisreichen Zeit am besten ein, und das nicht nur, weil ihre Beschreibungen so lebendig sind, sondern weil sie das Geschehen nicht romantisiert. Gallant beobachtet 1968 mit einer ironischen Distanz, die ich bei Schriftstellern für die einzig ethisch vertretbare Art der Reaktion halte. Die Barrikaden beispielsweise sind kein spontaner, von den Studenten errichteter Ausdruck des Widerstands, wie Gallant und ein Freund durch Nachforschungen herausfanden; die Steine waren zu groß, um aus der Straße gestemmt worden zu sein, man musste sie mit einem Lastwagen herangekarrt haben.16 Sie blickt hinter die Pose, die alle so fieberhaft aufrechtzuerhalten versuchen: die Oberstufenschüler, die gar nicht genau wissen, wofür sie demonstrieren, aber darum betteln, länger aufbleiben zu dürfen; die wohlmeinenden Demonstrierenden, die mit Gallant, einer Ausländerin, reden, »als wäre ich ein mutiges Kind in einem russischen Roman, das sich gerade von einer Hirnhautentzündung erholt. Wie sich herausstellte, hielt sie mich für eine Algerierin und wollte auf diese Art zeigen, dass sie nicht rassistisch war.« Menschen in der Gegend ließen eine falsche Belagerungsstimmung aufkommen, indem sie behaupteten, in der Umgebung der Sorbonne gebe es weder Brot noch Milch, was ein kurzer Anruf bei Freunden als unwahr entlarvte, und die Gewalt der wohlhabenden bürgerlichen Gegendemonstranten draußen auf der Champs-Élysées, die »Frankreich den Franzosen!« riefen. Gallant schreibt, die Place Maubert sei »eine jener Müllhalden mit unaufhörlich schwelenden Bränden, die man kilometerweit riechen kann. Rußgeschwärzter Abfall, versengte Bäume, ein ausgebranntes Auto. Mehr möchte ich nicht sehen. Ich gehe die Seine entlang. Immer wieder verdrehe ich mir die Knöchel – so viele Löcher im Boden, so viel herumliegendes Holz, Steine, Eisenteile. Nichts hat eine Form oder einen Namen.«17 Mit den überall herumliegenden Müllhaufen sieht die Stadt aus wie ausgekippt, wie eine riesige ausgeleerte Mülltonne.

Trotzdem sieht es auf dem schwarzweißen Filmmaterial, das man im Internet findet, unglaublich beeindruckend aus. Menschen drängen sich auf Balkonen zusammen, Studierende auf dem Lion de Belfort, 30 000 Menschen ballen sich auf der Place Denfert-Rochereau. Man sieht das Video und hört den Sound, und es klingt ganz genau wie eine Demonstration heute. Entfernter Verkehrslärm und menschliche Stimmen. Jemand schlägt eine Trommel, gleichmäßig wie das Rattern einer Eisenbahn. Jemand bläst in beharrlichem Stakkato in eine Trillerpfeife. Das anschwellende Getöse der Menge kommt näher. Das leiernde Heulen der Sirenen. Die Sprechchöre: lib-ér-ez! nos! ca-ma-rades! Vor dem Rauch zeichnen sich Umrisse von Personen ab, die mit ballettartigen Sprüngen Pflastersteine werfen, vor der Polizei davonrennen, in Faustkämpfe verwickelt werden. Mengen, Unmengen von Menschen, die untergehakt marschieren. Hände in die Luft gereckt, um die Forderungen zu unterstreichen wie in Fosse, dem Musical, hier und da glimmt eine Zigarette zwischen Fingern. Man stelle sich das vor. Die rauchende Hand als revolutionäre Geste.18 Überall am Boulevard Saint-Michel stehen Menschen auf den Balkonen, sie sind aufgeregt, ohne zu wissen, warum. Gallant erkennt, dass diese Art zivilen Ungehorsams allzu leicht zu einer Form der Unterhaltung gerät. In den ersten Tagen des Studentenaufstands beschreibt sie die Atmosphäre als »elektrisiert, unruhig, aber seltsam vergnügt. Ja, es ist wie ein Festtag auf dem Land, wenn der ganze Ort sich auf dem Dorfplatz versammelt.« Als sich die Krise durch den Mai zieht: »Alle haben so viel Freude an dem Streik, dass niemand zurück an die Arbeit gegangen ist.«19 Auch Flaubert registriert dieses Gefühl: »Es lag eine Fröhlichkeit wie beim Karneval in der Luft, eine Art Lagerfeuerstimmung«, schrieb er über die Februarrevolution von 1848, »man kann sich keinen vergnüglicheren Anblick vorstellen als Paris in jenen ersten Tagen.«20 Er fängt ein, wie bestimmte Werte performt werden und wie diese Performance für einen solchen Aufstand notwendig wird, bestimmte Worte, die man wie ein Schibboleth aussprechen muss, um die eigene Position unter Beweis zu stellen. »Man musste die ganze Zeit die Rechtsanwälte schmähen und die folgenden Ausdrücke so oft wie nur möglich benutzen: ›sein Scherflein zur Sache beitragen … gesellschaftliches Problem … Nationalwerkstätten‹.«21 Das Gleiche wie 1968 und 2011, geändert hat sich nur das Vokabular. Gallert beklagt die fehlende Authentizität ihrer Zeit: »Alles ist so abgeschmackt, nur noch Folklore – China, Kuba, Godards Filme. Unsere abgeschmackte Zeit.«22

Und wir schauen auf der Suche nach Authentizität auf 1968, genau wie man sie damals bei den Kommunarden suchte. Und wo suchten die Kommunarden?

1848.

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Protest besteht aus zwei Elementen: dem Demonstrationszug und der Barrikade. Vorwärtsbewegung und Widerstand. Ohne die Ordnungsmacht, die Nein zum Nein sagt, kann eine Demonstration nicht zum Protest werden. Beide Parteien spielen ihre Rolle. Die Barrikade ist ein Symbol der Revolution, aber der Polizeikessel ist nur eine andere Form der Barrikade. Was unser Herz in der Revolution bewegt, kann von der Ordnungsmacht vereinnahmt werden – oder umgekehrt. Gallant sieht einen Mann, der mit einem Stock den »Drei-zwei-Rhythmus« schlägt, der früher einmal für »Algé-rie fran-çaise« stand, jetzt aber für »CRS S-S«: »Algerien für die Franzosen« oder »CRS = SS«; der blinde Imperialismus Frankreichs in Algerien oder Widerstand gegen die Obrigkeit: der gleiche eingängige Beat.23

Napoleon III versuchte aus den Revolutionen von 1830 und 1848 zu lernen, weil er erkannte, dass derjenige, der in den Straßen von Paris die Oberhand hatte, sie auch in den Schlachten haben würde, die dort ausgetragen wurden. Zu diesem Zweck bat er seinen persönlichen Stadtplaner Baron Haussmann, die Massenaufstände bei der Neugestaltung der Stadt zu berücksichtigen. Walter Benjamin beschreibt dessen Vorgehen in seinem Passagen-Projekt: »Das Verbreitern der Straßen soll dazu dienen, die Errichtung von Barrikaden unmöglich zu machen, und neue Straßen sollen den kürzesten Weg zwischen den Kasernen und den Arbeitervierteln. Zeitgenossen taufen die Operation ›strategische Verschönerung‹.«24

Aber breitere Boulevards verlangen nur nach größeren Barrikaden.

Barrieren erfüllen nie ihren Zweck. Es gibt immer jemanden, der bereit ist, den langen Weg außen herum zu gehen. Was, wie ich glaube, der einzige vernünftige Weg ist, sie zu überwinden: mit allen Mitteln einfach hindurchzustürmen, führt zu Gewalt und bewaffneten Konflikten. Man muss einen Weg daran vorbei finden. »On s’en fout des frontiers«, skandierten sie 1968. Wir scheren uns einen Dreck um Grenzen.

Es muss ein Überraschungsmoment geben, wenn das Handeln der vielen der Apathie ein Ende setzen, die alltäglichen Gewohnheiten und Sorgen durchbrechen und das Denken in eine neue Richtung lenken soll. Man braucht das Gefühl, sich an Grenzen zu reiben. Wenn man die Berichte über 1968 liest, sieht man sie vor sich – Studierende, Arbeiter, ganz normale Menschen – die diesen Umschlagpunkt suchten, an dem alles ins Kippen gerät. Irgendetwas in der Stadt, die aufgeladene Atmosphäre zwischen den Menschen, die demonstrieren und alles vorantreiben. Noch … ein … Stück … weiter – und dann passiert es – oder jedenfalls fast …

Und dann doch nicht. Die Polizei ist da und sorgt dafür, dass es nicht passiert. Sie brauchen die Stadt nicht neu aufzubauen. Sie müssen nur die Proteste niederschlagen. Oder sie delegitimieren.

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»Es ist viel zu früh, um die Barrikaden abzureißen«, schrieb meine Mentorin Jane Marcus in den 1980ern, um die »Brave-Mädchen«-Feministinnen zu ermutigen, ihre Zelte noch nicht abzubrechen, damit sie nicht »lautlos ins Establishment abgleiten.«25

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Alles läuft auf eine Frage nach Grenzen hinaus, ein Thema, für das ich inzwischen stark sensibilisiert bin.26 Je länger ich Gallants Bericht über 1968 lese, umso klarer wird mir, dass es nicht um Studierende oder Wohnheimzimmer oder Sitten ging. Es ging um Immigration.

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Was Gallant an 1968 ermutigend fand, war die Unterstützung der Studierenden für Cohn-Bendit. Mitte Mai forderte die Regierung nicht nur seinen Ausschluss von Nanterre, sondern seine Ausweisung aus Frankreich. Obwohl er fast sein ganzes Leben in Frankreich verbracht hatte, stand nun sein »Französischsein« zur Debatte, da er als Kind deutscher Juden, die vor den Nazis geflohen waren, staatenlos geboren war. »Ich höre sie skandieren: ›Nous sommes tous des juifs-allemands!‹«, schreibt Gallant. (»Wir sind alle deutsche Juden.«) Sie traut ihren Ohren nicht. »Das hier ist Frankreich, das sind Franzosen, ich träume nicht … Ich glaube, das ist das wichtigste Ereignis in diesem ganzen fantastischen Mai, weil es eine Wandlung des französischen Charakters bedeutet: eine Großzügigkeit. Zum ersten Mal höre ich, wie eine französische Stimme die Grenzen des Französischseins überschreitet.«27 Dass sie in der Lage sind, sich hier mit dem Fremden zu identifizieren, mit einem Volk, das noch vor so kurzer Zeit aus Frankreich vertrieben und der Vernichtung anheimgegeben wurde, ist ein unglaublicher Sprung in Sachen Empathie. Könnte diese Empathie das wahre Vermächtnis von 1968 sein? Aus welcher Motivation heraus auch immer – ob sie sich von diesen Ereignissen mitreißen ließen oder vom Personenkult um Daniel Cohn-Bendit, ob sie nur ihre Eltern oder die Polizei ärgern wollten oder sie damit konfrontieren, dass sie zwanzig Jahre zuvor nicht aufbegehrt hatten – die Jugend von 1968 marschierte den Boulevard Saint-Michel hinauf und rief Wir sind alle deutsche Juden. Vielleicht rufen sie in zehn Jahren: Wir kommen alle aus der Banlieue.

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Daran dachte ich nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo, als ich in Trauer, Solidarität und Widerstand mit anderthalb Millionen Menschen auf den Straßen in der Nähe der Place de la République stand – in der größten manifestation, die Paris seit der Befreiung 1944 gesehen hatte. Wie viel Zersplitterung und Uneinigkeit haben sich über diesen Tag gebreitet? Manche sagten, sie würden nicht hingehen, weil sie nicht hinter Sarkozy oder Netanyahu oder Ben Ali stehen wollten, weil sie das Schwarz-Weiß-Bild ablehnten, das die Medien zeichneten, indem sie Freiheit gegen Extremismus ausspielten – »wir« gegen die Terroristen – und es einen »oberflächlichen Konsens« nannten, bei dem die »Brüche, die tiefgreifende Spaltung Frankreichs« vorsätzlich übersehen wurden.28 Und doch hätte niemand von uns an jenem Tag behauptet, uns verbände irgendetwas anderes als der Wunsch zu widersprechen, dem Geschehenen entgegenzutreten und sich Gehör zu verschaffen, als wir durch die Straßen zogen. Mit unseren Kindern, unseren Hunden und unseren Schildern: Je suis Charlie, Je ne suis pas Charlie, Je suis Ahmed, Je suis les frères Kouachi, Je suis manipulé, Je suis Charlie Juif Musulman Policier. Wir waren alle und alles. Wir waren eine ganze Stadt von Meinungen. Wir stritten miteinander, während wir auf die Straße gingen, wir stritten in den Cafés und auch auf dem Nachhauseweg. Man darf nicht aufhören zu streiten, das ist das Wichtige.

Eine Stunde lang standen wir auf dem Boulevard du Temple, einer Straße, durch die George Sand in ihren Hosen ganz gewiss auch spaziert ist. Wir schlurften langsam vorwärts, die Menge skandierte Char-lie und li-ber-té und stimmte immer wieder die Marseillaise an, wir pflasterten den Weg neu mit unseren guten Absichten und sangen dabei die blutigste aller Hymnen. Marchons, marchons, qu’uns sang impur abreuve nos sillons. (Marschieren wir, marschieren wir, unreines Blut tränke unserer Äcker Furchen!). Wenn man dieses Lied singen will, muss man sich seinem Inhalt stellen. Die Bruchstellen liegen in diesem Text offen zutage, in der Fremdenfeindlichkeit und der Gewalt. Können wir es détournieren, in eine neue Richtung lenken? Können wir neu gestalten, was uns hinterlassen wurde? In der französischen Nationalhymne gibt es einige Verse aus Kindersicht darüber, wie diese sich erheben werden, wenn die Erwachsenen tot und vergangen sind: Werden wir mit erhabenem Stolz sie rächen oder ihnen folgen. Wer weiß, was die Kinder heute lernen, während sie mit uns demonstrieren.

Hier stand einmal ein Gefängnis. Hier standen Theater. Hier lebte Gustave Flaubert. Hier hat man versucht, einen König zu töten. Hier machte Daguerre eine Aufnahme, die als älteste erhaltene Fotografie eines Menschen gilt. Ich machte ein Foto von einer Frau mit einem langen schwarzen Kleid und einem schwarzen, mit einem Netz überspannten Hut, die regungslos auf die Menge blickt. Sie sieht aus wie eine Erscheinung aus einem anderen Jahrhundert. So allein, ein schwarzes Symbol der Trauer, das sich vor dem Haus abzeichnet. Als wir die Demonstration verließen und zu einer Freundin gingen, um von ihrer Wohnung am Boulevard de Voltaire aus zu beobachten, wie die Hunderttausenden von Menschen noch bis in die Nacht hinein weiterdemonstrierten, musste ich an George Sand denken. Mir fiel ihre Beschreibung des Trauerzugs für die Toten der Aufstände im Februar 1848 ein. So viele Menschen, die sich in den Straßen zwischen der Colonne de Juillet und der Madeleine drängten, nur dass sie das heute auf den Straßen zwischen Nation und République taten.

An Sand dachte ich auch schon zwei Tage zuvor, als ich Richtung République ging, um mir den improvisierten Schrein anzusehen, zu dem die Statue der Marianne geworden war. Menschen hatten Bilder gemalt und Slogans auf Französisch und Englisch auf den Marmorfuß der Statue geschrieben: Criéz fort, L’engagement, ce mot qui donne un sens à la liberté, Liberté de penser et aussi d’écrire, C’est l’encre qui doit couler et pas le sang, What kind of society are we building? Sie hatten Zeichnungen niedergelegt, jede Menge Stifte, Blumen und Teelichter, die nie zu verlöschen schienen. In der ersten Nacht kletterten sie auf die Statue und klammerten sich hartnäckig daran fest, als wäre sie eine Barrikade. Und als am 13. November 2015 die Wahnsinnigen angriffen, kamen wir wieder auf der Place de la République zusammen und schmückten Marianne mit Postern und Blumen. Offiziell waren Versammlungen verboten. Einen Protestmarsch gab es nicht. Aber wir fanden einander auf dem Platz und hielten uns in den Armen.

Eines Tages wird das alles Erinnerung sein.

Und eines späteren Tages wird es eine Gedenktafel sein.

Und eines fernen Tages werden die Menschen daran vorbeilaufen und gegen oder für etwas anderes protestieren, und vielleicht werden sie dann an uns denken.