Denn diese Straßen verlaufen nicht gerade, sondern haben mehrere Wendungen.
– Josephus
Wenn ich in Paris an eine Straßenbaustelle komme, bleibe ich jedes Mal stehen, um mir anzusehen, was sie da ausgegraben haben. Über die gewellten grün-silbernen Absperrungen hinweg spähe ich hinein in den Querschnitt von Straßenschichten, die sich im Laufe der Jahrhunderte übereinandergeschichtet haben. Ich suche das Kopfsteinpflaster weiter unten, eingebettet zwischen Asphaltschichten, die nach den Unruhen von 1968 gelegt worden waren. Bei Aufständen hatten die Pariser traditionell Pflastersteine aus der Straße herausgehebelt und auf die Staatsgewalt geworfen – auf die Garde républicaine, die Bereitschaftspolizei, ganz egal – daher wurden die Pflastersteine in bestimmten Gebieten mit einer Asphaltschicht überzogen. Ich finde es aufregend zu sehen, wie sie wieder freigelegt werden, als würde man etwas zu sehen bekommen, das man nicht sehen sollte, das normalerweise verschlossen oder verborgen ist – wenn ich zum Beispiel an einer porte cochère vorbeikomme, die ich noch nie offen gesehen habe, und einen Blick in den weitläufigen Innenhof dahinter erhaschen kann, oder die schlammige Fläche einer Baustelle, wo vorher ein Haus gestanden hatte, oder sogar wenn ich auf den Hochbahntrassen der Métro wie der Linie 2 oder der 6 jemanden in seiner Wohnung sehe, der nicht weiß oder sich nicht darum schert, dass man ihn sehen kann.
Wenn die Straßenarbeiter in Paris die Straße aufreißen, ist es, als würden sie den Vorübergehenden einen Einblick in längst beendete Revolutionen geben, über die schon lange Gras gewachsen ist. Wie tief müssten sie baggern, um zu den Pflastersteinen zu kommen, die nach 1848, nach 1830 ersetzt worden sind? Ich denke darüber nach, wer, auf diesen Steinen laufend, die nächste Revolution geplant haben mag. Was treibt jemanden dazu, seine Finger in die oberste Schicht von Paris zu bohren, als wäre sie nichts weiter als Sand, und den Stein aus seiner Verankerung zu hebeln – womöglich mit einem Meißel oder einem Spaten? Sous les pavés la plage (»unter dem Pflaster der Strand«), hat jemand an die Wände der Stadt gesprayt, manchmal an genau jene Wände, auf denen bereits Défense d’afficher stand (Plakatieren verboten). Défense de ne pas afficher (Es ist verboten, nicht zu plakatieren) schreibt 1968 jemand an eine Wand der Sciences Po.
Was sieht man von einer Revolution, nachdem sie vorbei ist? Vielleicht eine bessere Welt. Ein paar Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur. Aber nicht immer – manchmal verändert sich überhaupt nichts. »Die Menschen müssen so viel hoffen, wenn sie die Straßen aufreißen und an Barrikaden kämpfen«, sinniert die junge Frau in Elizabeth Bowens 1935 erschienenem Roman Das Haus in Paris. »Aber, egal wer gewinnt, die Straßen werden neu gepflastert, und die Straßenbahnen fahren wieder darüber.« 1 Karen sehnt sich nach einem totalen, unwiderruflichen Umbruch, doch die Welt, in die sie hineingeboren wurde – Oberschicht, Regent’s Park, georgianische Londoner Reihenhäuser –, widersteht allen Bestrebungen nach Wandel. Sie spricht eher von privaten Revolutionen, dem Niedergang von Sitten und Familie, der Grenzüberschreitung im Zentrum des Romans, von der sie später behauptet, sie sei nie passiert.
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Beim Blick auf ihre Stadt tendieren Pariser dazu, eher über das Verschwundene zu schreiben als über das noch Sichtbare. »Die stadt wird mir fremd vor lauter veränderungen. Ein menschenherz ach! verändert sich nicht so schnell«, schrieb Baudelaire 2 . »Ach! Das alte Paris verschwindet mit erschreckender Geschwindigkeit!«, seufzte Balzac. Der surrealistische Dichter Louis Aragon verfasste ein Klagelied auf die Passage de l’Opéra, die 1822 erbaut wurde, 1925 jedoch abgerissen werden sollte, um Platz für den Boulevard Haussmann zu schaffen. Sie bestand aus der Thermometer-Galerie, der Barometer-Galerie und der Uhrwerk-Galerie, allesamt Technologien zur Vermessung der Umwelt, und war somit das ideale surrealistische Gelände. In seiner Autobiografie Panegyrikus beklagt sich Guy Debord: »Der Anblick der Seineufer lässt uns trauern: Hier ist nichts weiter als ein vor motorisierten Sklaven wimmelnder Ameisenhaufen.« 3 Wenn Baudelaire seufzt »Ein menschenherz ach! verändert sich nicht so schnell«, spricht er gewissermaßen von einer Frequenz von Veränderungen, die das menschliche Herz nicht erfassen kann. Kräfte des Wandels, welche die individuellen Kapazitäten überschreiten. Spuren der vergangenen Stadt sind, gewissermaßen, Spuren der Personen, die wir einst hätten sein können.
Hier und dort finden wir sie und fetischisieren sie. Ein Stück verblasster Reklame an der Seitenwand eines Hauses; die stillgelegte Eisenbahnstrecke, die unter dem Namen Petite Ceinture bekannt war, und deren Überreste man an Orten wie dem Parc Monstouris und Ménilmontant sieht; eine in den Boden eingelassene Gedenktafel nahe meiner ehemaligen Wohnung, die jeden, der sie bemerkt, darüber informiert, dass unter seinen Füßen die Bièvre fließt, die 1912 zu Zwecken der öffentlichen Abwasserentsorgung kanalisiert und in den Untergrund verlegt wurde. Wir betrachten Fotos von Atget und Marville und versuchen uns vorzustellen, dass diese Menschen, die in uns unbekannten Straßen mit ihren Schürzen und flachen Mützen in Türrahmen lehnen, keine Figuren aus einem Zola-Roman sind, sondern echte Menschen, die gelebt und geatmet haben – und lange genug stillhielten, um auf Film gebannt zu werden. Anders als viele ihrer Mitbürger in diesen fotografischen Stadtlandschaften, die sich zu schnell bewegten, um vom langsamen Blick der Kamera erfasst werden zu können.
Man muss innehalten; das ist der einzige Weg, sich unsterblich zu machen.
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Auf den Boulevards halte ich stets Ausschau nach Geistern. So viele Menschen sind durch Paris gekommen; haben sie irgendwelche Spuren hinterlassen? Manche Teile der Stadt scheinen noch von alten Seelen bewohnt zu sein, die nicht fortgehen wollen – bis hinauf zur Porte Saint-Denis und zum Saint Martin glaube ich sie spüren zu können, Menschenströme, Männer mit Melonen und Frauen in langen Röcken, ich spüre, wie sie sich an mir vorbeischieben, zusammen mit den Menschen aus meiner eigenen Zeit, mit unbedeckten Köpfen und kurzen Röcken. Andere Orte hingegen wirken vollkommen leer, eine tabula rasa, wie die nagelneue Stadt-in-der-Stadt in der Nähe der Bibliothek im 13., die mit ihren Bürgersteigen und makellosen neuen Häusern ganz aus Glas und Stahl ein bisschen an Anytown in den USA erinnert. Man kann sich kaum vorstellen, dass hier je etwas anderes – oder jemand anderes – gewesen sein soll, dass dieses Stück Erde nicht von Immobilienfirmen erschaffen wurde, um von Render-Geistern bevölkert zu werden.
Die meisten wichtigen Augenblicke meines Lebens haben sich hier abgespielt, da ich an der Schwelle zum Erwachsenwerden hergezogen und geblieben bin. Glück entwickelt sich, aus dem Nichts kristallisierte sich Freude heraus; mein Leben pulsierte in den Straßen mit denen so vieler anderer. Schlüsselstellen meines emotionalen Stadtplans von Paris glühen für einige Zeit hell auf, dann vergehen Licht und Hitze wieder; ich kann beispielsweise an diesem Brunnen an der Comédie Française vorübergehen, ohne daran erinnert zu werden, dass ich dort mal jemanden geküsst habe, oder an der Wohnung vorbeilaufen, in der ich mit einem Ex gewohnt habe, ohne an ihn zu denken. Was nicht heißt, dass diese Orte ihre emotionale Aufgeladenheit verloren hätten; doch ist etwas Unerwartetes nötig, um ein Streichholz anzureißen und die Luft in Brand zu stecken. Ein unerwartetes Gesicht. Ein Lied. Jemandes Rasierwasser.
Diese Signale aber treten in meiner ganz persönlichen Frequenz auf; für jemand anderen hätten sie keinerlei Bedeutung. Wir alle haben solche Signale, auf die wir reagieren, und solche, die wir lieber nicht bemerken wollen.
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»Orte erinnern sich an Ereignisse«, notierte James Joyce in den Randnotizen zu Ulysses. 4 Ich will Beweise sehen. Inschriften des Vergangenen, die über das hinausgehen, was man in Büchern lesen kann. Ich will die Stadt lesen wie ein Buch. Krieg, der sich in die Oberflächen von Gebäudefassaden eingeschrieben hat. Einschusslöcher. Gedenktafeln, die uns sagen, wer wo gestorben ist. Sacré-Cœur hockt wie eine neobyzantinische Hochzeitstorte auf dem Mont des Martyrs, eine architektonische Abbitte für das Blutvergießen der Pariser Kommune. Von der Kommune erfuhr ich erst als Studentin an der Pariser Uni und war fassungslos. Zigtausend Tote und das vor nur 130 Jahren? Es erschien mir erschreckend barbarisch. Warum hatte ich noch nie davon gehört? Gedenktafeln markieren die Stellen, an denen in den Vierzigern jüdische Kinder aus ihren Schulen deportiert oder résistants erschossen worden waren, manchmal akzentuiert mit einer Metallvase mit längst verwelkten Nelken. Mindestens einmal pro Woche komme ich an der Gedenktafel im Gehweg der Rue Monsieur-le-Prince vorbei, die Malik Oussekine gewidmet ist, jenem Studenten, der 1986 während einer Studentendemonstration von der Polizei totgeprügelt wurde. Er hatte nicht einmal an der Demonstration teilgenommen. 1961 verschlang die Seine hundert Algerier; hineingeworfen wurden sie von Polizisten unter dem Kommando des Nazi-Kollaborateurs Maurice Papon, weil sie für die Nationale Befreiungsfront demonstriert hatten, die in Frankreich Bombenattentate im Namen der algerischen Unabhängigkeit verübte; das war der Vorwand. 1961 sprayte jemand Ici on noie des Algeriens (»Hier ertränkt man Algerier«) an die Mauer der Brücke. Heute gibt es an der Pont Saint-Michel ein Denkmal, doch das Wasser trägt keine Spuren von ihnen.
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Paris mit seiner »eiligen, brodelnden, ungestümen Bevölkerung« hatte schon immer »ein Faible für Aufstände«, wie Théophile Lavallée 1845 schreibt, doch heute zeigt es der Welt, allen Revolten und Morden zum Trotz, ein ruhiges Gesicht. 5 Unternimmt man einen Streifzug durch die unteren Ebenen der Gare du Nord oder sieht sich die Polizeiserie Engrenages an, kann man schnell die schwelenden Dissonanzen ausmachen in der Stadt von heute.
Und doch gibt es Straßen, in denen man all das vergessen kann, Orte, die so schön sind, als wären sie noch nie von irgendeinem Konflikt berührt worden.
War dieses Fleckchen Erde schon immer so wunderschön? Ist den Römern das Licht hier aufgefallen?
Doch die Schönheit von Paris ist in hohem Maße menschengemacht, gefertigt aus Spekulation und Konflikten. Im ausgehenden siebzehnten Jahrhundert übertrug Louis XIV seinem Minister Jean-Baptiste Colbert die Entscheidung, welcher Stein sich am besten zum Bauen eigne. Sie suchten einen neuen Steinbruch, da in den bisherigen, direkt unter der Stadt, die vorhersehbaren Konsequenzen eintraten. (Diese Steinbrüche, die Charles-Axel Guillaumot abstützen ließ, wurden später genutzt, um die vielen Knochen vom Cimitière des Innocents zu entsorgen, als dieser Ende des achtzehnten Jahrhunderts geschlossen wurde.) 6 Colbert meldete, im Départment Oise habe eine Kommission einen Steinbruch gefunden, der bequem per Schiff zu erreichen sei und dessen Steine zu jenen passten, aus denen Notre-Dame erbaut worden war. Seither kommen die Steine für Pariser Gebäude aus den Kalksteinbrüchen von Saint-Maximin. 7 Hat man damals gewusst, dass die Häuser, die sie bauten, das Licht einfangen und reflektieren würden? Und wer hat die schräg abfallenden Schieferdächer gezeichnet, die Schornsteinaufsätze, deren Mauerwerkstücke von der Dachbiegung aufragen wie die Spitze des port de bras einer Ballerina; die tänzelnd erhobenen Finger, ein surrealistisches Symbol für aufsteigenden Rauch?
Manche dieser Häuser verdanken ihre Existenz Haussmanns entschlossenem Plan, Paris zu modernisieren; er riss ganze Stadtviertel nieder und vertrieb tausende Anwohner, um Platz für die Boulevards zu schaffen, die wir heute als so typisch für Paris wahrnehmen. 8 Sie repräsentieren gleichermaßen eine überwältigende stadtplanerische Meisterleistung und eine atemberaubende Missachtung des Lebens der einfachen Menschen. Ich bestaune die Schönheit der Boulevards, betrachte aber ihre Größe mit Argwohn, wurden sie doch dafür geplant, Truppenbewegungen und Warentransporte innerhalb der Stadt zu erleichtern, um einen eventuell aufkeimenden Aufstand leichter niederschlagen zu können (lebhaft noch die Erinnerung an den perfektionierten Barrikadenkampf von 1848) und gleichzeitig größere Mengen an Waren zu transportieren, die in den neu gebauten grands magasins – wie dem Bon Marché, der in Zolas 1883 erschienenen Roman Das Paradies der Damen einging – verkauft werden konnten. Eine amerikanische Freundin, die in London lebt, nimmt Paris seine liebliche Schönheit übel, die, wie sie nur teilweise scherzhaft argumentiert, nur um den Preis der Kollaboration mit den Nazis erhalten geblieben ist. Dann doch lieber die ehrliche Hässlichkeit des Nachkriegslondons, sagt sie, und hat nicht unrecht.
Andererseits hat sich auch London, ebenso wie Paris, die Taschen vollgemacht und seine Wunder auf den Verwüstungen des Empires aufgebaut.
Heute wird nach der Vorschrift des façadisme in Paris die Uniformität der Haussmannschen (und prä-Haussmannschen) Gebäude erhalten, aber nicht unbedingt das Haus dahinter; eine kontroverse Praktik, die einen, meiner Ansicht nach, interessanten Kompromiss ermöglicht und innerhalb der traditionellen Pariser Ästhetik eine hybride Art von Strukturen erschafft. Doch ich kann den Standpunkt der anti-façadistes nachvollziehen, die Gebäude würden dadurch auf hübsche Kulissen reduziert. Ich weiß nicht, ob ein solcher Fassadenerhalt in jeder Stadt funktionieren würde, und selbst in Paris wird es manchmal schlecht gemacht, aber im Prinzip habe ich nichts dagegen. In dieser obersten Schicht liegt das Destillat einer ganzen Kultur, und ohne sie wäre Paris nicht Paris. Im vierten Arrondissement wurde die Vorschrift so extrem umgesetzt, dass dort von einem hôtel particulier aus dem siebzehnten Jahrhundert nur noch ein entzückender freistehender Türdurchgang auf der Rue Beautreilis übrig ist. Dahinter steht, ohne jede Verbindung zu dem alten Durchgang, ein Betongebäude aus den 60ern. »Das ist Frankreich für dich«, nörgelte ein Exfreund einmal, als wir daran vorbeikamen. »Eine Tür, die nirgendwohin führt.«
Wenn ich in den Straßen von Paris nach Spuren der Zeit suche, nach Narben von Revolutionen und Umbrüchen, suche ich nach Beweisen dafür, dass die Pariser gegen das angekämpft haben, was ihnen aufgezwungen wurde, und nicht nur versuchten, ein möglichst ungestörtes Leben zu führen. Zwischen 1789 und 1871 erlebten diese Menschen etwa alle zwanzig Jahre einen Aufstand. Ich versuche zu begreifen, wie sie es geschafft haben, sich zu erheben, wie eine Ansammlung ganz normaler Menschen einen König stürzen und die Welt umgestalten konnte.
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Da, wo ich herkomme, geht man nicht einfach so ins Ausland. Ich kannte niemanden, der so etwas getan hätte, ausgenommen meine italienische Familie, aber die war vor Mussolini geflohen. Ich musste nicht vor einem faschistischen Regime flüchten, warum also eiste ich mich selbst von dem Ort los, an dem ich geboren war, von meiner Familie, meinem Freundeskreis, meiner Stadt, meiner Sprache? Der Flug dauert nur sechs Stunden, aber über viele Jahre hatte ich jedes Mal, wenn ich von JFK aus nach Paris flog, das Gefühl, ich würde von einer Klippe am Rande der Welt springen. Paris erreichte ich in einer depressiven Benommenheit, die genau wie der Jetlag zwei Tage lang anhielt. Was will ich hier? Was hält mich hier? Nachdem ich zu schnell zu weit gereist war, fühlte ich mich körperlich versehrt, als hätte ich die Entfernung zwischen mir und den geliebten Menschen verschluckt, und sie hätte mich von innen heraus zerrissen. Das weckte mein Interesse an Logistik, aber auch an Entfernungen und Familien, die weit voneinander entfernt leben. Ausgerechnet George Sand kam mir in den Sinn, die 1831 ihren Nichtsnutz von Ehemann und ihre geliebten Kinder im mittelfranzösischen Nohant verließ, um in Paris Schriftstellerin zu werden. Zu ihrer Zeit dauerte die Reise von Nohant nach Paris zehn Stunden. Das war eine andere Art von Entfernung. Es gab keinen Jetlag, aber auch keine Telefone. Sie konnte ihre Kinder nicht anrufen, um ihnen gute Nacht zu sagen. Sie war im selben Land, aber vollständig von ihnen abgeschnitten. Viele Frauen ihrer Schicht waren von ihren Kindern getrennt, wenn diese als Babys zu einer Amme gegeben oder später, ein wenig älter, auf ein Internat geschickt wurden. Doch eine Mutter, die ihr Zuhause verließ – das war ein Skandal.
Revolution. Das Wort enthält eine Bewegung zurück zum Ausgangspunkt. Wie eine Wendung um eine Achse, wie Himmelskörper am Firmament. Im Französischen bedeutet révolu längst vergangen, vorbei. Doch historisch, zeitlich gesehen, ist es unmöglich, an einen Ursprungspunkt zurückzukehren. Selbst wenn eine Revolution als gescheitert gilt und nichts verändert hat, wie beispielsweise bei den Ereignissen von 1832, ziehe ich die ungewöhnlichere Bedeutung »Wendung oder Biegung, eine Kurve oder Umwälzung« vor. Das OED verweist auf William Whinstons Übersetzung von Josephus aus dem Jahr 1737: »Denn diese Straßen verlaufen nicht gerade, sondern haben mehrere Wendungen.«
Ich stelle mir George Sand als eine solche Art von Revolution vor: als Biegung in einer Straße.
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Wir glauben, die Geschichte zu kennen: die Männerkleidung, die Liebhaber, die vielen, vielen Romane. Doch obwohl ihr Mythos in unser kulturelles Bewusstsein eingraviert ist, wird über ihr Werk nicht viel gesprochen. Zum Teil liegt das daran, dass es nicht ohne Weiteres auf Englisch verfügbar ist – aber zum Teil auch daran, dass die Leser die übersetzten Romane sentimental und enttäuschend fanden; es wird viel geweint und in Ohnmacht gefallen. Wir sind Lichtjahre entfernt von dem Strom schwarzer Flüssigkeit, der aus dem Mund der toten Emma Bovary fließt, während sie auf einem Tisch verwest, obwohl Flauberts Meisterwerk auf dem Höhepunkt von Sands Karriere veröffentlicht wurde. Anders als ihre Freunde und Zeitgenossen Balzac und Flaubert, die danach strebten, Männer und Frauen so auf Papier zu bringen, wie sie waren, mit Ecken, Kanten und Warzen, versuchte Sand ein Bild davon zu zeichnen, wie die Menschen sein könnten: emanzipiert von allen sozialen Fesseln, einschließlich Familie, Ehe, Kirche und Gesellschaft. Ihre Romane hatten jene romantische Tendenz zu exotischen Schauplätzen wie Italien (sie ließ sich stark von Madame de Staëls Roman Corinne, ou l’Italie aus dem Jahr 1807 inspirieren) und La Réunion und spielten sich auf einer Ebene der Möglichkeit statt in der realen Welt ab. Während eine ihrer Heldinnen, Indiana, bereit ist, ihre Ehre für die Liebe zu opfern, versucht eine andere, Consuelo, ihre Keuschheit und Ehre über alles andere zu stellen einschließlich der Liebe. Wie gesagt, in beiden Romanen wird viel geweint und in Ohnmacht gefallen. Sie sind nicht gerade das, was wir von unserem hosentragenden, zigarettenrauchenden Bohemien-Bild von Sand erwarten.
Sie schrieb zwar leidenschaftlich für die Ebenbürtigkeit von Männern und Frauen, war aber nicht direkt Feministin. Indianas größte Hoffnung ist, dass einmal der Tag kommen wird, »wo alles anders werden wird in meinem Leben, wo ich andern werde Gutes tun können, wo man mich lieben wird, wo ich mein ganzes Herz dem schenken werde, der mir das seinige schenkt, bis dahin will ich dulden und schweigen und meine Liebe als Lohn für den aufsparen, der mich befreien wird.« 9 Da es sich aber um eine Figur handelt, die ihren Mann verlässt und mit einem anderen durchbrennt, war eine solche Vision ehelicher Ebenbürtigkeit für 1832 ziemlich gewagt. Als feministische Gruppen ihrer Zeit sie aufforderten, sich ihrer Sache anzuschließen, gab Sand scharf zurück, sie kämpfe für die Rechte aller, nicht nur für die der Frauen.
Trotz dieser Einschränkungen war Sands Versuch, das Alltagsleben mit ihren großen Idealen zu versöhnen, und ihre Weigerung, so zu leben, wie es von ihr erwartet wurde, zu ihrer Zeit eine Inspiration – Alexander Herzen nannte sie die »Inkarnation der revolutionären Idee«, und ihre Romane sollten ganze Generationen von russischen Radikalen beeinflussen (die Ausbreitung ihrer Ideen in Russland wurden als Zhorshzandism bekannt) – und sollten uns heutzutage ebenfalls inspirieren. Doch während wir uns auf Sand, die Bohemienne stürzen, entgeht uns die interessantere Version von ihr: Sand, die Alltagsradikale. Vor allem in ihren autobiografischen Schriften führt sie uns vor Augen, dass Frauen in den Fugen der Geschichte alltägliche Revolutionen austrugen, und welche emanzipatorische Rolle der Stadt zukam. Sands Problem war, dass sie sich nicht recht vorstellen konnte, wie eine befreite Frau aussehen mochte.
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George Sand lässt sich nur schwer einordnen: Sie wollte sich keinen Platz zuweisen lassen. Sie wurde 1804 als Amandine Lucile Aurore Dupin geboren und Aurore genannt, ihr Vater Maurice Dupin war Offizier in Napoelons Armee. Ihre Mutter Sophie-Victoire Delaborde war Tänzerin in einem der bescheidensten Theater von Paris. Hineingeboren in eine Nische zwischen demokratischem Idealismus und royalistischem Luxus, war Sand politisch widersprüchlich. Auf der einen Seite der Familie waren ihre Vorfahren der König von Polen und der Maréchal de Saxe. Auf der anderen Seite ein Pariser Vogelhändler. In George Sand hatten sich, wie John Sturrock in der London Review of Books schrieb, das »Ancien Regime, über einen Schräglinksbalken mehr oder weniger, mit dem Pariser Proletariat gekreuzt«. 10 Sie ergriff Partei für die Arbeiter, die gewöhnlichen Männer und Frauen; zwar führte sie in Paris und Nohant ein komfortables Leben, doch das war hauptsächlich das Verdienst ihrer eigenen unerschöpflichen Feder. Abwechselnd in der Stadt und auf dem Land wohnend, ersehnte sie das eine im anderen und umgekehrt. Als pragmatischer, rationaler Mensch war sie strikt gegen jedes Übermaß, und doch hatte sie mehr Liebhaber und produzierte viel mehr Romane (lange, lange Romane, so lang wie die Nächte im neunzehnten Jahrhundert), als irgendjemand seither erfassen konnte. (»Wie zum Teufel hat George Sand das gemacht?«, fragt sich Colette in ihren Memoiren.) 11
Revolutionen bildeten die Interpunktionen ihres Lebens. Sie wurde in dem Jahr geboren, als Napoleon sich selbst zum Kaiser krönte, den endlosen Fraktionierungen und Machtkämpfen, die seit der Revolution fünfzehn Jahre zuvor herrschten, ein imperiales Ende setzte und das Blutvergießen auf das restliche Europa verlagerte. In seinen Bekenntnissen eines jungen Zeitgenossen schreibt Sands Liebhaber Alfred de Musset über ihre Generation: »Tausende Jungen, gezeugt in Pausen zwischen den Schlachten und aufgewachsen in Schulen beim Schlag der Trommel, tauschten grimmige Blicke und ließen ihre kümmerlichen Muskeln spielen. Von Zeit zu Zeit tauchten blutbefleckte Väter auf, drückten sie an ihre goldbesetzte Brust, setzten sie ab und stiegen wieder auf ihre Pferde.« 12 Der Große Cäsar befahl Frankreichs Jugend an seine Seite, wo sie bald darauf fiel. Und doch ließ für seine Kinder »etwas an diesem Wort Freiheit […] ihre Herzen in der Erinnerung an eine schreckliche Vergangenheit und der Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft höher schlagen.« Die »Söhne des Imperiums und Enkel der Revolution« gaben sich Ausschweifungen hin, »stürzten sich in die Zerstreuung, die Wein und Kurtisanen schenkten«: das »Leiden jener Zeit«. Sand selbst machte sich an die Arbeit, um sie zu heilen. »Du produzierst Verzweiflung«, wird sie später an Flaubert schreiben, »und ich produziere Trost.«
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Das war das neunzehnte Jahrhundert in Frankreich: sich fortwährend von einem Blutvergießen erholend, nur um das nächste auszulösen, immer in der Hoffnung, diesmal wahrhaftig eine gerechtere Welt hervorzubringen. Sie ist nie gekommen, obwohl Frankreich noch immer darauf wartet.
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Im Jahr 1830 saß Aurore Dudevant in einer lieblosen Ehe mitten im Nirgendwo fest, ihr Leben war unerträglich. All ihre Illusionen über Liebe, Ehe und Respekt waren von einer enttäuschenden Partie gründlich zunichtegemacht worden; ihre Ehe war keine wundervolle Vereinigung zweier Seelen, sondern ein Zusammenleben mit jemandem, mit dem sie bis auf die Liebe zum Reiten nicht viel gemein hatte. Für den Rest ihres Lebens sollte sie auf die Vernunftehe – und die Ehe an sich – schimpfen. Ihr Mann Casimir war im Schlafzimmer nicht der Rede wert und scheute sich nicht, ihr die eine oder andere kräftige Ohrfeige zu verpassen. Sie hatte eine idealisierte (also nicht vollzogene) Affäre mit Aurelien de Sèze, und eine »nicht idealisierte« mit Stéphane Ajasson de Grandsagne, dem manche die Vaterschaft ihres zweiten Kindes zuschreiben. Casimir vergnügte sich mit dem Zimmermädchen, aber davon nahm kaum jemand Notiz. Nur über Aurore wurde getratscht. Sie fühlte sich gedemütigt und unerfüllt. Ihr Bruder, der dazu neigte, die Partei ihres Mannes zu ergreifen, riet ihr durchzuhalten. Da waren die Kinder; um ihretwillen musste sie bleiben. Doch die Situation war unerträglich. Ein Fluchtplan musste die Kinder irgendwie mit einbeziehen.
In jenem trockenen, heißen Sommer fachten die Gerüchte von der Revolution in der Stadt auch in Nohant die Rebellion an. Ihr Blut erhitzte sich, wie sie zu ihrem Freund Jules Boucoiran sagte. »Ich spüre in mir eine Energie, von der ich bisher nichts ahnte. Die Seele entwickelt sich mit diesen Ereignissen.« 13 Boucoiran, der in Paris war, beschrieb ihr in Briefen, was dort vor sich ging. Karl X (der zweite Bourbonen-König seit der Restauration der Monarchie 1814) war immer unbeliebter geworden; er begünstigte die Kirche und den Adel, was der Verfassung von 1814 widersprach, und er führte Zensurmaßnahmen gegen die Presse ein, wogegen die Abgeordnetenkammer vehement protestierte. Im März 1830 wurde dem König und seinen Ministern das Misstrauen ausgesprochen.
Die Atmosphäre war angespannt; die Menschen warteten nur auf einen Fehltritt Karls, um sich gegen ihn erheben zu können. Den nötigen Vorwand lieferte er ihnen am 25. Juli, als er die Ordonnanzen unterzeichnete, die die Pressefreiheit aufhoben, das neu gebildete Parlament noch vor der ersten Zusammenkunft auflösten und die Mittelschicht von den Wahlen und Kandidaturen ausschlossen. Vom 26. bis 28. Juli gingen die Menschen auf die Barrikaden, ein Zeitraum, der als die drei Glorreichen oder Les Trois Glorieuses bekannt wurde. Doch so sehr sich Sand für die Sache des Volkes engagierte, war sie von Natur aus pragmatisch und sorgte sich, man habe Worte mit Ideen verwechselt und »viel Raum für eine künftige Rückkehr zum Absolutismus« gelassen. 14 Diese Rückkehr kam noch schneller als erwartet: Der Erfolg der Revolution bestand allein darin, einen König durch einen anderen zu ersetzen. Nach der Abdankung Karls X bestieg Louis-Philippe d’Orléans den Thron.
Aurore ritt beinahe jeden Tag ins nahe gelegene La Châtre, um die neuesten Nachrichten aus Paris zu erfahren; dabei lernte sie einen jungen Mann namens Jules Sandeau kennen, der seinen Vater über die Sommerferien in La Châtre besuchte. Er war erst neunzehn, sie sechsundzwanzig. Die beiden verliebten sich ineinander, hatten eine leidenschaftliche Affäre. Als er am Ende des Sommers nach Paris zurückging und Aurore mit ihrem Mann und den Kindern zurückließ, versprachen sie sich, sich bald wiederzusehen.
Die Lage spitzte sich zu, als sie eines Tages etwas im Schreibtisch ihres Mannes suchte und auf ein Bündel versiegelter Briefe stieß, die an sie adressiert und mit dem Vermerk »Erst nach meinem Tode zu öffnen« versehen waren. Obwohl er lebendig und wohlauf war, öffnete Aurore die Briefe (wer hätte das nicht getan?) und fand sie voller giftiger Verwünschungen gegen sie. Das war der Punkt, an dem sie beschloss, ihn zu verlassen. »Ich will eine Pension ausgesetzt haben«, verkündete sie Casimir, »und gehe für immer nach Paris, meine Kinder werden in Nohant bleiben.« 15
Sie bluffte; das war Verhandlungstaktik. Eigentlich wollte sie – und setzte es schließlich auch durch – ihre Tochter mitnehmen, die Hälfte des Jahres in Dreimonatsabschnitten in Paris verbringen und finanzielle Unterstützung in Höhe von 3000 Francs pro Jahr erhalten. Anfang 1831 zog sie in das Apartment ihres Bruders in der Rue de Seine 31 in Paris. Binnen kurzer Zeit zog sie bei Jules Sandeau ein, wo sie in einer winzigen Mansarde mit Blick über die Pont Neuf lebten. Später zogen sie in eine Dreizimmerwohnung am Quai Saint-Michel 29 mit Blick auf Notre-Dame. Wenn Sand in ihrer Autobiografie von dieser Zeit erzählt, lässt sie ihren Bettgefährten gänzlich unerwähnt.
In ihrer Version kam sie völlig mittellos nach Paris, um Schriftstellerin zu werden. Sie berichtet, im fünften Stock ohne Fahrstuhl und ohne Bedienstete gewohnt zu haben. (»Ich konnte noch nie Treppen steigen, aber ich musste, und oft mit meiner großen Tochter auf dem Arm.«) Nur eine treue Pförtnerin verdingte sich für fünfzehn Francs im Monat als eine Art Putzfrau. Der Besitzer einer Art Frittenbude des neunzehnten Jahrhunderts brachte Sand für zwei Francs am Tag ihr Essen. »Meine Leinenunterwäsche schrubbte und bügelte ich selbst.« (Was würde sie wohl zu unserem Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert sagen, wo wir unsere Wäsche selbst machen und unsere Mahlzeiten selbst kochen? Würde sie das abschrecken oder wäre sie neidisch?)
Für so viele junge Männer und Frauen war ein Umzug vom Land in die Stadt im Laufe der Jahrhunderte eine Chance gewesen, sich neu zu erfinden. Die großen französischen Schriftsteller haben diese Geschichte aufgezeichnet, von Stendahls Rot und Schwarz (1830) und Balzacs Verlorene Illusionen (1843) bis zu Flauberts Lehrjahre des Herzens (1869) und Zolas Das Werk (1886). Sand erkannte, dass sie als Frau nicht dieselbe Freiheit haben würde, Künstlerin zu sein, die Julien Sorel, Lucien de Rubempré, Frédéric Moreau oder Claude Lantier erlebten, sobald sie den ersten Fuß in die Stadt setzten. Sie musste etwas gegen diese Röcke unternehmen, gegen die zierlichen Schuhe und den allgemeinen Anschein der Verletzlichkeit. In ihrer Autobiografie schreibt sie:
»Also fertigte ich mir selbst einen Rédingote-guérite aus schwerem grauem Tuch, dazu eine passende Hose und Weste. Mit einem grauen Hut und einer breiten Wollkrawatte war ich der perfekte Erstsemesterstudent. Ich kann nicht in Worte fassen, welche Freude ich an meinen Stiefeln hatte: Am liebsten hätte ich darin geschlafen, wie es mein Bruder als Kind getan hat, als er sein erstes Paar bekam. Mit ihren kleinen, eisenbeschlagenen Absätzen hatte ich sicheren Tritt auf dem Pflaster. Ich flog von einem Ende von Paris zum anderen. Ich hatte das Gefühl, ich könnte die ganze Welt umrunden. Außerdem machten meine Kleider alles mit. Bei jedem Wetter lief ich hinaus, kam zu jeder Stunde nach Hause, saß im Theater im Parkett. Niemand achtete auf mich, und niemand durchschaute meine Tarnung … Niemand kannte mich, niemand sah mich an, niemand fand etwas an mir auszusetzen; ich war ein Atom, das sich in der gewaltigen Menge verlor.« 16
Die Kleidung einer feinen Dame war einfach nicht dafür gemacht, sich in der Stadt herumzutreiben, wie sie es mit ihrem Zirkel künstlerisch veranlagter junger Männer aus Berry tat.
»Literarische und politische Veranstaltungen, die Aufregung in den Theatern und Museen, die Clubs und die Straßen – sie sahen alles, sie gingen überallhin. Meine Beine waren so stark wie ihre, und ebenso meine guten, kleinen Berrichon-Füße, die gelernt hatten, in schweren Holzschuhen balancierend auf schlechten Straßen zu gehen. Doch auf dem Pflaster von Paris war ich wie ein Schiff auf dem Eis. Zierliche Schuhe gingen innerhalb von zwei Tagen kaputt; Überschuhe machten mich schwerfällig; ich war es nicht gewohnt, die Röcke zu raffen. Ich war schlammverschmiert und müde, mir lief die Nase, und ich sah meine Schuhe und meine Kleider – von den kleinen Samthütchen ganz zu schweigen – in beängstigender Geschwindigkeit schmutzig und in Fetzen in der Gosse liegen.« 17
Schon auf dem Land hatte Aurore Männerkleidung getragen, hauptsächlich zum Reiten; das war bei jungen Frauen in Berry eine Art Tradition. Doch in Paris ging sie einen Schritt weiter und versuchte – erfolgreich – sich als Mann oder doch zumindest als Junge auszugeben. In Hosen und Stiefeln konnte sie unabhängig von Wetter, Uhrzeit und Umgebung von einem Ende der Stadt zum anderen »fliegen« und in der Menge untertauchen wie ein echter Flâneur. Wie ironisch, dass ausgerechnet ein Trick, um sich unauffällig zu machen, Sand so herausstechen lassen würde. Durch die Männerkleidung wurde Aurore Dudevant zu George Sand, und für den Rest ihres Lebens war sie unübersehbar.
Diese Darstellung von Sand mag ich deutlich lieber als das der prahlerischen, aufsässigen Frau in Männerkleidung mit ihrer Zigarre und ihrem Liebhaber; mir gefällt, dass die Entscheidung aus reiner Frustration und nicht aus hochmütigem Idealismus entsteht. Ich kann vor mir sehen, wie sie ihren kleinen Samthut zu Boden schleudert und fauchend und fluchend darauf herumtrampelt. Eine weitere Inspiration kam von ihrer Mutter, die als junge Frau ebenfalls von einem winzigen Budget in Paris gelebt hatte. Sie berichtet, dass ihr Vater ihr Jungenkleidung anzog, um Geld zu sparen. »Das reduzierte unsere Lebenshaltungskosten um die Hälfte.« 18
Man kann förmlich sehen, wie sich die Rädchen in Sands Kopf drehen. Zu Fuß gehen ist ein Dauerthema in ihrer Autobiografie, die sogar mit dem Wort marcher, gehen, endet: Weitergehen auf dem Pfad Richtung »Nächstenliebe gegenüber allen«. Allein herumlaufen zu können und ihrem eigenen Geist treu zu sein, war für Sand die fundamentale Unabhängigkeitserklärung. Ihre geliebte und sehr elegante Großmutter sei nie irgendwohin zu Fuß gegangen, erinnert sich Sand, außer an Tagen der Trauer. »Ma fille, vous marchez comme une paysanne«, hatte ihre Großmutter ihr einmal gesagt – »du gehst wie eine Bäuerin«. 19 Ein Seitenhieb gegen Sands Mutter, die Tochter des Vogelhändlers.
Also lernte Sand, wie eine Dame zu gehen. Und dann lernte sie, wie ein Mann zu gehen.
Ihre Heldinnen ergriffen ähnliche Maßnahmen: Consuelo kleidet sich wie ein Junge, um sich zu schützen, als sie und Joseph Haydn zu Fuß von Böhmen nach Wien gehen, zwei Landstreicher, deren Gesichter jünger aussehen, als sie sind. Die Titelfigur in ihrem Theaterstück Gabriel kommt als Frau zur Welt, wird aber als Mann aufgezogen, bis er/sie im Alter von siebzehn hinter die Wahrheit kommt. »Ich glaube nicht, dass meine Seele ein Geschlecht hat«, erklärt Gabriel. 20 Sich wie ein Mann anzuziehen, verschafft Sands Figuren Zugang zu anderen Lebenserfahrungen, anderen Denkweisen oder die Möglichkeit, auf Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern hinzuweisen. Aus einer männlichen Perspektive zu schreiben, wie Sand es oft tat, ist ebenfalls eine Art des Cross-Dressings und ermöglichte ihr einen Einblick in eine andere Art Lebenswelt.
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Dass Sand Hosen trug, war auf seine Art ein revolutionärer Akt; zumindest war es illegal. Ein 1800 erlassenes Gesetz verbot es Frauen, sie in der Öffentlichkeit zu tragen. Dieses Gesetz ist heute immer noch in Kraft, wenngleich es selbstverständlich ignoriert wird, doch sogar noch 1969 scheiterte ein Versuch, es zu kippen. Solange das Gesetz noch aktiv durchgesetzt wurde, musste eine Frau, die ihre Röcke gegen Hosen eintauschen wollte, einen Antrag auf eine Sondergenehmigung stellen. Um eine solche zu erhalten, musste sie mittels Krankenakten nachweisen, dass sie eine hässliche Deformation hatte, aufgrund derer ein Erscheinen in Röcken unansehnlich wäre. Und selbst mit einer solchen Erlaubnis war es der hosentragenden Frau nicht gestattet, so auf Bällen, im Theater oder bei öffentlichen Versammlungen zu erscheinen. 21 Eine Kultur, die vor der blutgetränkten Place de la Revolution um eine Neudefinition rang, fixierte sich auf den weiblichen Körper als Werkzeug, um bestimmte Werte im Herzen der neuen Republik zu verankern.
In der französischen Revolution kämpften unzählige Frauen an der Seite ihrer Männer, Geliebten und Brüder, genau wie diese, in der Kleidung von Soldaten. Doch auch in Röcken besaßen die Frauen in der französischen Geschichte eine subversive Macht, die sich noch verdoppelte, wenn sie zu Fuß unterwegs waren. Die Revolution ging zum Beispiel erst richtig los, als ein Mob von Frauen nach Versailles zog. Der Sturm auf die Bastille war eher ein symbolischer Akt als alles andere; nur sieben Gefangene wurden befreit, darunter ein Falschmünzer-Pärchen und Verrückte. Doch der Marsch der Frauen nach Versailles im Oktober 1789 überzeugte den König und seine Familie, mit der Menge nach Paris zurückzukehren, wo sie im Palais des Tuileries eingesperrt wurden. Die Frauen hatten die Waffenkammern geplündert und mitgenommen, so viel sie tragen konnten, und ich bin sicher, dass sie furchteinflößend waren, als sie diese Waffen vor den Toren des Palasts schwangen.
Frauen waren schon lange Teil der Armeen, sie folgten ihnen von Feldlager zu Feldlager, arbeiteten als Waschfrauen, Dienstmädchen und Krankenschwestern, führten die Suppenküchen, waren Ehefrauen und Geliebte und, am Ende der Nahrungskette, Prostituierte, die den Soldaten körperlichen Trost spendeten, ohne je Respekt zu erfahren. Wenn sie kämpften, taten sie es mit Gewehren und Kanonen, zu Fuß und zu Pferde; sie wollten Mut zeigen und ihren Wert unter denselben Bedingungen unter Beweis stellen wie die Männer. Sie wollten nicht zu Hause bleiben, um Heim und Herd zu verteidigen und damit die Spaltung aufrechtzuerhalten, die Männern den öffentlichen Raum und Frauen das Private zuwies.
Französische Frauen sahen in der Revolution eine Chance, die Welt nach ihren Vorstellungen mitzugestalten, und darin ihre eigenen politischen Rechte einzufordern.
Sie waren willkommen – am Anfang. Manche wurden sogar in die Légion d’honneur aufgenommen. Doch mit der Zeit warf man ihnen, aus welchem Grund auch immer – vielleicht wegen der Promiskuität, die mit Frauen in der Armee assoziiert wurde –, Verrat vor. Das Schicksal von Olympe de Gouges, der Autorin von Erklärung der Rechte von Frau und Bürgerin (1791) und Madame Roland erinnern uns daran, was die Jakobiner mit Frauen machten, die ihnen zu weit gingen.
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1831, Jahre bevor sie anfing, sich für Menschenrechte einzusetzen, wollte Sand nur eines: ihre Unabhängigkeit. Die Stadt spielte dabei eine wichtige Rolle. Unmittelbarer war die Frage des Überlebens. Um Geld zu verdienen, wagte sie sich, wie sie an Boucoiran schrieb, »auf die stürmische See der Literatur« und schrieb für Le Figaro, damals eine Oppositionszeitung, ein ziemlich kleiner Haufen mit nur wenigen Abonnenten. Trotzdem zahlten sie gut genug, dass Aurore davon ein bescheidenes Leben bestreiten konnte, und ihre regierungskritischen Texte, die sie für das Blatt schrieb, machten sie schnell bekannt. Zusammen mit Jules schrieb sie für La Revue de Paris, und unter dem Pseudonym »J. Sand« schrieben sie gemeinsam den Roman Rose et Blanche. Es wurde ein großer Erfolg, und ihr Herausgeber wollte mehr. Doch Aurore wollte ihr Glück auf eigene Faust versuchen. Sie gab die Partnerschaft auf (Jules selbst aber erst 1833) und nahm ihr gemeinsames Pseudonym alleine an. Als Vornamen wählte sie Georges, in ihrer heimatlichen Provinz Berry ein häufiger Name, und anglisierte ihn, womöglich als Hommage an die englischen Nonnen, die sie als Kind in der Klosterschule unterrichtet hatten. Die Änderung ihres Namens war sozusagen eine »neue Eheschließung« zwischen »der jungen, angehenden Dichterin, die ich war, und der Muse, die mir Trost für meine Mühen spendete«, und Sand stellte die Frage: »Was ist ein Name in unserer revolutionierten und revolutionären Welt?« 22 Diesen Namen hatte sie selbst erfunden, er gehörte nicht ihrem Mann oder Vater oder Schreibpartner.
Sand wurde beinahe über Nacht berühmt. Ihr erster Roman Indiana wurde 1832 veröffentlicht, und die Besprechungen waren überwältigend. Zumindest Sand war überwältigt – von der plötzlichen Berühmtheit, die sie mit sich brachten, und auch von der Vehemenz, mit der die politische Agenda ihres Romans entweder gelobt oder angeprangert wurde. Sie protestierte – möglicherweise unaufrichtig –, sie verfolge keine andere Agenda, als eine Geschichte zu erzählen, die ihrem Gegenstand gerecht wird. Mancher Leser war überzeugt, die Geschichte sei von einem Mann geschrieben worden, während andere glaubten, sie ließe eine »beherzte Wollüstigkeit« erkennen, die nahelegte, sie sei von einer Frau und einem Mann verfasst worden: »dass die Hand eines jungen Mannes das kräftige, ordinäre Gewebe gestrafft und die Hand einer Frau es mit Seide und goldenen Blüten bestickt haben muss.« 23
Die Prämisse des Romans birgt Ähnlichkeiten zu Sands eigener Situation, bevor sie sich auf den Weg nach Paris machte. Indiana ist eine »junge Kreolin«, die auf der Île Bourbon (dem heutigen La Réunion) geboren wurde und außerhalb der französischen Gesellschaft aufwuchs, was häufig herangezogen wird, um ihr extrem naives Verhalten zu erklären: Den zeitgenössischen romantischen Idealen entsprechend, wird Indiana wegen ihrer exotischen Herkunft als unschuldig dargestellt. Sie ist unglücklich mit einem einige Jahre älteren Oberst verheiratet und lebt mit ihm außerhalb von Paris, wo sie heimlich von Ralph geliebt wird, einer Art Cousin, der ebenfalls von La Réunion stammt und sie aufgezogen hatte, als sie als Kind ausgesetzt worden war. Daher ist sie, als sie Raymon begegnet, gerade in der richtigen Situation, um sich Hals über Kopf in ihn zu verlieben, ihre Ehre aufs Spiel zu setzen (ein bisschen wie eine Jean-Rhys-Figur der Romantik) und gefährliche Seereisen von Frankreich nach La Réunion zu unternehmen, um bei ihm zu sein. Natürlich erweist er sich als untreu (sie erfährt später, dass er eine Affäre mit ihrer Zofe Noun hatte, die sich ertränkt, als er sie für Indiana verlässt) und heiratet eine andere. Indiana erleidet einen Nervenzusammenbruch, der mit der Julirevolution zusammenfällt, und wandert am Ende mit kahlgeschorenem Kopf und ohne Papiere durch die Straßen von Paris. Von hier entspinnt sich eine eigenartige Erzählung, in der Ralph Indiana davon abhält, sich in der Seine zu ertränken, nur um ihr dann seine Liebe zu gestehen und einen Selbstmordpakt mit ihr zu schließen, sich in La Réunion gemeinsam von einer Klippe zu stürzen. Der Epilog zeigt die beiden lebendig und wohlauf in einer Hütte, wo sie in einer mystischen Kommune à deux leben.
Leser sahen in diesem Roman eine Geißelung der Ehe. Sand widersprach und erklärte in den Vorworten zu späteren Auflagen, sie habe nicht die Absicht, die Gesellschaft aus den Angeln zu heben. »Manche wollen in dem Buch ein bewusstes Argument gegen die Ehe lesen«, schrieb sie im Vorwort der Ausgabe von 1852. »So ambitioniert war ich nicht, und über die vielen netten Dinge, die die Kritiker über meine subversiven Absichten zu sagen fanden, war ich aufs Äußerste überrascht.« 24 Womöglich war das zu viel des Protests, das Wort joug, oder Joch, kommt etwa zwanzigmal in ihrem Text vor.
Doch es war nicht die Ehe an sich, die Sand ins Visier nahm, sondern die anerkannten Moralbegriffe, die in ihrer Gesellschaft galten. Das Ende des Romans zeigt, was Sand vor Augen hatte: eine Balance, ein Gleichgewicht, wie Indiana und Ralph, die in ihrer Hütte gefährlich nah an einem Vulkan sitzen. Sand versuchte einen echteren, reineren Moralkodex zu formulieren als jenen, den ihre Zeit vorschrieb. Entscheidend dafür war der Begriff des freien Willens, und sie kämpfte dafür, dass Frauen wie Männer diesen ausleben konnten. »Wir alle werden mit Instinkten im Blut geboren, die uns mit schrecklicher Schicksalhaftigkeit lenken würden, wäre da nicht der freie Wille, der jedem von uns durch die göttliche Gerechtigkeit zuteil wird.« 25 Selbst ihre Landidyll-Romane (romans champêtres) über Berry, François das Findelkind und Die kleine Fadette, die beide als einfühlsame Erbauungsromane daherkommen, sind gewissermaßen Fallstudien, in denen Sand ihre Ideen über ein harmonisches Zusammenleben mit anderen und ihrem Gewissen erkunden konnte.
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Aus den alltäglichen Revolutionen wurden ganze historische Bewegungen geboren. 1830 schlossen sich die Arbeiter und Studierenden auf den Barrikaden zusammen, um der Tyrannei ein Ende zu machen. Was sie erreichten, war eine noch absolutistischere Regierung, nur unter einer anderen Familie. 1832, dem Jahr, nachdem Sand nach Paris gezogen war, gingen die Studierenden wieder auf die Barrikaden und warben um Unterstützung, um die Monarchie ein für alle Mal zu stürzen. Sie hatten keinen Erfolg, und von ihrer Wohnung mit Blick auf die Place Saint-Michel konnte Sand den tragischen Ausgang mitansehen. 26
Sie war allein mit ihrer Tochter in Paris. Die Cholera-Epidemie tobte schlimmer denn je, und sie hatten Angst, die Stadt zu verlassen – es hieß, das sei gefährlicher, als zu bleiben –, und falls sie den Erreger in sich trug, wollte Sand ihn nicht nach Nohant bringen. Mitten in dieser angespannten Situation brach in den schmalen Gassen rund um die Kirche Saint-Merry im Zentrum von Paris rechts der Seine der Konflikt aus: In der Rue Saint-Martin nahe der Kreuzung Rue Aubry-le-Boucher und Rue Maubuée, wo sich heute die Place Beaubourg und das Centre Pompidou befinden, wurden Barrikaden errichtet. Die Rebellen hielten Angriffen der Nationalgarde aus dem Süden und dem Norden stand. Charles Jeanne, der Anführer der Widerstandseinheit Saint-Merry, berichtet in einem Brief an seine Schwester: »Wir ließen sie bis auf Schussweite herankommen, ohne das Feuer zu erwidern, das sie auf uns niedergehen ließen, um sie dann ganz plötzlich mit [Gewehrfeuer und] ›Vive la république!‹-Rufen zu empfangen. Und sie blieben abrupt stehen und wussten nicht, was sie tun sollten. Sie zögerten lange, und dann kam von den Barrikaden und aus den offenen Fenstern die nächste Gewehrsalve und dezimierte ihre Reihen gewaltig. Sie waren keine disziplinierte militärische Einheit mehr, sondern nur noch eine Horde Kosaken in völliger Verwirrung.« 27
Es ist eine Eigenart der Historiker, sich fortwährend die Vergangenheit auszumalen, und davon besessen und begeistert zu sein, ohne auch nur für einen Moment Teil davon sein zu wollen. Wenn ich durch die Stadt gehe und nach sichtbaren Spuren ihrer Geschichte suche, kann ich nicht behaupten, ich würde es bedauern, nicht wirklich eine Französin im neunzehnten Jahrhundert gewesen zu sein. Ich empfinde keine Nostalgie, keine Sehnsucht nach etwas »Authentischerem«. Es wäre beängstigend gewesen, in Sands Jahrhundert zu leben. Es ist beunruhigend, an Soldaten mit Kampfhosen und Maschinenpistolen vorbeizugehen, wie wir es seit den Anschlägen auf Charlie Hebdo in Paris tun. Die Vergangenheit erscheint uns so fern wie ein anderer Planet, sogar wenn ich auf dem Boden stehe, wo sie sich abgespielt hat. Was ich fühle, ist der Wunsch danach, dass etwas zur Deckung kommt, dass eine Verbindung hergestellt wird, in der sich ihre Welt in unserer auflöst.
Sand spielte ganz in der Nähe, im Jardin du Luxembourg, mit ihrer Tochter, als sie bemerkte, dass sich von allen Seiten des Parks her Truppen näherten. Sie brachen auf und versuchten, durch die Seitenstraßen nach Hause zu kommen; dabei mieden sie die »Rotten neugieriger Schaulustiger, die, nachdem sie abgeriegelt und verhört worden waren, in plötzliche Panik verfielen und sich gegenseitig erdrückten.« Sand wusste, dass sie im Haus am sichersten wären, und drängte ihre Tochter weiter, »ohne stehen zu bleiben, um zu sehen, was geschah. Ich hatte noch nie Straßenkämpfe gesehen und keine Ahnung, was mich erwartete: die Blutrünstigkeit, die vom Soldaten Besitz ergreift und ihn, gepackt von überraschender Angst, zum tödlichsten Feind macht, dem man in einer Schlacht begegnen kann«. 28 Sie denkt darüber nach, wie wenig überraschend dieses Verhalten ist, denn betrachtet man die Geschichte von Gewalt im urbanen Raum, hatten die meisten Menschen keine Ahnung, was in ihrer nächsten Umgebung passierte, und aus Angst, angegriffen zu werden, griffen sie selbst an. Die Gerüchte von Gewalt verbreiteten sich »in einer Million wahnhafter Geschichten«.
Wo Sand einst in den Straßen die ersehnte Freiheit gefunden hatte, sah sie nun, dass ihr diese Freiheit vom Eifer der Meute genommen wurde. Doch auch nach ihrem Rückzug in ihre winzige Wohnung über der Place Saint-Michel war sie vom Spektakel der Auflehnung nicht ganz abgeschnitten. Die Straßen draußen waren in der Gewalt wütender Pariser und verängstigter, blutdurstiger Soldaten, doch die Schrecken des Straßenkampfs drohten auch in Sands Zuhause einzudringen. Sie lehnte eine Matratze ins Fenster, um Querschläger abzufangen, und tröstete ihre Tochter, die ganz krank vor Angst war. »Ich erzählte ihr, die Menschen da draußen würden Fledermäuse jagen, wie sie es bei ihrem Vater und ihrem Onkel in Nohant gesehen hatte. So schaffte ich es, sie zu beruhigen, und konnte sie inmitten des Gewehrfeuers zu Bett bringen.« Einen Teil der Nacht, schreibt sie, habe sie auf dem Balkon verbracht und in den Schatten zu erkennen versucht, was dort unten vorging. (Damals war Paris noch nicht die Stadt der Lichter; Anfang der 1830er-Jahre wurden erst nach und nach Gaslaternen in den Straßen aufgestellt.)
Das ist eine der aufregendsten Passagen ihrer Autobiografie. Ich möchte entsetzt sein, ich möchte mich an Sands Seite stellen. Ich bin bei ihr, voller Angst in ihrer Dachkammer, aber ich bin auch in meiner eigenen aufgeregt und betreten. Es ist unglaublich, ihren Bericht zu lesen und darüber nachzudenken, wie wenig sie von dem gewusst hat, was gleich um die Ecke passierte – wie sie sagt. So schwierig es ist, von Ereignissen am anderen Ende der Welt zu erfahren, ist es nicht weniger schwer, zu begreifen, was hinter dem eigenen Haus passiert. Oder direkt vor den eigenen Augen, denen ich im September 2001 nicht trauen wollte, als ich keine zwei Kilometer weiter nördlich die Türme des World Trade Centers einstürzen sah. Sands Bericht von den Kämpfen ist ganz anders; zum einen hat sie nichts davon gesehen, zum anderen gab es in ihrer Kultur noch keine Vorstellung von der absoluten Übersättigung mit Bildern, wie wir sie heute haben. Doch was sie begriff, war, dass in Zeiten der Gewalt das Spektakel an die Stelle der Wahrheit tritt.
In der Nacht übernahmen siebzehn Rebellen die Barrikade auf der Hôtel-Dieu-Brücke. In der Nacht startete die Nationalgarde einen Überraschungsangriff. »Fünfzehn dieser Unglücklichen«, schrieb Louis Blanc, »wurden zerstückelt und in die Seine geworfen. Zwei griff man in den umliegenden Straßen auf und schlitzte ihnen die Kehle auf.« 29 Sand selbst wurde nicht Zeugin dieser »schrecklichen Szene, die sich verborgen im Dunkel der Nacht abspielte«, doch sie berichtet, »wütende Schreie und das eindrucksvolle Getöse« gehört zu haben, »dann legte sich eine tödliche Stille über die erschöpft vor Angst schlafende Stadt.«
Am Morgen war es still in den Straßen. Die Brücken wurden bewacht, ebenso wie die Eingänge zu den umliegenden Straßen, Verkehr gab es nicht. »Die quais«, hielt sie fest, »die sich lang und leer im hellen Sonnenlicht erstreckten, erweckten den Eindruck einer toten Stadt, als hätte die Cholera auch ihren letzten Einwohner dahingerafft.« Die einzigen Regungen waren die der Schwalben, die über die Wasseroberfläche flitzten, und das »in solch nervöser Geschwindigkeit, als hätte die ungewohnte Ruhe ihnen Angst eingejagt«. Kein Laut war zu hören außer dem »erbitterten Schrei« der Vögel, die um die Türme von Notre-Dame kreisten. Die gefangenen Einwohner von Paris traten an die Fenster und auf die Dächer hinaus, um einen Blick darauf zu erhaschen, was vor sich ging. Und dann setzte das »unheilvolle« Geräusch wieder ein:
»Die Exekutionskommandos übten ihre Gerechtigkeit. Ich saß auf dem Balkon, achtete darauf, dass Solange in ihrem Zimmer beschäftigt war, damit sie nicht nach draußen sah, und konnte jeden Angriff und jede Erwiderung zählen. Und dann donnerten die Kanonen.
Beim Anblick der Brücke, verstopft mit Bahren, die eine blutige Spur hinterließen, glaubte ich, der Aufstand wäre noch stark. Doch seine Attacken wurden schwächer … Bald darauf kehrte Ruhe ein, und die Menschen kamen von ihren Dächern auf die Straße herunter. Die Portiers der Häuser, expressive Karikaturen verängstigter Hausbesitzer, riefen: Es ist vorbei! Und die Sieger, die nichts getan hatten als zuzusehen, brachen in einen Tumult aus. Der König schritt über die Uferstraße. An allen Straßenecken verbrüderten sich Bürger aus der Stadt und vom Lande. Die Soldaten waren würdevoll und ernsthaft. Für einen Moment hatten sie geglaubt, ihnen stünde eine zweite Julirevolution bevor.«
Die Erinnerung an jene Nacht sollte Sand für den Rest ihres Lebens begleiten. Noch Tage danach, schrieb sie, war der Quai Saint-Michel mit Blut befleckt. Zwei Wochen lang konnte sie kaum etwas essen, und noch für lange Zeit konnte sie kein Fleisch zu sich nehmen, nachdem die Straßen rot vor Blut gewesen waren, sich vor den Fenstern ein »grässliches Mauerwerk« aus Leichen auftürmte, und nachdem sie den Gestank des Schlachtens geatmet hatte, der »am 6. und 7. Juni, in den letzten Atemzügen des Frühlings, beißend und heiß aufstieg und sie weckte«.
Wozu war das alles gut? Das Blutbad im Juni 1832 bewirkte keine Veränderung des Regimes: Der Ausdruck der Verzweiflung blieb unbeachtet. Die Monarchie machte einfach weiter. Angewidert von der Stadt, zog sich Sand nach Nohant zurück und schrieb Valentine, ein Buch über eine junge Aristokratin, die sich in einen bettelarmen Bauern verliebt. Damit kehrte Sand zu ihren Hauptthemen jener Periode zurück: welche Einschränkungen die Ehe für Frauen bedeutete, und inwiefern Bildung ihren Horizont erweitern und ihnen helfen könnte, bessere Entscheidungen für sich zu treffen.
Das Blut von der Place Saint-Michel ist längst weggewaschen; alle Spuren sind unter frischen Asphaltschichten verschwunden. Und ich frage mich: Wie viele von den jungen Leuten, die hier an den Freitagabenden zusammenkommen, in ihre Handys plappern, einander umkreisen, flirten und abblitzen, während Gruppen von Jugendlichen breakdancen und Pakistani grell leuchtende LED-Spielzeuge so hoch in die Luft werfen, dass es aussieht, als würden sie nie wieder herunterkommen – wie viele von denen wissen, was genau hier, wo sie stehen, passiert ist? Dass irgendwann einmal, vor 186 Jahren, junge Männer gefallen sind, als sie sich gegen einen Monarchen erhoben haben, und dass George Sand von ihrem Balkon aus zu ihnen hinunterblickte und versuchte, in den Schatten die Opfer auszumachen.