2.EIN VIRUS AUF WELTREISE (JANUAR–APRIL 2020)

Der Flughafen Wuhan verfügt nur über wenige direkte transkontinentale Verbindungen. Aber er leistet umfangreiche Zubringerdienste zu den drei gigantischen Luftfahrt-Drehkreuzen Beijing, Shanghai und Hongkong, die China mit allen Weltregionen verbinden. Deshalb vermag es nicht zu verwundern, dass sich die aggressive Variante der Covid-19-Epidemie fast zeitgleich mit der Durchdringung Ost- und Südostasiens in weiteren Weltregionen ausbreitete.

Zur Zeit der Schließung des Flughafens Wuhan am 23. Januar war gerade der angebliche ›Patient 0‹ der transkontinentalen Übertragung positiv getestet worden – ein aus Wuhan zurückgekehrter US-amerikanischer Staatsbürger chinesischer Herkunft.1 Bis zum Ende des Monats trafen bei der WHO aus vier weiteren Weltregionen Berichte über die ersten Infizierten ein: aus Südasien (Nepal, Sri Lanka und Indien), aus dem Mittleren Osten (Vereinigte Arabische Emirate), aus Australien sowie aus vier Ländern Europas. Hinzu kam ein weiterer Erkrankter aus Nordamerika (Kanada). Es handelte sich jedoch noch um Einzelfälle, obwohl sich in einigen Ländern schon kleine Herdbildungen mit bis zu sechs positiv Getesteten abzeichneten.

Bis Mitte Februar wurde jedoch die Entstehung einer globalen Pandemie zur Gewissheit. Zwar blieben Lateinamerika und Afrika vorläufig verschont. Aber in einigen Ländern der außerhalb Ost- und Südostasiens gelegenen Weltregionen stiegen die Fallzahlen auf über ein Dutzend, und in Europa sowie im Nahen und Mittleren Osten kamen weitere Länder hinzu. Darüber hinaus hatte sich in den japanischen Hoheitsgewässern ein besonders markantes Cluster gebildet. Nachdem bei einem wenige Tage zuvor von Bord gegangenen Passagier des Kreuzfahrtschiffs ›Diamond Princess‹ nachträglich eine Covid-19-Infektion nachgewiesen worden war, hatten die japanischen Behörden eine Quarantäne verhängt. Am 15. Februar berichtete die WHO, dass von den knapp 3.800 Passagieren und Besatzungsmitgliedern schon 218 Personen infiziert waren. Dieses Ereignis warf ein besonderes Schlaglicht auf die komplexen und unberechenbaren Ausbreitungswege, die knapp drei Monate zuvor im ersten Groß-Cluster Wuhan begonnen hatten.

Die Ausbreitung in Europa

Bis zum 31. Januar 2020 meldeten vier europäische Länder die ersten positiv getesteten Covid-19-Patienten an die WHO. Am 5. Februar waren es neun, und dabei blieb es bis zur Monatsmitte.2 Das war der Zeitpunkt, zu dem man unter Berücksichtigung der Inkubationszeit (durchschnittlich 7–8 Tage), der Zeit bis zum ersten Arztbesuch und der Frist bis zum Bekanntwerden des Ergebnisses der Abstrichuntersuchung, davon ausgehen konnte, dass keine direkten ›Importe‹ aus dem zentralchinesischen Groß-Cluster mehr stattfanden.3 Wie sich bald herausstellte, wurden diese neun europäischen Länder unterschiedlich stark von der Pandemie heimgesucht, sodass sie als repräsentativ für den später flächendeckend betroffenen Kontinent gelten können. Wir werden deshalb die Ausbreitung der Pandemie in sechs dieser neun Länder rekonstruieren, die für die Entwicklung der Pandemie auf dem Alten Kontinent besondere Bedeutung erlangten: Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien, Schweden und Großbritannien.

Italien

Laut der offiziellen Darstellung begaben sich am 28. Januar 2020 in Rom zwei an Covid-19 erkrankte chinesische Touristen in ärztliche Behandlung.4 Das Ehepaar stammte aus Wuhan. Es war am 23. Januar auf dem Flughafen Malpensa-Milano gelandet und über Verona und Parma in die italienische Hauptstadt weitergereist. Das Genom des Virus wurde schon am 3. Februar sequenziert. Drei Tage später erkrankte auch ein aus Wuhan repatriierter Italiener. Trotz der ominösen Reiseroute der beiden chinesischen Touristen wurde lange gerätselt, inwieweit sie bei der unbemerkt gebliebenen Entstehung der ersten Infektionsherde in Norditalien eine Rolle gespielt hatten. Nach dem heutigen Wissensstand ist dies auszuschließen. Das Virus war schon Monate zuvor aus dem Fernen Osten eingeschleppt worden, und daraus entwickelte sich zu Beginn des Jahrs 2020 entweder eine aggressive Mutante, oder eine solche gelangte schon zu diesem Zeitpunkt als blinder Passagier in die Lombardei. Gesichert ist hingegen die Entstehung des ersten Clusters in der lombardischen Stadt Codogno. Dort wurde am 16. Februar ein 38-jähriger Italiener wegen schwerer Atemwegsprobleme ins Krankenhaus eingewiesen. Da es zu dieser Zeit noch keine Erfahrungen mit dem neuen Virus gab, wurde er zunächst nicht isoliert und infizierte zahlreiche Patienten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Krankenhauses. Dasselbe geschah am 23. Februar in einem Krankenhaus der Stadt Azzano nördlich von Bergamo, wo ein anderer an Covid-19 Erkrankter zahlreiche Mitpatienten sowie mehrere Krankenschwestern und Ärzte ansteckte. Ausgehend von diesen beiden – und wahrscheinlich noch weiteren – Krankenhäusern kam es in der Umgebung Codognos und in der Provinz Bergamo zu zahlreichen lokalen Infektionsherden, die sich bis Anfang März auf die gesamte Lombardei ausdehnten. Ihre Entwicklung konnte durch die nun rasch einsetzende epidemiologische und virologische Untersuchung der ersten Ausgangspunkte nicht mehr abgebremst werden. Besonders ominös waren die Ergebnisse der Genomanalysen. Es wurden mehrere Varianten des ursprünglichen Erregers gefunden, die zeigten, dass es mindestens zwei unterschiedliche Infektionsstränge gab, die sich in der Lombardei überkreuzten.5 Damit war der Beweis erbracht, dass in Norditalien (Lombardei und Venetien) im Verlauf des Februars mehrere lokale Cluster entstanden sein mussten, die trotz der Krankenhausbehandlung einiger schwerkranker Covid-19-Patienten unentdeckt geblieben waren. Auch in Südtirol, im schweizerischen Tessin und in der südlichen Nachbarregion Emilia Romagna bildeten sich weitere Cluster. Zusätzlich exportierten tausende Kurzurlauber die Erkrankung nach Europa.

Seit dem 6. März berichteten die Gesundheitsbehörden aller Provinzen über ansteigende Infektionszahlen, aber Norditalien und insbesondere die Lombardei waren und blieben bis Ende April besonders betroffen. In der Lombardei entstanden zusätzlich zu Codogno und zur Provinz Bergamo weitere lokale Schwerpunkte, so vor allem in Brescia, Piacenza und Pesaro. Bis zu 20 % der positiv Getesteten erkrankten schwer, im Verlauf des März mussten zeitweilig bis zu 10 % aller Erkrankten auf Intensivstationen behandelt werden. Das seit Jahren deregulierte und weitgehend kommerzialisierte Gesundheitswesen der Lombardei war extrem überfordert. Vor allem in Codogno und der Provinz Bergamo kam es zu katastrophalen Situationen. In den Kliniken und Altenheimen stieg die Fallsterblichkeit in der zweiten Märzhälfte dramatisch, auch die Übersterblichkeit erhöhte sich markant. Die Zahl der täglich Neuerkrankten erreichte am 22. März mit 6.557 Patienten ihren Höhepunkt und ging seither langsam zurück; am 22.April lag die Zahl der Genesenen erstmalig über derjenigen der neu diagnostizierten Infizierten. Aufschlussreich ist auch die Entwicklung der Fallsterblichkeit: Fünf Tage nach dem Höhepunkt der positiv Getesteten starben am 27. März 939 Erkrankte; seither wurde ein allmählicher Rückgang verzeichnet. Bis zum 25. April wurden in Italien 192.994 Menschen positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Von ihnen waren bis zu diesem Tag 25.969 verstorben. Die Dynamik der Übertragung war unverändert diffus und unkontrollierbar (community transmission).

Frankreich

Der erste offiziell registrierte Covid-19-Patient der ersten Welle in Europa war ein Chinese mit französischem Pass, der am 24. Januar 2020 nach seiner Rückkehr aus China im Universitätskrankenhaus Bordeaux positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurde.6 Am Abend desselben Tags wurde diese Diagnose auch bei einem chinesischen Ehepaar betätigt, das am 18. Januar eingereist war. Am 28. und 29. Januar erkrankten ein weiterer aus der Provinz Hubei stammender 80-jähriger Tourist und dessen Tochter an Covid-19; er starb am 14. Februar in einem Krankenhaus und war das erste Todesopfer der Pandemie in Europa. Am 30. Januar erkrankte ein französischer Arzt aus Paris, nachdem er einen inzwischen nach China zurückgekehrten und dort positiv getesteten Touristen behandelt hatte.

Zu Beginn der zweiten Februarwoche berichteten die Gesundheitsbehörden über fünf Angehörige einer französischen Reisegruppe, die sich im Kontakt mit einem aus Singapur eingereisten Briten infiziert hatten. Bis Ende Februar wurden in mehreren Departements weitere Infektionsherde lokalisiert, vor allem in Oise, Haute-Savoie und Morbihan. Bei den Umgebungsuntersuchungen ließen sich Kontakte zu infizierten Chinesen nachweisen, während sich einige Erkrankte zuvor in der Lombardei aufgehalten hatten. Die Vielfalt der Übertragungswege – China, Singapur und Norditalien – war ominös. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann der erste Groß-Cluster auftreten würde.

Dies geschah in Mulhouse im Elsass. Dort hatte in der Zeit vom 17. bis 24. Februar der Kirchentag einer evangelikalen Religionsgemeinschaft stattgefunden. Von den etwa 2.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern erkrankten zahlreiche Familien und Einzelpersonen aus ganz Frankreich und den französischen Überseegebieten an Covid-19. Da keine Teilnehmerlisten geführt wurden und unter den Gläubigen eine starke tägliche Fluktuation herrschte, verzweigten sich die Infektionsketten unkontrolliert weiter. Vor allem Ost- und Südfrankreich waren betroffen. Im Verlauf der ersten Märzwoche geriet die Epidemie außer Kontrolle. Neue Groß-Cluster entstanden, vor allem in Strasbourg, wo auch die Universitätsklinik betroffen war. Aber auch die in den anderen Departements entdeckten kleineren Infektionsherde konnten nicht mehr eingedämmt werden. Besonders betroffen waren die Departements Rhône, Bas-Rhin und Haut-Rhin, Moselle sowie die Metropole Paris und die Seine-Departements.

Ab Mitte März stieg die Zahl der täglich neu Infizierten steil an und erreichte am 31. März mit 7.578 neu hinzugekommenen Patientinnen und Patienten ihren Gipfelpunkt. Bis zum Beginn der zweiten Welle Anfang September 2020 ist sie – wenn auch keineswegs linear – zurückgegangen. Der Anstieg der Hospitalisierten und auf die Intensivstationen verlegten Schwerkranken folgte mit einer knapp einwöchigen Verzögerung. Zwischen dem 5. und 10. April befand er sich auf hohem Plateau und war seither rückläufig. Das Personal und die Kapazitäten der Kliniken waren drei Wochen lang extrem überlastet, und es kam zu dramatischen Szenen. Auch die Fallsterblichkeit war hoch, insbesondere in der ersten Aprilwoche und dann nochmals am 15. April (1.438 Tote). Am 25. April bezifferte die WHO die kumulative Zahl der mit SARS-CoV-2 Infizierten auf 121.338, 22.112 Patienten waren gestorben. Die Ausbreitung der Epidemie wurde unverändert als unkontrollierbar (community transmission) eingestuft.

Deutschland

In Deutschland wurde die sich anbahnende Pandemie erstmalig am Fall eines lokalen Clusters erkannt, der am 27. Januar 2020 entdeckt wurde.7 An diesem Tag wurde der deutsche Mitarbeiter eines bayerischen Autozulieferers positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Er hatte sich während einer betriebsinternen Schulung an einer chinesischen Kollegin infiziert, die gerade von einem Besuch bei ihren Eltern aus Wuhan zurückgekehrt war. Einen Tag später wurde die Infektion von drei weiteren Mitarbeitern bestätigt, und ab dem 30. Januar entstanden die ersten familiären Ableger außerhalb des Unternehmensstandorts. Heute wird dieser erste lokale Cluster in Deutschland auch deshalb als ominös angesehen, weil dabei Infizierte entdeckt wurden, die keinerlei Krankheitssymptome aufwiesen (dazu noch weiter unten).

Knapp einen Monat später meldeten die Gesundheitsbehörden Baden-Württembergs die ersten Infektionsfälle. Sie gingen von einem in Göppingen lebenden 25-Jährigen aus, der gerade aus Mailand zurückgekehrt war und am 25. Februar positiv getestet wurde. Einen Tag später erkrankten zwei weitere nahe Bezugspersonen. Am selben Tag wurde in Rottweil ein zweites familiäres Cluster aufgedeckt, wobei die Infektionskette ebenfalls in die Lombardei (Codogno) zurückreichte. Bis Ende Februar wurden in Baden-Württemberg weitere lokale Cluster identifiziert. Sie konnten wie in Bayern nicht vollständig rückverfolgt werden.

Das dritte regionale Cluster wurde ebenfalls noch im Februar (27.2.) aufgedeckt. Es hatte seinen Ursprung im Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf und konnte ebenfalls nicht eingedämmt werden. Bis Mitte März wurden aus der Hansestadt 96 akut an Covid-19 Erkrankte gemeldet. Auch Hamburg gehörte zeitweilig – relativ zur Einwohnerzahl – zu den regionalen Schwerpunkten der Pandemie in Deutschland.

In der Öffentlichkeit hat ein weiterer, in Nordrhein-Westfalen entstandener Infektionsherd wegen seiner Entstehung und Größe besondere Beachtung gefunden – Heinsberg. Wie im gesamten Rheinland wurde in diesem Landkreis der Karneval (von der Weiberfasnacht am 20.2. bis zum Faschingsdienstag 25.2.) ausgiebig gefeiert. Am 24./25. Februar wurde erstmalig ein Ehepaar positiv getestet, das eineinhalb Wochen zuvor an einer Karnevalssitzung in Gangelt bei Heinsberg teilgenommen hatte. Anschließend erkrankten weitere Teilnehmer, und bis zum Ende des Monats waren im Kreis Heinsberg schon 60 Infizierte nachgewiesen. Auch im übrigen Rheinland und Ruhrgebiet entstanden in den folgenden Tagen weitere kleine Infektionsherde.

Bis Ende April blieben Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg und Nordrhein-Westfalen die regionalen Schwerpunkte der Epidemie. Zusätzlich kam es zu einer kommunalen Ausbreitung, die ab Ende März alle Bundesländer erfasste. Als Einfallstore wurden neben China und Norditalien auch die alpinen Skigebiete identifiziert, aus denen nach den Frühjahrsferien tausende Kurzurlauber zurückkamen. Diese viralen ›Importe‹ trafen auf spezifische saisonale Konstellationen, die – wie etwa die Karnevalszeit – ihre rasche lokale Vervielfältigung begünstigten. Ab Mitte März konnte die Epidemie nicht mehr gezielt eingedämmt werden. Deutschland wurde nach Italien, Frankreich und Spanien zu einem der am schwersten betroffenen Länder Europas. Die Zahl der täglich neu registrierten Infizierten stieg bis 28. März auf 8.294 Personen und ging bis zum Beginn der zweiten Welle – wenn auch mit unterschiedlich hohen Ausschlägen nach oben – langsam zurück. Die Zahl der im Zusammenhang mit Covid-19 Gestorbenen erreichte Mitte April mit maximal 315 Todesopfern täglich ihren vorläufigen Gipfelpunkt und war seither ebenfalls rückläufig. Die Kapazitäten der Krankenhaus- und Intensivpflege waren immer ausreichend. Bis zum 25. April waren insgesamt 151.439 Personen positiv getestet. 5.500 Patienten und Patientinnen waren verstorben und etwa 109.800 Personen hatten die Erkrankung überstanden.

Spanien

Anfänglich schien Spanien einen eher glimpflichen Verlauf der Epidemie durchzumachen, denn die ersten Infektionen konnten eingedämmt werden.8 Zudem traten sie außerhalb des europäischen Festlands auf. Am 31. Januar wurde das Virus bei einem deutschen Touristen auf der Kanareninsel La Gomera nachgewiesen, am 9. Februar bei einem Briten in Palma de Mallorca. Vier Tage später kam eine erste Alarmmeldung aus Madrid: Dort war ein aus Nepal zurückgekehrter und an Covid-19 erkrankter Spanier gestorben. Bis Ende Februar deckten die Gesundheitsbehörden etwa ein Dutzend weitere Einzelfälle auf, die sich durch eine Vernetzung mehrerer, aus Italien importierter Infektionsketten auszeichneten. Infolgedessen konnte die Entstehung erster Cluster auf Tenerife sowie in Madrid, Valencia und Katalonien nicht verhindert werden. Spanien war offensichtlich das erste Land, das eine überwiegend innereuropäische Übertragungsgeschichte aufwies.

Bis zur zweiten Märzwoche war die Bildung der ersten größeren Infektionsherde weitgehend abgeschlossen. Nun folgte eine unkontrollierte Ausbreitung, bei der sich in kürzester Zeit einige metropolitane und regionale Großcluster herausbildeten. Besonders betroffen waren seither – in der Reigenfolge der Häufigkeitsdichte – der Großraum Madrid, Katalonien mit der Metropole Barcelona, Castilla-La Mancha, das Baskenland, Castilla y León, Andalusien und Valencia. Am 13. März wurden erstmalig mehr als 1.000 neu Infizierte gemeldet, mit 9.222 neu Erkrankten erreichte sie nach knapp zwei Wochen ihren Gipfelpunkt und war danach – wenn auch diskontinuierlich – rückläufig. Der Anstieg der täglichen Todesfälle folgte mit nur wenigen Tagen Verzögerung. Am 2. April waren mit 950 die meisten Gestorbenen zu beklagen. Es handelte sich dabei überwiegend um ältere Menschen (Median etwa 80 Jahre), die an schweren Grunderkrankungen – kardiovaskuläre Probleme, Diabetes, Bluthochdruck und chronische Atemwegserkrankungen – gelitten hatten. Diese Befunde stimmten mit den Berichten aus Frankreich, Italien und Deutschland überein.9 Bis zum 25. April registrierten die spanischen Gesundheitsbehörden insgesamt 210.764 an Covid-19 Erkrankte und 22.524 an oder mit Covid-19 Gestorbene. Dabei wurden nur die Krankenhausfälle dokumentiert. Die Schätzungen der Übersterblichkeit machte einige Wochen später eine bedrückende Korrektur nach oben erforderlich Es wurde bekannt, dass allein in den Alten- und Pflegeheimen Madrids 6.000 Menschen der Pandemie zum Opfer gefallen waren.10

Schweden

Die schwedischen Behörden berichteten am 31. Januar über die erste an Covid-19 Erkrankte, eine Chinesin, die am 24. Januar aus Wuhan eingereist war.11 Sie infizierte dank ihrer sofortigen Isolierung offensichtlich keine weiteren Personen. Das wirkliche Infektionsgeschehen startete deshalb erst am 26. Februar, als ein kurz zuvor aus Norditalien zurückgekehrter Schwede positiv getestet wurde. Schon einen Tag später kamen fünf weitere Patienten hinzu, die sich zuvor ebenfalls in Italien bzw. im Iran infiziert hatten. Im Ergebnis intensiver Testserien bei Rückkehrern wurde in den folgenden Wochen bei weiteren 200 Menschen ein positiver SARS-CoV-2-Befund nachgewiesen. Die Gesundheitsbehörden hofften, dadurch eine unkontrollierbare lokale Ausbreitung verhindern zu können.

Dies gelang jedoch nicht. Am 9. März traten im Großraum Stockholm und in Gotland die ersten kleinen Infektionsherde auf, die auf innerschwedischen Übertragungswegen entstanden waren. Am 11. März war in Stockholm das erste Todesopfer, ein über 70-jähriger chronisch kranker Patient, zu beklagen. Bis Mitte März gab es 1.190 positiv getestete Erkrankte, am 2. April registrierten die Gesundheitsbehörden 4.400 Covid-19-Patienten und knapp 200 Verstorbene. In den folgenden Wochen konzentrierte sich das epidemische Geschehen immer mehr auf den Großraum Stockholm, wobei vor allem die Alten- und Pflegeheime betroffen waren. Dies führte zu einem überproportionalen Anstieg der Fallsterblichkeit. Bis zum 25. April war die Zahl der positiv getesteten Erkrankten auf 17.567 und die Zahl der Todesopfer auf 2.152 gestiegen. Bei diesen eher moderat wirkenden Zahlen muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Einwohnerzahl Schwedens mit 10,2 Millionen Menschen fünf- bis achtmal kleiner ist als in Spanien, Italien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Relativ zur jeweiligen Bevölkerungsgröße (Fallzahlen bzw. Fallsterblichkeit pro 100.000 Einwohner) sind die Unterschiede weitaus geringer.

Großbritannien

Auch das Vereinigte Königreich wurde am 31. Januar 2020 durch den SARS-CoV-2-Nachweis bei zwei Erkrankten in die Pandemie einbezogen.12 Es handelte sich dabei um einen chinesischen Studenten und dessen Partnerin; er war drei Wochen zuvor aus der Provinz Hubei zurückgekehrt. Am 6. Februar wurde in Brighton ein dritter Patient positiv getestet und isoliert; er war aus Singapur gekommen und hatte während eines Zwischenaufenthalts in Frankreich schon sechs Verwandte infiziert. Auf diesen Patienten ging ein erster Infektionsherd in Brighton zurück, einige Tage später wurden dort vier Kontaktpersonen positiv getestet. Darauf folgten am 23. Februar dreizehn weitere Krankheitsfälle: Es handelte sich um Passagiere der ›Diamond Princess‹, die nach Großbritannien zurückgeholt worden waren. Am 28. Februar wurde in Wales ein erster aus Norditalien zurückgekehrter Kurzurlauber positiv getestet, nachdem er wegen seiner Symptome um ärztliche Hilfe nachgesucht hatte. Die daraufhin eingeleiteten Testserien bei zurückgekehrten Italienurlaubern deckten in den folgenden Tagen weitere Infektionen auf, und seit den ersten Märztagen riss die Kette der positiven Nachweise nicht mehr ab. Da jetzt nach England und Wales auch in anderen Regionen – insbesondere Schottland – erste Cluster entdeckt wurden, war die bis dahin versuchte lückenlose Rückverfolgung der Infektionsketten nicht mehr möglich. Am 14. März überschritt die Zahl der positiv Getesteten die 1.000-Marge, 21 Patienten waren mittlerweile gestorben. Nun begann eine nicht mehr kontrollierbare landesweite Ausbreitung der Infektion. Die Zahl der Covid-19-Patienten erhöhte sich bis zum 31. März auf 22.415, 1.408 Patienten waren gestorben. Zentrum des Geschehens war seither mit weitem Abstand die Metropole London, gefolgt von Schottland und den englischen Regionen Midlands, South East und North West. Bei dieser regionalen Schwerpunktbildung blieb es bis Ende April, nachdem sie sich im Verlauf der rasanten Ausbreitung der Epidemie immer deutlicher akzentuiert hatte. Die britischen Gesundheitsbehörden meldeten der WHO am 25. April insgesamt 143.468 positiv getestete Covid-19 Patienten, von ihnen waren 19.506 gestorben. Damit lag das Vereinigte Königreich mit der Zahl seiner Todesopfer hinter Spanien, Italien und Frankeich an vierter Stelle in Europa.13

Die übrigen Länder Europas

Nach dem Stichtag 15. Februar erreichte die Covid-19-Pandemie nach und nach die übrigen Länder Europas. Bis zum 29. Februar kamen Berichte über Erstinfektionen aus weiteren vierzehn Ländern, darunter der Schweiz, aus Norwegen, Österreich, Dänemark, den Niederlanden und den Baltischen Staaten. Zwei Wochen später waren alle Nationalstaaten innerhalb wie außerhalb der Europäischen Union sowie der Russischen Föderation betroffen, also auch die Länder Südosteuropas und Ostmitteleuropas sowie die Ukraine. Im Gegensatz dazu schwächte sich die Dynamik der Pandemie in Ost- und Südostasien stark ab. Am 19. März übertraf die Zahl der in Europa registrierten Infizierten und im Zusammenhang mit der Covid-19-Infektion Verstorbenen mit 104.091 bzw. 4.899 Gestorbenen die in China sowie in Ost- und Südostasien dokumentierten Erkrankten und Todesopfer erstmalig um etwa 20.000 bzw. 1.200.14 Damit hatte Europa Ost- und Südostasien als Epizentrum der Pandemie abgelöst.

Covid-19 in den USA

Schon am 20. Januar 2020 wurde ein erkrankter US-Bürger positiv auf SARS-CoV-2 getestet – der erste Fall außerhalb Ost- und Südostasiens. Er war einige Tage zuvor aus Wuhan nach Seattle im Bundesstaat Washington zurückgekehrt.15 Zwei Tage später bestätigte sich diese Verdachtsdiagnose auch bei einer Frau aus Chicago, die sich zuvor ebenfalls in Wuhan aufgehalten hatte. Am 23. Januar kam eine weitere Fallbestätigung aus Kalifornien mit derselben Vorgeschichte. Zwei weitere US-Bürger, deren Covid-19-Erkrankung am 26. Januar bestätigt wurde, hatten sich ebenfalls in den Wochen zuvor in Wuhan aufgehalten. In den letzten Januartagen begannen die US-Behörden mit der Repatriierung und Quarantäne-Überwachung ihres Personals aus Wuhan. Als am 31. Januar ein weiterer Bürger Kaliforniens nach seiner Rückkehr aus Wuhan wegen seiner Krankheitssymptome positiv getestet wurde, proklamierte das Gesundheitsministerium der USA eine ›public health emergency‹. Es verbot allen Nicht-Amerikanern, die sich bis 14 Tage zuvor in Wuhan aufgehalten hatten, die Einreise, und ordnete für alle amerikanischen Wuhan-Rückkehrer eine Quarantäne von 14 Tagen an.

Einen Tag zuvor war jedoch in Chicago die erste familiäre Übertragung bekannt geworden: Einer der erkrankten Wuhan-Rückkehrer hatte seine Frau angesteckt. Seit Anfang Februar kamen aus mehreren Bundesstaaten Berichte über weitere Ansteckungsherde, die sich auf die Universitäten konzentrierten. Betroffen waren vor allem chinesische College-Studierende aus Wuhan bzw. der Provinz Hubei. Hinzu kamen insbesondere in Kalifornien weitere innerfamiliäre Cluster, die mit amerikanischen Wuhan- und Hubei-Reisenden in Verbindung gebracht wurden.

Am 6. Februar starb der erste US-Bürger in Santa Clara, Kalifornien, an den Folgen von Covid-19. Die Zahl der bis zu diesem Tag aus der Provinz Hubei zurückgeholten und in den Garnisonen der U.S. Army unter Quarantäne gestellten Amerikaner betrug inzwischen mehr als 500. Ab Mitte Februar kamen 350 amerikanische Passagiere des Kreuzfahrtschiffs ›Diamond Princess‹ hinzu, fünf von ihnen erkrankten anschließend während der Quarantäne auf einem Luftwaffenstützpunkt in Kalifornien.

Am 26. Februar berichteten die kalifornischen Gesundheitsbehörden über den ersten Infektionsfall, dessen Übertragungsweg sich nicht mehr rekonstruieren ließ. Dieser Tag dürfte in die US-Geschichte der Covid-19-Pandemie als jener Wendepunkt eingehen, der ihre nicht mehr kontrollierbare Ausbreitung markierte. In der Zeitspanne vom Dezember bis Februar reisten etwa 3,4 Millionen Menschen in die USA ein. Da die Testkapazitäten weit über das Februarende hinaus extrem knapp und zudem häufig auch fehlerhaft waren, bestand abgesehen von den in Quarantäne geschickten Rückkehrern keine Möglichkeit, aus der großen Gruppe der Eingereisten die überwiegend symptomlos bleibenden Virusüberträger zu identifizieren und die von ihnen ausgehenden Infektionsketten mithilfe der seit langem erprobten epidemiologischen Verfahren zu unterbrechen.

Schon in den ersten Märztagen geriet die weitere Entwicklung außer Kontrolle. Aus immer mehr Bundesstaaten wurde die Bildung familiärer Cluster gemeldet, und aus den dicht bewohnten Quartieren der Unterklassen und ethnischen Minderheiten kamen die ersten Berichte über unbekannte Übertragungswege (community transmission). Zudem hatten inzwischen andere globale Subzentren der Pandemie Wuhan und die Provinz Hubei abgelöst, insbesondere Norditalien, Singapur und der Iran. Am 1. März begab sich beispielsweise eine infizierte Iran-Rückkehrerin in New York City in ihre freiwillige häusliche Isolation. In Rhode Island wurde ein Infektionsherd entdeckt, der in der familiären Umgebung eines Italien-Rückkehrers entstanden war. Bis zum Ende der ersten Märzwoche kamen weitere Berichte über Infektions-importe aus Italien und dem Iran aus den Bundesstaaten Vermont, New York, New Jersey, Nevada, Colorado, Tennessee, Utah, Nebraska, Kentucky, Indiana, Minnesota, Connecticut, Pennsylvania und South Carolina. Auch bei den Passagieren des vor der kalifornischen Küste aufgehaltenen Kreuzfahrtschiffs ›Grand Princess‹ wurden zahlreiche Infektionen festgestellt. Aus Washington, D.C. kamen die ersten beunruhigenden Nachrichten über das gehäufte Auftreten von Covid-19 in Alten und Pflegeheimen. Die zweite Etappe der Epidemie begann sich abzuzeichnen.

Bei den unfreiwilligen Importeuren der viralen blinden Passagiere dominierten auch in den USA während der Trigger-Phase der Epidemie die jungen bis mittleren Erwachsenen der weltweit mobilen Mittelklassen.16 Nur ein geringer Teil der von ihnen ausgehenden Infektionsketten wurde aufgedeckt. Noch weniger war es möglich, die von ihren Kanzleien, Geschäften, Fitness-Studios, Kliniken, Pflegeheimen und Arztpraxen ausgehenden Ausbreitungswege in die Gemeinden der Unterklassen und Randgruppen aufzuspüren. Aus den Infektionstransfers wurde ein komplexes Massengeschehen, an das wir uns seit der zweiten Märzwoche nur noch quantifizierend annähern können.

Am 13. März überschritt die Zahl der in den USA positiv auf SARS-CoV-2 Getesteten die Marge von 1.000. Zwei Tage später erhöhte sie sich in der Berichterstattung des Center for Disease Control and Prevention (CDC) auf 1.500, am 16. März auf 2.100, und vier Tage später hatte sie sich mit 5.145 mehr als verdoppelt, während sich die Zahl der Gestorbenen mit 91 der Marge 100 annäherte. Ab der dritten Märzwoche beschleunigte sich der exponentielle Anstieg nochmals, nachdem am 20. März 19.285 bestätigte Erkrankungen und 249 Todesfälle registriert worden waren. Aus allen Bundesstaaten wurden jetzt täglich neue Infektionsherde gemeldet. Am 26. März überschritt die Zahl der bis dahin in den USA registrierten Erkrankungen mit über 85.000 erstmalig die Zahl der aus China mitgeteilten Covid-19-Patienten. Seither nahmen die USA im globalen Vergleich der Nationalstaaten die Spitzenposition ein. Bis Ende April blieb diese Konstellation unverändert.

In den ersten beiden Etappen der Pandemie war in den USA eine – der Größe des Lands und seiner Bevölkerung entsprechende – diffuse Ausbreitung vorherrschend. Das änderte sich ab Mitte März drastisch. Ausgehend von einigen frühen Groß-Clustern kam es allmählich zur Schwerpunktbildung in sechs Bundesstaaten, die sich bis Ende April immer stärker akzentuierte: New York, New Jersey, Massachusetts, Kalifornien, Illinois und Florida. Die Ursache dieses fatalen Rankings ist unklar. Möglicherweise werden wir nie erfahren, warum beispielsweise Washington, D.C. mit seinen zahlreichen frühen Todesfällen in den Alten- und Pflegeheimen oder auch das sehr früh von Infektionsherden durchzogene Kalifornien zumindest bis Ende April vor einer Katastrophe wie in New York verschont blieben.

Tatsächlich avancierte die alles überragende Weltmetropole in der letzten Märzwoche zum Epizentrum der Pandemie. Die Berichte aus New York City schlossen sich an jene Hiobsbotschaften an, die in der Woche zuvor aus Bergamo und Madrid gekommen waren. Dabei hatte zunächst nichts auf eine derartige Katastrophe hingewiesen. Die ›Patientin 0‹ von New York City war am 1. März positiv getestet worden. Am 3. März folgte ein zweiter Patient, der sich in keiner der bis dahin bekannten Risikoregionen aufgehalten hatte. Drei Tage später wurde in einem anderen Bundesstaat ein aus New York gekommener Krankenhausmitarbeiter positiv getestet. Aber auch in New York City erhöhten sich die Fallzahlen unverhofft auf 44, weil sich in der Umgebung einer Anwaltskanzlei in Manhattan ein außerfamiliärer Infektionsherd gebildet und auf drei Stadtteile ausgebreitet hatte. Bis Mitte März erhöhte sich die Zahl der bestätigten Infizierten auf 329, inzwischen waren fünf Patienten gestorben. Darauf folgte ein rasanter Anstieg, der das Gesundheitswesen des Bundesstaats und mehr noch von New York City ins Wanken brachte. Am 24. März wurden im Bundesstaat New York 25.675 positiv getestete Erkrankte gezählt, die Hälfte aller in den USA gemeldeten Fälle. Der Anteil der Schwerkranken und Intensivpatienten war überproportional hoch. Aus einigen Krankenhäusern – insbesondere Brooklyns – kamen erschütternde Bilder und Videos. Sie machten deutlich, dass das überwiegend kommerziell ausgerichtete US-amerikanische Gesundheits- und Krankenhauswesen keine ins Gewicht fallende Basisversorgung kennt; die Katastrophe legte seine strukturellen Schwächen schlagartig offen. Sicher spielten auch andere Faktoren eine wichtige Rolle, so etwa die extreme Verdichtung der Wohnverhältnisse, die Drehtürfunktion New Yorks für die breite Masse der ein- und ausreisenden Touristen und die sozial zerklüftete multi-ethnische Bevölkerungsstruktur.

So war die rapide Ausbreitung der Pandemie nicht aufzuhalten. Die Zahl der Infizierten und Verstorbenen stieg im Bundesstaat New York seit Ende März weiter an und überschritt bis Ende der zweiten Aprilwoche die Marge von insgesamt 200.000 Erkrankten und 10.000 Todesopfern. Danach war sie leicht rückläufig, das Plateau senkte sich jedoch nur langsam. Am 28. April wurden aus dem Bundesstaat New York insgesamt 291.996 positiv getestete Covid-19-Patienten gemeldet, 17.303 waren gestorben. Laut WHO-Bericht vom 29.4. belief sich die kumulierte Gesamtzahl aller in den USA positiv getesteten Kranken auf 983.457 und 50.492 verstorbene Patienten. Am Nachmittag dieses Tags wurde die Marge von einer Million überschritten – das war etwa ein Drittel aller an SARS-CoV-2 Erkrankten weltweit.

Die Schwellen- und Entwicklungsländer

Als der Flughafen Wuhan am 23. Januar 2020 geschlossen wurde, war außerhalb Ost- und Südostasiens ein einziger von dort Abgereister positiv auf das neue Virus getestet worden. Gegen Monatsende sah es schon ganz anders aus. Es gab inzwischen neun Covid-19-Patienten in Australien. Die Gesundheitsbehörden Kanadas berichteten über drei Fälle, die US-amerikanischen über ebenfalls drei. In den vier zuerst betroffenen Ländern Europas wurden schon vierzehn Infizierte ärztlich behandelt. Hinzu kamen die ersten Berichte über positiv getestete Erkrankte aus dem Mittleren Osten und Südasien: vier in den Vereinigten Arabischen Emiraten und jeweils einer in Nepal, Sri Lanka und Indien. Quantitativ fielen diese Fallzahlen der außerhalb Chinas Erkrankten (116 unter Einschluss Ost- und Südostasiens gegenüber 9.720 in der VR China oder knapp 1,2 %) kaum ins Gewicht. Aber das Virus war bis zum 31. Januar schon in zahlreiche Weltregionen vorgedrungen. Nur Afrika und Lateinamerika waren noch ausgespart.17 Die Pandemie schien sich schon in ihrem ersten Ausbreitungsstadium mit derselben Dynamik in der Peripherie des Weltsystems auszubreiten wie in der Transatlantikregion, denn dazu müssen wir ja auch die fünf zu diesem Zeitpunkt ebenfalls betroffenen Schwellen- und Entwicklungsländer Südostasiens hinzurechnen. Infolgedessen sprach alles dafür, dass die direkten und indirekten internationalen Flugverbindungen Zentralchinas der Pandemie ihre Zeitachse und Ausbreitungswege vorgaben.

Aber nicht alle Beobachtungen bestätigen diese Annahme uneingeschränkt. Wer die Tagesberichte der WHO bis Ende Februar 2020 durchblättert, entdeckt neben den von den viralen blinden Passagieren bevorzugten Routen des touristischen, beruflichen und geschäftlichen Jetset eine merkwürdige territoriale und zeitliche Sekundärachse, die eher an die alten Pandemierouten aus den Zeiten des transkontinentalen Fernhandels erinnert. Diese Route verlief scheinbar gemächlicher und gemahnte eher an die Transportwege der (alten) Seidenstraße. Sie führte zunächst nach Südasien. Von dort aus ging es in den Mittleren Osten weiter. Im Verlauf des Februars entstand im Iran ein zweites Nebenzentrum der sich aufbauenden Pandemie, das die von Zentralchina ausgehenden ost- und südostasiatischen Ausbreitungswege kopierte und auf den gesamten Nahen Osten ausstrahlte. Darüber hinaus kam es zu fatalen Überschneidungen mit den gleichzeitig entstandenen europäischen Groß-Clustern in Norditalien, Spanien und teilweise auch Singapur. Diese drei Stränge griffen anschließend auf das subsaharische Afrika und auf Lateinamerika über und wirkten gleichzeitig auf Europa, die USA und Kanada zurück.

Die blinden Passagiere reisten somit im Anschluss an die Vorphase der Pandemie auf zweierlei Wegen: mit dem transkontinentalen Jetset und in einer von Osten nach Westen ausgreifenden Ausbreitungskette, die Ost- und Südostasien mit Südasien, dem Mittleren Osten und Nordafrika verband. Dabei verursachten die unsichtbaren Begleiter des globalen Jetsets die Herausbildung der Epizentren Europa und den USA, wobei sich in Italien möglicherweise eine eigenständige Variante entwickelte, die ab Ende Januar 2020 zu streuen begann. Entlang der Seidenstraße wirkte dagegen der Iran als wichtigster Beschleuniger und Weiterverteiler in Richtung Naher Osten und Nordafrika. Ab Mitte Februar 2020 kam es schließlich zur Überkreuzung der beiden Hauptstränge, wobei sich zusätzlich zu Italien weitere Schwerpunkte in Spanien und im Iran bildeten und ihre Infektionsketten auf den noch nicht vom Virus befallenen Rest der Welt ausweiteten, nämlich in das subsaharische Afrika und nach Lateinamerika.

Aus den Tagesmeldungen der WHO allein ließ sich dieser Befund nicht herauslesen. Sie führten sogar teilweise in die Irre, denn die in ihnen zusammengetragenen Daten stammten von den Gesundheitsbehörden ihrer Mitgliedsländer und waren gerade in den Anfangsstadien der Pandemie extrem lückenhaft und teilweise auch bewusst gefälscht. Vor allem im Regime des Iran fand das autoritäre China einen ersten Nachahmer, während in Norditalien klinische Fehlhandlungen, strukturelle Mängel und ein miserables Krisenmanagement der Regionalregierung eine entscheidende Rolle spielten.18

Im Ergebnis einiger zeitnah umgesetzter epidemiologischer Feldforschungen wurden diese Artefakte sehr früh aufgedeckt – siehe dazu weiter unten am Beispiel des Irans und Ägyptens. Deshalb wissen wir heute, dass auch für die Ausbreitungswege der Seidenstraße die Flugverbindungen entscheidend waren. Beide Routen waren zeitlich extrem verdichtet, und nur so ist es zu erklären, dass die sekundären Pandemiezentren Norditalien, Iran und anschließend Spanien ab Mitte Februar 2020 kontinental und transkontinental zu ›streuen‹ begannen.

Dessen ungeachtet werde ich den Weg der Pandemie in die Peripherie des Weltsystems im Wesentlichen aus der Perspektive der altehrwürdigen Seidenstraße nachzeichnen. Dabei werde ich im Unterschied zum bisherigen Vorgehen nicht von der – in diesem Fall besonders zweifelhaften – Chronik der jeweils ersten ›Index-Person‹ ausgehen. Ich werde für jede Region der Sekundärroute zwei Länder auswählen, die für einen globalen Überblick besonders wichtig sind: den jeweils bevölkerungsreichsten und den von der Pandemie am stärksten betroffenen Nationalstaat.

Südasien: Indien und Bangladesch

Eine Woche nach Nepal und Sri Lanka erreichten die viralen blinden Passagiere am 30. Januar Indien.19 Als unfreiwillige Überträger fungierten drei Studierende, die aus Wuhan nach Kerala zurückgekehrt waren. Von ihnen gingen offensichtlich keine weiteren Infektionen aus. Erst am 4. März wurde SARS-CoV-2 bei 22 weiteren Patienten nachgewiesen, zu ihnen gehörte eine italienische Reisegruppe. Im Verlauf des März stiegen die Infektionszahlen. In den meisten Fällen handelte es sich um Rückkehrer aus Risikogebieten. Zu ihnen gehörte auch der erste Verstorbene, ein 76-jähriger Inder, der aus Saudi-Arabien zurückgereist war. Am 14. März überschritt die Zahl der positiv getesteten Kranken die 100-Marge. Bis zum 28. März verzehnfachte sie sich. Am 7. April berichtete das indische Gesundheits- und Familienministerium über die ersten 5.000 Fälle, am 14. April über 10.000 und am 29. April über 30.000. Die Infektionsrate (Reproduktionszahl) wurde auf 1,7 geschätzt,20 die Verdopplungszeit der Infektionsausbreitung betrug im März durchschnittlich sechs Tage und verlängerte sich seither stetig. Die Fallsterblichkeit folgte dem Anstieg der Erkrankungen mit einer knapp 14-tägigen Verzögerung. Bis zum 5. April waren 100 Patientinnen und Patienten verstorben. Die höchste tägliche Sterbeziffer wurde am 2. Mai mit 77 Todesopfern registriert.

Bei den Umgebungsuntersuchungen wurden drei besonders wichtige Infektionsherde aufgedeckt. Das erste Cluster entstand in der Zeit vom 9. bis 12. März während eines Sikh-Festivals, wobei ein aus Italien zurückgekehrter Prediger als ›Super-Überträger‹ (Superspreader) identifiziert wurde. Noch größere Bedeutung hatte offensichtlich eine Glaubenskongregation der Tablighi Jamaat, an der Anfang März über 9.000 Missionare in Delhi teilgenommen hatten. Landesweit wurden mehrere tausend Infektionen auf diesen ›Hotspot‹ zurückgeführt. Der dritte bedeutende Infektionsherd entwickelte sich in einem Krankenhaus in Mumbai, wo das Virus am 6. April bei 26 erkrankten Schwestern und drei Ärzten nachgewiesen wurde.

Seit Ende März wurden aus allen Bundesstaaten Infektionen gemeldet. Bis Anfang Mai bildeten sich jedoch einige besonders betroffene Regionen heraus, nämlich Maharashtra (mit weitem Abstand gefolgt von Gujarat, dem Großraum Delhi und Madhya Pradesh). Bis zum 2. Mai 2020 hatten die Gesundheitsbehörden 37.776 positiv getestete Erkrankte und 1.223 im Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbene registriert.

Wie Nepal und Sri Lanka schien auch Bangladesch aufgrund der frühen Schließung der Flugverbindung nach China sowie der erfolgreichen Repatriierung und Isolierung von über 300 Bangladeschi aus Wuhan verschont zu bleiben.21 Am 8. März wurde jedoch ein erster erkrankt aus Italien Zurückgekehrter positiv auf SARS-CoV-2 getestet, und im Verlauf des Monats wurde dies bei weiteren Rückkehrern aus Italien und dem Mittleren Osten festgestellt. Da die Erkrankten auch ihre Familienangehörigen infizierten, entstanden im Großraum Dhaka die ersten kleineren Cluster.

Wegen der äußerst beschränkten Präventions- und Testmöglichkeiten bestand keine Möglichkeit, die landesweite Ausbreitung einzudämmen. In den Statistiken der Gesundheitsbehörden schlug sich diese Entwicklung jedoch nur sehr eingeschränkt nieder. Ab Anfang April kam es zu einem raschen Anstieg der Erkrankungen, der sich nun auch in den auf die Metropole Dhaka beschränkten Testserien widerspiegelte. Am 6. April gab es erstmalig über 100 bestätigte Fälle, zehn Tage später war die 1.000-Marge überschritten. Am 29. April erreichte die Zahl der täglich bestätigten Neuerkrankungen mit 641 ihren ersten Gipfelpunkt. Der erste Patient, ein chronisch erkrankter über 70-Jähriger, starb nach den Angaben des nationalen epidemiologischen Instituts am 18. März. Danach erfolgte ein langsamer Anstieg, am 7. April wurden erstmals 15 Todesfälle registriert. Zentren des Infektionsgeschehens waren von Anfang an der Großraum Dhaka und Madaripur. Am 2. Mai meldete das Zentrum für Epidemiologie 8.700 an Covid-19 Erkrankte, 177 Genesene und 165 Verstorbene. Die Fachwelt war sich darüber einig, dass diese Angaben nur einen geringen Teil des Infektionsgeschehens dokumentierten. Dabei stand nicht nur – wie in den meisten anderen Ländern auch – eine hohe Dunkelziffer zur Diskussion. Auch die internationalen Presseberichte über die häufig außerhalb der Behandlungszentren Verstorbenen stimmen mit den zugänglichen Statistiken nicht überein.

Naher und Mittlerer Osten: Iran und Ägypten

Im Fall Iran war die Faktenlage noch wesentlich unsicherer.22 Den offiziellen Angaben zufolge wurde erstmalig am 19. Februar bei zwei in Ghom Verstorbenen eine Covid-19-Infektion nachgewiesen; bei einem der beiden soll es sich um einen Kaufmann gehandelt haben, der häufig China bereist hatte. In den folgenden Tagen berichtete das iranische Gesundheits- und Erziehungsministerium über weitere Covid-19-Erkrankungen in Ghom, entsprechende Berichte kamen in der letzten Februarwoche auch aus dem Großraum Teheran und der am Kaspischen Meer gelegenen Provinz Gilan. Es gab jedoch zahlreiche offizielle wie inoffizielle Hinweise darauf, dass die ersten Infektionen schon ab Januarmitte stattgefunden hatten. Allein die sich seit dem 20. Februar häufenden Nachrichten über die regionale und weltweite Übertragung der Pandemie durch Iranreisende legen nahe, dass sich schon bis Ende Februar etwa 20.000 Iranerinnen und Iraner infiziert haben und Hunderte von ihnen gestorben sein mussten. Am 20. Februar berichtete das iranische Gesundheitsministerium über insgesamt 593 positiv getestete Patienten, von denen 43 gestorben waren. Wie im Fall China wurde die erste Phase der Epidemie vertuscht: Erst einmal sollten am 11. Februar der Jahrestag der Islamischen Revolution begangen und zehn Tage später die Parlamentswahlen abgehalten werden. Auch die schiitischen Pilgerstätten in Ghom und Mashad wurden erst am 16. März geschlossen, nachdem sich die Verdopplungszeiten der Infektion extrem verkürzt hatten. In der offiziellen Statistik spiegelte sich diese Entwicklung nur fragmentarisch wider. Bis zum 6. März versechsfachte sich die Zahl der positiv getesteten Kranken. Nach einem kurzfristigen Rückgang folgten erneute Anstiege auf über 3.000 am 27. März. Dabei verlagerten sich auch die Zentren der Clusterbildung von Ghom auf die Agglomeration Teheran (mit weitem Abstand) sowie die Provinzen Isfahan, Gilan und Mazandaran. Am 6. Mai berichtete die WHO über insgesamt 99.870 Erkrankte und 6.340 Todesopfer.

Der Iran wirkte fast zeitgleich mit Italien als sekundärer Katalysator der weltweiten Pandemie. In der Zeit vom 20. bis 29. Februar 2020 trafen aus aller Welt Nachrichten über den unbeabsichtigten Transfer des Virus durch Iranreisende ein. Die erste diesbezügliche Meldung kam am 20. Februar aus Kanada. Fünf Tage später gab es dort einen weiteren Fall, der eine erste innerfamiliäre Übertragung zur Folge hatte. Parallel dazu begann am 21. Februar die regionale Ausbreitung im Nahen und Mittleren Osten, die in chronologischer Reihenfolge erstmalig im Libanon, in Kuweit, im Irak sowie in Bahrain und Oman registriert wurde. Darüber hinaus strahlten die aus dem Iran exportierten Infektionsketten in die USA und nach Europa aus, und zwar nach Estland, Deutschland, Norwegen, Schweden und Spanien. Diese Fakten lassen sich genauso wenig wie im Fall China mit den offiziellen Fallzahlen in Übereinstimmung bringen. Erst anhand der Dunkelziffern der tatsächlich an Covid-19 Erkrankten und Verstorbenen kann die Rolle des Irans im globalen Pandemiegeschehen realistisch eingeschätzt werden (vgl. dazu die Tabellen 1 und 2 auf S. 202 und 203).

Im Vergleich mit dieser Dynamik nahm Ägypten, das bevölkerungsreichste Land des Nahen Ostens, eine eher randständige Position ein, obwohl auch in diesem Fall die erste Etappe der Epidemie aus diesmal eher ökonomischen Gründen (Gefährdung der Tourismusbranche) vertuscht wurde. Das hatte zur Folge, dass sich auch Ägypten – wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie der Iran und Italien – zu einem nicht zu unterschätzenden Beschleuniger der globalen Pandemie entwickelte.23

Wie im Iran handelte es sich bei den ersten Überträgern der Infektion um Chinesen oder um ägyptische Rückkehrer aus der Provinz Hubei. Dies belegt ein Bericht des ägyptischen Gesundheitsministeriums über einen positiv getesteten chinesischen Patienten vom 14. Februar. Eine zweite Mitteilung folgte am 1. März, eine dritte bezog sich acht Tage später auf einen an Covid-19 gestorbenen deutschen Touristen.

Angesichts der realen Entwicklung glaubte niemand an diese Mitteilungen. Die Oppositionsbewegung deckte rasch auf, dass alle Erkrankten in Militärkrankenhäusern behandelt wurden und dadurch der Berichterstattung durch das Gesundheitsministerium entzogen waren. Infolge des Anstiegs der Fallzahlen ließ sich dieses Vorgehen jedoch ab März nicht mehr durchhalten, zumal auch die WHO nun eigene Recherchen anstellte und eine Korrektur erzwang. Bis zum 10. März stieg die Zahl der offiziell gemeldeten Infektionen auf 59 und lag am 4. April erstmalig über 1.000. Am 6. Mai protokollierte die WHO in ihrem Tagesbericht 7.701 an Covid-19 Erkrankte und 452 Todesopfer.24

Auch diese Angaben müssen aufgrund der von Ägypten ausgegangenen Transfers der Infektionsketten hinterfragt werden. Vor Beginn der warmen Jahreszeit ist das Land ein attraktives Ziel des internationalen Tourismus. Auch die regionalen Kontakte innerhalb der arabischen Welt spielten eine wichtige Rolle und führten vor allem in Tunesien, Katar, Saudi-Arabien und Kuweit zu Folgeinfektionen. Hinzu kamen die transkontinentalen Übertragungen durch den Tourismus. Bis Ende Februar wurden aus mehreren Industrieländern der westlichen und östlichen Hemisphäre Infektionsfälle gemeldet. Daraus ergaben sich eindeutige Hinweise auf eine wesentlich höhere Inzidenzrate.

Subsaharisches Afrika: Nigeria und Südafrika

Die Gesundheitsbehörden Nigerias berichteten am 27. Februar 2020 über einen positiv getesteten Patienten.25 Es handelte sich um einen in Nigeria berufstätigen Italiener, der zwei Tage zuvor aus Mailand zurückgekehrt war. Es wurden umfassende Umgebungsuntersuchungen eingeleitet, in deren Ergebnis am 9. März bei einer nigerianischen Kontaktperson die Infektion nachgewiesen wurde. Am 17. März berichteten die Behörden über einen dritten Erkrankten: Es handelte sich um einen Nigerianer, der aus Großbritannien eingereist war. In den folgenden Tagen kamen bis zu zehn neue Fälle pro Tag auf. Es handelte sich um unbeabsichtigte Importe aus Europa, insbesondere Großbritannien und Italien, von denen ausgehend im beruflichen und familiären Umfeld die ersten Infektionsherde entstanden. Am 23. März wurde der erste an Covid-19 Verstorbene registriert. Es handelte sich um einen 67-jährigen Nigerianer, der an chronischen Vorerkrankungen gelitten hatte.

Im Verlauf der letzten Märzwoche mussten die Gesundheitsbehörden ihre bis dahin erfolgreich verlaufenen Eindämmungsversuche aufgeben. Es kam zu einer kommunalen Ausbreitung, die sich jedoch zunehmend auf die Metropole Lagos, den im Zentrum Nigerias gelegenen Federal Capital District und den Bundesstaat Ogun konzentrierte. Vor allem in diesen Regionen stiegen die Zahlen der positiv getesteten Erkrankten und Gestorbenen. Am 21. April wurden erstmalig über 100 Infizierte gemeldet, vier Tage später waren es 440. Zu einem Anstieg der Fallmortalität kam es erst in der letzten Aprilwoche, am 3. Mai wurde mit 17 Todesopfern das Maximum erreicht. Laut WHO-Bericht waren bis zum 6. Mai insgesamt 2.950 Menschen an Covid-19 erkrankt und 98 verstorben. Diese niedrigen Fallzahlen waren im bevölkerungsreichsten Land Afrikas (214 Millionen Einwohner) auf den vergleichsweise späten Import der Pandemie und ein erstaunlich funktionsfähiges öffentliches Gesundheitswesen zurückzuführen.

Noch später als Nigeria wurde Südafrika in die Pandemie einbezogen, nämlich am 5. März 2020.26 An diesem Tag informierte der Gesundheitsminister die Medien über den ersten ›Patient null‹, der zusammen mit seiner Frau und acht weiteren Touristen die Metropolregion Mailand bereist hatte. In den folgenden Tagen erkrankten weitere Reiserückkehrer aus Norditalien, Frankreich, den USA und Israel. Bis zum 21. März stieg die Zahl der positiv getesteten Kranken auf 240. Dabei infizierten sich zunächst die Familienangehörigen der aus dem Ausland Zurückgekehrten, ab dem 23. März wurden aber auch lokale Transmissionen nachgewiesen. Seither war die diffuse Ausbreitung nicht mehr aufzuhalten. Nach und nach wurden alle Provinzen befallen. Es kam zur Entstehung erster größerer Infektionsherde. Sie hatten die Herausbildung einiger regionaler Schwerpunkte zur Folge, wobei vor allem die Küstenprovinzen betroffen waren. Dabei spielte den epidemiologischen Untersuchungen zufolge vor allem ein Krankenhaus in Durban eine wichtige Rolle. Es wurde am 9. April geschlossen, nachdem dort 60 Covid-19-Infektionen nachgewiesen und elf infizierte Patienten gestorben waren. Mit 7.439 Infizierten und 219 Gestorbenen wies Südafrika am 6. Mai im Vergleich mit den übrigen subsaharischen Ländern die meisten Erkrankten und Todesfälle auf.

Lateinamerika: Brasilien und Ecuador

Werfen wir abschließend einen Blick auf die Ankunft und Ausbreitung der blinden Passagiere in Lateinamerika, und zwar auch in diesem Fall auf das bevölkerungsreichste Land und auf jenen Nationalstaat, der in der ersten Etappe der Pandemie unter Berücksichtigung seiner Bevölkerungsgröße am stärksten unter der Pandemie zu leiden hatte – Brasilien und Ecuador.

Am 25. Februar 2020 berichtete die Gesundheitsbehörde von São Paolo über den ersten positiv getesteten Covid-19 Patienten, einen Kaufmann, der sich zuvor in der Lombardei aufgehalten hatte; er gilt bis heute als ›Patient null‹ Südamerikas.27 Vier Tage später wurde der zweite Fall bestätigt. Kurz danach rekonstruierte ein Forschungslabor die Herkunft des Virus. Es stammte ebenfalls aus Norditalien, jedoch handelte es sich um eine andere Variante. Das war ein ominöses Zeichen, zumal die Gesundheitsbehörden einiger Bundesstaaten inzwischen auf mehrere hundert Verdachtsfälle hinwiesen. Von ihnen bestätigte sich denn auch ein erheblicher Teil. Auch hier wiesen die Spuren vor allem in Richtung Europa, teilweise aber auch auf den Mittleren Osten. Am 17. März registrierten die Behörden 291 labordiagnostisch gesicherte Fälle und berichteten über das erste Todesopfer. Drei Tage später wurde die 1.000-Marge überschritten, und nun beschleunigte sich der Anstieg. Am 10. April waren etwa 10.000 Erkrankte positiv getestet, und die Zahl der mit Covid-19 in Zusammenhang gebrachten Todesfälle stieg auf 1.000. In einem von 211 Millionen Menschen bewohnten Land mit den geografischen Ausmaßen Brasiliens fielen derartige Größenordnungen zunächst kaum ins Gewicht, zumal sie laufend mit den katastrophalen Entwicklungen in Europa und den USA abgeglichen wurden. Dies änderte sich jedoch in der zweiten und dritten Aprilwoche, als die Zahl der täglich neu dokumentierten Infizierten auf über 2.000 anstieg und am 18. April mit 3.257 ihren vorläufigen Gipfelpunkt erreichte. Zudem überschritten auch die täglich gemeldeten Todesfälle die Marge von 200, die sich bis zur ersten Maiwoche auf über 600 verdreifachte. Hinzu kam, dass sich die Infektionsketten immer massiver in den großen Agglomerationen São Paolo (mit weitem Abstand) und Rio de Janeiro sowie in den Provinzen Ceará, Pernambuco und Amazonas kreuzten. Am 6. Mai gab es laut WHO-Bericht in Brasilien 107.780 positiv getestete Covid-19-Patienten; von ihnen waren inzwischen 7.321 verstorben.

In Ecuador breitete sich die Pandemie noch schneller und folgenreicher aus.28 Ecuador ist mit seinen knapp 17 Millionen Einwohnern elfmal kleiner als Brasilien. Trotzdem befürchteten internationale Beobachter, dass es zum südamerikanischen Zentrum der Pandemie werden könnte. Dafür sprachen gewichtige Gründe. Die Berichterstattung des Ministeriums für das öffentliche Gesundheitswesen war genauso in-transparent wie anfänglich in China, im Iran und in Ägypten. Wie dort waren die offiziellen Angaben über die Zahl der Infizierten und Gestorbenen zusätzlich zu den ohnedies weltweit bestehenden Unsicherheiten über die Dunkelziffern durch offenkundige Manipulationen belastet. Das zeigte sich schlagartig, als der ecuadorianische Gesundheitsminister am 23. März die Zahl der bis dahin dokumentierten Infektionen verdoppelte.

Den offiziellen Angaben zufolge wurde am 29. Februar in der Provinzhauptstadt Guayaquil eine ältere Patientin positiv auf SARS-CoV-2 getestet, nachdem sie kurz nach ihrer Rückkehr aus Spanien erkrankt war. Sie starb nach ihrer Hospitalisierung am 10. März. In den ersten Märztagen folgten Berichte über mehrere infizierte Kontaktpersonen. Zugleich dehnte sich die Infektion auf die Provinzen Guayas, Pichincha und Los Ríos aus. Dabei überschnitten sich weitere aus Spanien importierte Fälle mit Übertragungen aus anderen iberoamerikanischen Staaten, so etwa Paraguay, Peru, Chile und El Salvador. Den offiziellen Statistiken zufolge waren am 26. März erstmalig mehr als 1.000 Menschen an Covid-19 erkrankt und 27 Patienten gestorben. Am 18. April waren von den 9.450 bis dahin als infiziert Gemeldeten 421 gestorben. Derartige Fallzahlen konnten der Realität nicht entsprechen. Auch die abrupten Sprünge in den Tagesverlaufskurven legten dies nahe. Hinzu kamen weitere Beobachtungen, die auf eine sich anbahnende Katastrophe hinwiesen. So wurde bekannt, dass sich der Anteil des Krankenhauspersonals an den Erkrankten bis Anfang April ständig erhöhte: Am 4. April waren 1.600 der offiziell registrierten Erkrankten in den Krankenhäusern beschäftigt. Sie mussten wegen des extrem vernachlässigten Gesundheitswesens fast ungeschützt arbeiten. Die Ausbreitung der Infektionsherde war somit in Ecuador wie in Norditalien und Katalonien in erster Linie auf die Krankenhäuser zurückzuführen (nosokomiale Ausbreitung).

Aufgrund dieser eklatanten Missstände in der Grundversorgung entwickelte sich Guayaquil, die Hauptstadt der Provinz Guayas, in der die ersten Übertragungen aus Spanien stattgefunden hatten, zu einem ausgesprochenen Katastrophengebiet. Anfang April brach die medizinische Versorgung der Erkrankten zusammen. Während die offizielle Statistik am 9. April die Zahl der bis dahin in ganz Ecuador Gestorbenen auf 333 bezifferte, wurden an diesem Tag allein in Guayaquil 1.878 Tote registriert. Die Leichen lagen teilweise auf den Straßen, über 700 mussten von Spezialeinheiten aus ihren Behausungen geborgen werden. Es gab anschließend seriöse Berechnungen, wonach in der Provinz Guayas in der Zeit vom 1. März bis Mitte April 7.900 Menschen mehr als in dieser Zeitspanne üblich im Zusammenhang mit der Covid-19-Infektion gestorben waren. Nach Wuhan und Ghom sowie parallel zu Bergamo, Madrid und New York wurde Guayaquil zu einem Ort des Schreckens, der sich tief in die weltweite Wahrnehmung der Pandemie eingrub.

Bis zum Ende der ersten Maiwoche entfiel noch immer mehr als die Hälfte der dokumentierten Infektions- und Todesfälle auf die Provinz Guayas; die Provinzen Manabí, Pichincha und Los Ríos folgten mit weitem Abstand. Am 6. Mai gab die WHO die Gesamtzahl der in Ecuador Infizierten mit 31.881 und der im Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbenen mit 1.569 an.29 Trotz dieser viel zu niedrigen Angaben lag Ecuador relativ zu seiner Bevölkerungszahl an der Spitze Lateinamerikas.

Die Risiken einer weiteren Ausbreitung

Der Blick auf den globalen Süden war für die Rekonstruktion der Ausbreitung der Coronapandemie unverzichtbar. Er hat ihre beiden Hauptrouten – globaler Jetset und Seidenstraße – in Richtung subsaharisches Afrika und Lateinamerika ausgedehnt. Dabei gelang es, einige Nebenzentren zu identifizieren, die – wie etwa der Iran und Ägypten – eine wichtige Rolle bei der Beschleunigung des Gesamtprozesses gespielt haben. Vor allem aber erklärte er die Herausbildung weiterer Epizentren in der südlichen Hemisphäre am Ende der ersten Pandemiewelle. Dabei müssen jedoch einige wesentliche Einflussfaktoren bedacht werden, die teils verlangsamend, teils aber auch beschleunigend wirken können. Wie wir schon wissen, sind vor allem Menschen über 70 Jahre aufgrund der Alterung ihres Immunsystems und der Zunahme gravierender Nebenerkrankungen einem erhöhten Erkrankungs- und Sterberisiko ausgesetzt. Nun sind aber die Populationen des globalen Südens weitaus jünger als diejenigen Ost- und Südostasiens sowie der Transatlantikregion.30 Beispielsweise sind in Indien und Bangladesch nur jeweils 6,4 % der Gesamtbevölkerung älter als 65 Jahre; im Iran und Ägypten sind es nur 5,5 % bzw. 4,3 %, in Nigeria und Südafrika 3,3 % bzw. 5,8 % sowie in Brasilien und Ecuador 8,6 % bzw. 7,7 %. Verglichen mit Deutschland (22,4 %), Frankreich (19,8 %), Italien (21,7 %), Japan (28,4 %), Spanien (18,2 %) und selbst den eher jugendlichen USA (16,0 %) sind dies deutliche Unterschiede. Deshalb konnte man schlussfolgern, dass das SARS-CoV-2-Virus aufgrund seiner eher begrenzten Aggressivität vor allem die in den hochindustrialisierten Ländern lebenden älteren Menschen gefährdet.

Diese Annahme ist jedoch etwas voreilig. Wie wir in den nächsten Abschnitten sehen werden, gab und gibt es gewichtige Gegentendenzen. Sie bestehen erstens in der offenkundigen Häufung anderer schwerer Infektionskrankheiten, die durch Parasiten (Malaria), Viren (AIDS, Ebola-Fieber) und Bakterien (Tuberkulose) ausgelöst werden und in der südlichen Hemisphäre endemisch sind. Zweitens werden diese und andere Massenkrankheiten durch mangelhafte hygienische Bedingungen und prekäre Lebensverhältnisse, aber auch durch Unterernährung sowie äußerst beengte Wohnverhältnisse begünstigt. Bei der Abwägung dieser gegenläufigen Komponenten war schon gegen Ende der ersten Etappe der Pandemie davon auszugehen, dass sich Covid-19 im Fall einer zweiten Welle in der südlichen Hemisphäre rasant ausbreiten, aber eine deutlich niedrigere Sterblichkeit zur Folge haben würde als in den hochentwickelten Ländern des Westpazifik und der Transatlantikregion.