4.DAS AUSMASS UND DIE EIGENSCHAFTEN DER PANDEMIE

Die erste Welle

Quantitativ wurde die erste Pandemiewelle nur unzureichend und zudem häufig fehlerhaft abgebildet. Dies illustrieren die zwei ersten Tabellen, in denen wir die von der WHO publizierten Daten über die registrierte Infektionshäufigkeit und die Fallsterblichkeit mit eigenen Schätzungen verglichen haben.

In der ersten Tabelle sind die Daten zur Infektionshäufigkeit in denjenigen neunzehn Nationalstaaten zusammengestellt, die laut offizieller Statistik bis zum Ende der ersten Pandemiewelle am stärksten von der Pandemie betroffen waren (vgl. Tabelle 1, Stichtag 14.5.2020).

Dabei konnte ich den seit Anfang März 2020 gesammelten Materialien über diese Länder entnehmen, wie weit bis dahin die Testkapazitäten genutzt wurden, um bei den Überwachungs- und Eindämmungsversuchen auch den symptomlos bzw. unbehandelt gebliebenen Überträgern auf die Spur zu kommen. Dies war – und ist auch heute noch – nur recht begrenzt der Fall, aber in unterschiedlichem Ausmaß. Da repräsentative Stichproben zu diesem Zeitpunkt noch fehlten, wurden aus der Synopse dieser Unterlagen und unter Einbeziehung der diesbezüglichen kritischen Expertenberichte für jedes Land Dunkelziffern geschätzt und für die Globalübersicht zusammengestellt. Weltweit war der Schätzung zufolge nur ein Siebtel aller Infizierten erfasst; statt von knapp 4,25 Millionen war von mindestens 29,74 Millionen Infizierten auszugehen, die sich bis Mitte Mai 2020 angesteckt hatten. Das waren statt der offiziell registrierten 55 pro 100.000 etwa 382 pro 100.000 Personen weltweit.

Bei der Tabelle 2 bin ich genauso vorgegangen, habe dabei aber die in Kapitel III.3 formulierten Ausführungen über die Fallstricke der Mortalitätsstatistik berücksichtigt.

Tabelle 1:

Die offizielle und die geschätzte Infektionshäufigkeit am Ende der ersten Pandemiewelle (Stand: 14.5.2020)

image

Quellen: United Nations. Department of Economic and Social Affairs. Population Division (Hg.): World Population Prospects 2019, Online Edition. Rev. 1, August 2019, online in: https://population.un.org/wpp/Download/Files/1_In dicators%20(Standard)/EXCEL_FILES/1_Population/WPP2019_POP_F01_1_TOTAL_POPULATION_BOTH_SEX ES.xlsx (Stand: 11.8.2020); WHO (Hg.): Coronavirus disease (COVID-19). Situation Report – 115. Data as received by WHO from national authorities by 10:00 CEST, 14 May 2020, S. 7–16, online in: https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-re ports/20 200514-covid-19-sitrep-115.pdf?sfvrsn=3fce8d3c_4 (Stand: 15.5.2020).

a) Geschätzt unter Berücksichtigung des jeweils verfügbaren Testmaterials; ergänzt durch kritische Modellrechnungen der epidemiologischen Fachliteratur.

Tabelle 2:

Offiziell registrierte und geschätzte Todesopfer am Ende der ersten Pandemiewelle (Stand: 14.5.2020)

image

Quellen: United Nations, World Population Prospects 2019; WHO, Coronavirus disease (COVID-19). Situation Report – 115, 14.5.2020.

a) Geschätzt durch den Abgleich der offiziell dokumentierten Fallsterblichkeit mit der laufenden Registrierung der Übersterblichkeit unter Berücksichtigung aller erreichbaren Modellrechnungen der epidemiologischen Fachliteratur sowie der Berichterstattung der Weltpresse (Guardian, International New York Times, Le Monde Diplomatique, Neue Zürcher Zeitung, The Economist).

Hier ging es um die quantifizierende Analyse des Schlüsselproblems der ersten Pandemiewelle: Warum sind trotz der nur moderat ausgeprägten Pathogenität des Erregers so viele Menschen gestorben? Deshalb habe ich mich auf diejenigen neunzehn Länder konzentriert, die bis zum Stichtag 14. Mai 2020 die meisten offiziell registrierten Sterbefälle auswiesen. Für diese Länder – sowie weltweit – wurde unter Zuhilfenahme der Daten der ersten Tabelle zunächst die prozentuale Fallsterblichkeit errechnet. Das große Problem war auch hier die Schätzung angemessener Dunkelziffern, wozu auch in diesem Fall die kritische Länderberichterstattung als Grundlage diente. Dabei waren die Abweichungen deutlich geringer als bei der Schätzung der Infektionshäufigkeit, denn eine inkorrekte Berichterstattung über Sterbefälle wird sehr aufmerksam beobachtet und kommentiert. Die geringsten Abweichungen (Faktor 1,05 bis 1,1) fanden sich hier bezogen auf Deutschland, Belgien, Frankreich, Kanada und Schweden, die höchsten (1,7 bis 1,9) in Brasilien, der VR China, im Iran sowie in Ecuador und Peru, während weltweit von einem Faktor 1,6 auszugehen war. Es handelt sich dabei wohlgemerkt noch stärker als bei Tabelle 1 um Minimalschätzungen. Darüber hinaus war die Tatsache zu berücksichtigen, dass die Gesundheitsbehörden mehrerer Länder ihre auf Covid-19 bezogene Sterbestatistik unter dem Druck der internationalen Öffentlichkeit vor und nach dem Stichtag in teilweise erheblichem Ausmaß berichtigt haben.

Ausgehend von diesen Korrekturfaktoren wurde die absolute Zahl der an und mit Covid-19 Verstorbenen neu geschätzt. In einer weiteren Spalte ist die aus der geschätzten Infektionshäufigkeit gebildete Letalitätsrate angegeben, die wesentlich niedrigere Relationen als die Fallsterblichkeit ausweist. Von entscheidender Bedeutung ist schließlich die in der letzten Spalte wiedergegebene Berechnung der pandemiebedingten Sterblichkeit pro 100.000 Einwohner. Hier hatten am Stichtag 14. Mai 2020 die EU-Länder Belgien (84), Großbritannien (68), Spanien (75), Italien (66), Frankreich (46), Niederlande (42) und Schweden (38) mit weitem Abstand die meisten Todesopfer zu beklagen. Die Schwellenländer Indien (0,3), China (0,6) und die Russische Föderation (3) wiesen hingegen trotz der teilweise beträchtlichen Korrekturfaktoren außergewöhnlich wenige Sterbefälle aus.

Warum sind ausgerechnet in sieben Ländern der Europäischen Union so viele Menschen gestorben, obwohl sie über vergleichsweise hoch entwickelte Gesundheitssysteme verfügen? Auf die qualitativen Ursachen bin ich schon mehrfach eingegangen: die ungeschützten Krankenhäuser und Pflegeheime, in denen die besonders gefährdeten Gruppen der Ausbreitung des Erregers fast schutzlos preisgegeben waren.1 Die Folgen können wir quantifizieren, indem wir die Zeitspanne, in der sich die Covid-19-Sterbefälle häuften, mit der Durchschnittssterblichkeit vergleichen, die in dieser Periode im Verlauf der letzten fünf Jahre registriert wurde. Auf diese Weise können wir feststellen, wie viele Menschen zusätzlich direkt oder indirekt der Pandemie zum Opfer gefallen sind (sogenannte Übersterblichkeit).2 Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind in Tabelle 3 zusammengefasst.

Tabelle 3:

Übersterblichkeit und registrierte Sterbefälle während der ersten Pandemiewelle in Europa

image

Quellen: EuroMOMO; Mortalitätsstatistiken der referierten Länder; Roland Herzog, Die Toten der Covid-19-Pandemie, Juni 2020, https://coronakrise-europa.net/2020/06/10/corona-todesfaelle/; International Long Term Care Policy Network, CPEC-LSE, S. 18; Statistisches Bundesamt: Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland, online in: https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Corona/_Grafik/_Interaktiv/woechentliche-sterbefallzahlen-jahre.html (Stand: 13.4.2021); Statistisches Bundesamt, Sterbefälle. Fallzahlen nach Tagen, Wochen, Monaten, Altersgruppen und Bundesländern für Deutschland 2016-2020, Wiesbaden 28.5.2020; The Economist, 9.5.2020; WHO, Coronavirus disease 2019 (COVID-19) Situation Report – 100, 29.4.2020.

a) Erfasst sind alle, die außerhalb der Krankenhäuser im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben sind.

b) Die Zahlen für Deutschland beziehen sich auf die Kalenderwochen 12–20/2020. Sterbefallzahlen insgesamt: Statistisches Bundesamt (Stand: 12.4.2021); Covid-19-Todesfälle: Robert Koch-Institut (Stand: 9.4.2021), zit. nach: Statistisches Bundesamt: Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland, (Stand: 13.4.2021).

c) Einschließlich solcher Pflegeheiminsassen, die in Krankenhäusern starben.

Sie beweisen, dass in den hier diskutierten acht europäischen Ländern in der Zeitspanne von Mitte März bis Ende April 2020 teilweise weitaus mehr Menschen aus der Gruppe der besonders Gefährdeten der Pandemie zum Opfer gefallen sind als in der offiziellen Statistik angegeben. In Großbritannien und den Niederlanden war knapp die Hälfte der Covid-19-Sterbefälle nicht dokumentiert (45 bzw. 44 %), in Spanien ein gutes Drittel (33 %), in den übrigen Ländern waren es zwischen 9 und 18 %. Erstaunlich hoch war darüber hinaus der Anteil der in den Alten- und Pflegeheimen Verstorbenen (letzte Spalte). Dies ist ein wichtiges Indiz dafür, dass häufig nur die in den Krankenhäusern an und mit Covid-19 Verstorbenen registriert wurden, und dass die in den Alten- und Pflegeheimen untergebrachten Menschen besonders betroffen waren. Diese statistischen Befunde bestätigen neuere Analysen, aus denen hervorgeht, dass den an Covid-19 schwer erkrankten Seniorinnen und Senioren häufig die Krankenhausaufnahme verweigert wurde. Teilweise wurden sie auch in die Altenheime zurückverlegt und mit Morphinpräparaten dem Sterben anheimgegeben.3 Derartige Einzelfälle gab es auch in Deutschland. In der Regel wurden Schwerkranke jedoch in die Krankenhäuser eingewiesen. Die Übersterblichkeit war deshalb während der 12. bis 20. Kalenderwoche nur 18 % höher als die registrierte Fallsterblichkeit (10.174 zu 8.301).

Die Zwischenetappe (Juni bis Ende August 2020)

Nach einem Intervall von nur wenigen Wochen begann im Juni 2020 die erste Zwischenetappe. In den beiden Amerikas ging die erste Welle sogar fast bruchlos in sie über. In Südasien und im Mittleren Osten entstanden zwei weitere Epizentren. Auch in Südafrika entwickelte sich ein neuer Schwerpunkt, jedoch blieb das übrige Subsaharische Afrika weiter ausgespart. Aber auch hier entstanden neue Infektionsherde, genauso in Europa und Ost- und Südostasien.

Aus globaler Perspektive bestätigten sich drei Monate nach dem zeitweiligen Abebben der ersten Welle die Befürchtungen, dass auf sie noch weitaus aggressivere Ausbrüche folgen könnten. Die Zahl der offiziell registrierten Infizierten verfünffachte sich bis Mitte August auf über 20 Millionen, davon entfielen mehr als zwei Drittel auf die beiden Amerikas, Südasien und den Mittleren Osten (vgl. Tabelle 4 a/b).4

Täglich kamen mehr als 200.000 erfasste Neuinfizierte hinzu. Etwa 750.000 Menschen wurden als Pandemieopfer registriert, davon allein 400.000 in den USA und Lateinamerika. Zwar war die Mortalität relativ rückläufig, es starben jedoch den offiziellen Berichten zufolge täglich noch immer zwischen 4.000 und 5.000 Menschen an den Folgen der Erkrankung. Teilweise wurden die besonders gefährdeten über 70-Jährigen und chronisch Kranken jetzt besser geschützt. Zudem erreichten die blinden Passagiere jetzt vor allem die jüngere Bevölkerung der südlichen Hemisphäre.

Soweit die Daten der offiziellen Berichterstattung. Voraussetzung für eine realistische Abschätzung der Situation war auch in diesem Fall die Diskussion der Dunkelziffern. Dabei war zu berücksichtigen, dass die Gesundheitsbehörden der meisten Länder inzwischen häufiger Tests anordneten als während der ersten Welle, sodass mehr symptomlos Infizierte und nur mild Erkrankte erkannt wurden als bisher. Auch die Zahl der während der Berichtszeiten durchgeführten Tests und der prozentuale Anteil der positiven Ergebnisse wurden jetzt häufiger publik, was eine genauere Schätzung der Dunkelziffern zuließ. Zusätzlich konnten die inzwischen in vielen Ländern und Regionen mit Infektionsschwerpunkten durchgeführten repräsentativen Stichproben zu Rate gezogen werden. Dabei wurden Blutproben von zufällig ausgewählten Personen auf das Vorhandensein von Antikörpern gegen SARS-CoV-2 untersucht, um den Anteil der Gesamtbevölkerung abschätzen zu können, der schon Kontakt mit dem Virus gehabt hatte. Die Ergebnisse waren sehr unterschiedlich.5 In Deutschland ergab die repräsentative Auswertung von Seren erwachsener Blutspender, dass bislang 1,3 % der Bevölkerung eine Infektion durchgemacht hatten – knapp 1,1 Millionen Menschen. In den USA kamen mehrere Untersuchungen auf etwa das Zehnfache der registrierten Infektionshäufigkeit bzw. auf mindestens 6 % der Gesamtbevölkerung. Aus Südasien wurden weitaus höhere Ergebnisse bekannt, so etwa aus dem Großraum Delhi mit einem Durchseuchungsgrad von 22,9 %; die Bewohner der Massenquartiere der Metropole Mumbai sollen sich bis Juli 2020 mit 57 % sogar auf die kollektive Immunität zubewegt haben.6

Auch für die Mortalitätsschätzung ergaben sich neue Aspekte. Die offiziellen Zahlen näherten sich häufig an die tatsächlichen Sterbeereignisse an, sodass auch hier niedrigere Dunkelziffern zu veranschlagen waren. Am Stichtag 15. August 2020 war den verfügbaren Unterlagen zufolge weltweit von einer mindestens 6,5 mal höheren Infektionshäufigkeit und einer 1,5 mal größeren Zahl der im Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbenen auszugehen.

Tabelle 4 a:

Infektionshäufigkeit am Ende der Zwischenetappe.a) (Stand: 15.8.2020)

image

a) Gruppiert nach den 19 Ländern mit der offiziell registrierten höchsten Sterblichkeit pro 100.000 Einwohnern. Wegen der statistischen Verzerrungen blieben Länder mit einer Bevölkerung unter 5 Millionen Menschen unberücksichtigt, nämlich – in der Reihenfolge der registrierten Sterblichkeit – San Marino, Andorra, Panama, Irland, Armenien und Nord-Makedonien.

In den Tabellen 4 a/b wurden diese neuen Trends berücksichtigt. Sie präsentiert eine Momentaufnahme des Pandemiegeschehens beim Übergang zur zweiten Welle. Der Stichtag – 15.8.2020 – wurde so gewählt, dass er die Gesamtsituation exakt drei Monate nach dem Ende der ersten Pandemiewelle abbildete. Bei einer leicht reduzierten Dunkelziffer von 6,5 betrug die kumulierte Infektionshäufigkeit weltweit jetzt knapp 136,7 Millionen (1.750 pro 100.000 Personen). Die geschätzte Zahl der Todesopfer belief sich auf das 1,5-Fache der offiziellen Angaben, nämlich auf knapp 1,134 Millionen. Dies entsprach einer Letalitätsrate von 0,8 % bzw. einer Relation von 15 Todesopfern pro 100.000 Personen.

Tabelle 4 b:

Sterblichkeit am Ende der Zwischenetappe.a) (Stand: 15.8.2020)

image

Quellen Tabellen 4 a und 4 b: United Nations, World Population Prospects 2019; WHO, Coronavirus disease (COVID-19) Situation Report – 208. Data as received by WHO from national authorities by 10:00 CEST, 15 August 2020, online in: https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200815-covid-19-sitrep-208.pdf (Stand: 17.08.2020).

a) Wie Anm. a) in Tabelle 4 a.

Zusätzlich zu dieser globalen Übersicht habe ich wie in den Tabellen 1 und 2 die epidemiologischen Informationen aus neunzehn Ländern ausgewählt. Dabei bin ich jedoch nicht mehr der Rangfolge der Infektionshäufigkeit (Tabelle 1) bzw. der Fallsterblichkeit (Tabelle 2) gefolgt. Ich habe mich vielmehr an einer entscheidenden Problemstellung orientiert, die ich in dieser Untersuchung immer wieder diskutiert habe: In welchem Land sind besonders viele Menschen Covid-19 zum Opfer gefallen? Bei der Beantwortung dieser Frage sollte nicht die absolute Zahl der Verstorbenen im Vordergrund stehen, sondern ihre Relation zur jeweiligen Gesamtheit – die Zahl der Pandemieopfer pro 100.000 Einwohner. Dieser Ansatz liefert das wohl wichtigste Kriterium zur Beurteilung der jeweils ergriffenen Schutzvorkehrungen und der Qualität der medizinischen Versorgung. Darüber hinaus vermittelt er Hinweise zur Beantwortung der Frage, inwieweit sich in den neu entstandenen Epizentren die Katastrophe der europäischen Übersterblichkeit trotz der unterschiedlichen Altersstruktur der Bevölkerung wiederholte. Erste lokale Anzeichen dazu hatte es schon im März–April 2020 gegeben – denken wir nur an Ghom, Guayaquil, New York City und Manaus im brasilianischen Amazonas.7

In dieser Hinsicht bieten die in der Tabelle 4 b zusammengetragenen Zahlen über die unterschiedliche Mortalitätsentwicklung wichtige Erkenntnisse. Es handelt sich dabei um jene neunzehn Länder, die in allen Weltregionen die meisten Todesopfer pro 100.000 Bewohner zu beklagen hatten. Besonders augenfällig ist erstens der Unterschied zwischen der offiziellen Fallsterblichkeit und der geschätzten Letalitätsrate, der in Frankreich (15,2 / 2,8 %), Italien (13,9 / 2,3 %), Großbritannien (13,1 / 2,7 %) und Belgien (12,9 / 2,6 %) besonders markant war. Die zweite Auffälligkeit bestand in der fehlenden Korrelation zwischen der Letalitätsrate und der Zahl der korrigierten Sterbefälle. In Peru waren bis Mitte August 1 % aller geschätzten Infizierten verstorben, aber ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung (132 pro 100.000) war zu diesem Zeitpunkt der größte weltweit; in den Niederlanden war die Letalitätsrate doppelt so hoch, die Mortalität belief sich dagegen auf 47 Todesopfer pro 100.000 Einwohner. Weniger überraschend war drittens, dass die meisten Menschen (absolut und relativ) dem Virus in jenen Weltregionen und Ländern zum Opfer gefallen waren, die sich im Verlauf der ersten Welle und der Zwischenetappe zu Epizentren der Pandemie entwickelt hatten. Verglichen damit war die globale Entwicklung der Sterblichkeit trotz einer Fall- und Infektionssterblichkeit von 3,6 % bzw. 0,8 % mit 15 Todesopfern pro 100.000 Personen bemerkenswert niedrig.

Das Ausmaß der zweiten und dritten Welle

In den Tabellen 5 a/b sind die wesentlichen Daten zur Pandemieentwicklung ab September 2020 zusammengefasst.

Diesmal wurden alle Weltregionen und die in ihnen besonders betroffenen Nationalstaaten berücksichtigt. Dabei habe ich mich – trotz einiger problematischer Zuordnungen – an der Regionaleinteilung der WHO orientiert und zusätzlich die jeweils besonders betroffenen Nationalstaaten untersucht.8 Die Rubriken zur Dokumentation der Infektionshäufigkeit und Sterblichkeit blieben unverändert. Hinzugekommen ist eine Spalte, in der die Zahl der bis zum Ende der 17. Kalenderwoche 2021 (Stichtag 2.5.2021) Geimpften aufgeführt wird.

Auch in dieser Tabelle waren die Dunkelziffern das Schlüsselproblem. Hier kam es bis zum Höhepunkt der dritten Welle zu deutlichen Veränderungen. Weltweit wurden Schnelltests eingeführt. Das Ausmaß ihrer Anwendung war von Land zu Land sehr unterschiedlich, und auch die Effizienz der Schnell- und Selbsttests war noch nicht sicher abschätzbar. Da aber auch die anderen Parameter zur Abschätzung der Dunkelziffer der symptomlos und nur mild erkrankten Infizierten weiter verbessert wurden, war insgesamt davon auszugehen, dass die Dunkelziffern der Infektionshäufigkeit weiter rückläufig waren. Dieser Trend wurde entsprechend im globalen Maßstab (von 6,5 auf 6) und länderspezifisch (beispielsweise in den USA von ursprünglich 10 auf 4 und in Deutschland von 5 auf 3) berücksichtigt. Bei den Sterbefällen sanken die Dunkelziffern wohl ebenfalls, obwohl die Korrektheit der Angaben der russischen und indischen Behörden wieder verstärkt angezweifelt wurde.

Auch in dieser Tabelle blieben die Schätzungen im unteren Bereich der Skala. Statt der am Höhepunkt der dritten Welle (Stichtag 2.5.2021) offiziell registrierten 131,81 Millionen Infizierten kam ich auf eine geschätzte Inzidenz von 910,88 Millionen. Nach dieser Schätzung waren an diesem Tag knapp 11,7 % der Weltbevölkerung infiziert, während sich die Zahl der bis dahin erstmalig Geimpften auf 7,8 % Erstgeimpfte belief. Auch die geschätzte Zahl der im Zusammenhang mit Covid-19

Tabelle 5 a:

Die SARS-CoV-2-Pandemie auf dem Höhepunkt der dritten Welle – Infizierte und Geimpfte (Stand: 2.5.2021)

image

a) Die der Tabelle zugrunde liegenden Bevölkerungszahlen der Staaten stammen aus den World Population Prospects 2019 der UN und sind Schätzungen für das Jahr 2020. Die Zahlen für die WHO-Regionalaufteilung stammen aus den World Health Statistics 2021 der WHO und beziehen sich auf das Jahr 2019.

b) Zahlen für den Iran vom 30.4.2021.

c) Zahlen für den Irak vom 23.4.2021.

d) Zahlen für Südafrika vom 1.5.2021.

e) Zahlen für die Philippinen vom 1.5.2021.

Tabelle 5 b:

Die SARS-CoV-2-Pandemie auf dem Höhepunkt der dritten Welle – Sterblichkeit (Stand: 2.5.2021)

image

Quellen Tabellen 5 a und 5 b: United Nations, World Population Prospects 2019; WHO, World health statistics 2021: monitoring health for the SDGs, sustainable development goals, 2021, in: https://cdn.who.int/media/docs/default-source/gho-documents/world-health-statistic-reports/2021/whs-2021_20may.pdf (Stand: 1.7.2021); WHO, COVID-19 Weekly Epidemiological Update. Data as received by WHO from national authorities, as of 2 May 2021, 10 am CET, online in: https://www.who.int/publications/m/item/weekly-epidemiological-update-on-covid-19—-4-may-2021 (Stand: 1.7.2021); Hannah Ritchie u. a., Coronavirus (Covid-19) Vaccinations, in: https://ourworldindata.org/covid-vaccinations (Stand: 1.7.2021).

a) Wie Anm. a) in Tabelle 5 a.

Verstorbenen war auf 4,14 Millionen gestiegen. Darüber hinaus macht ein Blick auf die in der Tabelle aufgeführten Weltregionen und Nationalstaaten deutlich, dass sich die Dynamik der Pandemie auch jetzt noch auf die Epizentren in Nord- und Südamerika sowie Europa konzentrierte. Etwa 80 % aller Infizierten und Todesopfer stammten aus diesen Weltregionen. Erst im Verlauf der dritten Welle begann sich bis Ende April 2021 eine Verschiebung in Richtung Südasien und östliche Mittelmeerregion abzuzeichnen.

Im Verlauf des Mai 2021 schwächte sich die dritte Welle allmählich ab. Es gab jedoch keine Entwarnung, denn die neu aufgetretenen Varianten hatten ständig neue Schwerpunktbildungen zur Folge. Die Schwere der Pandemie ist vor allem an den Opferzahlen abzulesen. Einer vorsichtigen Schätzung der WHO zufolge war davon auszugehen, dass bislang 6–8 Millionen Menschen direkt oder indirekt an den Folgen von Covid-19 gestorben waren.9 Wie die Tabelle 5 b zeigt liegt meine eigene Schätzung weit darunter. Wenn die WHO-Experten recht behalten, könnte sich die tatsächliche Zahl der Pandemieopfer bis Ende 2021 der 8–10 Millionen-Grenze nähern.

Die Eigenschaften der Pandemie

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Covid-19 eine innere Logik oder gar Gesetzmäßigkeit zuzuschreiben. Vor allem die Biomathematiker haben sich auf diesem Terrain versucht.10 Die Pandemie entzieht sich jedoch linearen Modellrechnungen, weil die tatsächliche Infektionshäufigkeit nicht bekannt ist. Am ehesten ist sie noch mit einem nichtlinearen dynamischen System vergleichbar, bei dem minimale Veränderungen der Ausgangssituation zu gravierenden Folgen in alle möglichen Richtungen führen können: zu massiven Verstärkereffekten, Rückkopplungen, Redundanzen, Plateaubildungen oder auch völlig unerwarteten Abschwächungen. So können Mutationen die Fähigkeit des Erregers zum Andocken am Menschen unerwartet verstärken und seine Pathogenität steigern, genauso aber auch abschwächen. Schlechtwetterperioden und Kälte führen dazu, dass sich die Menschen häufiger als sonst in geschlossenen Räumen aufhalten und dadurch ein gesteigertes Übertragungsrisiko eingehen. Auch der Selbstschutz der Bevölkerung ist vielfältigen kulturellen und sozialen Einflüssen unterworfen, die sich periodisch ändern; bei fehlenden Ressourcen der Infektionshygiene stößt er zudem rasch ins Leere. Sogar die administrativen Beschränkungen der Kontakte und der Bewegungsfreiheit sind unkalkulierbaren Wechseln unterworfen. Es gibt zahlreiche weitere Faktoren, die mehr oder weniger zufällig wirksam werden, in ihrer Gewichtung ständig variieren und durch ihr Zusammenwirken die Pandemie verstärken oder abschwächen. Ihr Verlauf ist deshalb unkalkulierbar, diskontinuierlich und wellenförmig. Solange die Mensch-Virus-Interaktion nicht durch wirkungsvolle pharmazeutische Eingriffe (Medikamente und Impfstoffe) blockiert wird, kann lediglich versucht werden, ihre Dynamik durch gezielte Vorbeuge- und Schutzmaßnahmen zu steuern und abzubremsen.

Tabelle 6:

Übersterblichkeit und registrierte Sterbefälle in Deutschland – erste und zweite Pandemiewelle

image

Quellen: Sterbefallzahlen insgesamt: Statistisches Bundesamt (Stand: 12.4.2021); Covid-19-Todesfälle: Robert Koch-Institut (Stand: 9.4.2021), zit. nach: Statistisches Bundesamt: Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland, online in: https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Corona/_Grafik/_Interaktiv/woechentliche-sterbefallzahlen-jahre.html (Stand: 13.4.2021).

Dass es sich bei Covid-19 um eine schwere Pandemie handelt, steht außer Frage. Sie setzt selbst die effizientesten Gesundheitssysteme massiven Belastungsproben aus. Spätere Historiker werden zu rekonstruieren haben, welche Faktoren beim Aufbau ihrer Ausbreitungswellen und Zwischenetappen zusammenwirkten, bevor die Impfkampagne nach eineinhalb Jahren zu greifen begann und sie in die endemische Phase zurückdrängte. Bis dies geschieht, werden sich wahrscheinlich mehr als eine Milliarde Menschen infiziert haben und acht bis zehn Millionen dem Virus zum Opfer gefallen sein. Das Gesamtgeschehen wirkte auch deshalb so zermürbend, weil sich die Stoßwellen ständig verstärkten und die Zwischenetappen verkürzten.

Trotzdem handelt es sich bei Covid-19 um keine Katastrophe, die dem Schwarzen Tod oder der Influenzapandemie von 1918–1920 vergleichbar wäre. Das Virus wird keineswegs ubiquitär übertragen, sondern vor allem in geschlossenen und schlecht belüfteten Räumen. Die Mehrheit der Infizierten bleibt symptomlos oder entwickelt nur milde Krankheitszeichen. Ernsthafte Probleme bereitet es in erster Linie den chronisch erkrankten und betagten Menschen. Nur etwa 5 Prozent aller Infizierten erkranken so schwer, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen. Spätfolgen stellen sich nur bei einer Minderheit ein. Der Altersmedian der im Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbenen liegt deutlich über 80 Jahren, im Epizentrum Europa bei den 83 bis 84-Jährigen. Dieses Phänomen muss auch bei der Diskussion der Übersterblichkeit beachtet werden. Wie ein Blick auf Tabelle 6 zeigt, war die Übersterblichkeit in Deutschland während der fast zweieinhalb Mal so langen zweiten Pandemiewelle11 ungefähr dreimal so hoch wie während der ersten, während sich der Anteil der registrierten Covid-19-Opfer verringerte (von 81,6 auf 73,4 %). Von den insgesamt 91.104 Personen, die im Vergleich zum Durchschnitt der voraufgegangenen fünf Jahre zusätzlich verstarben, fielen knapp drei Viertel (73,5 %) dem Virus zum Opfer. Bei der Beurteilung dieser bedrückenden Daten muss indessen bedacht werden, dass sich der Anteil der über 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung in den letzten fünf Jahren deutlich erhöht hat. Bei einer Berücksichtigung dieser Verschiebung wird die Berechnung der im Pandemiejahr tatsächlich eingetretenen Übersterblichkeit deshalb deutlich niedriger ausfallen.

Gleichwohl ist die Pandemie ein dramatischer Einschnitt. Sie hat große Teile der Weltgesellschaft aus der Bahn geworfen, das globale Gesundheitswesen extrem herausfordert und mindestens sechs Millionen Menschen das Leben gekostet.

Covid-19 im historischen Pandemievergleich

Die durch das Virus SARS-CoV-2 ausgelöste Pandemie ist kein singuläres Ereignis. Deshalb muss die hier vorgetragene Einschätzung anhand vergleichbarer epidemiologischer Konstellationen kritisch überprüft werden. Es besteht somit Anlass, zu den in der Einleitung dieser Untersuchung aufgeworfenen Fragen zurückzukehren. Ein solcher vergleichender Rückgriff gestattet es uns, Distanz zum aktuellen Geschehen zu gewinnen und den methodischen Fehler zu vermeiden, Covid-19 als einmaliges Geschehen wahrzunehmen, das sich nur aus sich selbst zu erklären vermag.

Im Gegensatz zur Einleitung werde ich mich mit den komparativen Problemen jetzt quantifizierend auseinandersetzen. Dabei ist ein entscheidendes Phänomen wegweisend: SARS-CoV-2 ist mit den Influenzaviren zwar nur entfernt verwandt,12 bei seinen humanen Wirten verhält es sich jedoch hinsichtlich seiner Übertragungswege, Infektiosität, Pathogenität und des Befalls des Atemsystems sehr ähnlich. Sicher gibt es auch einige gewichtige Unterschiede, so etwa bezüglich der Risikogruppen, wo bestimmte Influenzaviren nicht nur den Alten und Schwerkranken, sondern auch den Kleinkindern gefährlich werden. Trotzdem ist die Interaktion zwischen den beiden Erregergruppen und den Menschen derart ähnlich, dass der Vergleich der Covid-19-Pandemie mit den schweren Influenzapandemien des 20. und frühen 21. Jahrhunderts besonders naheliegt.

In Tabelle 7 habe ich aus der verfügbaren Weltliteratur zur Geschichte der Influenza eine Übersicht über die schweren Influenza-Pandemien zusammengetragen.

Nach der weltweiten, in der Einleitung skizzierten Grippe-Katastrophe der Jahre 1918–1920 war die Influenza wieder endemisch geworden.13

Tabelle 7:

Die schweren Influenza-Pandemien des 20. und 21. Jahrhunderts im Vergleich mit Covid-19

image

Quellen: CDC (USA), Summary of the 2017-2018 Influenza Season, 5.9.2019; N. J. Cox u. a., Global Epidemiology of Influenza: Past and Present, in: Annual Reviews of Medicine 51 (2000), S. 407-421; Deutsche Stiftung Weltbevölkerung, Weltbevölkerung zum Jahreswechsel 2017/2018, online in: https://www.presseportal.de/pm/24571/3822711 (Stand: 05.06.2020); ECDC, Seasonal Influenza, 2017–2018. Annual Epidemiological Report for 2018, Stockholm 2018; Aspen Hammond u. a., Review of the 2017–2018 influenza season in the northern hemisphere, in: Weekly Epidemiological Record, Nr. 34, 24.8.2018, S. 429–444; A. Danielle Iuliano u. a., Estimates of global seasonal influenza; Edwin D. Kilbourne, Influenza Pandemics of the 20th Century, in: Emerging Infectious Diseases 12 (2006) Nr. 1, S. 9–14; Eckard Michels, Die »Spanische Grippe« 1918/19. Verlauf, Folgen und Deutungen in Deutschland im Kontext des Ersten Weltkriegs, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 58 (2010) Nr. 1, S. 1–33; P. Niall u. a., Updating the Accounts: global mortality of the 1918–1920 »Spanish« influenza epidemic, in: Bulletin of the History of Medicine 76 (2002), S. 105–115; K.G. Nicholson u. a., Textbook of Influenza , Oxford 1998; C. W. Potter, A History of Influenza, in: Journal of Applied Microbiology 91 (2001) Nr. 4, S. 572–579; Patrick R. Saunders-Hastings u. a., Reviewing the History of Pandemic Influenza: Understanding Patterns of Emergence and Transmission: Pathogens 5 (2016) Nr. 4, PMCID: PMC5198166; United Nations, World Population Prospects 2019; WHO (Hg.), COVID-19 Weekly Epidemiological Update, 2.5.2021.

a) In den Jahren 1957/58 und 1968–1970 BRD und DDR zusammen.

b) Schätzung unter Berücksichtigung der Dunkelziffern aus Tabelle 5 a/b mit dem Stand: 2.5.2021.

Sie trat seither in jährlichem Turnus auf, und zwar jeweils im Herbst/Winter der südlichen und nördlichen Hemisphäre. Dieses ›migrantische‹ Verhalten verlieh dem Geschehen einen saisonalen Charakter, aus der globalen Perspektive war es jedoch eher ein ganzjähriges Ereignis mit zwei sich überlappenden Anfängen bzw. Ausläufern. Diese Periodizität war nicht etwa von den Menschen vorgegeben, sondern hatte in der Eigenart der Viren und geografischen Faktoren ihre Ursache.14 Die Influenzaviren sind bemerkenswert instabil. Sie mutieren häufig und bilden zahlreiche Subtypen, die von Saison zu Saison variieren, in mehreren Varianten gleichzeitig auftreten und sich mit weiteren viralen Erkältungserregern assoziieren, darunter auch einigen relativ harmlosen Coronaviren.15 Gemeinsam befallen sie von Jahr zu Jahr die Atemwege von vielen Millionen Menschen. Dabei übernehmen manchmal neue Subtypen die Führung, die ihren menschlichen und tierischen Überträgern (Wildvögel und Schweine) durchaus gefährlich werden können. Das hatte immer wieder massive epidemiologische und medizinische Gegenaktionen zur Folge, die in Teil I dieser Studie thematisiert wurden.16 Die seit einigen Jahrzehnten verfügbaren Impfstoffe wirken jedoch häufig nur selektiv und begrenzt. Zum Glück geschah – und geschieht – dies nur selten, aber die schweren Influenzapandemien hielten die kollektive Erinnerung an die Katastrophe von 1918–1920 bis heute wach.

Die auf die ›Spanische Grippe‹ von 1918–1920 gefolgten schweren Influenzapandemien brachen 1957, 1968 und 2017 aus. Sie verliefen in mehreren Wellen vom Herbst bis zum Frühling des Folgejahrs, manchmal aber auch in längeren Intervallen (so etwa die Hongkong-Grippe von 1968–1970). Sie wurden in der Regel von einem Subtyp dominiert, 2017/18 waren es drei. Ihre Infektiosität war hoch, mehrere hundert Millionen Menschen erkrankten. Trotz der vergleichsweise niedrigen Sterblichkeit verloren insgesamt 3–5 Millionen Menschen ihr Leben; die meisten Opfer (2,2 Millionen) forderte die Asiatische Grippe 1957/58. Die Folgen waren gravierend und führten zu schweren Belastungen der Gesundheitssysteme. Sie wurden jedoch von den politischen Instanzen und den Medien heruntergespielt. Es wurden auch keine über die seuchenhygienische Routine hinausgehenden Maßnahmen ergriffen. Nur während der Influenzakatastrophe von 1918–1920 schlossen einige US-Bundesstaaten die Schulen und schränkten das öffentliche Leben ein – mit mäßigem Erfolg, wie sich später herausstellte.17

Doch nun zu dem in Tabelle 7 präsentierten Vergleich dieser schweren Influenzapandemien mit Covid-19. Methodisch ist er problematisch, denn die auf die zweite Welle gefolgte dritte Welle von Covid-19 war Anfang Mai 2021 noch nicht abgeebbt und in die zu erwartende endemische Phase übergegangen. Wir vergleichen deshalb ein noch nicht abgeschlossenes Ereignis mit länger zurückliegenden historischen Prozessen. Aufschlussreich ist diese Momentaufnahme aber auf jeden Fall. Bis zur letzten Aprilwoche 2021 hatten sich weltweit schätzungsweise 910 Millionen Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert.18 Etwa 4,1 Millionen Erkrankte waren verstorben, und dies entsprach einer Letalitätsrate von 0,45 %. Damit übertraf die SARS-CoV-2-Pandemie sechzehn Monate nach ihrem Ausbruch die schweren Influenzapandemien der zweiten Hälfte des 20. und frühen 21. Jahrhunderts deutlich. Zur Influenzakatastrophe von 1918–1920 bestand jedoch ein erheblicher Unterschied. Damals hatte sich die Hälfte der Weltbevölkerung mit dem Influenzaerreger angesteckt. Bis Ende April 2021 waren 12–15 % mit Covid-19 infiziert; im Gegensatz zu damals wird die inzwischen angelaufene Impfkampagne die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung vor der Infektion bewahren. Darüber hinaus folgten damals wie heute mehrere Pandemiewellen aufeinander, von denen die zweite bzw. die dritte am aggressivsten war. Der größte und wichtigste Unterschied offenbart sich schließlich beim komparativen Blick auf die Sterblichkeit. Während der ›Spanischen Grippe‹ starben zwischen 5,7 und 10 Prozent aller Infizierten; den neuesten Studien zufolge überlebten 40–50 Millionen die Influenza nicht. Verglichen damit ist die Pathogenität von SARS-CoV-2 deutlich geringer ausgeprägt. Die Mortalität ist zwar von Welle zu Welle gestiegen. Sie beschränkte sich aber im Wesentlichen auf chronisch erkrankte und betagte Menschen, sodass sich die Letalitätsrate zwischen 0,5 und 0,8 % einpendelte.

Damit hat sich die aus der Analyse des Pandemieverlaufs gewonnene Einschätzung auch im historischen Vergleich bestätigt. Covid-19 ist die schwerste Viruspandemie des Atemsystems, die die Menschheit seit der Influenzakatastrophe von 1918–1920 heimgesucht hat. Aber es handelt sich nicht um eine Katastrophe vom Ausmaß der ›Spanischen Grippe‹ von 1918-1920. Sie hat die gravierenden Schwächen aufgedeckt, die die Gesundheitssysteme seit ihrer Deregulierung in den 1990er Jahren auszeichnen.

Tabelle 8:

Vergleich einer typischen Influenza-Pandemie mit Covid-19

(Stand 2.5.2021)

image

Quelle: A. Danielle Iuliano u. a., Estimate of Global Seasonal Influenza-Associated Respiratory Mortality: A Modelling Study, in: The Lancet 391 (2018) Nr. 10127, S. 1285–1300; John Paget u. a., Global Mortality Associated with Seasonal Influenza Epidemics: New Burden Estimates and Predictors from the GLaMOR Project, in: Journal of Global Health 9 (2019) Nr. 2, S. 1–12; United Nations, World Population Prospects 2019; WHO (Hg.), COVID-19 Weekly Epidemiological Update, 2.5.2021; WHO (Hg.): Up to 650 000 People Die of Respiratory Diseases Linked to Seasonal Flu Each Year (2017), online in: https://www.who.int/mediacentre/news/statements/2017/flu/en/ (Stand: 30.6.2020).

a) Zahlen für 1999–2015 und 2002–2011 gerundet und gemittelt nach: United Nations, World Population Prospects 2019; Zahlen für die Welt 2019–21 und Deutschland 2020/21 zit. nach: ebd.

b) Nach A. Danielle Iuliano u. a., Estimates of global seasonal influenza.

c) Nach John Paget u. a., Global Mortality Associated with Seasonal Influenza Epidemics.

d) Zusätzlich zu den offiziellen Zahlen eigene Schätzung in Klammern unter Berücksichtigung der Dunkelziffern aus den Tabellen 5 a/b.

e) Wie Anm. d) in dieser Tabelle.

Soweit ein erster komparativer Überblick. Weitere Differenzierungen sind erforderlich und teilweise auch schon möglich, wie die folgenden Tabellen zeigen. In Tabelle 8 wird zunächst eine sich aufdrängende Zusatzfrage beantwortet, die seit dem Ausbruch der Pandemie immer wieder kontrovers diskutiert wurde: Ist die Covid-19-Pandemie mit einer durchschnittlichen saisonalen Grippewelle vergleichbar, oder ist sie nicht weitaus gefährlicher? Um zu einer Antwort zu kommen, habe ich die aus zwei epidemiologischen Studien entnommenen Daten zur Quantifizierung einer typischen Influenza mit den Kerndaten der SARS-CoV-2-Pandemie verglichen. Das Ergebnis ist aufschlussreich (vgl. Tabelle 8).

Die Zahl der offiziell registrierten SARS-CoV-2-Infizierten lag Ende April 2021 noch deutlich unter dem Influenza-Durchschnitt; nur bei einer Schätzung unter Berücksichtigung der Dunkelziffer ergab sich ein annähernder Gleichstand. Hinsichtlich der Mortalität manifestierte sich jedoch ein gravierender Unterschied. Einer typischen Influenza-Pandemie fallen jährlich 389.000 bzw. 409.100 Menschen zum Opfer, und dies entspricht einer Mortalität von 6 Verstorbenen pro 100.000. Im Zusammenhang mit Covid-19 starben hingegen in den ersten 16 Monaten offiziell 2,77 Millionen sowie geschätzt 3,6 Millionen Menschen, was einer Mortalität von 36 bzw. 46 Todesopfern pro 100.000 Personen entspricht. Da der Influenza-Vergleich auch in Deutschland hohe Wellen schlug, habe ich in dieser Tabelle auch die diesbezüglichen Daten berücksichtigt. Während einer typischen saisonalen Influenza infizieren sich in Deutschland durchschnittlich 7–9 Millionen Personen, während bis Ende April 2021 schätzungsweise 11,84 Millionen mit dem Corona-Virus in Kontakt kamen (offiziell wurden knapp 3,382 Millionen positiv getestet).19 Die Sterblichkeit war jedoch um ein Vielfaches höher: 82.850 Menschen überlebten ihre Erkrankung nicht; die Mortalität war mit knapp 100 Verstorbenen pro 100.000 Einwohner im Durchschnitt der beiden Schätzungen 18 Mal höher als bei einer typischen Influenza. Somit ist die Infektiosität ähnlich, aber SARS-CoV-2 ist weitaus pathogener und gefährlicher als ein durchschnittliches Influenzavirus.

Tabelle 9:

Die Mortalität der Covid-19 Pandemie nach Weltregionen im Vergleich mit einer durchschnittlichen Influenza-Pandemie

(Stand: 2.5.2021)

image

Quelle: John Paget u. a., Global mortality associated with seasonal influenza epidemics. New burden estimates and predictors from the GLaMOR Project, in: Journal of Global Health, Nr. 2 (Dezember 2019) Vol. 9, S. 1–12; WHO (Hg.), COVID-19 Weekly Epidemiological Update, 2.5.2021.

a) Entsprechend der Regionalaufteilung in der Berichterstattung der WHO.

b) Durchschnittstyp.

c) Stand 2.5.2021. Zahlen gerundet. Geschätzte Zahlen in Klammern.

Von großer Bedeutung ist schließlich die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen einer typischen saisonalen Influenza und der Covid-19-Pandemie hinsichtlich der regionalen Verteilung der Sterbefälle im Weltmaßstab. In Tabelle 9 habe ich deshalb die Mortalität von Covid-19 und einer durchschnittlichen saisonalen Influenza in den sechs WHO-Weltregionen untersucht. Dabei traten einige überraschende Ergebnisse zu Tage, die im Rahmen einer vergleichenden Pandemiegeschichte genauer abgeklärt werden sollten.20

Während sich im subsaharischen Afrika kaum Diskrepanzen zwischen der durch eine typische Influenza und der durch Covid-19-bedingten Mortalität ergaben (5,6 bzw. 7 Todesfälle pro 100.000), war die influenza-bedingte Sterblichkeit in der westlichen Pazifikregion noch 16 Monate nach dem Ausbruch von Covid-19 um das Zweieinhalbfache größer (5,1 bzw. 2 pro 100.000). In Südostasien verhielt es sich dagegen umgekehrt (5,8 bzw. 14 Todesopfer pro 100.000 Personen). Noch größer war der Unterschied in der östlichen Mittelmeerregion (4,5 Influenza-Opfer gegenüber 25 Covid-19-Toten pro 100.000). Am größten war die Diskrepanz der letalen Folgen von Covid-19 zu einer durchschnittlichen Influenza jedoch in den Dauer-Epizentren der Pandemie, den beiden Amerikas und Europa. Bei einer durchschnittlichen Influenza bewegt sich die in diesen Kontinenten beobachtete Sterblichkeit in Größenordnungen von 6,2 bzw. 5,3 Todesopfern pro 100.000 Personen. Nach 16 Monaten Covid-19 stieg sie hingegen auf 148 bzw. 116 Verstorbene pro 100.000 der Grundeinheit.

Die vergleichende Analyse der regionalen Mortalitätsunterschiede bei Covid-19 und Influenza hat überraschend große regionale Unterschiede sichtbar gemacht. Eine wesentliche Rolle dürfte dabei die von Kontinent zu Kontinent sehr diskrepante Altersstruktur der Bevölkerung gespielt haben. Leider reichten die statistischen Unterlagen zur regionalen Altersstruktur der SARS-CoV-2-Pandemie nicht aus, um diese Bezugsgröße in die quantifizierende Untersuchung einbeziehen zu können. Es bleibt zu hoffen, dass die Lücke bald geschlossen wird.