Zum Abschluss dieses orientierenden Überblicks will ich versuchen, die bisherige Ausbreitung der Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Weltbevölkerung zu quantifizieren. Dabei werde ich mich mit den Daten auseinandersetzen, die über die Zahl der Infizierten, Genesenen, Geimpften und Verstorbenen Auskunft geben. Zuvor sollen jedoch einige methodische Fragen geklärt werden.1
Bei jeder neu auftretenden Epidemie ist die Frage entscheidend, wie schnell und in welchem Ausmaß die betroffene Bevölkerung infiziert wird. Deshalb ist es nur zu verständlich, wenn sich Millionen von Menschen täglich mit den Meldungen über die Zahl der Neuerkrankungen und über die Gesamtzahl aller bislang Infizierten auseinandersetzen.
Diese täglichen Übersichten haben jedoch ihre Tücken.2 In der Art der Aufbereitung und Darstellung der Fallzahlen erwecken sie den Eindruck, als würden alle Infizierten erfasst. Zudem werden die täglichen Neumeldungen fortlaufend kumuliert, obwohl im Fall der Covid-19-Pandemie etwa vier Fünftel der Infizierten überhaupt nicht erkranken oder von ihren milden Symptomen rasch wieder genesen, sodass sie keinen Arzt aufsuchen und nicht getestet werden. Sie bleiben in der ›Infektionskurve‹ unberücksichtigt, und deshalb sind die als ›Inzidenz‹ bezeichneten und auf die Gesamtbevölkerung bezogenen Angaben über die Infektionsdynamik (innerhalb von sieben Tagen positiv Getestete pro 100.000) irreführend. Es handelt sich lediglich um eine sogenannte Prävalenzgröße, denn nur die ernsthafter Erkrankten und vielleicht auch noch ihre Kontaktpersonen werden in der Regel getestet. Die tatsächliche Inzidenz des Pandemiegeschehens und das aus ihr ablesbare Ausmaß und Tempo der Zirkulation des Erregers in der Bevölkerung kennt niemand.
Tatsächlich wurde bis zum Beginn der zweiten Pandemiewelle nur fallbezogen getestet, weil die Testsysteme knapp und teuer waren. Nur wer wirklich erkrankt war und medizinische Hilfe in Anspruch nehmen musste, wurde getestet, zusätzlich wurden die Untersuchungen auf die dabei identifizierten Kontaktpersonen ausgeweitet. Erst seit der Einführung der Schnelltests änderte sich die Situation, wenn auch keineswegs überall auf der Welt. Aber auch in den Ländern mit funktionsfähigen Gesundheitssystemen ging es dabei vor allem um den Schutz besonders gefährdeter oder exponierter Gruppen, sodass sich an der Unterscheidung zwischen ›Inzidenz‹ und ›Prävalenz‹ nichts änderte.
Hinzu kommt eine Latenzzeit zwischen Ansteckung, Erkrankung und Testergebnis von 14–15 Tagen, sodass ein positiv Getesteter mit einer erheblichen Verzögerung in der Statistik auftaucht. Auf die diesbezüglichen kritischen Hinweise haben einige Gesundheitsbehörden reagiert und ihre Berichterstattung durch die Einführung neuer statistischer Verfahren (›Nowcasting‹) verbessert. Sie haben den Ausgleichsfaktor zur Berücksichtigung der Zeitverzögerung mit einer auf die jeweilige Kalenderwoche bezogenen Schätzung der durchschnittlichen individuellen Übertragungshäufigkeit kombiniert. Die dabei benutzte ›Reproduktionszahl‹ (R-Zahl) soll angeben, wie viele weitere Menschen von einem Infizierten in dieser Kalenderwoche durchschnittlich angesteckt werden. Bei einem Ausschlag über eins (>1) signalisiert dies eine Ausbreitung, bei einer Unterschreitung (<1) einen Rückgang der Infektionszahlen.
Trotz dieser Modifikationen führte und führt eine derartige Berichterstattung zu gravierenden Verzerrungen bei der Abbildung des Pandemiegeschehens. Lange Zeit wurde noch nicht einmal angegeben, auf wie viele Tests sich die diagnostizierten Fallzahlen bezogen – so etwa in Deutschland. Auch hier wurde erst beim Übergang zur zweiten Welle Abhilfe geschaffen. Bis dahin war noch nicht einmal eine beschränkte Aussage über den Anteil der Infizierten am Testsample möglich – etwa der Art: »Von den 500.000 in der Zeit zwischen 1. und 30. April Getesteten waren 50.000 = 10 % infiziert«.
Die täglichen Berichte über die Zahl der Neuinfizierten und die bis dahin registrierten positiv Getesteten haben somit nur eine begrenzte Aussagekraft über die tatsächliche Häufigkeit der Infektion (Inzidenz) und ihr Auftreten in bestimmten sozialen Gruppen. Wir müssen von erheblichen Dunkelziffern ausgehen, die aufgrund der extrem unterschiedlichen Verfügbarkeit und praktischen Anwendung der Testsysteme in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich sind.
Inzwischen liegen aus zahlreichen Ländern erste Schätzungen über das tatsächliche Ausmaß der Infektion vor. Sie basieren auf Stichproben und ergänzen die bisherigen Schätzungen. Sie machen es möglich, die tatsächliche Inzidenz der Covid-19-Pandemie etwas genauer abzuschätzen (vgl. Tabelle 1 im nächsten Kapitel III.4).
Seit der Einführung der leicht verfügbaren und preiswerten Schnelltests im Herbst 2020 hat sich diese Situation geändert. In zahlreichen Ländern und Regionen wurden Massentests durchgeführt, sodass auch symptomlose oder nur mild erkrankte Infizierte erkannt werden konnten. Infolgedessen haben sich die Dunkelziffern verringert und wurden in den Tabellen 4 a/b und 5 a/b (ebenfalls in Kapitel III.4) entsprechend neu geschätzt. In ihnen sind den offiziell registrierten Fallzahlen und Sterbefällen die geschätzten Kerndaten des bisherigen Pandemieverlaufs (Stand 15.8.2020 und 2. Mai 2021) gegenübergestellt. Bei diesen Tabellen handelt es sich um reine Annäherungsgrößen. Die in sie eingesetzten Dunkelziffern verdanken sich einer kritischen Durchsicht der derzeit erreichbaren Expertisen und Schätzungen. Sie kommen der tatsächlichen Dynamik der Pandemie näher als die offiziellen Zahlen. Eine valide Schätzung wird erst dann möglich sein, wenn sich die Ergebnisse repräsentativer Bevölkerungsstichproben und einer darauf aufbauenden Verlaufskontrolle (Kohorte) konsolidiert haben. Während der AIDS-Pandemie der 1980er Jahre wurden im Gegensatz zur heutigen Konstellation sehr früh Stichproben durchgeführt und Verlaufskohorten gebildet.
Auch bei der Frage, wie viele Menschen weltweit und in den jeweils betroffenen Ländern mittlerweile genesen sind, lassen uns die Tages- und Wochenberichte der Gesundheitsbehörden häufig im Stich. In Einzelfällen veröffentlichten sie ab Frühjahr 2020 entsprechende Schätzungen. Am 30. März 2020 stellte das RKI beispielsweise den 57.298 bestätigten Fällen geschätzte 13.500 Genesene gegenüber, am 13. Mai waren es 171.306 bzw. 148.700, und bis zum Ende der zweiten Welle (Stichtag 16.2.2021) waren die beiden Vergleichszahlen auf 2,343 Millionen bzw. 2,141 Millionen gestiegen.3 Dabei ist an den Beurteilungskriterien für die Kategorie ›genesen‹ nichts auszusetzen.4 Problematisch ist jedoch, dass auch in diesem Fall der Eindruck erweckt wird, als ob mit dieser Schätzziffer tatsächlich alle bis dahin Genesenen erfasst wären. Erneut kommt hier die Dunkelziffer ins Spiel: Wie viele vermeintlich an einem ›grippalen Infekt‹ erkrankte Überträger blieben unerkannt, und was ist mit denjenigen, die keinerlei Symptome entwickelt hatten? Selbst Kurvenverläufe, die die Relation zwischen registrierten Infizierten, Genesenen und Verstorbenen abbilden, vermitteln wegen des Fehlens einer gemeinsamen Bezugsgröße5 nur einen Teilausschnitt der Wirklichkeit. Wir erhalten infolgedessen keinerlei Anhaltspunkte zur Abklärung der Frage, wie groß der tatsächliche Anteil derjenigen Menschen ist, die inzwischen gegen das Virus immun sind. Alle Epidemiologen gehen von dem gesicherten Befund aus, dass bei einer post-infektiösen Immunisierung von 60–70 % der Bevölkerung auch solche Menschen vor einer Ansteckung geschützt sind, die noch keinen Kontakt mit dem Virus gehabt hatten. Dann liegt eine kollektive Immunität vor, die mit dem etwas merkwürdigen Begriff ›Herdenimmunität‹ belegt ist. Es wäre von entscheidender Bedeutung zu wissen, wie weit die jeweiligen Weltregionen und Länder von diesem Zustand noch entfernt waren, bevor die medizinisch gesteuerte Immunisierung durch die Impfkampagne begann. Da dies aktuell nicht möglich erscheint, hängen die Experten bei der Diskussion einer möglichen vierten Pandemiewelle in der Luft. Denkbar ist immerhin eine Bestandsaufnahme über die Immunitätslage zum Zeitpunkt des Abschwungs der zweiten und dritten Welle. Wenn wir das tatsächliche Ausmaß der bisherigen Infektionshäufigkeit anhand der entsprechend aktualisierten Dunkelziffern abschätzen, können wir daraus auf die Zahl der infektionsbedingt Immunisierten rückschließen6 und diese mit den Informationen über den aktuellen Stand der Impfkampagne kombinieren. Aus dem Ergebnis lassen sich dann auch erste Prognosen zur Eindämmung bzw. zum Übergang von Covid-19 in die endemische Phase ableiten.
Auch die Frage nach der Zahl derjenigen Menschen, die der Pandemie zum Opfer gefallen sind, ist nicht leicht zu beantworten. Häufig ist auf diesem uns alle besonders berührenden Gebiet bei der Aufbereitung und Präsentation der Daten eine Ungenauigkeit zu beobachten, die wichtige Grundsätze der epidemiologischen und medizinischen Statistik vernachlässigt. Bislang war es üblich, in Fragen der quantitativen Analyse von Sterbefällen zwischen Fallsterblichkeit (Case Fatality Rate – CFR), Letalitätsrate (Infection Fatality Rate – IFR) und Sterblichkeit pro Bevölkerungseinheit (zur besseren Verständlichkeit umgerechnet auf 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner) zu unterscheiden. Ein solches Vorgehen ist auch in der Konfrontation mit der Coronapandemie erforderlich.
Zunächst zur Quantifizierung der Fallsterblichkeit. Sie umfasst alle Menschen, bei denen erkannt wurde, dass sie an oder mit Covid-19 gestorben sind. Ihre Bezugsgröße ist somit diejenige Gruppe, bei der eine SARS-CoV-2-Infektion mit tödlichem Ausgang nachgewiesen wurde. In allen Lageberichten der internationalen und nationalen Gesundheitsbehörden finden wir Zahlen über die an sie gemeldeten Verstorbenen, über die kumulierte Gesamtzahl der Todesopfer und über ihre Relation zu den bis dahin registrierten Infektionsfällen. Im WHO Situation Report vom 14. Mai 2020 waren dies beispielsweise 294.046 Personen, im Vergleich zum Vortag waren 6.647 Gestorbene hinzugekommen, und die Fallsterblichkeit belief sich auf 6,9 %.7 Das Robert Koch-Institut dokumentierte am selben Tag für Deutschland insgesamt 7.723 Verstorbene, was einem Anteil von 4,5 % an den bislang registrierten Infizierten entsprach.8 Diese Zahlen waren erschreckend genug. Deshalb war es gerade in diesem Kontext problematisch, dass die Covid-19-Opfer unkommentiert mit der Zahl der registrierten Infizierten ins Verhältnis gesetzt wurden (6,9 bzw. 4,5 %). Die hohen Dunkelziffern der Pandemie blieben unerwähnt, und dies führte zu einer Überhöhung der Mortalitätsschätzung. Nehmen wir beispielsweise für die weltweit und in Deutschland zu dieser Zeit dokumentierten Infektionsfälle eine Dunkelziffer von 7 bzw. 5 an, so kommen wir der Realität mit einer geschätzten Letalitätsrate von 1,6 % bzw. 0,9 % schon deutlich näher (vgl. Tabelle 2 in Kapitel III.4).
Die Missachtung der Grundregeln der epidemiologischen Statistik brachte der WHO und den nationalen Gesundheitsbehörden massive Kritik ein. Im Spätsommer 2020 vollzogen sie schließlich eine partielle Kurskorrektur. Anlässlich des Übergangs zur wöchentlichen Berichterstattung verzichteten sie auf die Errechnung der Fallsterblichkeit und gingen dazu über, die wöchentlichen und kumulativen Sterbezahlen nur noch auf die jeweilige Gesamtbevölkerung (pro 100.000) zu beziehen.
Dessen ungeachtet liefert die Analyse der Fallsterblichkeit wichtige Erkenntnisse zur Verbesserung der Präventions- und Behandlungskonzepte, sobald wir sie mit den klinischen Verlaufsberichten abgleichen. Das ist inzwischen in mehreren Ländern der Fall. In einer chinesischen Studie wurden beispielsweise die tödlichen Krankheitsverläufe von 1.099 hospitalisierten Patientinnen und Patienten ausgewertet.9 Bei den nicht maschinell beatmeten Hospitalisierten lag die Fallsterblichkeit bei 0,1 % (1/926). Bei den Schwerkranken (invasive Beatmung und Sekundärkomplikationen) stieg sie auf 8,1 % (17/173), und bei den Schwerstkranken (ARDS mit Lungenversagen) überlebten 22 % (15/67) nicht. Daraus ergab sich eine durchschnittliche Fallsterblichkeit von 1,4 %.
Letztlich lässt sich die Unterscheidung zwischen Fallsterblichkeit und Letalitätsrate recht einfach vornehmen – dazu noch weiter unten. Sie wird jedoch dadurch erschwert, dass nicht alle im Zusammenhang mit Covid-19 bekannt gewordenen Todesfälle registriert und entweder unbeabsichtigt oder bewusst aus den Statistiken herausgehalten werden. Ein weiteres Problem besteht in der unzulänglichen Definition der Todesursachen, die in den statistischen Berichten der dominierenden gesundheitspolitischen Institutionen vorherrscht. Alle diese Faktoren machen die Abklärung der durch die Covid-19-Pandemien provozierten Mortalität zu einem schwierigen Unterfangen. Denn dabei müssen Befunde gegeneinander abgewogen werden, die teilweise zu einer deutlichen Verringerung, teilweise aber auch zu einer relevanten Steigerung der Fallsterblichkeit führen.
Zunächst zur Frage der Todesursachen. In den täglich veröffentlichten Statistiken werden alle Gestorbene, bei denen das SARS-CoV-2-Virus nachgewiesen wurde, pauschal als Pandemie-Opfer aufgelistet – sie sind »im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben«. Dieses Vorgehen blendet die seit längerem bekannte Tatsache aus, dass fast ausschließlich chronisch Erkrankte und ältere Menschen betroffen sind.10 Infolgedessen ist es aus Gründen der Prävention und der Verbesserung der Behandlungsmethoden erforderlich, die tatsächliche Todesursache zu klären; diese Forderung haben italienische Pathologen im April 2020 ausführlich begründet.11 Dabei sollten Obduktionsserien durchgeführt werden, die sich an zuvor vereinbarten Kategorien zur Festlegung der Todesursache orientieren: (1) mit Sicherheit an Covid-19 Gestorbene durch den Nachweis atypischer Pneumonien bzw. von ARDS und davon ausgegangener Komplikationen wie beispielsweise Lungenembolie, (2) sehr wahrscheinlicher Covid-19-Todesfall durch den Nachweis wie (1), aber kombiniert mit schweren Vorerkrankungen, (3) möglicher Covid-19 Todesfall bei gleichberechtigter weiterer Todesursache, und (4) Nachweis von SARS-CoV-2 ohne Beziehung zur Todesursache beispielsweise bei Hirnmassenblutung oder schwerem Herzinfarkt.12 Zu dieser letzteren Kategorie gehören Schwerstkranke, die nach ihrer Hospitalaufnahme positiv getestet worden waren und deshalb isoliert werden mussten. In mehreren Ländern (zuerst in Italien, der Schweiz und in Deutschland) werden seit der ersten Pandemiewelle Autopsieserien durchgeführt. Nach ersten Zwischenberichten war davon auszugehen, dass etwa ein Fünftel aller Verstorbenen dem Virus nicht hauptursächlich zum Opfer gefallen war. Diese Feststellung musste in den folgenden Monaten etwas modifiziert werden. Bei Patienten mit schweren Vorerkrankungen war das Virus häufig auch in andere Organsysteme vorgedrungen, und der dadurch bewirkte oder beschleunigte fatale Ausgang konnte nicht mehr den Nebenursachen zugerechnet werden. Eine Hamburger Pathologengruppe, die seit März 2020 alle in der Hansestadt im Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbenen untersucht hatte,13 kam in einer abschließenden Studie zu dem Ergebnis, dass 84 % aller Verstorbenen dem Corona-Erreger hauptursächlich zum Opfer gefallen waren.14
Die Aussagekraft der Mortalitätsstatistik wird durch einen weiteren Unsicherheitsfaktor beeinträchtigt: die bewusste und absichtsvoll betriebene Verringerung der Sterbefälle. Im einführenden Überblick sind wir schon einigen Beispielen begegnet: so etwa im Fall der Volksrepublik China, der Islamischen Republik Iran, aber auch in der Russischen Föderation und in Ecuador. Hier machen es kritische Modellrechnungen und ein Blick auf die Recherchen der – zumeist exilierten – Opposition möglich, die offiziellen Zahlen zu korrigieren. Deutlich zu niedrig angesetzte CFR-Meldungen sind jedoch auch in anderen Ländern und Regionen üblich, so etwa in Brasilien. Hier ist die Faktenlage jedoch in der Regel besser: In Brasilien konterkarieren die Statistiken der am stärksten betroffenen Bundesstaaten und Metropolregionen regelmäßig die Angaben der Zentralregierung. In der russischen Föderation sind es hingegen vor allem Wissenschaftler und akademische Institutionen, die um ihre internationale Reputation besorgt sind und die Verlautbarungen des Kreml in periodischen Abständen zurechtrücken; auch in der Lombardei wendet sich ein epidemiologisches Forschungsinstitut immer wieder gegen die Vertuschungsversuche der Regionalregierung.15 Alle diese Informationen sind in eine Schätzung der Dunkelziffern bei den Sterbefällen eingegangen, die sich in den Tabellen 2 und 4 b wiederfinden.
Aber auch in einigen Ländern des europäischen Epizentrums ist ein recht problematischer Umgang mit den Sterbefallzahlen zu beobachten. Hier war es vor allem während der Höhepunkte der ersten Pandemiewelle üblich, die außerhalb der Krankenhäuser verstorbenen Covid-19-Erkrankten aus den Melderegistern auszublenden. Vor allem die in den Pflegeheimen Verstorbenen blieben unberücksichtigt, obwohl mancherorts alte Covid-19-Patienten dorthin zurückverlegt worden waren. Das Massensterben in den Alten- und Pflegeheimen führte zu vehementen Protesten der Angehörigen und beunruhigte schließlich auch die Öffentlichkeit. Erst einige Wochen später nahmen die Gesundheits- und Justizbehörden diese katastrophalen Missstände zur Kenntnis. In den letzten Aprilwochen des Jahres 2020 wurden auch die in den außerklinischen Institutionen Verstorbenen statistisch erfasst und nachgemeldet, so etwa in Frankreich und Großbritannien. Die nochmaligen Anstiege der kumulierten Fallsterblichkeit in diesen Ländern sind darauf zurückzuführen. Die italienischen und spanischen Gesundheitsbehörden blieben dagegen mit diesen Korrekturen noch länger in Verzug.
Die Aufdeckung dieser Fehlerquellen ist indessen auch dank einer Neuerung der demografisch-medizinischen Statistik möglich geworden: der Schätzung der zusätzlichen Sterblichkeit (Übersterblichkeit – excess mortality). Bei diesem Verfahren werden alle in einer bestimmten Zeitspanne registrierten Sterbefälle mit den in der gleichen Zeit (Kalenderwoche oder Monat) überlieferten Sterbedaten verglichen, die im Durchschnitt der letzten fünf Jahre dokumentiert worden waren. Diese Methode wird in den meisten europäischen Ländern angewandt, und die Ergebnisse werden zeitnah – mit einer Verzögerung von ein bis zwei Wochen – von der Statistikplattform EuroMOMO verarbeitet und zugänglich gemacht.16 Die Vergleichstabellen sind ein verlässlicher Indikator. Sie umfassen alle Verstorbenen unabhängig von der Todesursache und ermöglichen es uns im vorliegenden Fall, die im Zusammenhang mit Covid-19 veröffentlichten Sterbeziffern mit der Entwicklung der Gesamtmortalität abzugleichen. Auf diese Weise wird ihr Anteil an einem überdurchschnittlichen Anstieg der Gesamtsterblichkeit sichtbar; gleichzeitig kann auch der Anteil derjenigen Menschen abgeschätzt werden, die bestimmten Nebeneffekten der Pandemie (medizinische Unterversorgung usw.) zum Opfer fielen. Konkret bestätigt dieses Verfahren auf der quantitativen Ebene, dass es während der Höhepunkte der ersten Pandemiewelle in einigen Regionen Italiens, Spaniens, Großbritanniens und Frankreichs zu einem Massensterben kam, das erschreckende Dimensionen erreichte und an die Katastrophenszenarien im Iran oder in Ecuador erinnerte.17 Aber auch in den nationalen Statistiken spiegelte sich dieses dramatische Geschehen wider, wie die im nächsten Kapitel wiedergegebene Tabelle 3 zeigt. Da sich die Übersterblichkeit in allen Ländern auf die mehrwöchigen Höhepunkte der Pandemiewellen und auf bestimmte regionale Schwerpunkte konzentrierte, wird sie sich auf die Entwicklung der Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung nur begrenzt auswirken. Trotzdem wird sie in den am stärksten betroffenen Weltregionen und Ländern ihre Spuren hinterlassen, insbesondere in den USA, Europa und in einigen lateinamerikanischen Staaten.
Bei der Schätzung der Übersterblichkeit geht es nicht um die Abklärung von Dunkelziffern im engeren Sinn, auch wenn sie die offiziellen Daten zur Fallsterblichkeit teilweise erheblich korrigieren. Wir haben deshalb die Zahlen zur Übersterblichkeit während des ersten Pandemiehöhepunkts in der Mortalitätstabelle berücksichtigt (vgl. Tabelle 2). Sie korrigieren die Angaben einiger nationaler Gesundheitsbehörden um einen Faktor zwischen 1,1 bis 1,4. Durch die späteren Nachmeldungen sind diese Fehler teilweise korrigiert worden – zumindest in Europa und den USA. Auch auf diesem Gebiet hat sich die Datenlage erheblich verbessert. Es ist deshalb möglich geworden, die Sterbefallzahlen der Covid-19-Berichterstattung mit der während der Pandemiewellen periodisch aufgetretenen Übersterblichkeit zu vergleichen und das Ausmaß der fatalen Kollateralschäden abzuschätzen. Für diese Berechnung haben wir Deutschland als Fallbeispiel ausgewählt (vgl. Tabelle 6 im nächsten Kapitel).
Wie oben schon angemerkt, unterscheidet die Mortalitätsstatistik zwischen Fallsterblichkeit (CFR) und Letalität bzw. Letalitätsrate (Infection Fatality Rate – IFR). Der Begriff ›Fallsterblichkeit‹ bezieht sich auf den Anteil der positiv getesteten Opfer der SARS-CoV-2-Pandemie und wird als Prozentsatz der positiv getesteten Gesamtheit dargestellt. Sie wird zum einen durch die Abgrenzung der der Infektion zuzuordnenden Todesursache (attributable mortality) von anderen Erkrankungen und Bedingungsfaktoren (crude mortality) beeinflusst. Diese Unterscheidung führt zu einer Reduzierung der Fallsterblichkeit, die von den Pathologen auf 16–20 % geschätzt wird. Ihr stehen jedoch die soeben diskutierten Dunkelziffern und die Befunde der Übersterblichkeit gegenüber. Wie die Tabellen 2 und 4 b zeigen,18 führt ihre Überprüfung zu einer Korrektur der Todesfallzahlen und der Fallsterblichkeit.
Erst nach dieser Korrekturschätzung können wir dazu übergehen, die Letalität der Covid-19-Pandemie zu erörtern. Zu diesem Zweck setzen wir die korrigierten Todesfallzahlen mit der geschätzten Infektionshäufigkeit ins Verhältnis, und erst jetzt können wir abschätzen, wie viele Menschen pro 100.000 Einwohnern der Pandemie zum Opfer gefallen sind.
Von entscheidender Bedeutung ist schließlich die Letalitätsrate. Dabei dividieren wir die Zahl der korrigierten Todesfälle durch die in den Tabellen 2 und 4 a wiedergegebene Schätzziffer der tatsächlichen Inzidenz des Pandemiegeschehens. Damit überwinden wir die Schwachstellen der offiziellen Statistik, da die geschätzten Dunkelziffern der Infizierten und die Dunkelziffern der Sterbefälle in die Berechnung mit eingehen. In beiden Fällen handelt es sich um Minimalschätzungen. Gleichwohl verändern sie unseren quantifizierenden Blick auf die Dynamik von Covid-19 erheblich. Der den Daten der WHO entnommenen offiziellen und entsprechend korrigierten Fallsterblichkeit steht dann eine Letalitätsrate gegenüber, die wesentlich niedriger ausfällt. Die auf denselben Stichtag (14.5.2020) bezogenen Daten beziffern die Fallsterblichkeit weltweit und für Deutschland auf 6,9 % bzw. 4,5 %; ihr steht eine Letalitätsrate von 1,6 % bzw. 0,9 % gegenüber. Aus der Tabelle 5 b kann zusätzlich abgelesen werden, wie sich die Relation zwischen offiziell registrierter Fallsterblichkeit und Letalitätsrate beim Blick auf den bisherigen Gesamtverlauf der Pandemie darstellt (Stichtag 2.5. 2021).
Die hier präsentierten Korrekturen der offiziellen Pandemiestatistik sind Annäherungswerte. Sie sollen eine Vorstellung von den tatsächlichen Trends vermitteln. Valide Schätzungen werden erst möglich sein, wenn die Ergebnisse repräsentativ durchgeführter Bevölkerungsstichproben aus den Brennpunkten sowie den durchschnittlich betroffenen und den von der Pandemie weitgehend verschont gebliebenen Regionen vorliegen. Im Fall der AIDS-Pandemie war dies sehr früh geschehen. Umso bemerkenswerter scheinen die lange Zeit aufrechterhaltenen Verdikte gegen derartige Erhebungen während der Covid-19-Pandemie. Erst nach dem Abklingen ihrer ersten Welle kam es zu einem gewissen Umdenken, aber dadurch gingen wichtige Zeitfenster und Handlungsoptionen zugunsten eines differenzierten Vorgehens verloren. Inzwischen liegen jedoch die ersten Teilergebnisse vor, und ich konnte sie bei der Abschätzung der Dunkelziffern hinsichtlich der tatsächlichen Infektionshäufigkeiten und Mortalitätsraten berücksichtigen.
Methodisch geht es bei diesen Erhebungen darum, aus einer zufällig ausgewählten Zahl von Familienhaushalten Daten zu gewinnen, die die Situation aller Haushalte einer definierten Bezugsgröße (Grundgesamtheit) gleichmäßig abbilden. Diese Grundgesamtheit kann eine Großstadt, eine Gemeinde oder ein bestimmter Bezirk sein. Wenn die Auswahl dieser Grundeinheiten an die heterogene Verteilung der Infektionsschwerpunkte angepasst wird (Cluster, durchschnittlich betroffene und weniger betroffene Gemeinden oder Kreise), dann lassen sich valide Aussagen über die übergeordnete Grundgesamtheit, etwa Brasilien, China oder Deutschland, machen. Und da die Pandemie zwar wellenförmig, aber nicht saisonal verläuft, erscheint es sinnvoll, die Stichproben in derselben Testgruppe in periodischen Abständen zu wiederholen und Kohorten zu bilden, anhand derer sich die Infektionsverläufe auch in längeren Abständen abbilden.
Seit dem Frühjahr 2020 wurden weltweit zahlreiche Stichproben durchgeführt, bislang wurden aber nur wenige Ergebnisse veröffentlicht. Ihre Durchführung war in der Regel methodisch korrekt, sie beschränkten sich aber häufig – so etwa die italienischen, slowakischen und österreichischen Untersuchungen – auf die Identifikation akut Infizierter durch Schnelltests und den anschließenden Nachweis des genetischen Fingerabdrucks des Virus durch den PCR-Test. Ihre Aussagekraft war folglich eingeschränkt, auch wenn sich daraus wichtige Hinweise auf den Anteil der symptomlos oder mild verlaufenden Infektionen ergaben.19 Sichere Aussagen konnten und können jedoch erst dann gemacht werden, wenn die Angehörigen der zufällig ausgewählten Haushalte befragt und sowohl auf eine akute Infektion als auch durch eine Blutprobe auf das Vorliegen einer schon entwickelten Immunität untersucht werden. Dies geschah beispielsweise im Pandemiebrennpunkt Santa Clara (Kalifornien), wo eine Dunkelziffer von 50:1 festgestellt wurde.20 An diese Vorgehensweise hielt sich auch eine Bonner Medizinergruppe, die im April 2020 in der im Kreis Heinsberg gelegenen Ortschaft Gangelt 919 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 405 Haushalten untersuchte.21 Sie kam zum Ergebnis, dass die Dunkelziffer fünfmal höher war als die Zahl der bislang positiv getesteten Personen. Unter Berücksichtigung der bis dahin in Deutschland gemeldeten Todesfälle verdoppelte sie sich der Studie zufolge auf den Faktor 10. Daraus schloss das Forscherteam, dass sich bis Ende April 2020 in Deutschland schon 1,8 Millionen Menschen infiziert hatten, während sich die Letalitätsrate (Infection Fatality Rate) auf 0,37 % belief. Diese Gesamtschätzung war wohl etwas voreilig, denn die lokale Grundgesamtheit, ein Brennpunkt der Pandemie, konnte nicht mit der Gesamtsituation in Deutschland gleichgesetzt werden. Aufgrund der zu diesem Zeitpunkt erreichbaren Daten war eine nur halb so große Dunkelziffer an Infizierten (5) und eine Letalitätsrate knapp unter 1 % plausibler (vgl. Tabelle 1 und 2).