Je genauer die empirischen Studien über die Auswirkungen der Lockdowns auf den Verlauf von Covid-19 wurden, desto deutlicher kontrastierten ihre Autoren den Nachweis ihrer weitgehenden Nutzlosigkeit mit Hinweisen auf fehlende spezielle Präventionsmaßnahmen zur Bekämpfung der schweren und tödlichen Krankheitsverläufe. Damit bestätigten sie implizit, was erfahrene Experten des Public Health seit Beginn der ersten Welle eingefordert hatten. Ein typisches Beispiel dafür waren die Thesenpapiere der Arbeitsgruppe um den Bremer Gesundheitswissenschaftler Gerd Gläske, auf die ich mich in der vorliegenden Analyse schon mehrfach bezogen habe. Eine besonders wichtige Stellungnahme veröffentlichte sie am 22. November 2020, als die zweite Pandemiewelle auf einen weiteren Höhepunkt zustrebte – noch rechtzeitig genug, um zu dem seit langem überfälligen Strategiewechsel aufzufordern.1 Einleitend betonte sie, dass diese zweite Welle nicht mehr ›gebrochen‹ werden konnte, weil die Infektionszahlen mittlerweile kontinuierlich anstiegen. Ein Zurück auf die reduzierte Ausbreitungsgeschwindigkeit der Zwischenetappe sei nicht mehr denkbar; selbst nach der Einführung des neuen Impfstoffs müsse auf absehbare Zeit mit einer kontinuierlichen Ausbreitung des Erregers gerechnet werden.
Infolgedessen sei es nicht hilfreich, weiter auf allgemeine Restriktionen und insbesondere die Kontaktverbote zu setzen. Stattdessen komme es gerade jetzt darauf an, die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu schützen und den allgemeinen Maßnahmen verstärkt spezifische Präventionskonzepte zur Seite zu stellen. Das sei jedoch nur dann möglich, wenn realistische Ziele zur Steuerung der Pandemiedynamik gewählt würden. Wenn es schon nicht gelinge, die die Dunkelziffern ausblendenden Fallmeldungen durch die Ergebnisse repräsentativer Kohortenstichproben zu ersetzen, dann müssten wenigstens weitere Index-Ziffern eingefügt werden, um die irreführende Bezugnahme auf die willkürlich zusammengetragenen Meldedaten zur Infektionshäufigkeit zu beenden.
Die seit dem Frühjahr 2020 erarbeiteten und mehrfach aktualisierten Vorschläge der Arbeitsgruppe für einen Strategiewechsel wurden bis April 2021 durch zahlreiche länderspezifische und lokale Praxisberichte bestätigt. Als besonders wegweisend erwies sich Japan, dessen Gesundheitsbehörden bis zur dritten Dezemberwoche trotz eines Rückschlags im Herbst weitaus niedrigere Infektionszahlen und Sterbefälle dokumentierten als alle anderen hoch entwickelte Nationalökonomien (G-7-Länder).2 Diese Abweichung war deshalb so bemerkenswert, weil es in Japan keine allgemeinen Restriktionsmaßnahmen gegeben hatte; sie kam aber auch nicht von ungefähr.3 Im Februar 2020 erkannten die japanischen Epidemiologen bei der Untersuchung des Infektionsherds auf dem Kreuzfahrtschiff ›Diamond Princess‹, dass die SARS-CoV-2-Epidemie nicht eingedämmt werden konnte, weil es nicht möglich war, die symptomlos und nur geringfügig erkrankten Infizierten zu erkennen und zu isolieren. Deshalb entschieden sie sich von Anfang an im Gegensatz zu China für gezielte Präventionsmaßnahmen zum Schutz der besonders Gefährdeten. Zusätzlich starteten sie eine umfassende Informationskampagne, um die Bevölkerung zu freiwilligen Hygiene- und Schutzmaßnahmen zu bewegen. Die Gesundheitsbehörden stellten Anfang März 2020 Taskforces zum Schutz der besonders gefährdeten Menschen in den Altenheimen und Krankenhäusern sowie zur Einkreisung von lokalen Infektionsherden zusammen. Alle, die Krankheitssymptome bemerkten, sollten freiwillig zu Hause bleiben. Darüber hinaus sorgte das Beratergremium der Regierung dafür, dass die neuesten Erkenntnisse über die Eigenschaften und die Ausbreitungsdynamik des Virus breit kommuniziert wurden, um es der Bevölkerung zu ermöglichen, die Wirksamkeit ihrer Selbstschutzmaßnahmen zu verbessern. So wusste die japanische Bevölkerung beispielswese schon im März 2020, dass sich das Coronavirus vorwiegend in kleineren und unbelüfteten Räumen ausbreitet. Infolgedessen erschien es ratsam, Bars, Partys und andere mit engen zwischenmenschlichen Kontakten verbundene Konstellationen in unbelüfteten Orten und Gemeinschaftsunterkünften zu vermeiden. Dagegen waren Theater-, Restaurant- und Kinobesuche weiter möglich, und selbst die Benutzung der überfüllten U-Bahnen war nur mit geringen Risiken verbunden, wenn die Menschen Gesichtsmasken trugen und für eine ausreichende Belüftung gesorgt wurde.
Die entscheidende Voraussetzung für diesen ungewöhnlichen ›informed consent‹ zwischen Experten, Gesundheitsbehörden und Bevölkerung war gegenseitiges Vertrauen. Dafür gab es klar benennbare materielle Voraussetzungen, die in den übrigen OECD-Ländern bis zur Unkenntlichkeit deformiert waren: ein hoch entwickelter öffentlicher Gesundheitsdienst, eine funktionsfähige und alle Risiken abdeckende allgemeine Krankenversicherung sowie ein gut dotiertes und ausgestattetes Krankenhauswesen. Inwieweit die in Japan praktizierte Kombination von gezielten Präventionsmaßnahmen und freiwilliger allgemeiner Risikobegrenzung seitens der Bevölkerung auch weiter Bestand hat, wird sich in der Auseinandersetzung mit den aggressiver gewordenen Virusvarianten zeigen.
Darüber hinaus gab es zahlreiche weitere Initiativen auf lokaler Ebene, die sich um praktische Alternativen zu den Lockdown-Protagonisten bemühten. Da öffentliche Hilfestellungen fehlten oder nur mit erheblicher Zeitverzögerung durchgesetzt werden konnten, organisierten die Leitungen, Ärzte, Betriebsvertretungen und das Pflegepersonal tausender Kliniken und Pflegeheime spezielle Maßnahmen zum Schutz ihrer Patienten sowie zur Minimierung des eigenen Ansteckungsrisikos – und dies aus eigener Kompetenz und Initiative. Nach dem Abklingen der ersten Pandemiewelle machten sich auch einige Kommunalverwaltungen diese Erfahrungen zu eigen und bezogen alle Seniorinnen und Senioren in ihre Schutzkonzepte ein. In Deutschland avancierte Tübingen zum Vorzeigemodell.4 Zur Ergänzung der heimspezifischen Hygiene-, Test- und Schutzmaßnahmen erhielten alle Älteren kostenlos Gesichtsmasken. Sie konnten die Taxis zu ermäßigten Gebühren benutzen, und für sie wurden spezielle Einkaufszeiten reserviert.
Diese Beispiele belegen, dass es seit Pandemiebeginn konzeptionelle und praktische Alternativen zur dominierenden Lockdown-Doktrin gegeben hat. Sie wurden auch durch Untersuchungen untermauert, die – so etwa der Zwischenbericht einer Untersuchungskommission über die Ursachen der Katastrophe in den schwedischen Altenheimen5 oder die von einem Publizisten zusammengefassten Erkenntnisse einer norditalienischen Ärztegruppe6 – einen Strategiewechsel anmahnten. Dabei blieben den Autorinnen und Autoren auch die tieferen strukturellen Ursachen nicht verborgen.7 Bewirkt haben diese Interventionen nur wenig. Die Basishygiene der Altenheime wurde verbessert. Zusätzlich kam es zu einer Ausweitung der Testserien bei Bewohnern, Besuchern und Personal, und auch die pauschalen Besuchsverbote, unter denen die alten Menschen und ihre Angehörigen besonders gelitten hatten, wurden aufgehoben. Auf der strukturellen Ebene geschah jedoch fast nichts. In Deutschland kam es beispielsweise zu einigen Lohnerhöhungen, und eine ›Konzertierte Aktion Pflege‹ versuchte die Regierung auf eine mittelfristige Verbesserung der Ausbildung, Arbeitsbedingungen und Entgelte sowie auf erhebliche Personalaufstockungen einzustimmen.8 Währenddessen erfasste die zweite Pandemiewelle erneut die Alten- und Pflegeheime mit voller Wucht. Erneut erkrankten vor allem ihre Bewohner und Bewohnerinnen schwer, und in einigen Regionen stammten mehr als die Hälfte der Verstorbenen aus den Altenheimen. Die dort Untergebrachten sind häufig wenig beweglich, das Virus kommt ausschließlich von außen zu ihnen – nur selten als blinde Passagiere der besuchenden Angehörigen, und weitaus häufiger über die unterbezahlten und überlasteten Pflegekräfte, die eine hohe Fluktuationsrate aufweisen. Dieser strukturelle Mangel lässt sich durch häufige Testungen nicht aus der Welt schaffen. Hier können nur einschneidende Reformen weiterhelfen: Die Rekommunalisierung der Alten- und Pflegeheime, neue Modelle zu ihrer weitgehenden Auflösung und eine massive Aufwertung der Pflegearbeit. Diese Perspektive unterstreicht die Dringlichkeit eines gemeinschaftlichen Wiederaufbaus des gesamten Gesundheitswesens, das sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte in eine renditeorientierte Gesundheitswirtschaft transformiert hat. Die Pandemie hat die Konsequenzen dieser Fehlentwicklung drastisch bloßgelegt – nicht nur im Pflegebereich.
Auch die Berichterstattung der Medien spielte eine zentrale Rolle. Sie visualisierten die Pandemie von ihren düstersten Seiten: überfüllte Krankenhauskorridore und Intensivabteilungen, verzweifelte Angehörige, ausgelaugte Care Workers – und Massengräber. Der Intensität dieser ›Livestreams‹ aus den Hotspots vermochten sich auch die ›politischen Entscheidungsträger‹ nicht zu entziehen. Vor den laufenden Kameras betonten sie immer wieder, dass sich Derartiges in ihrem Souveränitätsbereich nicht ereignen dürfe. Wie aber sollten sie ein zweites Bergamo, Mulhouse, Qom, Guayaquil oder Manaus vermeiden? Zur Abklärung der dafür erforderlichen spezifischen Präventionsmaßnahmen fehlte es ihnen an Fachwissen. Zudem waren sie auf nichts dergleichen materiell vorbereitet, wie sie rasch feststellten – es mangelte selbst an den elementarsten Hygienevorräten. Infolgedessen verstärkte sich ihre Panik und Hilflosigkeit. Aber sie waren nun in der Pflicht und wurden durch die Medien zu jeder Tageszeit daran erinnert. Die Berichterstattung über Covid-19 avancierte zum dominierenden Medienereignis und zog innerhalb weniger Wochen mit dem Umfang der internationalen Berichterstattung über die Tagesereignisse der beiden Weltkriege gleich.9
In dieser kritischen Situation kamen die Experten ins Spiel: besonnene Fachleute des öffentlichen Gesundheitswesens, Epidemiologen und Kliniker, aber auch Spezialisten mit Tunnelblick, die die Welt nur noch aus der Perspektive der von ihnen erforschten Mikroben wahrnehmen. Das Rennen um die Berufung in die zentralen Entscheidungsgremien begann. In Ländern, die seit langem über derartige Institutionen verfügen, hielt sich der Wettlauf in Grenzen. Andernorts kam es zu umfangreichen Neubesetzungen, und manchmal schoben sich Wissenschaftler nach vorn, die es geschafft hatten, sich innerhalb weniger Wochen zu versierten Medien-Intellektuellen zu mausern. Auffallend ist, dass vor allem solche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler reüssierten, die die Hilflosigkeit und die Paniktendenzen der Politiker nicht etwa dämpften, sondern mit ihrer Expertise eher verstärkten.
Nur in Japan und einigen anderen Ländern der westlichen Pazifikregion wurden die Besonderheiten von Covid-19 richtig begriffen, nicht aber beispielsweise in Deutschland, wo die bei der Analyse des ersten Clusters entdeckten symptomlosen Verläufe tabuisiert wurden, und genauso wenig in Schweden, wo die Experten die dringend gebotenen Vorschläge zum Schutz der besonders Gefährdeten unterließen.
Dieses Dilemma verschärfte sich nochmals während der Herbstwelle der Pandemie. Bis zum Sommer 2020 hatten die Modellrechner der Worst-Case-Szenarien die politische Klasse verunsichert: so zum Beispiel eine Studie des Atlantic Council, deren Autoren die Ansteckung der Hälfte der gesamten Weltbevölkerung und eine Fallsterblichkeit von 1 % (35 Millionen Menschen) voraussagten.10 Danach begann sich jedoch die Ineffizienz der bislang angewandten Pauschalmaßnahmen in Teilen der Scientific Community herumzusprechen, und auch die gesundheitspolitischen Kollateralschäden der Lockdowns mit ihren Anteilen an der Übersterblichkeit sowie ihren sozioökonomischen Folgen rückten ins Blickfeld.11 Infolgedessen kam es zu einem Schisma, das die Diskussionen beherrschte, die wirklichen Probleme übertünchte und alternative Strategien zurückdrängte. Anfang Oktober 2020 veröffentlichte eine Gruppe von Medizinwissenschaftlern eine Erklärung (›Great Barrington Declaration‹), in der sie auf die gravierenden Nebenwirkungen der Lockdowns hinwies und ein Alternativkonzept vorschlug, das auf den gezielten Schutz der besonders Gefährdeten setzte, während die übrige Bevölkerung unter Beachtung der Basishygiene zu ihrem Alltagsleben zurückkehren sollte.12 Diese Deklaration wurde von dem in Great Barrington, Massachusetts, ansässigen neoliberalen Institute for Economic Research veröffentlicht und von zahlreichen Medizinwissenschaftlern und Klinikern der Transatlantikregion unterzeichnet. Sie schuf eine Allianz zwischen den Anhängern einer modifizierten ›Herdenimmunität‹ und jenen Sektoren der Wirtschaft, die unter den pauschalen Restriktionen besonders gelitten hatten.
Die Replik kam eineinhalb Wochen später in Gestalt des in The Lancet veröffentlichten ›John Snow Memorandum‹.13 Die etwa siebzig Erstunterzeichnerinnen und -unterzeichner bestritten die gesundheitlichen und sozioökonomischen Folgen der Restriktionen nicht und konnten auch durchaus verstehen, dass angesichts der durch die zweite Welle ausgelösten Zweifel an ihrer Wirksamkeit das Konzept der ›Herdenimmunität‹ verstärkt Zuspruch erhielt. Aufgrund der konkreten epidemiologischen und klinischen Fakten14 hätte eine unkontrollierte Ausbreitung innerhalb der jüngeren Altersgruppen jedoch fatale Folgen für das Gesundheitswesen, die Wirtschaft und die Risikogruppen selbst. Zudem würde die ungeklärte Immunitätslage wahrscheinlich zum Wiederauftreten von SARS-CoV-2-Epidemien führen. Folglich sei eine konsequente und umfassend betriebene Eindämmung der Ausbreitungsdynamik alternativlos.
Damit war ein weltweites Schisma der bio- und medizinwissenschaftlichen Community sichtbar geworden, wobei die Zahl der jeweiligen Mitunterzeichner eine deutliche Mehrheit zugunsten des John Snow-Memorandums auswies. Zusätzlich konstituierten sich in den folgenden Monaten unter dem Eindruck der weiter steigenden Fallzahlen und Sterblichkeit in den beiden Amerikas und Europa weitere regionale Initiativen, wobei die Befürworter eines noch härteren pauschalen Restriktionskurses tonangebend waren. Ein typisches Beispiel dafür war Europa. Am 18. Dezember 2020 veröffentlichte The Lancet einen von der Bio-Physikerin Viola Priesemann inaugurierten und von 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mitunterzeichneten Appell, der zu einer europaweit greifenden und rigorosen Eindämmung der Virusausbreitung aufforderte.15 Damit war ein unverhohlener wissenschaftlicher Führungsanspruch verbunden: der Politik sollte eine »vision to guide the management of the pandemic« vorgegeben werden. Diese Vision bestand aus drei Zielpunkten: Die Zahl der Neuinfektionen sollte erstens mindestens bis Frühjahr 2021 europaweit auf 1:100.000 und darunter gesenkt werden. Danach sollten zweitens gezielte Hygiene- und Überwachungsprozeduren etabliert werden, um die Infektionszahlen auf diesem niedrigen Niveau zu halten. Daran sollte sich drittens eine »long-term common vision« anschließen, in der Impf-, Überwachungs- und Eliminierungsstrategien miteinander kombiniert würden. Auf diese Weise werde es genauso erfolgreich wie beispielsweise in China und Australien gelingen, Menschenleben zu retten und medizinische Ressourcen zu entlasten. Zusätzlich würden Arbeitsplätze und Unternehmen geschützt, denn durch die Kürze des Lockdowns würden die ökonomischen Folgekosten verringert, und schließlich werde auch das planlose Hin und Her der bisherigen Gegenmaßnahmen hinfällig.
Diese Neuauflage des ›Hammer and Dance‹-Konzepts vom Frühjahr 2020 wirkte auf den ersten Blick stringent und folgerichtig – besonders aus einer europäischen Perspektive. Der nationalstaatliche Wirrwarr würde aufhören, die zermürbende Abfolge der bisherigen Restriktionen würde hinfällig und die innereuropäischen Grenzen könnten offenbleiben, ganz zu schweigen vom Rückgang der Übersterblichkeit und der Entlastung des Gesundheitswesens. Die Zustimmung war enorm, zumal der Appell auch von renommierten wissenschaftlichen Institutionen mitgetragen wurde.16 Auch Exponentinnen und Exponenten des sozialistischen Spektrums sprangen auf den Zug auf und erweiterten den Appell mit Forderungen nach einer Einbeziehung der Wirtschaft und einem sozial-ökologischen Umbau des Gesundheitswesens.17 Mussten aber bei einem derart radikalen Vorgehen nicht die europäischen Außengrenzen komplett geschlossen, umfassende Ausgangssperren verhängt und lückenlose Überwachungssysteme à la China eingeführt werden? Über diese Fragen schwiegen sich die Autorinnen und Autoren aus, wenn man von ihrem positiven Verweis auf China absieht. Zudem propagierten auch sie einen Kampf gegen Windmühlen, weil sie die sich allen Erfassungsmethoden entziehenden Dunkelziffern der symptomlos oder nur mild erkranken Infizierten ausblendeten.
Wie sollte das politische Establishment mit diesen kontroversen Positionen der Experten umgehen? Die Great Barrington- und die John Snow-Kontroverse führten ihnen vor Augen, welche Gräben sich mittlerweile in den Feldern der Wissenschaft und der Wirtschaft auftaten, denn die Exponenten des Big Business, der Finanzwelt und der Großstiftungen waren in beiden Lagern vertreten. Hinzu kamen die offenkundigen Schwachstellen dieser Konzepte selbst: Mit der Perspektive einer weitgehend unkontrollierten Herdenimmunität waren tatsächlich erhebliche Risiken verbunden, während die aus den abstrakten Modellwelten der Biophysik abgeleiteten Zielprojektionen eines rigorosen Lockdowns das epidemiologische Schlüsselproblem der SARS-CoV-2-Pandemie ausklammerten.18 Der von einigen Gesundheitswissenschaftlern vorgeschlagene dritte Weg jenseits dieser beiden Extreme blieb den politischen Akteuren hingegen unbekannt oder wurde von ihnen nicht verstanden.
Somit gab es für die politisch Verantwortlichen seitens der zerstrittenen Wissenschaft nur eine begrenzte Hilfestellung. Und da ihnen die eigene Urteilskraft für die Initiierung eines ›dritten Wegs‹ fehlte, konnten sie sich letztlich auf keine verbindliche Strategie festlegen. Darüber hinaus mussten die Politiker berücksichtigen, dass zwar die Medien mehrheitlich die ›harte Linie‹ propagierten, sich jedoch große Teile der Wirtschaft aus nachvollziehbarem Eigeninteresse für die modifizierte Variante der Herdenimmunität stark machten. Infolgedessen blieb der politischen Klasse nichts anderes übrig, als zwischen den zerstrittenen Lagern zu lavieren und ihre Entscheidungen dem ständigen Wechsel der Pandemiedynamik anzupassen. Wenn die Zahl der registrierten Infektionen anstieg, griff sie in den Instrumentenkasten der Hardliner, beim Abebben der Pandemiewelle neigte sich die Waage zugunsten der Exponenten der Herdenimmunität. Dabei war den Regierungen bewusst, dass sie letztlich nur die erfolgreiche Entwicklung kausaler Behandlungsmethoden – Medikamente und Impfstoffe – aus diesem hilflosen Schlingerkurs befreien konnte.