Sechzehn Monate nach Beginn ihrer weltweiten Ausbreitung grassierte die Infektionskrankheit Covid-19 aggressiver denn je und erreichte Ende April 2021 ihren Höhepunkt. Der Eindruck verstärkte sich immer mehr, dass zahlreiche Krisenstäbe den Kampf gegen die Pandemie verloren hatten.
Wie konnte es dazu kommen? Diese Frage habe ich schon in mehreren Kapiteln dieser Studie gestreift, denn die Fehleinschätzungen und Fehlgriffe wurden durch die strukturellen Defizite der Gesundheitssysteme begünstigt. Ich erinnere an das weitgehend renditeorientierte Gesundheitssystem der USA,1 an die weit fortgeschrittene Abhängigkeit der WHO von freiwilligen Geldgebern und projektorientierten Großstiftungen2, an die Majorisierung der nationalen Pandemiepläne durch die Pharmaindustrie3 und an die Ausgrenzung der überwiegenden Mehrheit der Unterklassen des Globalen Südens aus den Strukturen des Public Health.4 Abschließend werde ich diese Beobachtungen systematisieren. Ich werde die Situation der Gesundheitssysteme der wichtigsten Länder bzw. Ländergruppen miteinander vergleichen, und zwar unter besonderer Berücksichtigung des Zustands des öffentlichen Gesundheitswesens, des Zugangs zu einer sozialen Krankenversicherung, des Krankenhauswesens und der Alten- und Pflegeheime. Diese Bereiche des Public Health sind seit seiner Einführung in den 1880er Jahren zu den entscheidenden Eckpfeilern der Weltgesundheit geworden. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, Massenkrankheiten zu verhüten sowie den Gesundheitszustand, die Lebensqualität und die Lebenserwartung der Durchschnittsbevölkerung wesentlich zu verbessern. Das öffentliche Gesundheitswesen agiert im Vorfeld der Erkrankungen. Es versucht, ihren Ausbruch zu vermeiden und ihre Ausbreitung zu begrenzen. Es ist deshalb besonders kostengünstig. Es ist aber gleichzeitig die Voraussetzung für die Fortschritte im Bereich der medizinischen Forschung und der klinischen Behandlung aller ansteckenden wie nicht infektiösen Krankheiten. Aus dieser Perspektive ist die Covid-19-Pandemie ein Stresstest, der die aktuellen Schwächen und Defizite des Gesundheitswesens bloßlegt.
Seit Beginn des neuen Millenniums haben sich die Praxisfelder des globalen Gesundheitswesens dramatisch verändert.5 Die Urbanisierung der Welt hat sich nochmals beschleunigt, die in den vergangenen Epochen damit verbundenen Industrialisierungsprozesse sind in einigen Regionen jedoch ausgeblieben. Dadurch verlor auch die Bevölkerung des globalen Südens ihre letzten Bindungen an ihre traditionellen Lebensweisen und die in ihnen verankerten Strukturen der gegenseitigen Hilfe. Chronisch Kranke und Betagte konnten durch ihre Familienverbände nicht mehr geschützt werden. Sie wurden jedoch nicht wie in den früheren Zyklen der Industrialisierung durch den Aufbau kompensatorischer Systeme der sozialen Sicherung aufgefangen. Nur die aktiven Generationen konnten versuchen, ihrer durch die Abwanderung in die entwickelten Zentren teilhaftig zu werden. Aber auch bei ihnen wirkten sich die prekär gewordenen Lebensstile nachteilig aus. Ungesicherte Arbeitsverhältnisse, ungesunde Ernährung und übermäßiger Tabak-, Alkohol- und Drogenkonsum gefährdeten ihre Gesundheit. Sie teilten damit das Schicksal der prekären Unterschichten der Schwellenländer und der hoch entwickelten Regionen, die ihrerseits im Verlauf der jüngsten ökonomischen Umwälzungen marginalisiert wurden.
Alle diese Umbrüche konfrontierten die Akteure des Gesundheitswesens mit außergewöhnlichen Herausforderungen, zumal sie mit extremer Beschleunigung abliefen. Die primäre Gesundheitsversorgung (Primary Health Care) avancierte weltweit zur wichtigsten Agenda des Public Health.6 Die Familienhaushalte und Gemeinden der Armutsbevölkerung mussten in eine neue Infrastruktur integriert werden, um gegen die sich rasant ausbreitenden ansteckenden und nichtepidemischen Krankheiten mithilfe von Aufklärungs-, Vorbeugungs- und Behandlungskampagnen vorzugehen. Nur wenn die neuen Unterklassen der Weltgesellschaft nachhaltigen Zugang zu den elementaren Ressourcen des Gesundheitswesens erhielten, konnten ihre durch die sich häufenden Pandemien und nichtepidemischen Massenkrankheiten bedingte Übersterblichkeit erfolgreich bekämpft und ihre Lebenserwartung wesentlich verbessert werden. Zusätzlich kam es darauf an, die gesundheitliche Basisversorgung durch den Aufbau sozialer Krankenversicherungssysteme langfristig zu stabilisieren.
In ihren Rückblicken auf die letzten zwei Jahrzehnte konnte die WHO durchaus auf einige Erfolge hinweisen. Zwischen 2000 und 2016 stiegen die Lebenserwartung und die Aussicht, möglichst lange gesund zu bleiben (healthy life expectancy), weltweit um 8 %, wobei vor allem die deutlich verringerte Kindersterblichkeit ins Gewicht fiel. Der Auf- und Ausbau der Gesundheitsinformationssysteme hatte große Fortschritte gemacht. Auch die öffentlichen und privaten Aufwendungen für das Gesundheitswesen waren deutlich gestiegen. Sie erreichten 2017 ein Jahresvolumen von 7,8 Billionen US-Dollar; das waren 10 % des globalen Bruttoinlandsprodukts und 1.080 US-Dollar pro Kopf der Weltbevölkerung.7
Doch dieser pauschale Blick auf die Erfolge ist trügerisch. Die Bevölkerung der Ländergruppen mit den niedrigsten und niedrigen Einkommen8 partizipierte am wenigsten an der Verbesserung der Lebenserwartung und der Lebensqualität, da sie vor allem von den verfügbaren Haushaltseinkommen abhängig sind. Zudem verhinderte der schleppende Aufbau der gesundheitlichen Primärversorgung, dass die in den Armutsregionen lebenden Unterklassen sich den insgesamt erzielten Fortschritten annäherten. Sie waren nach wie vor zu mindestens einem Drittel vom Zugang zu den elementaren Ressourcen der Basishygiene und Gesundheitsversorgung ausgeschlossen, aber auch sonst hatte sich gerade in diesen Bereichen die weltweite Ungleichheit der sozialen Lebensbedingungen weiter vertieft. Pro Kopf wurden 2017 in den ärmsten Ländern 41, in den Ländern mit niedrigen Einkommen 130, in den Schwellenländern 471 und in den wohlhabenden Ländern 2.937 US-Dollar für Gesundheitsbelange ausgegeben.9 Davon steuerten die öffentlichen Haushalte in den hier referierten vier Ländergruppen jeweils 10, 60, 277 und 2.021 US-Dollar bei. Diese extreme Disparität wurde bei den zwei ärmsten Ländergruppen durch Entwicklungshilfe und andere Spenden teilweise ausgeglichen, nämlich zu 29 bzw. 12 %. An der erschreckenden Ungleichheit beim Zugang zu den gesundheitspolitischen Basisressourcen änderte sich jedoch nur wenig. Ausgerechnet die ärmsten Bevölkerungsgruppen mussten einen erheblichen Anteil der dabei anfallenden Kosten aus der eigenen Tasche bezahlen: In den ärmsten Ländern waren dies 41 %, in den einkommensschwachen Regionen 39 % und in den Schwellenländern noch immer 32 %.
Es gab viele Faktoren, die den globalen gesundheitspolitischen Fortschritt mit einer erschreckenden Verschärfung des ungleichen Zugangs zu seinen materiellen und funktionellen Ressourcen kombinierten. Eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür war die seit den 1990er Jahren extrem beschleunigte Ökonomisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens.10 Seit seiner Entwicklung im Verlauf der zweiten Etappe der industriellen Transformation war es in wichtigen Bereichen – insbesondere der Pharmaindustrie, der Medizintechnik und im privaten Versicherungssektor – eng mit der kapitalistischen Dynamik verzahnt, und die Oberschichten hatten sich einen privilegierten Zugang zu seinen qualifiziertesten Bereichen gesichert. Doch die Entwicklung ging weiter. Das Gesundheitswesen verwandelte sich in eine bevorzugte Anlagesphäre der großen Kapitalvermögensbesitzer und Investmentfonds, die nach sicheren und krisenfreien Anlagesphären außerhalb des klassischen Industriesektors Ausschau hielten. Sie trafen dabei auf die Konkurrenz der Pharma-, Medizintechnik- und Versicherungskonzerne, die ihrerseits bestrebt waren, weitere Segmente des Gesundheitswesens unter ihre Kontrolle zu bringen. Das Motiv, das die Spitzenmanager der beiden rivalisierenden Kapitalgruppen dazu antrieb, war identisch: Sie alle identifizierten das Gesundheitswesen als expandierende Anlagesphäre, die aufgrund der ständig wachsenden öffentlichen Ausgaben antizyklisch wirkte und gegen die wachsende Instabilität der Kapitalmärkte gefeit war. Es war somit weitaus mehr im Spiel als nur kurzsichtiges Renditedenken, und dieser Prozess verlief auch keineswegs einseitig. Der öffentliche Sektor trug ebenfalls aktiv zur Transformation des vormals sozialstaatlich verankerten Gesundheitswesens in einen Schwerpunkt der Kapitalreproduktion bei. Die politischen Akteure favorisierten eine auf modernen Managementmethoden beruhende Effizienzsteigerung, um das in den letzten Jahrzehnten gestiegene Ausgabenvolumen zu stabilisieren. Im Gegenzug waren sie bereit, den Kapitalvermögensbesitzern die Türen zu öffnen und sie an den Steuertransfers und den wachsenden Mitgliedsbeiträgen der pflichtversicherten Unter- und Mittelklassen teilhaben zu lassen. Und so begann eine neue Ära. Die Manager der Pharma-, Medizintechnik- und Versicherungskonzerne gründeten neuartige Klinik-Konglomerate, um sich die Gesundheitsfonds der öffentlichen Hand direkt anzueignen. Sie wetteiferten dabei mit den Großinvestoren des Finanzsektors, insbesondere den Private Equity Funds, die die Liegenschaften des Krankenhaus- und Altenheimwesens aufkauften, Trägergesellschaften etablierten und sich wachsende Anteile der in sie gepumpten öffentlichen Mittel und Versicherungsbeiträge als Rente aneigneten. Dabei operierten die beiden Kapitalgruppen weltweit, ihre Schwerpunkte setzten sie jedoch in den wohlhabenden Weltgegenden des Fernen Ostens und der Transatlantikregion sowie in solchen Schwellenländern, in denen die öffentlichen und privaten Ausgaben für die Gesundheitsbelange stark expandierten. Eine weitere Vertiefung der globalen Disparitäten und Defizite des Gesundheitswesens war die Folge.
Wie wirkten sich diese Transformationsprozesse konkret auf die in den vier Weltregionen so ungleich und unterschiedlich verlaufende gesundheitspolitische Entwicklung aus? Und auf welche Weise brachten sie Defizite hervor, die dann während der Coronapandemie offen zutage traten und sie unkontrollierbar machten? Um diese Fragen zu klären, ist eine differenzierte Sichtweise auf die aktuellen Problemlagen des Gesundheitswesens erforderlich. Ich werde mich dabei auf drei wichtige Teilphänomene konzentrieren, nämlich die Entwicklung des Zugangs zur medizinischen Grundversorgung, den Umbau des Krankenhauswesens und die Krise der Alten- und Behindertenpflege in der Transatlantikregion.
In der letzten Dekade haben die Schwellenländer in quantitativer Hinsicht die größten Fortschritte bei der Finanzierung und Konsolidierung des Gesundheitswesens gemacht. Die steuer- und beitragsfinanzierten öffentlichen Ausgaben stiegen beträchtlich, und auch die Global Player der Gesundheitswirtschaft bevorzugten sie als krisensichere Anlagesphäre. Trotzdem konnte sich die Covid-19-Pandemie in einigen führenden Schwellenländern so ungebremst ausweiten, dass sie zu Beginn der zweiten Welle die höchste Infektionshäufigkeit auswiesen und teilweise auch die meisten Sterbefälle zu beklagen hatten. Zusammen mit den USA dominierten Brasilien, Europa, Indien und Südafrika monatelang die weltweite epidemiologische Dynamik.
Beginnen wir mit Indien und Südafrika. In beiden Ländern wurde vor dem Hintergrund wachsender Gesundheitsbudgets jahrzehntelang um die Einführung einer sozialen Krankenversicherung gerungen, die die Gesundheitsrisiken der armen Bevölkerungsmehrheit abdecken sollte. Dies schien vor allem angesichts der dramatischen Häufung epidemischer Ereignisse dringend geboten, denn ohne soziale Krankenversicherung hängt die primäre Gesundheitsversorgung in der Luft, und ohne gesundheitspolitische Basisstrukturen können Epidemien nicht wirksam bekämpft werden. Davon konnte in dem gesundheitspolitisch vergleichsweise hoch entwickelten Südafrika jedoch keine Rede sein.11 Für die Oberschichten und die mittelständischen Funktionseliten, etwa ein Drittel der Bevölkerung, stand eine hoch entwickeltes privatärztliches und privatklinisches Versorgungsnetz zur Verfügung, für die Kosten kamen sie entweder bar oder mithilfe von Versicherungspolicen auf. Dazu hatten die in den Townships lebenden Menschen nur im Katastrophenfall Zugang, und der nur bescheiden entwickelte öffentliche Gesundheitssektor kam im Rahmen eines Drei-Klassen-Vergütungssystems für die Hospitalkosten auf. In allen anderen gesundheitlichen Krisensituationen mussten sie entweder direkt zahlen – was häufig den Ruin der Familienhaushalte zur Folge hatte – oder mit schlecht versorgten und ärztlich kaum überwachten öffentlichen Ambulatorien Vorlieb nehmen: Auf 4.021 Klienten des öffentlichen Sektors kam ein Mediziner, über zehnmal mehr als bei den Privatpatienten (330:1). Für diese rudimentäre Basisversorgung der Unterklassen gab die südafrikanische Regierung jährlich pro Kopf 300 Rand (etwa 15 Euro) aus. Etwas besser hatten es nur die Minenarbeiter, die teilweise auf ein betriebsärztliches System zurückgreifen konnten. In den letzten zwei Jahrzehnten fehlte es nicht an Versuchen, diese extreme gesundheitspolitische Klassenspaltung abzumindern und die öffentlichen Ausgaben zumindest partiell an die privaten Aufwendungen (etwa 1.500 US-Dollar pro Kopf) anzupassen. Gegen den massiven Widerstand der Oberklassen wurde 2018/19 eine National Health Insurance auf den Weg gebracht, die zu Beginn des Jahrs 2020 jedoch noch nicht funktionsfähig war. Die Regierung entschloss sich deshalb, die begüterten Klassen durch einen rigorosen Lockdown zu schützen und alle Township-Bewohner, die ihm nicht Folge leisteten, mit Polizeigewalt zur Räson zu bringen.
In Indien war die Ausgangssituation anders. Seit der Proklamation der Unabhängigkeit hat das Recht auf Gesundheit Verfassungsrang, und es fehlte auch nicht an Versuchen, diesen Anspruch zumindest teilweise in die Wirklichkeit umzusetzen.12 Erste Ansätze dazu gab es jedoch erst zu Beginn des neuen Millenniums. 2005 startete die Zentralregierung eine National Rural Health Mission und schickte Kadergruppen von Landärzten in die entlegenen Provinzen, die dort in den folgenden Jahren 18.000 Ambulatorien aufbauten. Acht Jahre später wurde dieses System auf die proletarischen Massenquartiere in fast 200 städtischen Agglomerationen ausgedehnt, um dort wie auf dem flachen Land Strukturen der gesundheitlichen Primärversorgung zu schaffen; zugleich sollten die in den Ambulatorien tätigen Allgemeinmediziner Kontakte zu den überwiegend privat betriebenen Facharzt- und Krankenhaussektoren herstellen. Dies waren zwar erste Lichtblicke, sie fielen jedoch angesichts der enormen zu versorgenden Bevölkerungsmassen kaum ins Gewicht. Hinzu kam die extrem mangelhafte Unterstützung durch die übrigen Ressorts der Zentralregierung. Mit seinem Budgetanteil am Gesundheitswesen rangierte Indien bis 2017/18 am untersten Bereich der Schwellenländer, zudem entfielen davon nur 30 % auf den öffentlichen Sektor. Das hatte zur Folge, dass die arme Bevölkerungsmehrheit direkt für ihre Gesundheitskosten aufkommen musste. Wenn Angehörige der Tagelöhnerfamilien ins Krankenhaus mussten oder schwer chronisch erkrankten, bedeutete dies untragbare Kosten für ihre Haushalte. Jährlich fielen – und fallen – aus diesem Grund 50 Millionen Haushalte unter die Armutsgrenze.
Dieser wohl wichtigsten Hypothek der Massenarmut wollte die Regierung seit 2017/18 abhelfen.13 Sie gründete ›Ayushman Bharat‹, ein hoch ambitioniertes Projekt, das – ausgehend von den rudimentären Vorläufern – den flächendeckenden Aufbau von Gesundheitszentren zur steuerfinanzierten Basisversorgung im Bereich der Prävention, Diagnostik, Labortechnik und medizinischen Behandlung vorsah. Es sollte mit einem nationalen Gesundheitssystem (National Health Protection Scheme) verbunden werden, um den einkommensarmen Schichten den kostenfreien Bezug von Basisdiagnostika und Basismedikamenten zu garantieren und ihnen den Zugang zu den Fachkliniken zu erleichtern. 2019 wurden die Budgetausgaben für das öffentliche Gesundheitswesen erstmalig spürbar angehoben. Aber sie kamen zu spät, um noch vor Beginn der Covid-19 Pandemie wirksam zu werden. Stattdessen wurde mit Polizeigewalt der Lockdown durchgesetzt. Als sich dieses Instrument als Bumerang erwies, suchte die Administration nach Ersatzlösungen. Unter anderem erhielten eine Million Frauen eine Kurzausbildung zu Gesundheitsarbeiterinnen. Sie begannen gegen ein Entgelt von umgerechnet etwa 20 bis 40 Euro monatlich mit der epidemiologischen Beratung und Überwachung der Armutsbevölkerung.14
In Sachen Gesundheitsrechte haben die Russische Föderation und Brasilien eine wichtige Gemeinsamkeit: In ihren in den Jahren 1993 bzw. 1988 in Kraft getretenen Verfassungen haben alle Staatsbürger ein Recht auf Gesundheit. Im Gegensatz zu Südafrika und Indien wurden auch konkrete Schritte zur materiellen Umsetzung in die Wege geleitet. In der Russischen Föderation haben seit 1993 alle Russinnen und Russen wieder wie zu UdSSR-Zeiten Anspruch auf eine kostenfreie Gesundheitsbetreuung, die durch eine für alle Einwohner verbindliche Nationale Krankenversicherung und eine überproportional große Ärzte-, Ambulatorien- und Krankenhausdichte garantiert wird.15 Doch auch hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Die aus den öffentlichen Haushalten transferierten Steuerbeträge waren mit einem Pro-Kopf-Volumen von umgerechnet 96 US-Dollar im Jahr 2000 gering und stiegen erst in der Putin-Ära bis 2015 auf knapp über 1.000 US-Dollar; zudem entfielen davon auf den öffentlichen Sektor nur etwa 40 %. Da sich im Gegensatz dazu die gesetzlichen Zwangsbeiträge kaum veränderten, war eine erhebliche Unterfinanzierung die Folge. Das Gesundheitswesen wurde nur notdürftig über Wasser gehalten, technische Innovationen, administrative Reformen oder Neubauten waren nicht möglich. Hinzu kam eine staatsfixierte Grundhaltung, die Lernprozesse und demokratische Initiativen zur Dezentralisierung und Effizienzsteigerung blockierte. Um ihre Reproduktion zu sichern, flüchteten sich viele nachgeordnete Institutionen und Kliniken in private Zusatzangebote. Ohne private Zuzahlungen waren Gesundheitsleistungen nicht mehr zu haben. Es entwickelte sich eine Art gesundheitspolitische Schattenökonomie, die das öffentliche Gesamtsystem destabilisierte. Dies war eine weitere und in vieler Hinsicht einzigartige Variante der gesundheitspolitischen Systemkrise, die eine effiziente und flexible Mobilisierung der an sich hoch entwickelten epidemiologischen Kapazitäten gegen die Ausbreitung der Pandemie unmöglich machte.
Im Vergleich dazu war in Brasilien – abgesehen von den verfassungsrechtlichen Übereinstimmungen – vieles anders.16 In den frühen 1990er Jahren wurde ein einheitliches Gesundheitssystem (Sistema Único de Saúde – SUS) eingeführt, das die rudimentären Ansätze der Sozialversicherung mit den Einrichtungen des Gesundheitsministeriums zusammenführte. In den folgenden Jahren kam es zu einer starken Dezentralisierung, die gleichzeitig einen verstärkten Einfluss des Privatsektors zur Folge hatte. Die fest beschäftigten Schichten der Unterklassen wurden über ihre Arbeitgeber privat versichert, und die Bundesregierung subventionierte diese Entwicklung indirekt durch Steuernachlässe. Auch der Krankenhaussektor verblieb zu drei Vierteln in Privateigentum. Damit beschränkte sich das Praxisfeld des SUS auf die informell beschäftigte und extrem einkommensschwache Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung. Für sie wurden flächendeckend Gesundheitszentren und Kleinkliniken der Primärversorgung eingerichtet, die sie kostenfrei nutzen konnten. Um auch die am stärksten marginalisierten Schichten zu erreichen, wurde das einheitliche Gesundheitssystem durch ein Familiengesundheitsprogramm ergänzt, wobei von einem Allgemeinmediziner geleitete Teams jeweils 900 Familien ambulant betreuten. Die Zentralregierung erstattete die anfallenden Ausgaben der Provinzregierungen und Gemeindeverbände zu einem erheblichen Teil aus Steuermitteln.
Dies waren bemerkenswerte Ansätze zur Etablierung der primären Gesundheitsversorgung im weitaus größten und bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas. Aber sie erreichten nur einen – zeitweilig erheblichen – Teil der Armutsbevölkerung, zudem erlitten sie in den letzten Jahren massive Rückschläge. Das Familiengesundheitsprogramm fiel der konservativen Wende weitgehend zum Opfer. Den öffentlichen Kleinkrankenhäusern wurden die Mittel derart drastisch beschnitten, dass sie nur noch durch die Einrichtung von Privatabteilungen zu überleben vermochten. Die öffentlichen Aufwendungen für die Belange des SUS waren schon immer sehr mager, 2012 beliefen sie sich beispielsweise auf umgerechnet 14 Milliarden Euro, und die Pro-Kopf-Ausgaben erreichten umgerechnet maximal 90 Euro pro Jahr. In den Jahren vor dem Beginn der Coronakrise wurden sie weiter gekürzt. Als die Covid-19-Pandemie ausbrach, war eine effiziente Infrastruktur zur raschen Umsetzung von Vorkehrungen der Infektionshygiene und der epidemiologischen Überwachung nicht mehr vorhanden. Die Pandemie konnte sich im zweiten Anlauf ungebremst ausweiten.
Auch die globale Hegemonialmacht teilte seit dem Übergang zur zweiten Welle das Schicksal der am stärksten betroffenen Schwellenländer. Warum gelang es ihr nicht wie den Ländern des Fernen Ostens, die zweite Welle der Pandemie in Schach zu halten? Auch in diesem Fall handelte es sich nicht in erster Linie um Fehlgriffe der politischen Entscheidungsträger. Vielmehr bestimmten gewichtige strukturelle Mängel die Optionen und Handlungsweisen der Akteure. Die Rede ist von den grundlegenden Defiziten des US-amerikanischen Gesundheitswesens, das breite Gesellschaftsschichten von einer kontinuierlichen gesundheitlichen Basisversorgung ausschließt.17
In den USA ist die lohnabhängige Bevölkerung über ihre Arbeitgeber krankenversichert, soweit es sich nicht um ungeschützte illegal Beschäftigte oder Saisonarbeiter handelt. Für die regulär Beschäftigten schließen die Unternehmensleitungen Kollektivverträge mit privaten Krankenversicherungen ab. Dieser Schutz erlischt jedoch sechs Wochen nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, und deshalb verlieren in Krisenzeiten Millionen von Menschen den Zugang zur regulären medizinischen Versorgung.
1965 wurde im Rahmen des ›Great Society‹-Projekts der Johnson-Administration ›Medicaid‹, ein System der Krankenfürsorge für Arme und Schwerbehinderte, eingeführt. Nach einer Bedürftigkeitsprüfung erhielten die Anspruchsberechtigten Zugang zur gesundheitlichen Basisversorgung. Die dabei anfallenden Kosten werden von den Bundesstaaten aus Steuermitteln aufgebracht, die Bundesregierung unterstützt die Programme durch Zuschüsse bis zu 50 %. Die Zahl der Fürsorgebezieher stieg seit den 1980er Jahren stetig. Medicaid wurde von etwa 60 Millionen Bedürftigen und Behinderten in Anspruch genommen.
Ein Jahr nach der Einführung von Medicaid folgte eine soziale Krankenversicherung für Menschen über 65 Jahre und bestimmte Behindertengruppen (Medicare). Sie wird durch Beitragszahlungen finanziert, deckt aber die ambulanten und stationären Behandlungskosten nur zur Hälfte ab. Die Versicherten mussten deshalb zusätzlich private Versicherungspolicen kaufen, hinzu kamen in den letzten Jahren umfangreiche Zuzahlungen für bestimmte Sonderleistungen. 2018 nahmen 59,9 Millionen US-Bürger Medicare in Anspruch, davon neben den 52 Millionen Seniorinnen und Senioren auch 8 Millionen jüngere Behinderte und Schwerkranke, denen die Privatversicherungen Policen verweigert hatten.
Diese Teilzugänge zu der in den USA äußerst kostspieligen Gesundheitsversorgung wiesen erhebliche Lücken auf und waren sehr krisenanfällig. Obwohl der Anteil der öffentlichen Aufwendungen für das Gesundheitswesen mit bis zu 18,1 % jährlich sehr hoch war, erschien die Einführung einer umfassenden sozialen Krankenversicherung angesichts der dominierenden privatwirtschaftlichen Interessen undenkbar. Es konnte infolgedessen nur versucht werden, einen wesentlichen Teil der ungesicherten Armutsbevölkerung in die gesundheitliche Grundversorgung einzubeziehen. 2010 verabschiedete der Kongress einen von der Obama-Administration erarbeiteten ›Patient Protection and Affordable Care Act‹, der als ›Obama Care‹ in die Geschichte einging. Es handelte sich dabei um ein vielschichtiges Maßnahmenpaket. Alle Haushalte, die unterhalb der offiziellen Armutsgrenze lagen, wurden in die Krankenfürsorge (Medicaid) einbezogen. Zusätzlich erhielten alle Familien, die um das Ein- bis Vierfache darüber lagen, Zuschüsse zum Abschluss einer privaten Krankenversicherung. Um dies zu gewährleisten, wurden alle Privatversicherer zum Angebot einer Kernleistung verpflichtet, die durch vierfach gestaffelte (und durch Zuzahlungen abzudeckende) Zusatzleistungen ergänzt werden konnte. In diesem Kontext mussten auch die Unternehmen ihre Beschäftigten für Zusatzleistungen der untersten Stufe (›Bronze‹) versichern. Die für das Gesamtpaket erforderlichen Mittel wurden durch eine neu eingeführte Steuer auf Zins- und Dividendeneinkommen sowie eine Erhöhung der Einkommensteuer aufgebracht.
Die ›Obamacare‹ wurde auch nach ihrer gesetzlichen Verankerung heftig bekämpft und von einigen konservativ dominierten Bundesstaaten offen boykottiert. Sie verfehlte ihr Ziel, die ärmsten Schichten der US-Gesellschaft zu erreichen, weitgehend; die Zahl der Ungesicherten verringerte sich nur um etwa 10 Millionen. Die Krankenfürsorge der Bundesstaaten (Medicaid) wurde zwar aufgestockt, aber nur einige Millionen Familien der unteren Mittelschicht ließen sich in die ›Obamacare‹ einschreiben. Das Projekt brachte alles in allem keine deutliche Verbesserung der primären Gesundheitsversorgung der US-Bevölkerung. Als sich die Pandemie ausbreitete, musste der Kongress eine Reihe von Gesetzen verabschieden, um ihre sozialen Auswirkungen auf die Unterklassen abzufedern. Es gelang den Koordinierungsinstanzen (Centers for Medicare and Medicaid Services) jedoch nicht, die epidemiologischen Gegenmaßnahmen in der breiten Masse ihrer Leistungsbezieher zu verankern. Nach seiner Einführung im Jahr 1966 hatte Medicaid die durch die Influenzapandemie von 1968–1969 bedingte Kindersterblichkeit im Vergleich zur ›Asiatischen Grippe‹ von 1957/58 deutlich verringert.18 Zehn Jahre nach ihrer Einführung war die ›Obamacare‹ dagegen derart geschleift, dass sie das Massensterben in den Pflegeheimen und Armutsquartieren nicht abzubremsen vermochte.
Im Gegensatz zu den bislang skizzierten Ländern konnte das wichtigste Ursprungsland der Covid-19-Pandemie das Aufflammen einer zweiten Welle verhindern. Seither gehörte es zu jener Ländergruppe, die im Vergleich zu ihrer Bevölkerungsgröße ausgesprochen niedrige Infektionszahlen registrierte und eine geringe Sterblichkeit verzeichnete. Dass dabei vor allem die nach einer Phase des Vertuschens ergriffenen epidemiologischen Maßnahmen eine wesentliche Rolle spielten, wurde ausführlich dargestellt.19 Die Frage, inwieweit auch die gesundheitspolitischen Strukturen dafür maßgeblich waren, ist dagegen noch offen: Hatten am Vorabend von Covid-19 alle Einwohner des größten und führenden Schwellenlands Zugang zur primären Gesundheitsversorgung?
Im Verlauf der 1990er Jahre war das aus der Mao-Ära überkommene System der Gesundheitsversorgung weitgehend erodiert. Zusätzlich brachte die durch die Schließung zahlreicher Staatsbetriebe hervorgerufene Massenerwerbslosigkeit die gesamte gesundheitspolitische Infrastruktur in eine bedrohliche Schieflage. Die Parteiführung reagierte darauf in drei Schritten, die in umfangreichen regionalen Feldversuchen getestet wurden.20
In der ersten Etappe konzentriere sich die politische Führung auf die Einführung einer elementaren Krankenversicherung für alle in die städtischen Haushaltsregister (hukou) eingeschriebenen Lohnabhängigen. Sie wurde 1998 als Pflichtversicherung für alle beruflich aktiven und verrenteten Arbeiter des privaten und öffentlichen Sektors eingeführt. Finanziert wurde sie durch einen achtprozentigen Lohnabzug, für den die Arbeiter zu zwei Dritteln und die Arbeitgeber zu einem Drittel aufzukommen hatten. 2014 waren etwa 283 Millionen erwerbsabhängig Beschäftigte pflichtversichert und zahlten umgerechnet 13 Milliarden US-Dollar in die bei den Stadtverwaltungen eingerichteten Sozialkassen ein; das waren knapp 46 US-Dollar pro Kopf.
2003 starteten die ersten Pilotprojekte zur Ausweitung der sozialen Krankenversicherung auf die Landbevölkerung und das aus ihr rekrutierte Millionenheer der Wanderarbeiter. Sie verliefen erfolgreich und wurden in zahlreichen Distriktverwaltungen eingeführt. In den folgenden Jahren erlebten sie einen rasanten Aufschwung. 2008 waren schon 90 % der Bauern- und Landarbeiterfamilien krankenversichert. Sieben Jahre später zahlten die ländlichen Sozialkassen an ihre inzwischen 760 Millionen Mitglieder umgerechnet 45 Milliarden US-Dollar (etwa 67 US-Dollar pro Kopf) zur Abfederung ihrer Gesundheitskosten aus. Die dafür erforderlichen Beträge wurden von der zentralen Administration und den Lokalverwaltungen zu regional unterschiedlichen Anteilen aufgebracht, wobei vor allem die einkommensarmen Regionen erhebliche Zuschüsse von der Zentralregierung erhielten.
Der dritte Schritt zur Einführung einer universellen Krankenversicherung startete 2007 mit Pilotprojekten zur Einführung einer städtischen medizinischen Grundversicherung, die nun auch die nicht erwerbstätigen Schichten – Kinder, Schüler, Studierende und die nicht registrierten erwerbstätigen Einkommensschwachen – einbezog.21 Auch diese ›dritte Säule‹ bewährte sich und wurde ab 2010 landesweit eingeführt. Bis 2015 hatten sich 376 Millionen Stadtbewohner eingeschrieben. Es handelt sich dabei um eine auf die Haushalte bezogene freiwillige Krankenversicherung, die ebenfalls bei den Stadtverwaltungen angesiedelt ist und mit Mitgliedsbeiträgen sowie teilweise erheblichen Zuschüssen der Zentralregierung finanziert wird. Die Gelder aus Beijing fließen dabei vor allem in die einkommensarmen West- und Zentralprovinzen sowie gezielt an die besonders armen Haushalte und die Behinderten.
Verglichen mit den stockenden und teilweise regressiven Entwicklungen in den hier untersuchten vier Schwellenländern wirkt der chinesische Weg zur Einführung einer umfassenden sozialen Krankenversicherung wie eine ausgesprochene Erfolgsgeschichte. Gleichwohl sind auch in diesem Fall die Schattenseiten nicht zu übersehen. Auch das chinesische Gesundheitswesen wird zunehmend privatisiert und damit auch teurer, weil die Gesundheitsinteressen der wachsenden Mittelklassen, Funktionseliten und Oberschichten einen gewaltigen Nachfrageboom in den Bereichen Privatpolicen, hochwertige Gesundheitsgüter und klinische Spezialversorgung ausgelöst haben. Dadurch werden die ohnedies schmalen Ressourcen des öffentlichen Sektors zunehmend entwertet. Sie deckten in den letzten Jahren die elementare Grundversorgung nur noch zu etwa zwei Dritteln ab, und die oft nötige Spezialbehandlung ist für sie nach wie vor in der Regel unerreichbar. Als die Coronaepidemie ausbrach, flohen viele infizierte Angehörige der Unterklassen aus den Isolierstationen, weil sie der Zusage einer kostenlosen Behandlung misstrauten und den Ruin ihrer Haushalte befürchteten. Dies waren jedoch eher Randerscheinungen. Die Volksrepublik China gehörte zusammen mit einigen weiteren Schwellenländern des Fernen Ostens zu den wenigen Ausnahmen, in denen die Unterklassen den Zugang zur gesundheitlichen Primärversorgung weitgehend erreicht hatten. Dies war trotz aller grotesken Versäumnisse der ersten Wochen eine wichtige strukturelle Voraussetzung zur erfolgreichen Bekämpfung von Covid-19.
Ein weiterer Faktor, der die Covid-19-Pandemie in vielen Weltregionen unkontrollierbar machte, war die weit fortgeschrittene Deregulierung des Krankenhauswesens. Schon immer war der Klinikbereich eine Domäne des Privatsektors gewesen, beispielsweise in den USA und in vielen Ländern der südlichen Hemisphäre. Seit Beginn der 1990er Jahre hielten jedoch auch im Fernen Osten und in Europa die eingangs skizzierten Kliniktrusts Einzug im Krankenhaussektor.22 Sie nutzten dabei die verstärkt in Gang gekommenen kommunalen Ausgründungen des teilweise hoch verschuldeten öffentlichen Krankenhauswesens und kauften sich in sie ein. Dadurch erlangten ihre Erwerbungen einen Versorgungsauftrag und wurden in die Kostenerstattungssysteme der öffentlichen Gesundheitsversorgung eingebunden. Sie expandierten somit unter der Parole der ›Public Private Partnership‹ auf Kosten der öffentlichen Ressourcen, indem sie sich die Bausubstanz und die Einrichtung der Kliniken aneigneten und die laufenden Behandlungskosten vergüten ließen. Dabei wechselten die Geschäftsführungen der kommunalen Krankenhausverbände häufig geschlossen in die Klinikkonzerne über. Beispielsweise mutierte die Geschäftsleitung des Hamburger Landesbetriebs Krankenhäuser in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zum Management der Asklepios Kliniken.23 Sie wuchsen rasant und stiegen 2018 zum zweitgrößten deutschen Klinikkonzern auf – mit 160 Krankenhäusern, 35.330 Mitarbeitern, 26.650 Betten und einem Umsatz von 3,4 Milliarden Euro, der von 2.266.000 Patienten (davon mehr als 90 % gesetzlich Krankenversicherte) aufgebracht wurde. Marktführer sind inzwischen die Helios Kliniken, eine Tochtergesellschaft des Fresenius-Trusts. Der Konzern besaß 2018 allein in Deutschland 216 Krankenhäuser und Versorgungszentren und machte einen Umsatz von 6 Milliarden Euro.24 Insgesamt befand sich 2018 in Deutschland mehr als die Hälfte des Krankenhauswesens in privater Hand. In Europa waren es durchschnittlich mehr als zwei Drittel, und weltweit etwa 70–75%.25
Die Privatisierung ging mit einer folgenreichen Ökonomisierung des Krankenhauswesens einher. Bislang waren die Kliniken immer auch ein sozialer Ort gewesen, der mit ihren klassischen Ambulatorien auch für Teile der Unterklassen und Unversicherte zugänglich war. Für viele Krankenhäuser war es selbstverständlich gewesen, im Bedarfsfall die sozialen Dienste in die Behandlungsverfahren einzuschalten und ihre Patienten erst zu entlassen, wenn die Nachsorge in die Wege geleitet war. Auf diese sozialen Kontexte waren auch die Vergütungssysteme ausgerichtet. Die Sozialkassen und Gemeindeverbände vergüteten die Krankenhausbehandlungen mit Pflegesätzen, die sich nach der durchschnittlichen Verweildauer der Patienten richteten und die Selbstkosten der Kliniken abdeckten.
Mit diesen sozialstaatlichen Relikten war es bis zu Beginn des neuen Millenniums in den Schwellenländern und in der Transatlantikregion vorbei; die unterentwickelten Länder hatten sie aufgrund ihrer weitgehend fehlenden klinischen Versorgungsstrukturen gar nicht erst kennen gelernt. Die politischen Träger des Gesundheitswesens schafften den Zeitfaktor ab und führten stattdessen sogenannte Fallpauschalen ein. Dabei abstrahierten sie von den konkreten Patienten und ersetzten sie durch international standardisierte Diagnostikgruppen.26 Für jede dieser Diagnostikgruppen (Atemwegssyndrome, Stoffwechselkrankheiten usw.) wurden Standardsätze gezahlt. Da dadurch die Selbstkostendeckung entfiel, gerieten die Klinikleitungen unter einen hohen Effizienzdruck: Nur durch technologische und personelle Qualitätsverbesserungen konnten die in den Liegezeiten der Patienten enthalten gewesenen Gemeinkosten gedeckt und möglichst auch noch unterschritten werden. Auf diese Weise verschwanden die sozialen Komponenten, und eine Rationalisierungswelle setzte ein. Mit ihr hielten neue Diagnostik- und Behandlungsverfahren Einzug, die ihrerseits Personaleinsparungen und die Einführung neuer leistungsbezogenen Entlohnungsverfahren ermöglichten. Für die Patienten waren die Folgen zwiespältig. Die Behandlungsqualität verbesserte sich auf breiter Ebene und schlug sich in einer verbesserten Lebensqualität und Lebenserwartung nieder. Gleichzeitig verschwanden die sozialen Komponenten. Die Liegezeiten verkürzten sich drastisch und näherten sich in vielen Ländern dem US-Standard von 5–6 Tagen an.27 Das Personal konnte sich aufgrund der verschärften Arbeitshetze den persönlichen Belangen der Patienten kaum mehr zuwenden, und nach und nach beeinträchtigte der durch die Diagnoseschemata vorgegebene Tunnelblick die nur interdisziplinär zu sichernde Qualitätsverbesserung. Diese Tendenz wurde noch dadurch verstärkt, dass die zunehmende Konkurrenz der privaten Klinikkonzerne die Verlagerung klassischer klinischer Behandlungsverfahren nach außen zur Folge hatte (ambulantes Operieren usw.).
Unter anderen gesundheitsökonomischen Voraussetzungen hätte die Umstrukturierung des Krankenhauswesens durchaus zu einer wesentlichen Verbesserung der medizinischen Versorgung führen können. Diese Chance wurde jedoch durch ihre zunehmende Unterordnung unter die renditeorientierten privaten Kliniktrusts verspielt. Hinzu kam die erklärte Absicht der politischen Entscheidungszentren, die Krankenhauskapazitäten durch die systematische Unterfinanzierung ihrer öffentlichen Trägergesellschaften abzubauen. Vor allem in der Transatlantikregion wurde die Kostensenkung im Krankenhaussektor nachgerade zu einem Mantra der Gesundheitspolitik. Nach zwei Jahrzehnten war mehr als die Hälfte der sozialen und kommunalen Krankenhausträger der Transatlantikregion überschuldet und zu wachsenden Teilen von der Insolvenz bedroht. Vor allem während und nach der Finanzkrise von 2008/2009 setzte ein regelrechtes Krankenhaussterben ein. Unter dem Druck der Austeritätspolitik verringerten einige südeuropäische Länder – darunter Italien und Spanien – die Zahl ihrer Klinikbetten weiter. Zusätzlich forcierten die Kreis-, Stadt- und Distriktverwaltungen den Rationalisierungsprozess nochmals, indem sie nur noch ein einziges – entsprechend groß dimensioniertes und damit für nosokomiale Infektionen besonders anfälliges – Schwerpunktkrankenhaus stehen ließen. Selbst gesundheitspolitisch so hoch entwickelte Länder wie Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Schweden wurden vom Krankenhaussterben erfasst.28 In Deutschland, das keineswegs zu den Taktgebern dieser Entwicklung zählte, ging die Zahl der Kliniken und Krankenhausbetten in der Zeit von 1994 bis 2010 von 2.337 bzw. 615.000 auf 2.064 bzw. 500.000 zurück.29 Bis 2020 verlangsamte sich der Rückgang etwas, jetzt gab es noch 1.938 Krankenhäuser und 490.000 verfügbare Betten. Je 100.000 Einwohner war zwischen 1994 und 2020 ein Rückgang von 755 auf 590 zu verzeichnen, ein Minus von über einem Fünftel (21,8 %). Dieser Kapazitätsabbau fand wohlgemerkt in einer Konstellation der anhaltenden Zuwanderung statt, in der die Bevölkerung um 1,6 Millionen Einwohner wuchs.
Infolgedessen operierte das globale Krankenhauswesen am Vorabend der Coronapandemie am Limit, und zwar in allen Bereichen einschließlich des Sonderbereichs der Intensivbehandlung. Die klinische Behandlung war überstandardisiert und ihrer sozialen Kontexte entkleidet. Das Personal war auf allen Qualifikationsebenen chronisch überlastet. Darüber hinaus hatte die inzwischen überall durchgesetzte betriebswirtschaftliche Managementstruktur eine fortschreitende Anpassung an die im Produktions- und Logistikbereich üblich gewordenen Praktiken des ›Just In Time‹ zur Folge. Die Vorräte an medizinischem Gerät, diagnostischen und therapeutischen Ressourcen sowie Desinfektionsmitteln und Schutzausrüstungen für die Beschäftigten wurden so knapp wie möglich gehalten. Der Primat der Ökonomie war allmächtig und machte alle Vorkehrungen für gesundheitliche Krisen und Katastrophen zu Makulatur.
Dann kam die Pandemie und führte allen, die es sehen wollten, die Konsequenzen dieser fatalen gesundheitspolitischen Weichenstellungen vor Augen. Überall, wo diese Entwicklungen auf die Spitze getrieben worden waren wie in den USA, Italien, Spanien und Frankreich, mussten die hospitalisierten Schwerkranken einen besonders hohen Preis bezahlen. Dagegen kamen solche Länder, in denen die Deregulierung noch im Fluss war, eher glimpflich davon. Deutschland beispielsweise wollte mit seinem klinischen Kapazitätsabbau erst bis 2030 mit Spanien und Italien gleichziehen und die Zahl der Krankenhäuser und Klinikbetten erheblich reduzieren. Noch kurz vor dem Ausbruch von Covid-19 glaubten die politisch Verantwortlichen recht gut im Plan zu liegen, denn 40 % der noch vorhandenen Kliniken waren überschuldet und 12 % der Krankenhausleitungen standen am Rand eine Insolvenzverfahrens.30 Nach dem Ausbruch von Covid-19 wollte sich niemand mehr öffentlich zu diesen Zielprojektionen bekennen. Die Pandemie erzwang zwar ein Moratorium, aber die Rückbaupläne wurden nicht aufgegeben und im Stillen weiterverfolgt.
Die schlimmsten Missstände machte die erste Welle der Pandemie in den Alten- und Pflegeheimen der am weitesten entwickelten Weltregionen – Transatlantik und einige Territorien des Westlichen Pazifik – sichtbar. In der Zeit von März bis Mai 2020 fielen ausgerechnet in den wohlhabendsten Ländern die meisten Menschen dem Virus zum Opfer, und dies unter besonders miserablen und unwürdigen Bedingungen. Es handelte sich um die Bewohnerinnen und Bewohner der Alten- und Pflegeheime. Aber auch ihre professionellen Helferinnen und Helfer, die care workers, waren besonders betroffen – in Kanada genauso wie in den USA, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Schweden und Spanien.
Die Alten- und Pflegeheime verfügten zu keinem Zeitpunkt über die elementaren hygienischen Hilfsmittel zum Schutz der Bewohner und ihrer Betreuer. Das extrem unterbezahlte Personal erfüllte alle Voraussetzungen, um den Erreger unkontrolliert in die geschlossenen Institutionen zu transportieren und dort zu verbreiten – befristete Arbeitsverträge und hohe Fluktuationsraten, Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften und ohne vorbeugenden Schutz für sich und die Betreuten durch Testverfahren. Die Folgen waren verheerend. In den hoch entwickelten Ländern stammten 25 bis 80 Prozent der Todesopfer der ersten Pandemiewelle aus den Alten- und Pflegeheimen.31 Dabei betrug ihr altersspezifischer Anteil an der Gesamtzahl der Infizierten nur zwischen 8 und 13 Prozent, und noch nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung lebte in den geschlossenen Institutionen der Alten-, Dementen- und Behindertenversorgung.
Kritische Journalisten und Wissenschaftler haben inzwischen die unmittelbaren Ursachen des Fiaskos aufgearbeitet.32 In mehreren Ländern – insbesondere Italien, Schweden und Spanien – wurde die Aufnahme schwer erkrankter Altenheimbewohner in die Akutkliniken abgelehnt; manchmal wurden sie auch nach einem positiven Testnachweis dorthin zurückverlegt und einer Morphin-gestützten ›Sterbebegleitung‹ überlassen. Auf diese Weise verschwanden die Opfer der altersspezifischen ›Triage‹ gleichzeitig aus den offiziellen Falldokumentationen.33 Bekannt wurde diese statistische Verschleierung der ›Triage‹ erst einige Wochen nach dem Höhepunkt des Massensterbens. Eine derartige Entwicklung wurde durch die seit einigen Jahren forcierte Lockerung der behördlichen Aufsicht begünstigt, die insbesondere in Schweden groteske Ausmaße angenommen hatte.34
Der zweite begünstigende Faktor war ökonomischer Art. Seit den 1990er Jahren hatten weltweit operierende Private Equity Funds und Indexfonds die Alten- und Pflegeheime parallel zu den Klinikkomplexen als rentable Anlageobjekte entdeckt. Dabei übernahmen sie jedoch nur die Grundstückswerte und die Inventarien und setzten gemischtwirtschaftliche oder private Pflegeunternehmen als Betreiber ein. Diese duale betriebswirtschaftliche Struktur garantierte ihnen eine krisensichere Monopolrente, während die Pächter aufgrund der vergleichsweise hohen Zinsen zu ständigen Kostensenkungen bei Personal und Pflegedienstleistungen gezwungen waren, wenn sie wenigstens eine marginal tragfähige Rendite erzielen wollten. Während der Coronapandemie brach diese Kalkulation zusammen. Sobald sich die ersten Todesfälle nicht mehr vertuschen ließen, gingen die besonders betroffenen Betreiber bankrott. Gleichzeitig kündigten die Eigentümer die Pachtverträge und verpachteten die Grundstücke an neue ›unverbrannte‹ Betreiber. Vor allem in Kanada und den USA nahm dieses Karussell groteske Ausmaße an,35 und die Investmentgesellschaften verstärkten ihre Bestrebungen um ›Immunität‹ gegenüber der nun anlaufenden Klagewelle seitens der Angehörigen der institutionalisierten Opfer. Gleichzeitig muss jedoch betont werden, dass diese Missstände nur etwa ein Viertel bis ein Drittel der teilstationären und stationären Pflegesysteme betrafen, und dass in einigen Ländern früher gegengesteuert wurde als in anderen.36 Aber die Folgen in diesen, der öffentlichen Kontrolle entglittenen Sektoren waren derart gravierend, dass sie die Bereiche, in denen rechtzeitig hygienische Schutzmaßnahmen ergriffen worden waren, aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängten.
Angesichts dieser ans Mafiöse grenzenden Phänomene sollten jedoch die längerfristigen Ursachen nicht ausgeblendet bleiben, denn sie haben letztlich die Grundvoraussetzungen für diese Fehlentwicklungen geschaffen, die anschließend durch ökonomische Faktoren verstärkt wurden. Seit den 1960er Jahren wurde das seit einem Jahrhundert praktizierte Modell der Institutionalisierung der psychisch Kranken, Pflegebedürftigen, alten und behinderten Menschen in Frage gestellt.37 Die Ära der Deinstitutionalisierung begann.
Dabei verschränkten sich Elemente der Professionalisierung mit Konzepten der Ausdifferenzierung. Die Pflegeheime für psychisch Behinderte wurden von den Einrichtungen für Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen und denjenigen für Sieche und Alte abgetrennt. Parallel dazu setzte eine Ära der Deinstitutionalisierung ein. Den geschlossenen Institutionen wurden teilstationäre Bereiche, betreute Wohngruppen und ambulante Pflegedienste vorgeschaltet. Dadurch verbesserten sich die Lebensmöglichkeiten vieler Pflegebedürftiger. Zugleich erzeugte diese partielle De-Institutionalisierung jedoch einen Gegeneffekt, der sich hinter dem Rücken der Akteure durchsetzte: Die in den geschlossenen Institutionen verbliebenen chronisch Kranken und Behinderten mussten mit einer weitreichenden Verschlechterung ihrer Kommunikations- und Überlebenschancen bezahlen. Dies galt insbesondere für die pflegebedürftigen Gebrechlichen und Dementen der Altenheime, deren Zahl aufgrund des Wandels der Altersstruktur und der Steigerung der Lebenserwartung in den hoch entwickelten Weltregionen überproportional stieg.
Am Ende dieser an ihren paradoxen Ergebnissen gescheiterten Reformperiode kamen dann auch die großen Investmentgesellschaften ins Spiel und unterwarfen die sich ausdehnenden Altenghettos dem Wechselspiel von Monopolrente und Pächterprofit. Nun wurden die Zustände vollends unerträglich, zumal sich jetzt auch die Aufsichtsbehörden zurückzogen und sich die staatlichen Regulatoren auf die Finanzierung der neu entstandenen Pflegewirtschaft durch die Einführung sozialer Pflegeversicherungen beschränkten.38 Freiwillig wollte in diese Altenasyle niemand mehr gehen, denn in ihnen wurden häufig nicht einmal mehr die minimalen Pflegestandards eingehalten.39 Das Personal war unterqualifiziert, unterbezahlt und heillos überfordert. Aufgrund der zeitlichen Verdichtung und Vertaktung der Tätigkeitsabläufe konnten die Pflegekräfte keine persönlichen Beziehungen zu den Insassen mehr aufbauen. Die pharmakologische ›Ruhigstellung‹ durch Neuroleptika und Benzodiazepine etablierte sich weltweit als Routinemaßnahme. Auch die Anwendung von Gewalt gegen die Pflegebedürftigen wurde zu einer alltäglichen Erscheinung, und es kam sogar zu Tötungshandlungen. Hinter den dadurch ausgelösten Skandalen blieb die sich ausbreitende strukturelle Misere jedoch weitgehend verborgen.
Dieser stille gesellschaftliche Skandal ist nun durch die Covid-19-Pandemie ins Blickfeld geraten. Das bedeutet jedoch nicht, dass daraus auch die Konsequenzen gezogen werden, zumal die Suche nach tragfähigen Alternativlösungen schwierig ist.40 Immerhin verhallten die Alarmsignale nicht ganz ungehört. In der Übergangsphase zur zweiten Welle verabschiedeten die Gesundheitsbehörden der meisten betroffenen Länder umfangreiche Maßnahmen zur Verbesserung und Bevorratung der Basishygiene und annullierten die Besuchsverbote, die während der ersten Welle die Sterblichkeit der Heimbewohner aufgrund ihrer desaströsen psychischen Folgen noch weiter erhöht hatten. Alles das steht und fällt jedoch mit der Einführung breit angelegter und periodisch wiederholter Testungen, um den Übertragungen des Erregers durch das Pflegepersonal, die Handwerker und die Besucher vorzubeugen. Dafür stehen inzwischen leicht handhabbare und wenig aufwendige Schnelltests zur Verfügung, deren Ergebnisse innerhalb einer halben Stunde vorliegen.41 Sie wurden jedoch erst eingeführt, als die zweite Pandemiewelle schon längst begonnen hatte, in Deutschland beispielsweise am 15. Oktober 2020.42 Die Folge war ein erneuter – wenn auch im Vergleich zum Frühjahr vergleichsweise niedriger – Anstieg schwerer und teilweise tödlich verlaufender Erkrankungen in den Alten- und Pflegeheimen,43 während sich zahlreiche Pflegekräfte krankmeldeten oder ihre Arbeitsplätze verließen. Angesichts derartiger Versäumnisse befanden sich weiterreichende Initiativen zur Behebung der strukturellen Misere durch die Rekommunalisierung des Pflegesektors und eine umfassende Aufwertung von Care Work außerhalb der Vorstellungskraft der verantwortlichen Akteure.