Die Pandemie mobilisierte Ängste, die tief in den Individuen verwurzelt sind. Da ist die elementare Angst, ›keine Luft mehr zu bekommen‹ und qualvoll ersticken zu müssen. Sie wird allein schon durch den vorrangigen Befall des Atemsystems hervorgerufen und durch das im Komplikationsfall drohende schwere Atemnotsyndrom verschärft. Aus dieser Grundangst leiten sich weitere Befürchtungen ab: Werden wir, wenn wir oder unsere Angehörigen ernsthaft erkranken, angemessene Hilfe bekommen? Oder werden wir unserem Schicksal überlassen, weil die Kliniken überfüllt sind? Und was erwartet uns, wenn wir dort aufgenommen und behandelt werden: Gibt es genug kompetentes Personal, Intensivbetten und Beatmungsmaschinen? So konnte sich die individuelle Grundangst zu einem kollektiven Syndrom ausweiten, das die Medienakteure begierig aufgriffen und omnipräsent machten. Es durchdrang und modellierte immer größere Teile der Umweltwahrnehmung und erzeugte einen unbändigen Hunger nach weiteren Informationen. Dabei stießen die verunsicherten Akteure auf Nachrichten, die ihr Gefühl des Ausgeliefertseins bestätigten. In Wuhan sind Schwerkranke auf der Straße zusammengebrochen und verstorben. Auf den Gängen eines Zentralkrankenhauses in Brooklyn stapelten sich die Leichensäcke. In Bergamo und Madrid wurden die lebensbedrohlich erkrankten Alten und Behinderten in die Pflegeheime zurückgeschickt, und in Stockholm verweigerten die Akutkliniken von vornherein ihre Aufnahme. In Guayaquil mussten militärische Sondereinheiten die Leichen auf den Straßen einsammeln, in Madrid holten sie die Verstorbenen aus den Altenheimen heraus, und in Bergamo transportierten Militärkommandos die Todesopfer mit Bergungsfahrzeugen auf die überlasteten Friedhöfe. In zahlreichen Hotspots wurden Massengräber ausgehoben, zuerst machten Videos aus Ghom die Runde.
Diese angstverstärkenden Bilder zeigten zweifellos ein Stück Realität. Sie potenzierten die angstbesetzten Affekte und schwächten die Fähigkeit, mit diesen Ereignissen rational umzugehen. Wie wir aus der neurophysiologischen Forschung wissen, sind Emotionen immer an Denkakte gebunden. Je mächtiger sie werden, desto stärker steuern sie die komplexen Erkenntnisvorgänge und schränken die Fähigkeit zur kritischen Gesamtgewichtung ein. Die Covid-19-Pandemie könnte als ›Die Große Angst des Jahrs 2020‹ in die Geschichte eingehen. So wie die ›Große Angst‹ der französischen Dorfgemeinden vor Räuberbanden und einer aristokratischen Verschwörung das Revolutionsjahr 1789 mental unterlegte,1 so werden spätere Historiker die aus der Angst vor dem Ersticken gespeiste Suche nach den Urhebern ihrer existenziellen Bedrohung und den vermeintlichen Nutznießern der Pandemie aufarbeiten.
Die angstverstärkenden Wahrnehmungen hatten wohlgemerkt einen wahren Kern, es hatte diese katastrophalen Zuspitzungen tatsächlich gegeben. Diese Bilder provozierten bei vielen das Bedürfnis nach sofortiger Abhilfe und setzten affektbesetzte Handlungen frei. Derartige Reaktionen sind uns aus der Seuchengeschichte seit langem bekannt, und angesichts des Fehlens kausaler Behandlungsmöglichkeiten lag weltweit ihre Reaktivierung nahe: der Griff nach vermeintlichen Heilmitteln.2 Viele davon waren harmlos, so etwa der übermäßige Verzehr von Knoblauch oder Zwiebeln, Kampfer-Halswickel, die Applikation von Heilkräuterpackungen über dem Brustbein oder die von der traditionellen chinesischen Medizin empfohlene Verabreichung von konzentrierter Bärengalle. Andere waren jedoch lebensgefährlich und haben Zehntausende zu ›Kollateralopfern‹ der Pandemie gemacht. Nicht nur aus Südasien und dem Iran häuften sich Nachrichten über schwere Methanolvergiftungen. Eine in Mexiko ansässige evangelikale Sekte vertrieb Chlordioxid, ein hoch giftiges Bleich- und Desinfektionsmittel, zur Vorbeugung; es provozierte das Siechtum tausender Anhänger und Hilfesuchender in Südamerika und den USA.3
Angesichts dieser und anderer emotionaler Kurzschlusshandlungen konnte der Rückgriff auf etablierte Präparate der Pharmaindustrie zur Bekämpfung anderer Krankheitserreger nicht ausbleiben.4 Bekannt wurde vor allem die für Herzkranke fatale Empfehlung, das Antimalariamittel Hydroxychloroquin zur Vorbeugung und Behandlung einzunehmen. Seine Wirkungslosigkeit wurde bald wissenschaftlich nachgewiesen, bei anderen Medikamenten blieb der Effekt umstritten. Hier zeigten sich typische Grauzonen im Übergang zur evidenzbasierten Heilkunde. In diesem Kontext agierten auch zahlreiche Spitzenpolitiker. Manchmal ließen auch sie sich dazu verleiten, die Verbreitung von Chlordioxid zu fördern oder die Injektion weithin verbreiteter Desinfektionsmittel vorzuschlagen.5
Manche Handlungen zur affektiven Angstbewältigung erwiesen sich als harmlos. Andere potenzierten das Angstgeschehen, so etwa der selbst gewählte Rückzug der älteren und chronisch kranken Menschen aus ihren gesellschaftlichen Netzwerken. Viele von ihnen verstummten depressiv oder verschanzten sich hinter einer immer stärker ausgreifenden Gesundheitsfurcht (Health Anxiety), während verzweifelnden Lebenspartnern und Kindern der Zugang zu ihren sterbenden Angehörigen verwehrt wurde, weil die Alten- und Pflegeheime geschlossen waren. Erhebliche Traumatisierungen waren die Folge.6 Doch das war nur die Spitze des Eisbergs. Wohl keine Handlung war in vielen Ländern so folgenreich wie die Entscheidung der Gesundheitsbehörden, ihre Unfähigkeit zur gezielten Infektionsvorbeugung durch die Isolierung der Bewohner der Alten- und Pflegeheime kompensieren zu wollen. Diese angstverstärkenden und depressionsauslösenden Maßnahmen haben den ohnedies schon hohen Anteil der Alten und Pflegebedürftigen an den Pandemieopfern weiter erhöht.
Viele Angehörige der ›Risikogruppen‹ waren noch rüstig genug, um auf die sie umtreibenden Ängste aktiv reagieren zu können. Sie entfernten sich aus der sozialen Enge ihrer Lebenswelten, um der Ansteckungsgefahr zu entgehen. Die Wohlhabenden unter ihnen zogen sich in ihre Ferienwohnungen an den Küsten, auf den Inseln oder in den Bergen zurück. Die weniger Begüterten erinnerten sich an ihre Verwandten auf dem flachen Land. Die Flucht aus den großstädtischen Agglomerationen setzte im Frühjahr 2020 weltweit ein. Am stärksten waren die Metropolen der Transatlantikregion betroffen, insbesondere Paris, New York und London. Dabei überschnitt sich die Furcht vor dem Virus mit dem Ausweichen vor den Quarantänebestimmungen der ›Lockdowns‹. Allein in der Zeit vom 13. bis 20. März 2020 sollen 1,2 Millionen Menschen – 17 % aller Einwohner – den Großraum Paris verlassen haben.7 Inwieweit dieser Exodus zur Ausbreitung der blinden Passagiere auf die ländlichen Regionen beitrug, wurde bislang nicht untersucht, weil die Gesundheitsbehörden nur die Auslandsrückkehrer im Blick hatten. Bekannt ist jedoch, dass die keineswegs immer willkommenen Städter nun ihrerseits Ängste auslösten und Abwehrmechanismen provozierten. Nur wer sein Fluchtziel als Hauptwohnsitz zu deklarieren vermochte, durfte bleiben.
Letztlich konnte die stille Binnenmigration nicht gebremst werden. Das wichtigste Indiz für ihre Verstetigung war die Tatsache, dass eine hektische Suche nach freistehenden Grundstücken und Eigenheimen einsetzte.8 In diesem Segment der Immobilienmärkte explodierten weltweit die Preise.
Wie aber erging es denjenigen sozialen Gruppen, denen derartige Vermeidungsreaktionen versagt blieben? Über sie wissen wir noch wenig. Allerdings nahm weltweit die Zahl der an Angststörungen, Depressionen, Zwangshandlungen und Traumafolgen Leidenden zu.9 Gleichzeitig wuchs die Kluft zwischen dem Behandlungsbedarf und den durch die Kontaktbeschränkungen reduzierten Therapiemöglichkeiten.10 Besonders gravierend war die Situation der Angehörigen der Heilberufe, insbesondere des Personals der Krankenhäuser und Pflegeheime. Sie waren mit den durch die Pandemie hervorgerufenen Verängstigungsprozessen gleich doppelt konfrontiert – als Behandlungsteams der mit schwerer Atemnot Ringenden und als selbst Betroffene, denn die anfänglich fehlenden Hygiene- und Schutzvorkehrungen standen in Widerspruch zu ihrer täglichen Gefährdung. Die Folgen waren verstörend, wie wir zahlreichen Zeugnissen der mit den Brennpunkten der Pandemie konfrontierten Intensivschwestern, Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenpfleger entnehmen können.11 Zusätzlich gaben sie Untersuchungsteams des Public Health Selbstauskünfte über ihre psychische Lage. Die ersten Berichte darüber erschienen in China.12 Schon in der Initialphase berichteten 7 Prozent der Befragten über das Auftreten posttraumatischer Symptome. Einige Monate später litt die Hälfte an Depressionen. 45 Prozent litten an Angststörungen unterschiedlicher Intensität sowie 34 Prozent an Schlafstörungen. Im Gefolge der weltweiten Pandemieausbreitung erging es den medizinischen Teams und insbesondere den in der Langzeitpflege Beschäftigten nicht anders.13 Vor diesem Hintergrund werden auch die Flucht- und Vermeidungsreaktionen verständlich, mit denen die Belegschaften einiger besonders betroffener Institutionen auf die für sie unerträglich gewordene psychische Anspannung reagierten. Für die Betreuten waren die Folgen freilich fatal. Wenn wir an die aufwühlenden Berichte und Fotos aus den Orten des Massensterbens der ersten Welle und ihre affektiven Folgen zurückdenken, sollten wir nicht vergessen, dass sie sich bei einer rechtzeitig umgesetzten speziellen Präventionsstrategie hätten vermeiden lassen.
Wo Ängste mobilisiert werden, werden häufig solche Informationen herausgefiltert, die Angst und Schrecken bestätigen und intensivieren. Die Fähigkeit, Nachrichten kritisch zu prüfen und zu werten, geht zunehmend verloren. Damit ist dem Gerücht Tür und Tor geöffnet. Wie wir aus der historischen Forschung wissen, haben Wahrnehmungen in der Regel einen eindeutigen Realitätsbezug. Aber sie verändern sich im Prozess der Weitergabe und entfernen sich immer mehr aus ihren wirklichen Kontexten.14 So werden aus den Gerüchten angstverstärkende Falschmeldungen und mischen sich mit vorgefassten Meinungen und Vorurteilen.
In den kritischen Phasen einer Pandemie treten derartige Phänomene häufig auf. Während der Influenzakatastrophe 1918/19 kam beispielsweise in den USA das Gerücht auf, die Deutschen hätten das Schmerzmittel Aspirin, auf das der Bayer-Konzern ein Weltpatent besaß, mit dem unbekannten Erreger kontaminiert und verbreitet. Auch deutsche Spione galten weithin als Verursacher der Massenerkrankung, und eine deutschstämmige Krankenschwester sei dabei erwischt worden, wie sie in einem Camp-Hospital die Keime verteilte.15
Auch seit der globalen Ausbreitung der SARS-CoV-2-Epidemie entstanden zahlreiche Gerüchte. Ihre Rahmenbedingungen waren völlig anders als hundert Jahre zuvor. Der Erreger war sofort bekannt und genau beschrieben. Auch das Ausbreitungstempo und die Reichweite der Falschmeldungen hatten sich dank der Medien und des Internets außerordentlich beschleunigt. Zudem befanden sich die Großmächte nicht im Kriegszustand, sodass die Ursache nicht einfach einem heimtückischen Feind zugeschrieben werden konnte. Die Wahrnehmungen und die daraus gezogenen falschen Schlüsse waren infolgedessen subtiler, aber wie 1918/19 war die durch das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen beschleunigte Vervielfachung der Gerüchte entscheidend. Anfänglich kursierte die Behauptung, dass Virus sei unbeabsichtigt aus einem Biowaffenlabor freigesetzt worden, und zwar entweder in China oder den USA.16 Es wurde nach kurzer Zeit durch die Erklärung verdrängt, der Großstifter Bill Gates sei der Drahtzieher der Pandemie, denn er habe in den Jahren zuvor Milliardenbeträge in die Entwicklung eines Impfstoffs investiert, die jetzt im Kampf gegen die weitere Ausbreitung des Virus amortisiert würden. Da die Vakzine jedoch entgegen allen Erwartungen noch nicht existierten, entpersonalisierte sich das Gerücht wieder. Bill Gates wurde nun durch einen elitären Geheimbund aus Hochfinanz, Spitzenmanagern und Politik ersetzt: Er habe die Pandemie heraufbeschworen, um mit ihrer Hilfe die von ihm angestrebte ›Neue Weltordnung‹ durchzusetzen.
Je länger die Pandemie andauerte, desto mehr entfernten sich die Falschmeldungen von den ursprünglichen Wahrnehmungen und vermischten sich mit ideologisch präformierten Vorurteilen. Dadurch verloren sie ihren konkreten, für alle Betroffenen nachvollziehbaren und miterlebten Erklärungsbezug. Tatsächlich kursierte auch unter kritisch reflektierenden Wissenschaftlern ursprünglich die Befürchtung, es könnte sich bei SARS-CoV-2 um einen ›Flüchtling‹ handeln, der die Sicherheitsschleusen eines Forschungslabors überwunden hatte.17 Auch die abstrusen Unterstellungen gegen den Microsoft-Milliardär aus Seattle beruhten auf einem Stück Wirklichkeit, denn Gates hatte tatsächlich die Impfstoffentwicklung, wozu auch die Synthese SARS-ähnlicher Viren gehörte, aktiv gefördert und immer wieder vor dem Ausbruch einer katastrophalen Pandemie gewarnt.18 In seiner dritten Auslegung hatte das Gerücht nur noch wenig mit der Wirklichkeit gemeinsam. Als möglicher Bezugspunkt für eine Eliten-Inszenierung ließ sich allenfalls noch das World Economic Forum ausmachen, das sich als medienaktives und etwas aufdringliches Sprachrohr des globalen Big Business seit einigen Jahren der Pandemiegefahren annahm und für eine effizienzorientierte Ausweitung der Impfkampagnen stark machte.19
Bei der zunehmenden Aufsaugung des klassischen Gerüchts durch die Raster einer ideologisch eingefärbten Welterklärung kamen gesellschaftliche Gruppen ins Spiel, die seit längerem auf echte oder vermeintliche Endzeitkonstellationen hingearbeitet hatten. Einige sind uns in dieser Untersuchung schon im Kontext der Atomkriegsszenarien begegnet;20 andere sind älteren Datums, und wieder andere entstanden unmittelbar am Vorabend der SARS-CoV-2-Pandemie. An dieser Stelle möchte ich nur auf die drei wichtigsten hinweisen. Da sind erstens die Impfgegner.21 Sie sind so alt wie die Impfungen selbst, die im frühen 19. Jahrhundert mit den Pockenschutzimpfungen einsetzten. Die Motive ihrer Ablehnung reichen von religiös begründeter Ablehnung über naturheilkundliche Orientierungen bis zu der Annahme, dass durch jedes injizierte Vakzin irreversible Schäden hervorgerufen würden. Bei der vorbeugenden Gegnerschaft gegen die SARS-CoV-2-Impfung gewann diese Befürchtung die Oberhand, und zwar wurden Eingriffe in das Erbgut behauptet,22 die zudem noch mit der geheimen Implantation von Mikrochips zur Überwachung des Gesundheitsverhaltens in Verbindung gebracht wurden. Die zweite Gruppierung, die sich bei der ideologischen Begründung der Desinformationen hervortat, waren Ende der 1970er Jahre entstanden, als das drohende nukleare Armageddon seinem vorläufig letzten Höhepunkt zustrebte. Die ›Prepper‹ – die Selbstbezeichnung leitet sich von der Pfadfinderparole ›Be Prepared‹ ab – projizierten die offiziell propagierte Einrichtung von Schutzräumen und Überlebensvorräten in die Gegenwart, indem sie diese Aktivitäten mit apokalyptischen Visionen legitimierten.23 Sie deuteten den Ausbruch der Pandemie als Bestätigung ihrer Visionen und fanden nun weltweit Anhänger, wobei sich eine starke Tendenz zeigte, die Vorkehrungen gegen den Kollaps der öffentlichen Ordnung mit der Bereitschaft zum gewalttätigen Selbstschutz zu verbinden. Auch die dritte Initiative zur identitätsstiftenden Bekräftigung des Angstsyndroms entstand in den USA, und zwar drei Jahre vor dem Ausbruch der Pandemie.24 In der Gruppe ›QAnon‹ fand die Tendenz zur regressiven Antwort auf die Herausforderungen der Pandemie ihren vorläufigen Höhepunkt. Aus den vagen Heils- und Hiobsbotschaften ihrer anonymen Gründer imaginieren die Anhänger eine satanische Elite, die weltweit Kinder entführe und foltere, um aus ihrem Blut eine verjüngende biochemische Substanz zu gewinnen. Zugleich strebe sie nach der Weltherrschaft und nutze Covid-19 zur Errichtung einer ›Neuen Weltordnung‹. Mit diesem Anschluss an das antisemitische Narrativ des ›Weisen von Zion‹ fand die Instrumentalisierung der durch die Pandemie ausgelösten Angstsyndrome zu ihrer ideologischen Synthese. Auch wenn es ihren Protagonisten nicht gelang, eine breitere Bewegung zu initiieren, verfügten sie über technisch hoch entwickelte Fähigkeiten zur Infiltration der als ›Soziale Netzwerke‹ bezeichneten Kommunikationsportale des Internet. Infolgedessen sind sie für andere Strömungen anschlussfähig, die in ihrem Auftreten und Habitus faschistisch sind. Hier zeigt sich die sozialpsychologische Sprengkraft der ›Großen Angst‹, die die Pandemie ausgelöst hat, in ihrer ganzen Tragweite.
Doch damit nicht genug: An der Instrumentalisierung der ›Großen Angst‹ waren neben den Protagonisten der Pandemie-Gerüchte und ihrer wachsenden Gefolgschaft auch ganz andere soziale Felder beteiligt. Auch die Exponenten des wissenschaftlichen und politischen Establishments waren gegen die durch die blinden Passagiere provozierte Grundangst nicht gefeit, und dies erwies sich für ihre Entscheidungsprozesse häufig als folgenreich. An anderer Stelle habe ich mich kritisch mit den Kassandrarufen zahlreicher Forschungsgruppen und Wissenschaftsjournalisten auseinandergesetzt, die den Zusammenbruch des Gesundheitswesens sowie zig Millionen Todesopfer voraussagten.25 Meines Erachtens gab es für diese folgenreiche Simplifikation des unberechenbaren und hin und her fluktuierenden Pandemiegeschehens nachvollziehbare Gründe. Die epidemiologische Lage hatte sich seit der Ausbreitung der HIV-Infektion von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verschlechtert: Zoonotische Influenzaausbrüche häuften sich, einige Grippepandemien entgleisten (zuletzt 2017/18), gefährliche neue Virusepidemien hielten die Fachwelt in Atem (Ebolafieber 2014, Zikaviren 2017), und nun waren auch noch die Coronaviren dazugekommen (SARS-Pandemie 2002/2003, MERS-Epidemie seit 2012). Da lag die Befürchtung nahe, dass eine katastrophale Pandemie bevorstand, zumal sie in zahlreichen Planspielen vorweggenommen wurde.26 Tatsächlich kamen dann im Januar 2020 die Hiobsbotschaften aus China und die Meldungen über die rasante weltweite Ausbreitung von SARS-CoV-2, das instinktiv mit seinem weitaus gefährlicheren Vorgänger SARS-CoV-1 gleichgesetzt wurde. Diese Informationen aktivierten auch bei erfahrenen Experten die Angst, sie und ihre Angehörigen würden bald schwer erkranken und könnten angesichts überfüllter Intensivstationen mit ärztlichen Selektionshandlungen (›Triage‹) konfrontiert werden. Sie verloren dadurch die kritische Distanz zum tatsächlichen Geschehen und verwechselten den Erreger von Covid-19 mit einem weitaus gefährlicheren Virus. So steuern Angstsyndrome manchmal auch den methodischen Zugriff und das Handwerkszeug der wissenschaftlichen Erkenntnis und führen zu gravierenden Irrtümern.
Indessen hielten sich nicht alle Experten und politischen Entscheidungsträger an dieses Schema. Sie setzten auf das Konzept, das Virus sich mehr oder weniger ungehindert in der Bevölkerung ausbreiten zu lassen, um eine ›Herdenimmunität‹ zu erreichen. Dabei unterschätzten sie jedoch die Aggressivität von SARS-CoV-2 gegenüber chronisch Kranken, Behinderten und alten Menschen, und sie unterließen deshalb gezielte vorbeugende Schutzmaßnahmen für diese tatsächlich Gefährdeten. Am Ende saßen die kritischen Mahner und einige auf Evidenz pochende Exponenten des Public Health zwischen allen Stühlen.
Nach alledem konnte es nicht wundernehmen, dass sich die Ängste und sozialen Bedrohungsgefühle mit Endzeitstimmungen vermischten und in einigen Regionen zu Panikreaktionen ausarteten. Die gehobenen Schichten lauschten in ihren einigermaßen sicheren Fluchtburgen Bob Dylans neuen Visionen der Vorhölle und des Untergangs der Menschheit;27 zusätzlich ließen sich von den Feuilletonisten darüber belehren, dass nun die Wiederaneignung der stoischen Philosophie und insbesondere der altrömischen Lehren eines Seneca angesagt sei.28 Andere Gesellschaftsschichten wähnten sich weitaus weniger geschützt, um sich einem geläuterten Weltschmerz hingeben zu können. Ihre Reaktionsweisen waren direkter, rabiater und zeitigten fatale Folgen, sobald sie ihre Suche nach den Überträgern der blinden Passagiere auf die fremden anderen projizierten. Dieses Reaktionsmuster ist so alt wie die Pandemiegeschichte. Die Angst vor dem Schwarzen Tod von 1348–1351 provozierte in Zentraleuropa schreckliche Pogrome gegen die der Brunnenvergiftung bezichtigten jüdischen Gemeinden.29 1918/19 galten die ›Hunnen‹ (Deutschen) in den Ländern der Entente-Mächte als heimtückische Spreader, und 2003 boykottierten weite Bevölkerungskreise in der Transatlantikregion die Chinatowns, obwohl sich das aus China stammende SARS-CoV-1-Virus nur äußerst sporadisch ausbreitete.30 Bei Covid-19 war es dann wieder so weit.31 Erneut verwaisten die Chinatowns. In Kanada und den USA konnten sich Bürger asiatischer Herkunft kaum mehr auf die Straße wagen, und selbst im aufgeklärten Zürich wurden sie belästigt und bespuckt. Es waren jedoch keineswegs nur individuelle Übergriffe gegen Fremde und Minderheiten zu beobachten. Auch regierungsamtliche Krisenstäbe nutzten die Chance zu einer rassistisch eingefärbten Gefahrenabwehr. Obwohl es zu Beginn der zweiten Aprilwoche 2020 in der Slowakei erst 101 positiv getestete Infizierte gab, sperrten Militäreinheiten mehrere Roma-Gemeinden von der Außenwelt ab und beschränkten ihre Umweltkontakte auf eine tägliche LKW-Lieferung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten.32 Zusätzlich testeten sie alle als Roma identifizierten Bürgerinnen und Bürger ›freiwillig‹ auf den Erreger. Begründet wurde dieses Vorgehen mit der hohen Mobilität und den besonders prekären Lebensbedingungen der Roma. Aus epidemiologischer Sicht erschien dies durchaus begründbar, denn im März waren zahlreiche Roma-Wanderarbeiter aus den europäischen Metropolen zurückgekehrt. Dabei handelte es sich jedoch um Verhaltensweisen, die auch auf andere Gruppen der slowakischen Unterklassen zutrafen. Aber nicht sie, sondern nur die behördlich besonders effizient überwachte Roma-Minderheit wurde für diesen ersten Großversuch zur Einführung des Lockdowns ausgewählt, weil sich die slowakische Regierung auf die antiziganistischen Vorurteile einer breiten Bevölkerungsmehrheit stützen konnte.
Die durch die Pandemieangst genährten sozialen Ab- und Ausgrenzungstendenzen machten jedoch vor niemand Halt, und es kam immer wieder zu kollektiven Aggressionshandlungen.33 Dennoch sollte ihr Ausmaß nicht überschätzt werden. Die durch die Internetportale verbreiteten Desinformationen, Hasspredigen und ideologischen Projektionen hatten sich bis zum Frühjahr 2021 glücklicherweise noch in keine kollektiven Gewaltexzesse übersetzt, für die der Begriff ›Pogrom‹ zutreffend wäre.