1.6 – Das generelle Schuldenproblem

Selbstverständlich sollte niemand – auch ein Staat nicht – über seine Verhältnisse leben und mehr Schulden machen, als er je zurückzahlen kann. Die Realität sieht jedoch anders aus.

In den USA wuchs das BIP von 2000 bis 2010 um 2,2 Billionen Dollar, die Staatsschulden dagegen um 6,7 Billionen Dollar. Und in den EU-Staaten standen in dieser Zeit dem BIP-Wachstum von 1,9 Billionen Dollar wachsende Staatsschulden von 4,2 Billionen Dollar gegenüber.78 Man kann es auch so formulieren: Ohne weitere Staatsverschuldung (z. B. für Konjunkturprogramme) wären die Wirtschaft der USA und die Europas schon lange geschrumpft statt gewachsen.

Hinter dem Wirtschaftswachstum auf Pump waltet freilich eine prinzipielle Ursache für das Schuldenmachen. Es sei nochmals daran erinnert: Giralgeld ist Schuldgeld: Zur Guthabenmenge besteht systemnotwendig eine nahezu gleich große Menge an Kreditschuld. Die Sektoren Staat, Realindustrie, Finanzindustrie sowie private Haushalte müssen die wachsende Kreditmenge aufnehmen, die als Kehrseite der wachsenden Geldvermögen besteht. Wenn nun einer der Sektoren – z. B. der Staat – seinen Schuldenstand abbaut, werden diese Anteile in die anderen Sektoren der Volkswirtschaft oder ins Ausland übergehen müssen; sie bewirken dann an anderer Stelle einen Schuldenaufbau. Sparen kann also gar nicht zum Abbau der astronomischen Schuldenberge führen, sondern allenfalls zu deren Umverteilung.

Es gibt kein Giralgeldguthaben, das nicht zugleich ein Kredit wäre. Das generelle Schuldenproblem ist demnach nur durch Abbau der Gesamtmenge an Geldvermögen wirklich lösbar. Dabei können die Schuldenberge „prinzipiell nur noch durch Zahlungen aus den ihnen symmetrisch gegenüberstehenden Großvermögen jemals wieder getilgt werden.“79

Aber auch die Mechanik des Schuldgeldprinzips beschreibt das Wesen der Schuldenhybris noch nicht zur Gänze. Denn es ist etwas sehr Grundsätzliches geschehen: Mit der globalen Verschuldung findet erstmals in der Menschheitsgeschichte eine globale zeitliche Entgrenzung statt:

„Die Finanzspekulation importiert die Zukunft in die Gegenwart und beutet sie in der Gegenwart aus. […] Wir befinden uns hier auf einem ganz anderen Planeten als dem unserer Ahnen.“80

Es handelt sich um einen wirklichen Paradigmenwechsel, der die gesamte Gesellschaft erfasst hat. Der Postwachstumsökonom Niko Paech lässt es nicht an Klarheit fehlen: „Um sich nicht mit dem zufriedengeben zu müssen, was kraft eigener Leistungen gegenwärtig erreichbar ist, wird der Vorrat an zukünftigen Möglichkeiten geplündert. Es erfolgt ein Vorgriff auf Leistungen, die noch gar nicht erbracht wurden. Das gegenwärtige Verschuldungssyndrom ist nicht nur ein Gradmesser für Gier und Ungeduld, sondern für organisierte Verantwortungslosigkeit – und zwar im buchstäblichen Sinne: Jene, denen eine Antwort auf die Frage nach den Folgen eines gegenwärtigen Lebens über die Verhältnisse zu geben wäre, leben noch nicht.“81

Doch das in eine surreale Zukunft ausgelagerte Tilgungs-problem holt uns leider in der realen Gegenwart ein: in Form einer riesigen Zinslast, die von der Menge der Kredite (= Vermögen) ausgeht. Die Gesellschaft hat sich auf jenes Schachbrettspiel eingelassen, wo – beginnend mit einem Reiskorn – jeweils auf das nachfolgende Feld die doppelte Menge Körner zu legen ist. Das ging jahrelang ganz leicht. Nun aber stellen wir staunend fest, dass uns die Körner über den Kopf wachsen. Längst sind Nachfolgekredite erforderlich, um überhaupt den Zinsdienst zu schaffen. Abbildung 16 zeigt die Staatsanleihen der USA und anderer überschuldeter Länder Stand 2011. 45 Prozent aller 2010 aufgenommenen Schulden entfielen allein auf die USA.82 Die öffentliche Pro-Kopf-Verschuldung der USA ist größer als die von Griechenland, Portugal, Italien, Irland oder Spanien.83

Staatsanleihen 2011

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Quelle: Bloomberg, RPC, Barclay Capital, Handelsblatt Online 13.7.2011

Klaus Simon 2013

Abb. 16: Staatsanleihen

Schlimmer geht immer: Japan übertraf 2012 das gezeigte Ausmaß der US-Staatsanleihen mit Staatsschuldverschreibungen in Höhe von 948 Billionen Yen, das sind 9.548 Milliarden US-Dollar.84

In Tabelle 3 ist die Staatsverschuldung ausgewählter Länder zusammen mit der Verschuldung aller weiteren Sektoren zu sehen. Nicht nur die Staaten – auch die übrigen Sektoren vieler Volkswirtschaften sind hoffnungslos überschuldet! Doch anders als beim Staat ist bei jenen schwer abschätzbar, welche Gegenwerte den Bruttoschulden gegenüberstehen und wie sich diese innerhalb des Sektors verteilen. Wenn z. B. die privaten Haushalte insgesamt weit mehr Vermögen als Bruttoschulden haben, so sagt das nichts darüber aus, ob nicht dennoch ein Drittel aller Haushalte völlig überschuldet ist. Man sieht eigentlich nur, wie groß das Rad ist, das da gedreht wird. Und man sieht die Tendenz: In fast allen Segmenten nehmen die Schulden zu (am wenigsten noch bei den privaten Haushalten).

Nun könnte man meinen: na und? Die Schulden wachsen und die Vermögen ebenso; das Eine ist doch nur das Spiegelbild des Anderen. Zwar müssen zum Begleichen der immer höheren Schulden immer größere Werte erarbeitet werden, doch dieses Problem besteht ja erst in der Zukunft. Wie anfällig aber gerade diese Konstellation für das Platzen von Spekulationsblasen in der Gegenwart ist, werden wir im nächsten Kapitel sehen.

Brutto-Verschuldung in Prozent des BIP

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Quelle: International Monetary Found, Global Financial Stability Report April 2011, Oct. 2012

Tab. 3: Bruttoschulden nach Sektoren

Falls die Gesellschaft dem Verschuldungsdilemma entkommen möchte, bevor in einem Finanzcrash das Geschehen weltweit außer Kontrolle gerät, stehen theoretisch nur zwei Auswege offen:

Gestaffeltes Abschmelzen der großen Geldvermögen bei gleichzeitigem Abschreiben der entsprechenden Menge Schulden. Dieser Weg wäre der vernünftigste – aber aufgrund der derzeitigen Machtverhältnisse zugleich der unwahrscheinlichste.

Wertverlust aller Geldvermögen durch Inflation (oder eine Zwangsabgabe auf die Nettogeldvermögen aller Bürger) bei gleichzeitiger Entwertung der Schulden. Doch während die Oberschicht mit der Hälfte ihres Geldvermögens noch immer reich bleibt, zerrinnen die Ersparnisse der Mittelschicht: mit allen wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen.

Man darf gespannt sein …

Ein Blick auf das kapitalistische System stimmt nachdenklich. Es zeigen sich offensichtliche Systemmängel. Wie schlimm ist das nun für den Einzelnen? Wie wirkt es sich konkret aus? Diesen Fragen geht das nächste Kapitel nach – und da werden wir bisweilen unseren Augen nicht trauen.