Hier geht es um die folgenden Themen:
Multiple Betreuungssysteme, in diesem Fall Kita, Eltern und Großeltern
Nachfolgeverhalten im Kindesalter
Gestaltung von Übergängen, in diesem Fall das Abholen
Charlie (14 Monate) wurde kurz vor dem elften Lebensmonat in der Kita eingewöhnt. Ihrem Bezugserzieher Benno folgte Charlie, die zu diesem Zeitpunkt schon sicher laufen konnte, alsbald auf Schritt und Tritt. Für Benno ist das Nachfolgeverhalten ein sichtbares Zeichen dafür, dass er als Erzieher zu einer sicheren Basis für Charlie geworden ist. Charlie lässt sich gut von ihm trösten, spielt gerne mit ihm und findet rasch in einen guten, erholsamen Mittagsschlaf. Natürlich ist es an manchen Tagen für Benno durchaus langwieriger und komplizierter, mit Charlie „im Schlepptau“ seiner Tätigkeit nachzugehen. Aber allein zuzulassen, dass Charlie ihm folgt und ihn beobachtet, scheint eine substanziell beruhigende Wirkung auf das Kind zu haben. Charlie ist zufrieden, wenn sie in Bennos Nähe ist und will im Vergleich zu anderen Kindern deutlich weniger getragen werden.
Seit ungefähr drei Wochen verhält sich Charlie jedoch zunehmend anspruchsvoller. Sie folgt Benno weiterhin beharrlich, aber scheint plötzlich mehr zu brauchen. Sie will mehr getragen werden, auf dem Schoß sitzen. Sobald ein anderes Kind die Nähe von Benno braucht, fängt Charlie manchmal bitterlich zu weinen an. Besonders unruhig wird Charlie nach dem Mittagschlaf, wenn das Abholen bevorsteht. Benno kann Charlies Unruhe in gewisser Weise sehr gut nachvollziehen. So ist immer unklar, wer Charlie abholt und wann das Abholen erfolgen wird. Mal wird Charlie sogar schon vor dem Mittagsschlaf abgeholt, manchmal verbringt sie fast den gesamten Nachmittag in der Kita. Diese unklare Abholsituation ist der Tatsache geschuldet, dass mehrere Personen hier Verantwortung übernehmen. Am Dienstag wird Charlie vor dem Mittagschlaf von der Oma mütterlicherseits abgeholt. Am Mittwoch wird Charlie meist von einer anderen Mutter mitabgeholt und zu den Eltern gebracht. An den anderen Tagen übernehmen die Eltern das Abholen – beide im Schichtdienst tätig – oder die Großeltern väterlicherseits. Haben die Eltern in den ersten Wochen bei Benno noch auf eine gewisse Routine geachtet, so scheint die Abholsituation von Woche zu Woche komplizierter zu werden. Benno mag beide Elternteile und hat zu beiden eine gute Beziehung aufgebaut. Dennoch spürt er zunehmend mehr Ärger in sich aufsteigen, dass das Abholen – aus seiner Sicht ein wichtiger Übergang für Kinder – so „flexibel“ gestaltet wird.
Im Rahmen eines gemeinsamen Gesprächs geht Benno auf die aktuelle Situation ein. Er beschreibt Charlies verändertes Bindungsverhalten sowie ihre gesteigerte Unruhe im Rahmen der Abholsituation. Beide Elternteile reagieren verständnisvoll und auch ein wenig beschämt. Es ist offensichtlich, dass sie diese Situation selbst als wenig ideal einschätzten. Die Großeltern sind allesamt noch berufstätig, und die eigene Schichtarbeit erschwert die Situation für die Eltern zusätzlich. Als Erstes wird verbindlich festgelegt, dass Charlie grundsätzlich nach dem Mittagsschlaf abgeholt wird. Des Weiteren versprechen die Eltern, für jeden Monat einen Abholplan zu erstellen. Dieser Plan soll helfen, das Abholen möglichst ähnlich aufeinander abzustimmen und zudem Benno darüber informieren, wie eine Woche ablaufen wird.
Dieses Vorgehen zeigt bald eine positive Wirkung. Benno kann Charlies Unruhe sehr viel besser regulieren, wenn er selbst mehr Klarheit darüber hat, wann das Abholen stattfinden wird. Anstatt Charlie mit ungewissen Versprechungen zu trösten, dass Oma, Mama oder Papa sicherlich bald da sein werden, kann Benno nun viel klarer eine Tagesstruktur für sich und Charlie erarbeiten. Ist das Kind lange in der Kita, so plant er gezielt eine Einzelbeschäftigung für Charlie ein oder geht sogar allein mit ihr in den Garten – auch wenn die anderen Kinder zu diesem Zeitpunkt schon abgeholt wurden. Wenn klar ist, dass das Abholen unmittelbar bevorsteht, trägt er Charlie viel oder versucht auf anderem Weg, in naher Verbindung zu bleiben. Außerdem führt Benno mit den abholenden Personen jeweils ein kurzes „Coaching-Gespräch“, verbunden mit dem Ziel, diesen Übergang möglichst einheitlich zu gestalten. Sehr bald verläuft die Situation nun viel ruhiger und strukturierter.
Die Veränderung des äußeren Rahmens, die Schaffung von verlässlichen Strukturen, haben positive Effekte auf Charlies Verhalten. Sehr bald ist sie ruhiger und fröhlicher. Sie folgt Benno inzwischen auch weniger intensiv und findet immer öfter in ruhige, vertiefte Spielsituationen.
Co-Regulation
Bei der sogenannten Co-Regulation übernimmt eine erwachsene Bezugsperson bewusst die Verantwortung für die emotionale Verfasstheit des Kindes. Sie verbietet Emotionen nicht, spiegelt diese dem Kind angemessen und unterstützt aktiv dabei, dass Gefühle als aushaltbar sowie veränderbar erlebt werden. Mehr dazu › Kapitel 3.3