Ein Kind zu erziehen – oder besser gesagt: auf seinem individuellen Entwicklungsweg zu begleiten – ist eine beglückende und ebenso umfassende Aufgabe. Bindungs- und Bezugspersonen, die Wissen erworben haben über die kognitiv-emotionale Entwicklung von Kindern, fällt es in aller Regel leichter, sich angemessen – und das heißt entwicklungsgerecht – auf die Perspektive des Kindes einzulassen. Genau das aber ist die Voraussetzung, um günstige Bedingungen für ein Kind zu schaffen – in einer Lebensphase, in der kontinuierlich Entwicklung stattfindet, wobei innere Reifung nach außen hin nicht per se sichtbar wird.
Im Folgenden steht die Entwicklungspsychologie der frühen Kindheit im Fokus. Anhand ausgewählter Befunde geht es um die kognitive sowie die sozio-emotionale Entwicklung des Kindes. Da sich Kinder nicht losgelöst von ihren Bindungspersonen entwickeln und all diese Prozesse eingebettet sind in eine Umwelt, die vom Verhalten der Bezugspersonen geprägt ist, sind Thema des zweiten Teils dieses Kapitels Erkenntnisse aus der Bindungstheorie und -forschung.
Das Säuglings- und frühe Kleinkindalter ist davon geprägt, dass Kinder sich als Mittelpunkt der Welt wahrnehmen. Veränderungen im Denken, Fühlen sowie Handeln werden erst durch Reifungsprozesse im kindlichen Gehirn möglich. Meilensteine in der kindlichen Entwicklung sind dabei die reifende Selbsterkenntnis sowie die Fähigkeit zur Perspektivübernahme – dies wird auch als kognitive Wende bezeichnet. Warum nehmen Kinder zunächst die eindimensionale Ich-Perspektive ein? Wie verändert sich das mit dem Erwerb von Empathie sowie Theory of mind?
Kleine Kinder rücken ihre eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt. Bei Entscheidungen scheint es meist um ihren Vorteil zu gehen. Es fällt ihnen schwer, sich von eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu distanzieren. Dies führt automatisch zu Konflikten mit anderen kleinen Mitmenschen und ebenso mit den Erwachsenen. Ein Kind vor dem vierten Geburtstag kann lediglich punktuell sowie rudimentär Einsichten darüber entwickeln, was sein Verhalten bei anderen – möglicherweise – auslöst. Ebenso wenig kann ein junges Kind darüber reflektieren, dass die Erwachsenen ihr Verhalten in aller Regel an der Fürsorgepflicht orientieren. Dass seine Wutausbrüche bei notwendigen Tätigkeiten wie dem Anziehen der Matschhose oder der Socken, dem Wechsel der Windel, für die Bezugsperson herausfordernd in der Begleitung sind, hat in der Welt des kleinen Kindes keinerlei Bedeutung. Es ist nicht relevant für das Kind, da es (noch) kein kognitiv begründetes Verstehen gibt. Die Bereitschaft, mit der Bezugsperson vielleicht schließlich doch zu kooperieren, ist rein emotional begründet: Natürlich ist das kleine Kind in hohem Maß von seinen Bezugspersonen abhängig und sucht schon deshalb beständig ihre Nähe auf.
Kindlicher Egozentrismus
Die Bezogenheit auf das Selbst und die eigenen Wünsche, bei gleichzeitiger Unfähigkeit, sich kognitiv in die Perspektive des Gegenübers hineinzuversetzen.
Erwachsene agieren anders als Kinder, denn ihr Gehirn ist so weit gereift, dass es ihnen kognitiv möglich ist, die Perspektive von anderen einzunehmen. Theory of mind wird dieser Prozess in der Entwicklungspsychologie genannt. Das bewusste Nachdenken darüber, was andere denken und fühlen könnten, funktioniert also nicht voraussetzungslos, sondern ist der Effekt hirnphysiologischer Reifungsprozesse, die etwa im Alter von vier Jahren beginnen. Insbesondere eine gute Vernetzung des dorsomedialen präfrontalen Cortex schafft die physiologische Voraussetzung dafür, dass Perspektivübernahme, das Verstehen auch komplexerer sozialer Situationen sowie das differenzierte Sprechen darüber, möglich werden. Bei manchen Kindern finden diese Reifungsprozesse etwas später mit ungefähr fünf Jahren statt (Strüber 2019). Nun versteht ein Kind erstmals, dass die eigene Perspektive nicht zwangsläufig der Maßstab aller Dinge ist und sich Menschen in ihren Meinungen, Absichten und Wünschen deutlich voneinander unterscheiden können (Bischof-Köhler 2011, Haug-Schnabel & Bensel 2017).
Theory of mind
Meilenstein in der kindlichen Entwicklung. Mit ungefähr vier Jahren gelingt es Kindern zunehmend besser, ihren eigenen Standpunkt zu reflektieren und sich davon zu distanzieren. Das Kind kann sich nun in die Perspektive des Gegenübers, in dessen Gedankenwelt, hineinversetzen und versteht nun erstmals, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt, die durchaus nebeneinander existieren können.
Ist dieser Reifungsprozess abgeschlossen, verringert sich kindlicher Egozentrismus im Denken und Fühlen. Der eigene Standpunkt relativiert sich. Rigide Verhaltensweisen nehmen meist ab, gleichzeitig ist eine größere Flexibilität und Lösungsorientierung im Denken und Handeln zu beobachten. Allerdings sind diese Fähigkeiten durchaus noch Schwankungen unterworfen. Das Verhalten ist keineswegs konsistent, sondern variiert: Starke Empfindungen auf emotionaler sowie physischer Ebene – wie beispielsweise Hunger, Müdigkeit, Wut oder Traurigkeit – führen das Kindergartenkind rasch wieder auf die eindimensionale Ich-Perspektive zurück.
Das Wissen darüber, dass Säuglinge sowie junge Kleinkinder noch nicht über die Fähigkeit zur Perspektivübernahme verfügen können, fördert das Verständnis für diese Altersgruppe extrem und reduziert Erwartungen. Innere Reifungsprozesse können nicht beschleunigt werden. Allerdings können erwachsene Bezugspersonen positiv auf die Entwicklung der Fähigkeit zur Perspektivübernehme, der Theory of mind, einwirken, indem sie die Perspektive des anderen – stellvertretend – für das Kind benennen und somit sichtbar machen.
• Wenn du sehr laut mit den Klötzen spielst, dann hält sich Lukas die Ohren zu. Was denkst du, wie fühlt sich Lukas gerade?
• Du möchtest jetzt noch ein Eis. Wir haben nach dem Mittagessen schon ein Eis gegessen. Hast du eine Idee, warum ich gegen ein weiteres Eis bin?
• Wir gehen jetzt alle zusammen zum Spielplatz. Es ist wichtig, dass du in meiner Nähe bleibst und deshalb nehme ich deine Hand. Was denkst du, warum möchte ich gut auf dich aufpassen?
Diese Fragen sind wichtig, damit im Inneren des Kindes kontinuierlich ein Nachdenken über die Position des anderen angestoßen wird. Zugleich ist es wichtig, dass Kinder nicht beschämt werden, wenn sie ihre kindliche Perspektive darlegen und sich zeigt, dass für die Entwicklung entsprechender Einsichten noch viel innere Reifung notwendig sein wird und ein Kind sich damit aktuell noch schwertut.
Das Nachdenken über die Perspektive des Gegenübers und das damit möglich werdende Verstehen der mentalen Zustände von anderen – deren Absichten, Wünschen und Erwartungen – sind kognitiv gesteuerte Bewusstseinsvorgänge im menschlichen Gehirn. Natürlich löst dies Empfindungen in der nachdenkenden Person aus wie beispielsweise Mitgefühl, Traurigkeit oder Ärger. Und ebenso ist die grundlegende Motivation, über die Situation des anderen nachzudenken, oftmals emotional begründet. Was ist also zuerst da – Emotion oder kühler Verstand?
In der wissenschaftlichen Forschung ebenso wie in populärwissenschaftlichen Publikationen gibt es vielfältige Bestrebungen, sozioemotionale Entwicklungsprozesse im Kindesalter möglichst genau zu beschreiben. Eine trennscharfe Abgrenzung von fühlender Empathie und rein kognitiver Bewertung – die sogenannte Perspektivübernahme – ist dabei stets eine Herausforderung, da sich Entwicklungsprozesse hier gegenseitig bedingen und voraussetzen.
Um ein umfassenderes Bild davon zu gewinnen, was „sozio-emotionale Entwicklung“ bedeutet, ist es notwendig, sich den grundlegenden Voraussetzungen im Kleinkindalter zuzuwenden: Um den achtzehnten Lebensmonat herum setzt die Selbsterkenntnis ein. Diese sogenannte „kognitive Wende“ führt dazu, dass sich das kleine Kind erstmals selbst im Spiegel erkennt und für sich begreift: „Das bin ja ich!“ Das reifende Verständnis von sich selbst als eigenständigem Individuum befähigt bereits Kleinkinder, sich grundsätzlich prosozial zu verhalten: Sie reagieren beispielsweise wachsam oder sogar betroffen auf den Kummer eines anderen Kindes. Sie machen eine erwachsene Bezugsperson darauf aufmerksam, bieten dem traurigen Kind ein Spielzeug an oder beobachten interessiert die Situation und verbleiben in der Nähe des Kindes (Bischof-Köhler 2011).
Allerdings ist die Entwicklung von prosozialem Verhalten ein komplexer Prozess, der sich nicht auf die beginnende Selbsterkenntnis reduzieren lässt. Eine differenzierte Betrachtung sowie Definition von Begrifflichkeiten sind in diesem Zusammenhang wichtig. Auf diese Weise kann prosoziales Verhalten in seiner Komplexität verstanden werden:
• Empathie bedeutet Einfühlungsvermögen und beinhaltet stets eine eigene emotionale Reaktion auf die Lage oder den Gefühlszustand des anderen. Eine empathische Reaktion setzt immer ein grundlegendes Verstehen der Gefühlswelt von anderen Menschen voraus (Siegler et al. 2016).
• Eine starke innere Gefühlsaktivierung und das Erleben von negativen Gefühlen werden mit dem emphatischen Leid in Verbindung gebracht. Die innere Betroffenheit erschwert ruhige Gelassenheit, wovon das Gegenüber jedoch am meisten profitieren würde (Strüber 2019).
• Mitgefühl dagegen fördert die kompetente Unterstützung anderer Personen. Es steigert die Motivation, sich für andere zu engagieren und sich für verbesserte Bedingungen einzusetzen.
Die in diesem Zusammenhang vielfach diskutierten Spiegelneuronen sind sehr wahrscheinlich lediglich bei der Aktivierung von emphatischem Leid bedeutsam.
Eine einfühlsame Begleitung unterstützt Kinder im Aufbau entsprechender Kompetenzen. Eine gefühlskalte Kindheit, geprägt von Desinteresse und Vernachlässigung, kann die Entwicklung von Mitgefühl dagegen erschweren.
Auch genetische Dispositionen tragen dazu bei, ob sich Menschen prosozial, gehemmt oder emotional kühl gegenüber anderen verhalten (Strüber 2019). Folglich kommt es hier zu einem komplexen Zusammenspiel von Umwelterfahrungen, von elterlichem Erziehungs- und Beziehungsverhalten sowie kindlichen Temperamentsmerkmalen.
Kinder, die ihre eigenen Gefühle verstehen, sind besonders stark im Zeigen von kompetentem Mitgefühl. Wenn persönliche Gefühlszustände differenziert erlebt und benannt werden können, so hilft dies in der Einordnung sowie bei der Bewältigung. Gefühle werden auf diese Weise als wertvoll und beachtenswert internalisiert. Zugleich wird eine differenzierte Betrachtungsweise möglich: Eigene Gefühle werden als getrennt von denen anderer erlebt. Dies führt dazu, dass Kindern im Laufe ihrer Entwicklung immer deutlicher bewusst wird, dass ihr emotionales Erleben von anderen nicht geteilt werden muss. Andere Personen können dieselbe Situation völlig anders interpretieren. Emotional kompetente Kinder nehmen bereitwillig die Position von anderen ein – was rein kognitiv erfolgt. Dies befähigt sie jedoch dazu, anderen einfühlsam sowie unterstützend zu begegnen (Siegler et al. 2016).
Von Anfang an entwickelt sich ein enger Kontakt zwischen den betreuenden Bezugspersonen und dem Säugling. Es entsteht eine Bindung zwischen den Eltern und ihrem Kind, ebenso wie zwischen dem Kind und allen weiteren Menschen, die sich regelmäßig in die Betreuung einbringen. Wie oben beschrieben, nehmen sich Kinder im Alter von ungefähr 18 Lebensmonaten als von ihren Eltern getrennte Individuen wahr und es entsteht eine Bindungsbeziehung. Warum Kinder von einer sicheren Bindung profitieren und wie unsichere Bindungsmuster entstehen, soll im Folgenden erläutert werden. In diesem Zusammenhang sind neurowissenschaftliche Erkenntnisse hilfreich, um die kindliche Bindungsentwicklung zu verstehen.
Der Begründer der Bindungstheorie, der Psychoanalytiker, Kinderarzt und -psychiater John Bowlby (1907–1990), stellte den in den 1940er-Jahren üblichen Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern fundamental infrage. Säuglinge nach der Geburt von ihren Müttern zu trennen war damals gängige Praxis. Bowlby gründete eine eigene Forschungsgruppe, die ab 1948 die Erforschung frühkindlicher Trennungserfahrungen in den Mittelpunkt rückte.
Sichere Basis
Von Bowlby entwickelte Begrifflichkeit. Erst die Anwesenheit einer vertrauten Bindungsperson ermöglicht dem Säugling und späteren Kleinkind angstfreies Erkundungsverhalten. Eine zuverlässige, einfühlsame Bindungsperson ist die Grundvoraussetzung dafür, dass ein Kind das sogenannte Urvertrauen in sich und andere entwickelt. Damit ist gemeint, dass ein Kind in sich ein tiefes Vertrauen trägt, dass es mit seinen Sorgen, Ängsten und Nöten nicht alleine gelassen wird und auf eine ermutigende sowie unterstützende Umwelt trifft.
Ab 1951 erweiterte Bowlby den Fokus seiner Untersuchungen, da er Bindung nun als Prägungsprozess verstand: Kinder sind mit einem reichhaltigen Repertoire an angeborenen Bindungsverhaltensweisen ausgestattet. Weinen, schreien, anklammern, nachlaufen sowie nachkrabbeln, anlächeln sind Ausdrucksformen von kindlichem Bindungsverhalten. Dieses Verhalten aktiviert bei den erwachsenen Bindungs- und Bezugspersonen in aller Regel deren Fürsorgesystem. Ein kleines Kind bindet sich folglich an eine Person, die älter, reifer und selbstständiger als es selbst ist.
Bowlby unterschied verschiedene Phasen der Bindungsentwicklung:
• In der Vorphase der Bindung – Geburt bis sechs Wochen später – drückt der Säuglinge Instinktverhalten aus. Das Baby weint und „ruft“ in diesen ersten Interaktionen nach seinen Eltern.
• Die entstehende Bindung zeigt sich im Anschluss daran bis zum ungefähr achten Lebensmonat. Ein Kind bevorzugt nun deutlich seine primäre Bindungsperson. Ab ungefähr dem neunten Lebensmonat wird die ausgeprägte Bindung sichtbar. Die Bindungsperson wird freudig begrüßt und bevorzugt. Das Kind zeigt eine sichtbare emotionale Beunruhigung oder auch Trennungsangst, wenn diese nicht mehr auffindbar ist. Trennungsleid kann jedoch von einer anderen zentralen Bindungsperson abgemildert und reguliert werden.
• Die sich anschließende Phase ist von einem reziproken Beziehungsverhalten gekennzeichnet und kann als überdauernd betrachtet werden. Ein Kind bevorzugt seine Bindungspersonen dauerhaft sowie offensichtlich.
Die reifende Entwicklung des Kindes ermöglicht ihm mit jedem weiteren Lebensjahr jedoch auch ein besseres Verstehen der elterlichen Perspektive, was heutzutage mit der Theory of mind in Verbindung gebracht wird. Das Kind kann sich sprachlich immer besser ausdrücken und nun ein Gespräch mit den Eltern führen. Es kann aufgrund gereifter motorischer Fähigkeiten meist rasch die Nähe der Eltern aufsuchen, sich aber ebenso selbstbestimmt von diesen entfernen. All dies unterstützt den Aufbau einer wechselseitig gesteuerten Beziehung und verringert im kindlichen Erleben maßgeblich das Erleben von Trennungsangst.
Eine intensive, überdauernde Beziehung zwischen zwei Individuen wird als Bindungsbeziehung bezeichnet. Diese Form von Beziehung existiert zwischen Erwachsenen und kennzeichnet ebenso die Eltern-Kind-Beziehung.
Die Grundannahmen Bowlbys wurden in zahlreichen Publikationen aufgegriffen und weiterentwickelt. Basierend hierauf hat sich ein Bild vom Kind entwickelt, das Bindung zum Überleben braucht und ebenso nach Autonomie strebt. Dies ist kein Widerspruch, sondern ermöglicht vielmehr eine ganzheitliche Betrachtungsweise von Kindheit.
Auslösende Faktoren für eine Aktivierung von kindlichem Bindungsverhalten sind Angst, Gefahren, Schmerzen, aber auch Müdigkeit, Hunger, Frustration und Kummer. Alle Kinder erleben Momente von emotionaler Beunruhigung und Angst, sodass der Wunsch nach selbstständigem Erkundungsverhalten, auch als Exploration benannt, rapide abnimmt. Die Aktivierung des kindlichen Bindungssystems führt dazu, dass ein Kind entweder nach einer Bindungsperson ruft oder deren Nähe von sich aus aktiv aufsucht. Zum Kreis von Bindungspersonen im Kindesalter gehören Eltern, Großeltern, weitere Verwandte und pädagogische Fachkräfte.
Das Verhalten von Kleinkindern ist geprägt von einem Wechselspiel von Bindungs- und Autonomieverhalten. Kinder zeigen nicht beständig Bindungsverhalten, aber ebenso wenig können Kinder ausschließlich selbstständiges Spiel- und Explorationsverhalten praktizieren. Ist das kindliche Bindungssystem beruhigt, so hat dies zunächst damit zu tun, dass elementare Bindungserfahrungen in der frühen Säuglingsphase den Prozess des beginnenden Urvertrauens initiierten. Andauernde, verlässliche Beziehungserfahrungen stoßen die kindliche Autonomieentwicklung von sich aus an und ermöglichen eine angstfreie Erkundung der Umwelt. Die Bindungs- und Bezugspersonen sind dann zu einer sicheren Basis geworden.
Das einfühlsame Eingehen auf kindliches Bindungsverhalten ist kategorisch von einer Überbehütung abzugrenzen und hat rein gar nicht mit einem verwöhnenden Erziehungsstil zu tun. Vielmehr geht es darum, dass sich im Kind ein sicherheitsspendendes Bild von Bezugspersonen stetig verinnerlicht und festigt. Im Lauf seiner Kindheit kann ein Kind dann immer mehr auf dieses innere Bild – die mentale Repräsentation – zurückgreifen und dadurch selbstregulative Fähigkeiten ausbilden.
Die Autonomiephase
Das meist enge Bindungsband zwischen Eltern und Kind wird durch das Voranschreiten von reifenden motorischen Fähigkeiten des kleinen Kindes etwas gelockert. Dies beginnt mit dem Krabbelalter und setzt sich durch das freie Laufen fort. Das Kind kann nun in eine selbst gewählte Distanz zur Bindungsperson gehen und toleriert dies oftmals besser als eine von Seiten der erwachsenen Bezugsperson initiierte Trennung. Der kindliche Radius erweitert sich beständig. Die noch zarte, jedoch gereifte innere Vorstellungskraft von sich selbst als einem Individuum steigert den kindlichen Wunsch nach Selbstständigkeit und Erkundungsverhalten mit achtzehn Monaten erheblich. Viele Kinder verhalten sich nun widersprüchlich. Sie möchten vieles alleine tun und entscheiden, was den Beginn der Autonomiephase markiert. Der hohe Autonomieanspruch kann jedoch nicht dauerhaft aufrechterhalten werden. Ein Kleinkind ist nach wie vor extrem abhängig von seiner Umwelt und benötigt die Fürsorge von erwachsenen Bezugspersonen. Eltern oder die Fachkraft in der Kindertagesstätte sind dann idealerweise zu einer sicheren Basis für das Kind geworden und können ein aktiviertes Bindungssystem im Kleinkinderalter rasch und nachhaltig beruhigen.
Dass verschiedene Bindungsstile und -qualitäten wissenschaftlich erforscht sind, haben wir Mary Ainsworth, einer Mitarbeiterin von John Bowlbys Forschungsgruppe, zu verdanken. Sie entwickelte aus der Beobachtung von Müttern und ihren Kindern (zwischen 12 und 18 Monaten) ein Klassifikationssystem, das drei Bindungstypen unterscheidet: sicher gebundene Kinder, unsicher gebundene Kinder sowie noch nicht gebundene Kinder, die bislang kein spezifisches Bindungsverhalten ausgebildet haben.
Exkurs: Ein fast vergessener Pionier der Bindungsforschung
Dass die Bindungstheorie von John Bowlby und Mary Ainsworth entwickelt werden konnte, verdankt sich ganz maßgeblich den Feldbeobachtungen eines Mannes: Der Schotte James Robertson hatte im Zweiten Weltkrieg den Militärdienst verweigert und als Hausmeister in Anna Freuds Kinderheimen gearbeitet. Obwohl als Hausmeister angestellt, schulte er in dieser Zeit seinen Blick für kindliches Verhalten und insbesondere Auffälligkeiten in der kindlichen Entwicklung. Nach Kriegsende ließ er sich bei Anna Freud als Psychoanalytiker ausbilden und erhielt von John Bowlby und Mary Ainsworth den Auftrag, Kleinkinder in Krankenhäusern zu beobachten, die vorübergehend von ihren Eltern getrennt waren. Robertson war von dem Unglück, das er bei den jüngsten Kindern auf den Kinderstationen sah, schockiert. Er setzte erstmals Filmaufnahmen ein, um die Situation jener Kinder zu dokumentieren. Sein Film „A two-years-old goes to hospital” und seine akribischen Beobachtungen legten den Grundstein für die wissenschaftliche Erforschung von Bindung, basierend auf der Beobachtung von kindlichem Interaktionsverhalten.
Experimenteller Ausgangspunkt von Ainsworth’ Untersuchung war die sogenannte Fremde Situation bzw. der Fremde-Situation-Test, eine Versuchsanordnung, die Bowlbys Theorie vom kindlichen Bindungs- und Explorationsverhalten in einer standardisierten, zugleich aber „natürlichen“ Situation beobachtbar macht. Die Untersuchung kann nur von geschulten Fachpersonen durchgeführt werden.
Die Fremde Situation / Der Fremde-Situation-Test (FST)
Das Kind betritt mit der vertrauten Bezugsperson einen ihm unbekannten Raum und wird dabei gefilmt. Kurze Zeit später kommt eine fremde Person hinzu. Diese beginnt ein Gespräch mit der Bezugsperson. Nun kommt es zur ersten Trennung: Die Bezugsperson verabschiedet sich und lässt das Kind – auch wenn es intensiven Trennungsprotest zeigt – für wenige Minuten alleine mit der fremden Person in der Fremden Situation zurück. Wirkt das Kind belastet, so wird die Trennungszeit verkürzt. Kehrt die Bindungsperson zurück, so ist von großer Bedeutung, wie das Kind auf ihre Wiederkehr reagiert. Im Anschluss an die Wiedervereinigung kommt es zur zweiten Trennung: Die Bindungsperson geht erneut – nun ist das Kind allein im Zimmer. Nach kurzer Zeit kehrt zunächst die fremde Person zurück. Hier ist u.a. von Interesse, ob diese das Kind trösten kann. Mit der zweiten Wiedervereinigung endet die Untersuchung. Die einzelnen Untersuchungsetappen dauern ungefähr drei Minuten.
Die beobachteten Unterschiede im kindlichen Bindungs- und Explorationsverhalten klassifizierte Ainsworth in drei Bindungstypen oder -qualitäten:
Jene Kinder zeigen im Rahmen der Fremden Situation weder Trennungsprotest noch Wiedersehensfreude. Dies ist jedoch kein Zeichen einer vorangeschrittenen inneren Reifung. Die Fremde Situation ist immer eine bindungsrelevante Situation, da es zu Trennungssituationen kommt und das Kind in einer fremden Umgebung zurückgelassen wird. Alle Kleinkinder reagieren darauf mit physiologischen Veränderungen, indem Puls- und Herzfrequenz ansteigen.
Von Seiten der Eltern findet wenig Kontaktaufnahme statt. Statt einer herzlichen Begrüßung nimmt der Elternteil wieder den gewohnten Platz auf seinem Stuhl ein. Der sprachliche Austausch ist limitiert und es findet wenig Blickkontakt statt. Interessanterweise nehmen Kleinkinder dann bevorzugt Blickkontakt auf, wenn die Bindungsperson offensichtlich in eine andere Tätigkeit vertieft ist.
Auch bindungsvermeidende Eltern beantworten natürlich von Zeit zu Zeit Bindungsverhalten und sind nicht immer zurückweisend. Ebenso wenig können unsicher gebundene Kinder immer nur ihre Unabhängigkeit unter Beweis stellen und wenden sich hilfesuchend an ihre Eltern. Sie machen jedoch beständig die Erfahrung, dass ihr Bindungswunsch selten beantwortet wird oder sogar zu Unmut bei den Erwachsenen führt. Das einfühlsame Eingehen auf kindliches Bindungsverhalten wird nicht als lohnenswerte Investition in eine tragfähige Eltern-Kind-Beziehung erachtet. Vielmehr findet eine Erziehung zur Autonomie und frühen Selbstständigkeit statt.
Kleinkinder, die in einer bindungsrelevanten Situation kein sichtbares Bindungsverhalten zeigen, weisen häufig ein expressives, rastloses Spielverhalten auf. Auf diese Weise wirken sie zunächst selbstbewusst. Bei feinfühliger Beobachtung zeigt ist, dass das gesteigerte Explorationsverhalten eine konzentrierte Spielsituationen verunmöglicht. Ein Spielzeug nach dem nächsten wird lustlos ergriffen und fallengelassen. Übersteigertes Explorationsverhalten ist ein kindlicher Lösungsversuch, die innere Anspannung zu regulieren, da die sichere Basis – eine feinfühlige Bindungsperson – fehlt.
In der Fremden Situation ereignen sich dramatische Abschiedssituationen. Die Kinder reagieren sehr missgestimmt auf den Weggang der Bindungsperson. Sie können jedoch ebenso wenig von dieser beruhigt werden, was fröhliches Erkundungsverhalten verunmöglicht. Am Ende der Fremden Situation wirken Bindungsperson und Kind sichtlich erschöpft.
Jene Kinder explorieren auch in anderen Situationen wenig bis kaum. Sie bleiben beständig in der Nähe des anwesenden Elternteils. Dieser wiederum beantwortet das gesteigerte Bindungsverhalten ambivalent. So gelingt es in verschiedenen Situationen, durchaus einfühlsam auf das Kind und dessen Befinden einzugehen. Es gelingt jedoch – dies ist das entscheidende Kriterium – nicht konsistent. Dies führt beim Kind zu einer gesteigerten inneren Erregung. Ein hochaktiviertes Bindungssystem verringert automatisch das Spielverhalten. Entscheidend wäre nun – als sichere Basis –, das kindliche Bindungssystem nachhaltig zu beruhigen. Diese Entwicklung glückt jedoch nicht. Stattdessen sind Kind und Bindungsperson in beständiger Kommunikation, die jedoch ebenso beständig missglückt. Das Kind fühlt sich frustriert in seinem Wunsch nach Sicherheit. Die Bindungsperson wiederum fühlt sich wenig kompetent darin, das Kind ausreichend zu beruhigen, was zu Selbstzweifeln und Erschöpfung führt.
Sicher gebundene Kleinkinder können in der Fremden Situation intensiven Trennungsprotest zeigen. Sie zeigen stets Wiedersehensfreude und Erleichterung, wenn ihre Bindungsperson zurückkommt. Sie drücken eindeutiges Bindungsverhalten aus.
Die Bindungsperson, dies ist das entscheidende Kriterium, kann das Kind rasch, einfühlsam und nachhaltig beruhigen. Dies wiederum führt dazu, dass das Kind wieder selbstständig zu spielen beginnt oder lieber auf dem Schoß der Bindungsperson zufrieden ein Bilderbuch betrachtet. Das entscheidende Kriterium ist somit nicht das selbstständige Spielen, sondern die effektive Beruhigung des kindlichen Bindungssystems.
Diese Kinder zeigen auch in anderen Situationen ein angemessenes Wechselspiel von Bindungs- und Explorationsverhalten. Die Bindungsperson tut zugleich nichts Überflüssiges. Vielmehr erfreut sie sich an der reifenden Selbstständigkeit des Kindes. Sie bietet dem Kind jederzeit Hilfe und Unterstützung an, wenn das Kind danach verlangt oder wenn Situationen dies erfordern. Die sichere Bindung ist somit von einem überbehütenden Elternverhalten eindeutig abzugrenzen.
Die Qualität der Bindungsbeziehung basiert auf den Verhaltensweisen der Erwachsenen und liegt somit nicht in kindlicher Verantwortung. Entscheidend ist dabei die sogenannte Feinfühligkeit. Diese ist sehr entscheidend dafür, welches Bindungsmuster sich dauerhaft etablieren wird. Eine feinfühlige Bezugsperson ist dabei sehr gut in der Lage, eigene Emotionen von kindlichen Gefühlszuständen zu trennen. Sie reagiert dann eben nicht kalt und abweisend oder übermäßig bestürzt, wenn das ihr anvertraute Kind Bindungsverhalten zeigt oder nach Autonomie strebt. Einer feinfühligen Person ist es stets ein großes Bedürfnis, ein Kind ganzheitlich zu verstehen. Auf diese Weise gelingt der Prozess der sogenannten Mentalisierung: Die Sinnhaftigkeit des kindlichen Verhaltens, basierend auf psychischen Zuständen, wird erfasst, verstanden sowie adäquat beantwortet.
Die Fremde Situation ist ein robustes Testverfahren, das bis heute eingesetzt wird, um Bindung zu messen. So überwiegt – glücklicherweise – der Anteil des sicheren Bindungsstils mit ungefähr 60 bis 52 Prozent bei Kindern unter 24 Monaten. Etwa neun bis 18 Prozent weisen unsicher-ambivalentes Bindungsverhalten auf und 15 bis 24 Prozent sind unsicher-vermeidend gebunden (Brisch 2022, Siegler et al. 2016). Tatsächlich ist das Verhalten von Kleinkindern in der Fremden Situation auch im Kulturvergleich identisch, was wiederum Bowlbys Hypothese des angeborenen Bindungsverhaltenssystems untermauert: Sich an eine Fürsorgeperson möglichst sicher zu binden, erhöht die Überlebens- sowie Entwicklungschancen deutlich. Ein Kind kann außerdem unsicher-ambivalent an einen Elternteil, jedoch sicher an den anderen Elternteil gebunden sein. Ebenso ist es möglich, dass ein Kind im Alltag mit einer pädagogischen Fachkraft Bindungssicherheit erlebt und dies idealerweise auch in seinem Elternhaus der Fall ist. Bindungsvielfalt ist somit empirisch nachgewiesen. Es verdeutlicht erneut, dass nicht das Kind mit seinem Verhalten zu einer bestimmten Bindungsqualität führt, sondern die Erwachsenen dafür die Verantwortung zu tragen haben.
Sicher gebundene Kinder erhalten eine zugewandte, liebevolle Erziehung. Dass Bindungssicherheit eine überdauernd schützende Wirkung hat, konnte die entwicklungspsychologische Forschung unlängst nachweisen (Brisch 2022, Siegler et al. 2016, Strüber 2021). Eine sichere Bindung zu mindestens einem Elternteil bzw. einer Bezugsperson ist mit positiven Effekten für die kindliche Entwicklung assoziiert. Wenn sichere Bindungserfahrungen darüber hinaus mit zwei oder sogar mehr Personen für ein Kind möglich werden, so scheint dies noch entwicklungsförderlicher zu sein.
Ist ein Kind unsicher an beide Elternteile gebunden, so erhöht dies wiederum die Wahrscheinlichkeit von problematischen Verhaltensweisen. Jene Kinder werden als weniger umgänglich, einlenkend und sozial kompetent erlebt, weisen ein schlechteres Emotionsverständnis auf und verhalten sich tendenziell feindseliger.
Kinder mit einer sicheren Bindungsentwicklung können Emotionen besser artikulieren, verstehen und angemessen ausdrücken. Dies hat mit der unmittelbaren Reaktion der Eltern zu tun, die kindliche Bedürfnisse feinfühlig beantworten und vermeidbare Zustände von emotionaler Beunruhigung und körperlichem Unwohlsein rasch abmildern. Dass die innere Gefühlswelt bedeutsam und zugleich regulierbar ist, wird dadurch zu einer wichtigen Kindheitserfahrung.
Problemverhalten, internalisierend und externalisierend
Mit externalisierendem Problemverhalten ist problematisches Sozialverhalten gemeint wie Aggression, emotionale Ausbrüche sowie fehlende Impulskontrolle und Delinquenz. Ein solches Verhalten wird von der Umwelt rasch als problematisch erkannt. Nach innen gerichtetes, internalisierendes Problemverhalten bleibt oftmals länger unbemerkt – dabei sind die Folgen von sozialer Unsicherheit und Rückzug sowie die Entwicklung von depressivem, ängstlichem Verhalten ebenso risikoreich für die Ausbildung von manifesten Störungsbildern im Kindes- und Jugendalter.
Die Vorteile der sicheren Bindung zeigen sich in weiteren Entwicklungsbereichen. Bindungssichere Kinder weisen weniger internalisierendes Problemverhalten auf: Sie sind weniger misstrauisch, ängstlich oder depressiv. Sie erfahren mehr Anerkennung bei ihren Peers und werden als hilfsbereit und stressresistent erlebt. Sie weisen auch weniger externalisierendes Problemverhalten auf wie beispielsweise aggressives oder sogar delinquentes Verhalten. Sichere Bindungserfahrungen stoßen auf diese Weise die wünschenswerte Autonomieentwicklung von selbst an und haben folglich eine protektive Wirkung auf die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit.
Unsicher gebunden ist keine Pathologie
Unsicher gebunden zu sein ist kategorisch von einer Bindungsstörung abzugrenzen. Es bedeutet, dass die Bindungsperson in geringerem Ausmaß als es eigentlich erforderlich wäre eine Sicherheitsbasis für ein Kind darstellt. Unsichere Bindungsmuster – unsicher-vermeidend sowie unsicher-ambivalent – sind im Rahmen von möglicher Bindungsvielfalt erwartbar. Die Studienlage zur Erforschung von Bindungsstilen kommt zu diesem Ergebnis (Strüber 2021, Siegler et al. 2016).
Das zentrale Kennzeichen einer Bindungsstörung dagegen ist, dass Bowlbys Konzept der sicheren Basis in keinerlei Hinsicht mehr garantiert ist. Auch diese Kinder bauen eine Bindung auf, jedoch ist die Bindungsperson zugleich mit überdauernden Gefühlen von Angst und starker Furcht assoziiert. Die eigentlich schutzgebende Fürsorgeperson verhält sich dem Kind gegenüber vernachlässigend oder misshandelnd. Aus Perspektive des Kindes ist dies ein unauflösbares Dilemma. Natürlich ist es zu klein und abhängig, um sich aktiv selbst zu schützen oder versorgen zu können. Also ist es auf die Personen angewiesen, die sein Wohl gefährden. Dies führt zu einem pathologischen Bindungsmuster, und hier ist stets professionelle Hilfe notwendig, um Veränderungen herbeizuführen.
Jedes Kind ist einzigartig in seiner Persönlichkeit. Der kindliche Wesenskern entfaltet sich in der ihm dargebotenen Umgebung. Primäre Bindungspersonen sind die zentrale Andockstelle des Kindes und machen Entwicklung durch fürsorgliche Präsenz erst möglich. Das kindliche Gehirn ist unreif. Das Bindungshormon Oxytocin spielt während des Reifungsprozesses eine wichtige Rolle.
Das Peptidhormon Oxytocin hat allgemein eine stressdämpfende sowie regulative Wirkung. Es nimmt außerdem Einfluss auf das soziale Verhalten. Es befördert fürsorgliches Bindungsverhalten und erhöht die Bereitschaft, sich anderen anzuvertrauen (Strüber 2021).
Ein Kind, das eine sichere Bindung zu einer erwachsenen Person aufgenommen hat, erhält von dieser kontinuierlich „Oxytocin-Booster“, was wiederum die Freisetzung von Stresshormonen im kindlichen Gehirn hemmt. Dies wiederum nimmt Einfluss auf die Entwicklung entsprechender Rezeptoren im Gehirn des Kindes, die sich erst dann ausreichend ausbilden, um auf entsprechende Reize überhaupt reagieren zu können. Das Gehirn von Menschen mit sicheren Bindungserfahrungen gewöhnt sich an den stresspuffernden Effekt des Oxytocins: Liebevolle, sichere Beziehungen werden als zentrale Quelle von Geborgenheit und geistiger Inspiration wahrgenommen. Das Zusammensein mit einfühlsamen Bindungspersonen führt zu einer Stressreduktion, was wiederum das Risiko für die Entstehung von psychischen Störungsbildern deutlich reduziert (Strüber 2019).
Kinder mit einem bindungsunsicheren Muster können weniger von der Wirkweise des Oxytocins profitieren – von Eva Rass, analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, treffenderweise als „Minimaltrauma“ (2021: 14) bezeichnet. Die zuverlässige Versorgung des kindlichen Gehirns mit Oxytocin ist nicht gegeben. Diese Erfahrung beeinflusst die Entwicklung von Rezeptoren. Das Kind vermeidet überwiegend die Nähe der Bindungspersonen (unsicher-vermeidendes Muster) oder es erlebt keine ausreichende emotionale Beruhigung durch diese (unsicher-zwiespältiger Bindungsstil). Soziale Beziehungen werden bedauerlicherweise nicht als zentrale Quelle von Sicherheit und Zufriedenheit internalisiert (Strüber 2019).
Kinder, die massiv in ihren basalen Grundbedürfnissen frustriert werden und daraufhin Bindungspathologien entwickeln, weisen oftmals langfristig Auffälligkeiten in ihrem Oxytocin-System auf. Auch wenn sie später unter deutlich besseren Bedingungen aufwachsen, bei Pflege- und Adoptiveltern, reagieren sie auf körperliche Nähe weiterhin mit einer niedrigeren Oxytocin-Ausschüttung. Als ursächlich hierfür werden epigenetische Veränderungen betrachtet (Strüber 2019).
Sicher gebunden durch Muttermilch?
Das Stillen kann durch die Ausschüttung von Oxytocin zwar die Entwicklung der sicheren Bindung positiv unterstützen, ist aber niemals die Grundvoraussetzung dafür. Es ist vielmehr die elterliche Feinfühligkeit, die darüber entscheidet, ob ein Kind sich sicher an seine Eltern bindet: die Fähigkeit, die Feinzeichen des Kindes angemessen zu lesen, zu interpretieren und zu beantworten. Die Aufnahme einer sicheren Bindung ist also losgelöst vom biologischen Geschlecht der betreuenden Person (Ahnert 2020).
Bindungsstile werden vererbt. Sie werden von einer Generation an die nächste weitergeben. Erlebten Eltern ihre eigenen Eltern – also die jetzigen Großeltern – als einfühlsam, verlässlich und zugewandt, so drückt sich dies in aller Regel auch in ihrem eigenen Elternverhalten gegenüber ihrem Säugling sowie späteren Kleinkind aus. Wurden Eltern dagegen bindungsvermeidend groß, so kann die feinfühlige Beantwortung von kindlichen Bedürfnissen erschwert sein. Dieser Zusammenhang ist eindeutig und wissenschaftlich nachgewiesen (Brisch 2022, Siegler et al. 2016). Dies hat mit der Ausbildung des internalen Arbeitsmodells zu tun.
Eine mentale Repräsentation, die sich in der frühen Kindheit im Alltag mit den Bezugspersonen entwickelt. Diese nimmt Einfluss auf das eigene Selbstbild („Wie liebenswert bin ich?) sowie die Erwartungshaltung („Wie sehr darf ich auf die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit anderer vertrauen?“) und drückt sich im Verhalten des Kindes und seiner späteren Beziehungskompetenz aus.
Können Erwachsene auf ein sicheres Arbeitsmodell von Bindung zurückgreifen, so ist ihr späteres Elternverhalten in aller Regel einfühlsam sowie konsistent. Ihr Nachwuchs entwickelt ebenfalls ein sicheres Bindungsmuster. Dies kann und darf sich jedoch im Verlauf der Elternschaft ebenso erst entwickeln und wurde oben (› Kapitel 1.3) als „gereifte“ Elternschaft beschrieben.
Verlässliches Fürsorgeverhalten, das zugleich kindliche Autonomiebestrebungen ermöglicht, führt in aller Regel zu einer sicheren Bindungsqualität. Innere Arbeitsmodelle können sehr stabil sein, aber zugleich durch krisenhafte oder stärkende Ereignisse sowohl in positive als auch negative Richtung verändert werden.
Die Qualität von Bindungserfahrungen, die Kinder mit ihren Bezugspersonen sammeln, hat – wie bereits oben diskutiert – einen unmittelbaren Einfluss auf ihre soziale, kognitive und psychische Entwicklung. Diese Effekte wirken dauerhaft fort. Wie lässt sich dies jedoch erklären? Es gibt zwei zentrale Erklärungsansätze, die jedoch rein theoretischer Natur sind und zwei Hypothesen beinhalten:
• Das innere Arbeitsmodell ist sehr stabil: Kinder entwickeln bereits früh ein eigenes Arbeitsmodell, was ihre Selbstwahrnehmung, ihr Sozialverhalten sowie ihr Verhalten beeinflusst und ausformt. Frühe Bindungserfahrungen sind aus dieser Perspektive betrachtet zeitstabil.
• Es ist aber ebenso möglich, die Umweltbedingungen als zentralen Faktor zu betrachten. Sind Bezugspersonen feinfühlig und verlässlich, so bleiben sie dies in aller Regel auch. Sind Bindungspersonen dagegen wenig responsiv und unzuverlässig, so wird ein Kind langfristig unter schwierigen Umweltbedingungen heranwachsen. Nimmt man diese Perspektive ein, so sind es weniger die frühen Bindungserfahrungen, die langfristigen Prägungscharakter haben. Stattdessen wird Elternverhalten als zeitstabil und möglicherweise wenig veränderbar betrachtet.
Beide Modelle haben ihre Berechtigung und können ergänzend in die Diskussion miteinbezogen werden. Tatsächlich gibt es Befunde, die insbesondere die frühen Bindungserfahrungen als hochbedeutsam für die weitere kindliche Entwicklung beschreiben. Tatsächlich gibt es ebenso Befunde, die belegen, dass Elternverhalten und damit einhergehende Bindungsstile veränderbar sind. Die Reduktion von Stress kann Erziehungsverhalten sowie die Bindungsqualität positiv verändern. Dieser Effekt sollte pädagogische Fachkräfte, die mit und für Familien arbeiten, hoffnungsvoll stimmen. Sehr wahrscheinlich ist es ein komplexes Zusammenspiel von frühkindlichen Bindungserfahrungen sowie die langfristige Bereitschaft von Bezugspersonen, ihr Erziehungs- und Beziehungsverhalten kontinuierlich auf gutem Niveau zu halten (Siegler et al. 2016).
Bindungsmuster sind immer veränderbar. Kritische Lebensereignisse können elterliche Feinfühligkeit und Verfügbarkeit in drastischem Ausmaß reduzieren. Unterstützende Netzwerke sowie professionelle Hilfe in Form von Beratung, Elternkursen sowie Psychotherapie können Elternverhalten ebenso deutlich verbessern. Die Weitergabe von bindungsunsicheren Mustern kann von Eltern somit bewusst unterbunden werden, was für die nachfolgende Generation immer mit Vorteilen verbunden ist (van den Boom 1994, Brisch 2022).
Die Fähigkeit, Emotionen zu regulieren, nimmt unmittelbaren Einfluss auf die psychische Gesundheit und damit einhergehende Lebenszufriedenheit. Die emotionale Entwicklung steht in direktem Zusammenhang mit den Erfahrungen, die Kinder mit ihren Bindungs- und Bezugspersonen sammeln. Dies war bereits oben Thema, als die Vorteile der sicheren Bindung diskutiert wurden (› S. 170). Im Folgenden geht es zunächst um neurowissenschaftliche Befunde rund um die Gehirnentwicklung in der frühen Kindheit. Durch diese Perspektive werden notwendige Reifungsprozesse verständlich. Zudem wird nachvollziehbar, warum emotionale Regulationsfähigkeit nicht angeboren ist, sondern erworben werden muss, und wie auch hier Bindungsbeziehungen sowie elterliches Erziehungsverhalten Einfluss nehmen.
Bereits Säuglinge können intensiv Ärger ausdrücken. In der Autonomiephase werden viele Kinder von ihren Emotionen förmlich überflutet, was sich in den sogenannten „Wutanfällen“ oder „Trotzanfällen“ zeigt. Im Grundschulalter sind emotionale Ausbrüche dieser Art bei positiver Entwicklung deutlich rückläufig oder völlig verschwunden. Später, in der Pubertät, tritt erneut ein starker Emotionsausdruck in den Vordergrund. In der frühen Kindheit und ebenso in der Pubertät finden beachtliche Reifungsprozesse im Gehirn statt, und das Vorantreiben der eigenen Individuation ist für das Klein- und Kindergartenkind und ebenso für den Adoleszenten von großer Bedeutung. Dafür sind Zeit und ebenso gute Entwicklungsbedingungen in Form sicherer Bindungserfahrungen notwendig.
Wenden wir uns zunächst der sogenannten Amygdala zu. Die Amygdala (Corpus amygdaloideum oder Mandelkern) gehört zum limbischen System im Gehirn. Gemeinsam mit dem Hippocampus ist sie für die Regelung von Emotionen zuständig. Wirkt eine Situation emotional beunruhigend oder sogar bedrohlich, so kommt es zu einer unmittelbaren Reaktion der Amygdala. Eine rasche, jedoch rudimentäre Einschätzung der Situation erfolgt: „Droht Gefahr oder nicht?“ Je nach Einschätzung zeigt sich eine körperliche Reaktion, das Herz beginnt möglicherweise schneller zu schlagen. Die Amygdala sendet die gewonnenen Informationen an den medialen präfrontalen Cortex. Dieser kann die Komplexität von Situationen gut einschätzen. Diese Verbindung ist vorwärtsgerichtet. Es gibt jedoch ebenso eine rückläufige Verbindung. Hierbei kommt es im Idealfall zu einer reflektierten Rückmeldung des medialen präfrontalen Cortex, was zu einer Beruhigung der Amygdala führen kann (Strüber 2019).
Dieses Zusammenspiel veranschaulicht den Wesenskern emotionaler Kompetenz: Soziale Situationen sowie Geschehnisse werden in ihrer Vielschichtigkeit eingeordnet und verstanden. Damit einhergehende Affekte werden durch die rückläufige Verbindung reguliert, was eine kompetente Anpassung im Verhalten ermöglicht. Erst durch eine effiziente Zusammenarbeit zwischen dem medialen präfrontalen Cortex und der Amygdala wird es möglich, Gefühlszustände zu regulieren. Diese Reifungsprozesse sind jedoch keine willentliche Entscheidung und erstrecken sich zudem bis ins junge Erwachsenenalter. Auch hier sind es die sicheren Bindungserfahrungen, die wichtigen Einfluss nehmen – ob sich zwischen medialem präfrontalem Cortex und Amygdala eine stabile Verbindung entwickeln kann oder ob diese brüchig bleibt.
Die bewusste Affektregulierung durch eine erwachsene Bindungsperson führt im Idealfall dazu, dass sich das Kind sichtlich beruhigt. Die erwachsene Person sagt zu einem Kind, das sich weh getan hat: „Das tut bestimmt sehr weh. Das glaube ich dir sofort. Ich schaue mir dein Knie jetzt an, mache die Wunde ganz vorsichtig sauber und danach suchen wir zusammen ein schönes Pflaster aus.“ Ein Kind fühlt sich dann verstanden und erlebt, dass eine zunächst angstmachende Situation an Heftigkeit verliert, allein durch die einfühlsame Präsenz einer erwachsenen Bezugsperson.
Diese Beziehungserfahrung muss jedoch verlässlich für das Kind sein und sich beständig wiederholen. Dieses Interaktionsmuster zwischen Kind und der Bezugsperson treibt die effektive Verbindung zwischen medialem präfrontalem Cortex und Amygdala stetig voran und festigt diese. Kindern, denen positive Beziehungs- und Erziehungserfahrungen dauerhaft verwehrt bleiben, wird – aus dieser Perspektive betrachtet – die Möglichkeit genommen, dass bedeutsame Vernetzungen in ihrem Gehirn stetig reifen. Dass Bindungssicherheit eine überdauernd schützende Wirkung hat, wurde bereits mehrfach angesprochen. Internalisierende sowie externalisierendes Problemverhalten wiederum wird mit unsicheren Bindungsmustern assoziiert. Neurowissenschaftliche Befunde (Strüber 2019) erklären diesen Zusammenhang auf vortreffliche Weise und verdeutlichen, dass gute Beziehungserfahrungen ganz bestimmt nicht „nice to have“, sondern vielmehr existenziell bedeutsam für Heranwachsende sind.
Die beschriebenen Reifungsprozesse zeigen sich natürlich auch im kindlichen Verhalten. Vielen Kindern gelingt es zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr immer besser, sich von intensiven Gefühlen und Bedürfnissen – zumindest etwas, an manchen Tagen mehr, an anderen Tagen weniger – zu distanzieren. Die folgenden Sätze sind sichtbare Belege dafür, dass eine emotionale Distanzierung versucht und vom Kind auch als bedeutsam verstanden wurde:
• Ich wollte sowieso nicht mehr damit spielen.
• Entschuldigung, das wollte ich nicht.
• Dann geh ich eben in die andere Spielecke und will dort erst mal meine Ruhe haben.
• Zu viel Süßigkeiten sind ungesund für Zähne und Körper.
• In Ordnung. Aber mach das bitte nicht noch einmal.
Nicht nur die mangelhafte Ausbildung von Frustrationstoleranz und eine Impulskontrollstörung, auch eine übersteigerte Impulskontrolle wird neurowissenschaftlich in diesem Zusammenhang diskutiert. Treffen Kinder beständig auf wenig bis kaum empathische Bezugspersonen, so kann dies zu einer beschleunigten, jedoch nicht altersangemessenen Reifung im Gehirn des Kindes führen (Strüber 2019). Die Kommunikation zwischen medialem präfrontalem Cortex und Amygdala funktioniert nach außen hin „tadellos“. Das Kind verhält sich in der Kindertagesstätte beispielsweise sehr angepasst. Die Eingewöhnung ist rasch abgeschlossen und das Kind zeigt kaum bis wenig Bindungsverhalten. Oder: Nach einigen Tagen Schlaftraining, wo das Kind schreiend in seinem Bettchen zurückgelassen wurde, „verbessert“ sich das Schlafverhalten und nächtliches Bindungsverhalten wurde „abgeschaltet“. Da der Reifung jedoch nicht die notwendige Zeit eingeräumt wurde und zugleich ein Defizit an Bindungssicherheit vorliegt, handelt es sich vielmehr um eine „Notreifung“ (Strüber 2019: 108). Diese notgedrungene Ruhigstellung der Amygdala kann möglicherweise nicht bedingungslos aufrechterhalten werden. Die Verbindung ist zu fragil und kann förmlich zusammenbrechen, wenn Kinder oder Erwachsene erneut mit stressvollen Lebensumständen konfrontiert werden.
Schon früh befasste sich die Sozialwissenschaft mit der Erforschung von Erziehungsstilen. Diana Baumrind leistete hier wesentliche Pionierarbeit. Anhand von zwei zentralen Dimensionen – Ausmaß elterlicher Unterstützung sowie Kontrolle – unterschied sie vier Erziehungsstile, die im Folgenden näher betrachtet werden (Baumrind & Black 1967, Baumrind 1971).
Autoritäre Erziehung beinhaltet ein hohes Ausmaß an elterlicher Kontrolle, wobei Eltern oft willkürlich-impulsiv reagieren. Die Eltern sanktionieren nichtkonformes Verhalten ihrer Kinder mit Strafen, Drohungen sowie Liebesentzug und schrecken auch vor körperlichen Übergriffen nicht zurück, um kindliches Verhalten zu lenken. Davon betroffene Kinder erleben ihre Eltern als wenig unterstützend. Kindliche Fragen bleiben unbeantwortet, was zur Folge hat, dass davon betroffene Kinder auch wenig Einsichten über elterliche Beweggründe entwickeln können. Dies wiederum nimmt unmittelbaren Einfluss auf ihre sozio-emotionale sowie kognitive Entwicklung. Kinder autoritärer Eltern können geringere schulische Erfolge aufweisen und neigen zu Selbstwertproblemen. Auch die Aufnahme von guten Freundschaftsbeziehungen kann erschwert sein. Im weiteren Entwicklungsverlauf können sich depressive Störungen sowie Suchtproblematiken zeigen.
Permissive Erziehung beinhaltet ein hohes Ausmaß an Zuwendung und Verständnis, bei gleichzeitigem Verzicht auf Lenkung sowie Führung. Das emotionale Klima orientiert sich maßgeblich an den Bedürfnissen sowie Befindlichkeiten der Kinder. Permissiv Erziehende trauen ihren Kindern in aller Regel wenig zu. Sie möchten diese vor möglichen Gefahren oder Frustrationen beschützen. Zugleich besteht die Sorge, dass Verbote oder benannte Grenzen die Bindungsbeziehung zum Kind nachhaltig beschädigen könnten. Dieses Verhalten ist im Umgang mit Säuglingen absolut empfehlenswert, wird jedoch im weiteren Verlauf der Kindheit zunehmend problematischer. Kinder permissiver Eltern sind überdurchschnittlich impulsiv und haben Schwierigkeiten beim Erwerb sowie Aufbau selbstregulativer Kompetenzen. Dies wiederum führt langfristig zu Schwierigkeiten in der Peergroup und kann Ausgrenzung begünstigen. Auch die schulische Laufbahn kann beeinträchtig sein.
Zurückweisend-vernachlässigende Erziehung verzichtet nicht nur auf Lenkung sowie Führung. Es gibt auch einen grundlegenden Mangel an Liebe, Verständnis und Interesse. Davon betroffene Kinder wachsen struktur- und haltlos auf. Die Eltern sind in aller Regel mit sich selbst beschäftigt, sodass kindliche Bedürfnisse unbeantwortet bleiben. Kinder können ihre Entwicklung jedoch nicht dauerhaft auf später verschieben. Zudem kann Kindheit nur möglich werden, wenn Erwachsene einen haltenden, versorgenden Rahmen schaffen. Davon betroffene Kinder haben ein hohes Risiko für die Entwicklung verschiedenster Störungsbilder, da keine gesunde Beziehung von den Eltern aufgenommen werden konnte. Die Pathologie von frühen Bindungsstörungen hat dabei langfristige Effekte auf die weitere Entwicklung des Kindes sowie späteren Jugendlichen.
Autoritative Erziehung bietet für ein Kind sowie die Eltern-Kind-Beziehung die besten Entwicklungsmöglichkeiten, Autoritativ erziehende Eltern gehen liebevoll auf ihre Kinder ein. Eine zentrale Elternmotivation ist dabei, das ihnen anvertraute Kind zu verstehen sowie auf seinem persönlichen Entwicklungsweg zu begleiten. Jene Eltern reflektieren sich selbst und sind lösungssuchend. Die sogenannte bindungsorientierte Erziehung kann diesem Erziehungsstil zugeordnet werden, denn insbesondere die Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung wird dabei in den Mittelpunkt gerückt.
Gelingende bindungsorientierte Erziehung fördert jedoch ebenso angemessen sowie unterstützend die kindliche Autonomieentwicklung. Dies führt automatisch dazu, dass es zwischen Eltern und Kindern Konflikte gibt, und phasenweise können sich diese sogar sehr deutlich zeigen. Jene Konflikte werden jedoch weder umgangen noch eskalieren diese andauernd. Jene Eltern trauen ihren Kindern das Aushalten von Regeln sowie Grenzen zu. Diese Grenzen sind schützender Natur, um das Kind vor möglichen Gefahren sowie Verletzungen zu bewahren. Zugleich gibt es aber auch Grenzen, die ein soziales Zusammenleben erst ermöglichen, und auch hierfür treten jene Eltern ein. Es gelingt diesen Eltern dabei sehr gut, auf ängstigendes Elternverhalten zu verzichten, stattdessen entwicklungsgerecht auf das Kind und seine Affekte einzugehen. Auf diese Weise lernt ein Kind, eigenen Bedürfnissen sowie Gefühlen zu trauen, was sich positiv auf das Selbstwertgefühl auswirkt. Da die Eltern aber auch Anforderungen an ihr Kind stellen, entwickeln sich Frustrationstoleranz und Empathie für andere.
Autoritativ erzogene Kinder schneiden in allen Entwicklungsbereichen – sozio-emotional sowie kognitiv – besser ab als ihre Altersgenossen, die mit anderen Erziehungsstilen sozialisiert werden (Siegler et al. 2016). Ein elterlicher Erziehungsstil ist – dies muss abschließend betont werden – natürlich veränderbar. Eltern können sich beständig „verbessern“, indem sie lernen, einfühlsamer und auch klarer mit ihrem Nachwuchs zu sprechen. Belastende Lebensereignisse oder kritische Lebensphasen können ebenso dazu führen, dass Eltern sich zunehmend permissiv oder autoritär verhalten.
Wenn Eltern fürsorglich-liebevoll erziehen, zugleich aber auch Anforderungen an ihr Kind stellen, so kommt es automatisch zu Konflikten und Meinungsverschiedenheiten zwischen Eltern und ihren Kindern. Eltern, die sich für den autoritativen Stil entscheiden, leisten in aller Regel auch eine kompetente Co-Regulation. Kinder laden ihre Wut, ihren Ärger, ihre Frustration bei ihren vertrauten Bezugspersonen „ab“. Eine Person, die im Leben des Kindes eine unbedeutende Rolle spielt, kommt in aller Regel auch nicht mit intensiven Gefühlen des Kindes in Kontakt. Eine emotionale Reaktion beinhaltet grundsätzlich die kindliche Rückmeldung von Vertrautheit. Einfühlsame Erwachsene wissen um ihre Bedeutung: Sie verstehen die emotionale Verfasstheit nicht als persönlichen Angriff. Vielmehr wissen sie um ihre Bedeutung als sichere Basis und übernehmen verantwortungsbewusst die Beruhigung des Kindes.
Überschießende Emotionen des Kindes abzumildern, aushaltbar sowie veränderbar zu machen ist eine zentrale Aufgabe von Bindungs- und Bezugspersonen. Kindliche Erregungszustände nehmen durch diese stützende Form der Beruhigung und Begleitung ab. Das Kind lernt am Vorbild der Erwachsenen, wie es zukünftig selbstständiger Emotionen regulieren und sich selbst beruhigen kann.
Allein die Präsenz von Bindungspersonen reduziert kindliche Erregungszustände. Die Entwicklung einer kompetenten Affektregulation setzt jedoch voraus, dass dem Kind das extern arbeitende Regulationssystem von Bindungspersonen zuverlässig zur Verfügung steht (Rass 2021). Ist eine Bezugsperson souverän, so wird sie keine unangemessenen Vermeidungsstrategien anwenden, um das Kind vorschnell von seinen ausgedrückten Gefühlen abzulenken. Die reine Ablenkung vom primären Gefühlszustand hat zur Folge, dass Kinder keine Einsichten über ihre Gefühlswelt entwickeln und sich nicht bewusst damit auseinandersetzen. Wenn von Kindern zudem eine regulative Leistung erwartet wird, die sie schlichtweg noch nicht erbringen können, so führt dies automatisch auf beiden Seiten zu missglückter Kommunikation. Das Kind fühlt sich unverstanden und überfordert. Die Erwachsenen wiederum pathologisieren möglicherweise das Verhalten und geraten in Sorge über den kindlichen Entwicklungsstand. Sind Erwachsene jedoch empathisch-zugewandt, so wird diese Bezogenheit auch sprachlich kommuniziert. Die Bezugsperson fasst in Worte, was das Kind emotional aus dem Takt gebracht hat, und gleichzeitig gelingt es, angemessen Grenzen zu benennen
• Es ärgert dich, dass wir jetzt nicht mehr im Hof spielen können. Du wirfst Sand und hast sogar eine Schaufel nach mir geworfen. Vielleicht denkst du, dass wir auf diese Art dann noch weiterspielen können? Es ist manchmal schwer, mit dem Spielen aufzuhören. Das kann ich gut verstehen. Aber natürlich möchte ich nicht, dass du so mit mir umgehst. Ich räume jetzt die Sandelsachen auf.
• Klar kannst du mithelfen.
Oder
• Es ist okay, wenn du gerade nicht aufräumen möchtest. Die Schaufel kommt jetzt aber zu mir und wird von mir mit aufgeräumt.
• Du bist sehr traurig, dass deine Mama jetzt gegangen ist. Du hast immer wieder gesagt, dass deine Mama wiederkommen soll. Oft ist es ganz schön schwierig, sich von seinen Eltern zu verabschieden und darauf zu warten, dass sie wiederkommen. Hast du eine Idee, was deine Mama jetzt gerade macht? Sollen wir mal zusammen ein Bild malen, was Eltern machen, wenn sie ihre Kinder im Kindergarten abgegeben haben?
Emotionale Entwicklung kann begleitet, aber nicht abgenommen werden. Das kindliche Gehirn sollte vor einer Überflutung mit Stresshormonen geschützt werden. Sichere Bindungserfahrungen erhöhen die Widerstandskraft von Menschen und entfalten ihre protektive Wirkung. Kinder mit einer sicheren Bindungsentwicklung können Emotionen besser angemessen ausdrücken und für sich einordnen. Dies hat mit den Umwelterfahrungen zu tun, die Kinder mit ihren Bezugspersonen wiederholt sammeln. Jene Kinder nutzen ihre Bezugsperson als sichere Basis und können sich im Zusammensein mit dieser – durch Gespräche sowie durch körperliche Nähe – besser beruhigen. Die beruhigte Amygdala sowie die effektive Verbindung zwischen medialem präfrontalem Cortex und Amygdala befördert lösungsorientiertes Verhalten und hilft Kindern langfristig dabei, sich selbst immer besser zu beruhigen können (Siegler et al. 2016, Strüber 2019).