JUNO – KINDLICHE AGGRESSION ALS REAKTION AUF ELTERLICHES VERHALTEN

Hier geht es um die folgenden Themen:

Entstehung von kindlicher Aggression und emotionale Co-Regulation

Effekte von Strafen und einem autoritären Erziehungsverhalten

Ausgrenzung eines Kindes in der Kindergruppe

Kindeswohl und Vernetzung von Fachkräften

Erziehungskonflikte und Familiendynamik

Stärkung von Eltern im Umgang mit Eltern-Kind-Konflikten

Juno, dreieinhalb Jahre, macht dem pädagogischen Team schon seit Wochen Sorgen. Sobald es offensichtlich nicht nach ihren Wünschen oder Vorstellungen geht, greift sie auf aggressive Strategien zurück. Sie schubst oder haut nach anderen Kindern. Immer häufiger kommt es zu Bissverletzungen, wobei die geschädigten Kinder häufig intensiv weinen. Juno verhält sich im Anschluss an diese Szenen ruhig. Sie zieht sich in eine Spielecke zurück oder spielt dort einfach weiter. In ihrer sprachlichen Entwicklung hinkt sie hinterher, was das Führen eines Gesprächs darüber erheblich erschwert. Auch die Eltern sind ratlos und fühlen sich mehr oder weniger ohnmächtig im Umgang mit ihrer kleinen, wilden Tochter.

Juno, darüber herrscht im Team Einigkeit, ist ein mutiges, unerschrockenes Kind, das motorisch sehr gut entwickelt ist. Sie ist äußerst bewegungsfreudig und wirkt nach intensiven Bewegungsrunden ruhiger und ausgeglichener. Im Austausch mit den Eltern zeigt sich, dass diese inzwischen immer strenger mit ihrer Tochter umgehen. Wenn sich Juno aus Sicht der Eltern „daneben“ benimmt, so schicken sie das Kind aus dem Zimmer und ordnen Auszeiten an. Strafen sind das erzieherische Mittel der Wahl, wie beispielsweise der Entzug von Gummibärchen. Auch Spielsachen, die Juno mag, muss sie abgeben. Diese werden für mehrere Tage in einen Schrank gesperrt. Erst wenn Juno wieder „lieb“ ist, erhält sie Süßigkeiten oder Spielzeug. Mittlerweile ist ein unbefriedigender Kreislauf bestehend aus Sanktionen sowie Versuchen von Wiedergutmachung entstanden.

Die Eltern geben im Gespräch mit der Kindergartenleitung offen zu, dass sie sich überfordert mit der Erziehung ihrer Tochter fühlen. So ist es ihrer Meinung nach wichtig, dass Juno bestraft wird, aber gleichzeitig scheinen diese Strafen nicht die erwünschte Wirkung zu haben. Im Gegenteil – es wird, so lautet das elterliche Fazit, „schlimmer und schlimmer“ mit ihr. Auch die Kindergartenleitung hat den Eindruck, dass Juno sich immer grenzenloser verhält. Viele Kinder scheinen bereits Angst vor ihr zu haben und weichen ihr aus. Juno erlebt immer häufiger, dass sie von den anderen Kindern abgelehnt und ausgegrenzt wird. Diese Erfahrungen erhöhen ihr aggressives Verhalten und den Wunsch nach Anerkennung noch mehr.

Serotonin, Hormon sowie Neurotransmitter, nimmt Einfluss darauf, inwieweit die Regulierung von Aggression gelingt. Die persönliche Wahrnehmungsfähigkeit von aggressiven Impulsen bleibt davon unbeeinflusst.

Serotonin hat jedoch eine hemmende Wirkung, sodass aggressive Intentionen zurückgehalten oder zumindest in ihrer Intensität gezügelt werden. Eine verringerte Freisetzung von Serotonin – z. B. ausgelöst durch frühkindliche Stresserfahrungen – kann langfristig die Fähigkeit, aggressives Problemverhalten selbstbestimmt zu regulieren, deutlich unterminieren (Strüber 2019).

In einem weiteren Gespräch bitten die Eltern konkret um Hilfestellung. Die Leitung empfiehlt eine örtliche Beratungsstelle, die Eltern nach dem familiensystemischen Ansatz berät. Dass der Kindergarten diese Beratungsstelle schon häufig empfohlen hat und hilfesuchende Eltern dort gut und kompetent beraten wurden, ist für beide Elternteile motivationsfördernd. Schon bald beginnt ein längerer Beratungsprozess und es zeigen sich positive Veränderungen im Erziehungsverhalten. Die Eltern verhalten sich ruhiger und zugänglicher. Sie reden mehr mit ihrer Tochter, versuchen Verbote und Entscheidungen zu begründen und ebenso Alternativen zu finden. Dies schlägt sich rasch im Verhalten von Juno nieder. Sie macht plötzlich sprachliche Fortschritte und verhält sich im Kontakt mit anderen Kindern wieder etwas umgänglicher und kooperativer.

Peers

Peers sind jeweils Menschen, die sich in einem ähnlichen Alter befinden. Der Altersunterschied beträgt lediglich Wochen oder einige Monate. Die geringe Heterogenität in Bezug auf das Alter unterstützt das Gestalten einer gleichberechtigten Beziehung in aller Regel positiv (Siegler et al. 2016).

Seitdem sich Juno besser verständigen kann, hat das Beißen vollständig aufgehört. Diese positive Entwicklung macht die Eltern stolz. Es beruhigt sie, dass Juno sich in wünschenswerte Richtung entwickelt. Die Fortschritte motivieren sie, weiter die Erziehungsberatungsstelle zu besuchen. Was weiterhin als Verhalten bleibt, sind das Hauen und Schubsen. Die Leitung berichtet den Eltern, wie das Kindergartenteam mit diesen Situationen umgeht: „Wir verzichten vollständig auf Schimpfen, Bestrafen oder sonstige Sanktionen, wie z. B. Auszeiten. Wenn es erforderlich ist, so trösten wir das betroffene Kind und sprechen dann kurz mit Juno über diese Situation. Manchmal kann sie schon sehr gut erklären, warum sie gehauen hat. Sie will vielleicht ein Spielzeug alleine haben oder sagt, dass sie nicht mitspielen durfte. Das macht sie wütend. Dass sie erstmals über ihre Gefühle spricht, ist ein großer Fortschritt. Wir ermutigen sie dazu. Manchmal will sie sogar kurz in den Arm genommen werden. Auch das ist neu. Sie lehnt sich kurz an und sagt, dass es ihr leidtut. Immer häufiger gelingt es ihr, sich bei dem Kind zu entschuldigen, und wir unterstützen sie dabei. Wir sehen hier auf alle Fälle deutliche Fortschritte und Verbesserungen im sozialen Verhalten“.

Die Eltern sind überrascht davon, dass sich der Kindergarten so intensiv mit Junos Verhalten beschäftigt. Dass es besser ist, auf Schimpfen, Schreien und sinnlose Verbote zu verzichten, haben die Eltern bereits in der Erziehungsberatungsstelle gehört. Aktuell arbeiten sie mit der Beraterin daran, wie sie gelassener mit ihrer Tochter umgehen können, insbesondere dann, wenn Juno sich nicht an Regeln hält oder diese infrage stellt. Auch die Beraterin hat empfohlen, Körperkontakt und Nähe anzubieten, Gefühlen Raum zu geben und ein vernünftiges Gespräch anzustreben. Dabei sollen durchaus Erwartungen formuliert werden: „Ich möchte nicht, dass du einem anderen Kind wehtust.“ Zugleich sei es wichtig, dass die Erwachsenen einen Perspektivwechsel anstoßen: „Wie würdest du dich fühlen, wenn man dir ein Spielzeug einfach wegnimmt?“ Außerdem sei es ebenso wichtig, auch Juno ausreichend Verständnis entgegenzubringen: „Natürlich ist es schwierig, zu teilen.“ Über Lösungen und Alternativen zu sprechen, bildet den Gesprächsabschluss – dieses Vorgehen wird immer wieder mit den Eltern besprochen.

Dass Kindergarten und Beratungsstelle Ähnliches empfehlen, überzeugt die Eltern, sich von ihrem autoritären Erziehungsstil zu lösen. In den nächsten Wochen durchlaufen Junos Eltern eine wunderbare Metamorphose. Sie versuchen sehr konkret, die Empfehlungen umzusetzen. Das einheitliche Vorgehen von Kindergarten und Elternhaus tut Juno sichtlich gut. Sie ist ausgeglichener. Sie ist nach wie vor durchsetzungsstark und sucht Konflikte mit anderen Kindern. Aber diese trägt sie nun freundlich und spielerisch aus. Sie kann eine „Niederlage“ wesentlich besser verkraften. Sie schafft es immer häufiger, sich von einem Wunsch oder Bedürfnis zu distanzieren. Sie sucht selbst aktiv nach alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten, wenn ein Spielzeug gerade nicht frei ist. Inzwischen ist Juno eine beliebte Spielpartnerin geworden. Mit ihrem aktivierenden Spielstil gelingt es ihr auf positive Weise, die anderen Kinder kompetent für ein lustiges, gemeinsames Spiel zu gewinnen. Sie erhält Einladungen zu Kindergeburtstagen. Team und Eltern sind sehr glücklich über diesen Entwicklungsverlauf.

Warum verhalten sich bereits kleine Kinder aggressiv?

Bereits einjährige Kinder können aggressives Verhalten zeigen: Sie agieren dies noch rein körperlich aus, indem sie anderen etwas aus der Hand reißen. Um den zweiten Geburtstag herum – mit dem Voranschreiten der Autonomiephase – können Verhaltensweisen wie beißen, hauen oder zwicken zunehmen. Kinder dieser Altersgruppe agieren nach wie vor sehr „Ich-bezogen“, da ihnen ein Perspektivwechsel noch nicht möglich ist (› Kapitel 3.1). Kindergartenkinder erobern sich weitere Fertigkeiten: Sie beherrschen die Kunst der verbalen Attacke, indem sie andere beleidigen und mit Worten persönliche Grenzen überschreiten. Bei einer sozial kompetenten Entwicklung kommt es im Verlauf der Kindheit zu einer deutlichen Abflachung von aggressiven Affekten. Im Vorschul- und späteren Grundschulalter verhalten sich Kinder nun deutlich weniger feindselig und ihre Impulskontrolle reift kontinuierlich weiter (Strüber 2019, Siegler et al. 2016).

Diese entwicklungspsychologischen Befunde relativieren unangemessene Erwartungen an Kinder. Es veranschaulicht außerdem, dass das Ausagieren von aggressiven Impulsen in der frühen Kindheit ausreichend Raum und einen verständnisvollen Umgang erforderlich macht. Bei Kindern, die überdauernde Schwierigkeiten in ihrer Impulskontrolle haben, können frühkindliche Stresserfahrungen ursächlich sein. Emotionale und körperliche Gewalt zählen hierzu. Aber auch das beständige Frustrieren von Kindern in ihrem basalen Grundbedürfnis nach Sicherheit, Liebe und Anerkennung zählt dazu.