I. Der Anfang

 

 

 

Die englische Kunst im Jahre 1844

 

Bis 1848 rief die Kunst in England Bewunderung hervor, aber sie provozierte kein Erstaunen. Joshua Reynolds und Thomas Gainsborough waren große Meister, aber sie schufen Malerei des 18. Jahrhunderts und keine typisch englische Malerei des 19. Jahrhunderts. Ihre Modelle waren es, die Ladies und Misses, die die ihren Gestalten ein englisches Flair gaben, und nicht ihr Pinselstrich. Ihre Ästhetik war die des gesamten Europas zu ihrer Zeit. Später malte Lawrence Alma-Tadema in England wie François Pascal Gérard in Frankreich. Wenn man die Säle der Londoner Museen durchstreifte, sah man zwar andere Bilder, jedoch nicht eine andere Art zu malen, zu zeichnen oder nach einem Motiv zu komponieren oder zu entwerfen. Nur die Landschaftsmaler, mit William Turner und John Constable an der Spitze, brachten von Beginn des Jahrhunderts an eine neue, kräftige Note ein.

Aber Turner blieb der einzige seiner Art, der in seiner Heimat so wenige Nachahmer fand, gehörte er doch irgendeiner Gegend auf der Erde so wenig an wie ein Komet irgendeiner Gegend des Himmels angehört. John Constable wurde so rasch von den Franzosen eingeholt und auch überholt, dass er viel mehr die Ehre hatte, in Europa eine neue Richtung zu begründen, als das Glück, seinem Land eine nationale Kunst zu sichern. Was die anderen Maler anbelangt, so hatten sie mehr oder weniger Geschick darin, so zu malen, wie überall gemalt wurde. Nicht nur für ihre Hunde, auch für ihre Pferde, ihre Szenen der Kirchturmpolitik, für all die kleinen Genreszenen und häuslichen Szenen, die sie jedoch nicht so gut beherrschten wie die niederländischen Maler, interessierte man sich nur kurz. Nichts ließ ahnen, dass aus all dem etwas Neues und Großes hervorgehen sollte. Von Zeit zu Zeit erhellte ein Blitz des Merkwürdigen dieses vernünftige und prosaische Leben. Ein kleines Gemälde von William Blake zeigt den jüngsten Premierminister, den England je hatte, William Pitt, als Engel in einem goldgrünen Kleid, der das Parlament, das als Ungeheuer aus dem Buch Hiob dargestellt ist, durch die Wolken führt[1].

Dann war alles wieder wie zuvor: kleine Leute, kleine Geschichten, kleine Malerei. Eine glatt rasierte, blank gescheuerte, auf Teer aufgebrachte Malerei, die falsch und kraftlos war, süßlich, aber nicht fein, zu schwarz in den Schatten und zu schimmernd in den lichten Stellen. Eine weiche, zögernde, vage verallgemeinernde Zeichnung. Und als sich das gefürchtete Jahr 1850 näherte, drängten sich Constables Worte des Jahres 1821 auf: „In dreißig Jahren wird die englische Kunst nicht mehr sein.“

Wenn man jedoch genau hinsieht, waren zwei Merkmale doch unterschwellig vorhanden. Zuerst der intellektuelle Anspruch des Themas. Die Engländer haben sich schon immer darum bemüht, interessante oder sogar etwas komplizierte Szenen zu finden, bei denen der Geist ebenso viel zu fassen hat wie die Augen, bei denen Neugier geweckt wird, bei denen das Gedächtnis gefordert wird, bei denen eine stumme Geschichte ein Lachen oder Weinen hervorruft. Im Victoria and Albert Museum wird diese britische Vorliebe bewusst. Dort sieht man Szenen aus Der Bürger als Edelmann, Der Eingebildete Kranke, Die gelehrten Frauen, Don Quichotte, Die Lustigen Weiber von Windsor, Mein Onkel Tobie, Die Zähmung der Widerspenstigen, LHomme au bon naturel, dann Refusal aus Duncan Gray, dann Portia und Bassanio, kurz, aus den Theaterstücken und Romanen aus aller Welt. Und signiert sind diese Gemälde mit David Wilkie, Redgrave, William Frith und Charles R. Leslie.

Das war die Kunst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schon setzte sich diese Idee durch, die übrigens bei William Hogarth klar erkennbar ist, dass der Pinsel nicht nur abbilden, sondern auch schreiben, belehren und erzählen kann. Nur, was er vor 1850 erzählte, waren kleinliche Handlungen; was er ausdrückte, waren kleine Fehler, Peinlichkeiten oder bornierte Gefühle; was er dabei hervorhob, waren die Regeln des guten Benimms. Er spielte die Rolle jener Bilderhefte, die man den Kindern gab, um ihnen zu zeigen, wohin Lüge, Faulheit oder Naschhaftigkeit führen können.

Das andere Merkmal war die Intensität des Ausdrucks. Wer je Hunde von Edwin Henry Landseer oder auch nur solche in englischen Illustrierten gesehen hat, jene Tierstudien, in denen die Körperhaltung aus großer Nähe erfasst wird, in denen der Ausdruck so überlegt, die Kopfhaltung so intelligent und unterschiedlich ist, je nachdem, ob das Tier wartet, fürchtet, etwas wünscht, sein Herrchen fragend ansieht oder etwas überlegt, der wird leicht verstehen, was das heißt: Intensität des Ausdrucks.

Man kann nicht sagen, dass es die Genauigkeit ist, denn das wäre kein typisches Merkmal der englischen Kunst. Auch die französischen Tierdarsteller des 18. und 19. Jahrhunderts wussten den genauen Ausdruck festzuhalten, und dennoch: was für ein Unterschied zwischen den Hunden von Jean-Baptiste Oudry oder François Desportes im Louvre und denen von Landseer in der National Gallery in London! Aber ebenso, wie der intellektuelle Anspruch des Themas vor 1850 nur in Motiven gezeigt wurde, die nicht der Rede wert waren, so wurde auch die Intensität des Ausdrucks nur in den Darstellungen von Tiergestalten ausdauernd studiert und auch erreicht.

Die meisten der menschlichen Gestalten hatten eine banale Haltung, ohne expressive Modalität oder spezifische Wahrheit oder malerische Genauigkeit. Sie wurden vor erdachte Hintergründe ins Atelier gestellt, mit dem akademisch verbrämten „Chic“ ausgestattet, nach allgemein anerkannten und im Grunde hervorragenden Prinzipien, die aber nicht richtig verstanden und schlampig angewendet wurden, sie gingen verloren und lösten sich in der immer trüberen Erinnerung an die schönen Tage von Reynolds und Gainsborough auf.