Dieser Rat eines Unbekannten kam genau zur richtigen Zeit, nicht nur, dass er an sich hervorragend war, sondern auch, weil er für ein schlimmes Übel ein hervorragendes Heilmittel anzeigte. Hunt und Millais dachten beide darüber nach und untersuchten bei den wenigen Gemälden alter Künstler, die sie da und dort in den Galerien sahen, ob ihre immer währende Frische nicht von dieser freien Ausführung ohne Grundierung, ohne durchdachte Mischung und ohne rezeptartige Vermengung kam. So hatten sie die Meister vor Raffael vom Fresko, wo sie unumgänglich war, auf die Ölmalerei übertragen, wo sie dann aufgegeben wurde. Bei den alten Meistern, bei denen Madox Brown vor allem die nicht auswendig gelernte, sondern individuell erarbeitete Geste gesehen hatte, und Haltungen, die nicht von Puppen oder von den berühmten Meisterwerken her kamen, sondern in der Natur gefunden wurden, da sahen sie vor allem eine helle und glänzende Farbe und entwickelten einen vagen Ehrgeiz, auch dahin zu kommen.

Holman Hunt hatte große Freude an ästhetischen Diskussionen, aber er las auch gern und viel: Dichter, Gelehrte, Historiker, Philosophen - er verschlang alles, was ihm in die Hände fiel. Wie Hippolyte Flandrin war ihm seine Allgemeinbildung ebenso wichtig wie die Schulung seiner Augen, und während er tagsüber malte, las er fast die ganze Nacht. Einer seiner Kameraden aus dem Atelier brachte ihm eines Abends ein Buch von einem Oxfordabsolventen, das vor wenigen Jahren erschienen und immer wieder neu aufgelegt worden war, Modern Painters. Holman Hunt blätterte in dem Buch, zuerst neugierig, dann voller Bewunderung und dann mit Begeisterung. Das war keine von diesen verschwommenen Schwätzereien, die man gewöhnlich unter dem Namen Ästhetisches zusammenfasste, das war nicht jene Kunstliteratur, die den Überläufern aus der Literatur zu verdanken sind, die schlecht schreiben und überhaupt nicht zeichnen. Es war ein lebhaftes, zügiges, wortgewaltiges und leidenschaftliches Plädoyer zugunsten der naturnahen Landschaft, die sich der akademischen und zusammengestellten Landschaft entgegenstellte. Es war eine frei gehaltene und Funken sprühende Studie voller Tatsachen und voller Beispiele, bei der die Erfahrung des Praktizierenden in jeder Theorie zu spüren war, eine Erörterung, bei der man ahnte, dass jedem Federstrich ein Pinselstrich vorausgegangen war. Und gleichzeitig war es die schönste, die reichste, die stärkste und die genaueste Sprache, die man sich vorstellen konnte. Hunt versenkte sich in dieses Buch, aus dem er wie aus einem zweiten Leben schöpfte, in diese Seiten eines Unbekannten, die ausschließlich und namentlich für ihn geschrieben zu sein schienen, so sehr drückten sie mit Klarheit aus, was er verworren in seiner Seele spürte – Hunt las die ganze Nacht. Was las er? Zum Beispiel:

„Jeder Maler sollte es sich zur Regel machen, dass er das Bild nicht von der Staffelei nimmt, solange es noch verbessert werden kann, solange man noch einen Gedanken mehr hineinstecken kann. Der allgemeine Anblick ist oft perfekt und reizvoll und kann nicht mehr weiter verbessert werden, während viele Einzelheiten noch völlig unvollendet und fehlerhaft sind. Es kann sehr schwierig sein, und das ist vielleicht die schwierigste Aufgabe in der Kunst, diese Einzelheiten zu ergänzen, ohne die Wirkung des Ganzen zu gefährden. Aber solange der Künstler das nicht getan hat, ist seine Kunst unvollkommen und sein Bild ist unvollendet.

Das Bild wird erst dann ein vollendetes Bild sein, wenn es gleichzeitig die Gesamtheit und die Wirkung der Natur hat und die unendliche Perfektion des Details der Natur. Und nur dadurch, dass er sich bemüht, diese beiden Dinge zu vereinen, kann ein Maler zur Perfektion gelangen. Sucht er nur die Einzelheiten, so wird er zum Arbeiter; sucht er jedoch nur die allgemeine Wirkung zu erreichen, so lässt er etwas verschwinden.“[7]