Kim, Leon und Julian schauten sich ängstlich an.
„Hoffentlich geht das gut“, hauchte das Mädchen.
„Ja, was für ein verrückter Plan“, erwiderte Leon und deutete auf die Ruder. „Notfalls können wir wenigstens entkommen.“
Sie schauten nach oben. Die Wolken hatten den Mond freigegeben. Schwarze Gestalten huschten geduckt an der Reling entlang zum prächtigen Achterkastell des Schiffs. Dort leuchtete plötzlich ein Licht auf. Die Freunde hielten den Atem – bestimmt waren das die Wachen!
Schon wurden Rufe laut. Ein Poltern. Kampflärm, unterdrückte Schreie – Glas splitterte, dann erlosch das Licht.
Jetzt war es wieder still. Eine kalte Böe trieb kleine Wölkchen am weißen Mond vorbei. Die Minuten verstrichen und nichts geschah.
„Sie durchsuchen das Schiff nach Schätzen“, vermutete Julian.
Endlich tauchten wieder Männer an der Reling auf. Jemand winkte ihnen zu. Kim erkannte, dass es Drake war. Dann wurden Truhen an Seilen herabgelassen. Die Freunde nahmen sie in Empfang. Dabei mussten sie höllisch aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und ins Wasser zu stürzen. Leon konnte es nicht lassen und hob den Deckel einer Truhe an. Sie war bis zum Rand mit Dukaten gefüllt.
Ein leiser Pfiff ließ Leon wieder zum spanischen Schiff schauen. Jetzt wurde eine Strickleiter herabgelassen. Bevor sich Leon fragen konnte, was das sollte, brach die Hölle los. Aus dem Hinterhalt peitschten Schüsse über das Wasser. Jemand schrie gellend.
Kommandos erschallten. Kapitän Drake wedelte mit den Armen und gab kurz und präzise seine Anweisungen. Die ersten Männer eilten die Strickleiter hinunter und sprangen in die Pinasse. Wieder bellte Musketenfeuer.
Voller Angst drehte sich Leon nach Diegos Boot um. Niemand schoss zurück – und jetzt erkannte Leon auch den Grund: Wenn Diegos Männer abgedrückt hätten, so hätten sie die eigenen Leute treffen können, die über die Reling kletterten. Erneut ertönten Schüsse. Sie kamen vom Bugkastell. Wasser spritzte auf, dann flogen Holzsplitter durch die Luft – die Pinasse war getroffen worden!
Jetzt sprang John ins Boot. In seinen Augen lag ein nervöser Glanz. „Schneller, schneller, schneller!“, feuerte er die anderen Piraten an, die jetzt nach und nach in die Pinasse stürmten und dabei fast übereinander fielen.
Flüche wurden laut. Zum Schluss kam Drake – aber er war nicht allein. Er trieb einen Mann vor sich her, der ihn wüst auf Spanisch beschimpfte.
„Was wollen wir mit dem?“, fauchte William. „Wir saufen doch auch so fast ab!“
„Halt die Klappe!“, stauchte der Kapitän ihn zusammen. „Dieser Señor ist unsere Geisel – hoffentlich wird man dann nicht mehr auf uns schießen.“
Er hielt dem Spanier seinen Säbel unter die Kinnspitze. Der Mann funkelte ihn wütend an. Aber er verstand, was von ihm verlangt wurde, und brüllte ein paar Worte zum Schiff. Augenblicklich schwiegen die Musketen.
„Wer sagt’s denn!“, rief Drake zufrieden. „Und jetzt an die Riemen. Wir müssen verschwinden! Gleich geht es hier richtig zur Sache!“
„Was ist mit der Cacafuego?“, fragte John.
„Keine Spur von ihr“, erwiderte Drake mürrisch und nahm wieder neben dem Bordgeschütz Platz.
Unterdessen überschüttete der Spanier Drake mit einem Schwall aus Schimpfwörtern, wobei Julian auffiel, dass mehrfach Drakes Name fiel. Der Kapitän ignorierte den Spanier, ließ ihm aber zur Sicherheit Hände und Füße fesseln.
Alle legten sich mächtig in die Riemen, und die Pinasse sowie Diegos Boot machten ordentlich Fahrt. Auch Leon, Kim und Julian ruderten wie besessen. Drakes großer Plan hatte nur teilweise funktioniert. Man hatte sie entdeckt! Jetzt galt es, aus der Bucht herauszukommen.
„Ein Glück, dass uns der ehrenwerte Spanier begleitet“, sagte John und lachte sogar kurz auf.
Danach war Julian nicht gerade zumute. Er schaute einmal mehr über die Schulter zum Bug, wo Drake saß. Hatten sie die Bucht schon verlassen und das offene Meer erreicht, wo die Golden Hind auf sie wartete?
Doch er sah leider nicht die Golden Hind, sondern etwas, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine dickbauchige, gut beleuchtete Galeone schnitt ihnen den Weg ab!
„Achtung, Männer!“, schrie Drake. „Feind steuerbord voraus. Ruder einholen. Klarmachen zum Gefecht!“
„Die … die werden uns … doch wohl nicht … angreifen …“, stammelte John. „Wir haben schließlich die Geisel!“
„Oh doch, das sieht ganz so aus“, giftete William. „Sie pfeifen auf das Leben des Señors! Jetzt bekommen wir die Quittung für unseren blinden Gehorsam!“
Die Piraten legten die Musketen an.
„Erst schießen, wenn ich das Kommando gebe!“, befahl Drake. „Wir sind noch zu weit weg!“
Der große Segler verlangsamte die Fahrt und drehte bei.
„Oh Gott, der Spanier hat uns den Weg abgeschnitten. Und die Geschützluken sind offen, ich kann’s genau sehen, sie werden tatsächlich auf uns feuern!“, sagte John voller Panik und faltete die Hände. Er begann ein Gebet zu murmeln.
„Zielt auf die Luken“, schrie Drake, „und versucht, die Geschützmannschaften auszuschalten!“
Die Musketen wurden alle gleichzeitig abgefeuert. Pulverdampf umwaberte die Pinasse. Auch von Diegos Schiff knallte eine Salve in Richtung Galeone.
Die Antwort des Kriegsschiffs ließ nicht lange auf sich warten. Es feuerte eine komplette Breitseite auf die beiden kleinen Boote ab. Es klang wie das Donnern und Grollen eines heftigen Gewitters. Dann rasten die Kugeln heulend heran. Gischt spritzte auf und die Boote schwankten bedenklich. Aber wie durch ein Wunder war weder Drakes noch Diegos Boot getroffen worden.
„Freut euch nicht so früh, die laden nach!“, sagte William.
Drake antwortete nicht, sondern beugte sich über das kleine Geschütz im Bug. Ein schwacher Feuerschein glomm auf.
„Er schießt zurück“, sagte Leon tonlos. „Aber was kann er mit dem kleinen Ding schon ausrichten?“
„Eine ganze Menge“, erwiderte John. „Er muss nur richtig treffen. Zum Beispiel die Pulverkammer …“
„Aber woher will der Kapitän wissen, wo die ist?“
„Seht ihr das Abzugsrohr auf der Back?“, fragte John leise.
„Ja.“
John sah sie eindringlich an. „Das gehört bestimmt zur Kombüse. Und wenn die Kombüse im vorderen Teil der Galeone ist, dann ist die Pulverkammer garantiert achtern – wegen der Feuergefahr, die von der Kombüse ausgeht! Außerdem …“
Weiter kam er nicht. Das Geschütz der Pinasse brüllte auf. Schrill pfeifend sauste die Kugel über die nächtliche See und traf die Galeone unterhalb des Besanmastes. Es gab ein hässliches Splittern, als die Kugel die Bordwand durchbrach. Eine heftige Explosion folgte. Das Achterkastell zerbarst in einem Feuerball. Der Besanmast wurde vom Druck der Detonation weggefegt und krachte aufs Oberdeck. Es regnete Holztrümmer und Takelageteile. Schon bekam die Galeone leichte Schlagseite.
Auf Drakes Booten brach Jubel aus.
„Was für ein Schuss!“, brüllte jemand. „Hoch lebe der Käpt’n!“
Die Freunde sahen, wie von der Galeone Rettungsboote zu Wasser gelassen wurden. Das Feuer am Heck breitete sich rasch aus. Weitere, kleinere Explosionen folgten.
„An die Riemen!“, befahl Drake. „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Bestimmt wird gleich eine weitere Galeone gefechtsklar gemacht!“
Wie in Trance gehorchten auch die Freunde. Sie ruderten um ihr Leben. Ihre Muskeln brannten, ihr Atem jagte.
Völlig ausgepumpt erreichten sie wenige Minuten später die Golden Hind. Dort ließ Drake den Spanier in einem weiteren Beiboot frei. Der Mann beschimpfte Drake weiter wüst und wünschte ihm den Teufel auf den Hals.
Die Golden Hind setzte Segel und floh aus der Bucht von Callao. Drakes Schiff nahm jetzt Kurs aufs offene Meer.
Kim, Leon und Julian bekamen keine Anweisungen und zogen sich in ihre Hängematten im Geschützdeck zurück, wo sie Kija freudestrahlend in die Arme schlossen. Die Katze blickte die Freunde vorwurfsvoll an und miaute etwas unwillig.
„Ich glaube, sie will nach Hause. Schiffe sind einfach nichts für sie“, sagte Kim.
„Aber ich möchte wissen, wie Drake die Cacafuego geplündert hat“, erwiderte Leon.
Julian schaute seine Freunde nachdenklich an. „Leute, mir ist da vorhin etwas aufgefallen, als wir den spanischen Kapitän an Bord genommen haben …“
„So, was denn?“
Julian kam nicht dazu, von seinem Verdacht zu berichten. Diegos Pfeife ertönte. Die Mannschaft musste an der Ruderpinne antreten.
„Niemand scheint uns zu verfolgen, die Spanier haben unsere Fährte verloren. Und wir, wir haben heute eine gute Prise gemacht!“, begann der Kapitän. „Jeder von euch wird selbstverständlich seinen Anteil bekommen!“
Die Männer johlten und pfiffen.
„Wie viele Dukaten sind es, Käpt’n?“
„Ich habe sie noch nicht gezählt“, erwiderte Drake. „Doch es hat sich dem ersten Anschein nach gelohnt, Männer!“
„Wir hätten diesen Spanier mitnehmen und als Sklaven verkaufen sollen!“, bemängelte jemand. „Wer war das überhaupt? Der Kapitän?“
„Ja, ich kenne zwar seinen Namen nicht, aber er hat mir zu verstehen gegeben, dass er der Kapitän ist“, erwiderte Drake. „Eine Schande, dass die Spanier auf ihre eigenen Leute schießen!“
William trat vor, die Arme vor der Brust verschränkt. „Aber was ist mit der Cacafuego, die Sie uns versprochen haben, Käpt’n?“
Drake sah William herausfordernd an. „Wir werden auch die Cacafuego entern, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“
„Also haben wir vorhin unser Leben für ein kleines spanisches Handelsschiff riskiert“, stellte William fest. „Die Cacafuego war offensichtlich gar nicht da, wo Sie, Käpt’n, sie vermutet haben.“
In der Mannschaft wurde gemurrt.
„Die Cacafuego muss Callao erst vor Kurzem verlassen haben“, sprang Filipe dem Kapitän bei. „Sie wird auf dem Weg nach Panama sein und wir werden sie schon noch einholen. Die Golden Hind ist schließlich erheblich schneller als die plumpe Cacafuego.“
Wieder gab es Diskussionen.
Drake wartete einen Moment, dann hob er die Hand, was alle zum Verstummen brachte. „Wir werden die Cacafuego jagen und sie zur Strecke bringen, Männer“, versprach er. „Unser heutiger Erfolg soll aber zunächst gefeiert werden. Rum für alle, und nicht zu knapp!“
Die Skepsis in der Mannschaft wich – spätestens, als ein Fässchen Rum auf dem Vorderkastell angezapft wurde und der Schnaps zu fließen begann.
„Drake ist gar nicht auf Williams Vorwürfe eingegangen“, bemerkte Kim, als die Freunde unter sich waren. Sie lehnten gemeinsam an der Reling und schauten hinaus aufs Meer.
„Er ignoriert ihn und lässt lieber Fakten sprechen“, entgegnete Leon. „Doch er sollte nicht den Fehler machen, diesen William zu unterschätzen. Aber was wolltest du uns vorhin eigentlich sagen, Julian?“
Julian vergewisserte sich, dass niemand sie belauschte. Dann erwiderte er leise: „Zwei Dinge haben mich stutzig gemacht. Erstens: Die spanische Geisel wusste, wer sie entführt hat. Denn als der Spanier Drake beschimpfte, nannte er mehrfach dessen Namen. Das habe ich genau gehört. Doch Drake hat vorhin gesagt, dass er den Spanier gar nicht kannte. Also: Woher wusste der spanische Kapitän, dass er es mit Drake zu tun hatte? Zweitens: Wieso war die Galeone, die uns beschossen hat, bereits gefechtsklar? Die Mannschaft dieses Schiffs war auf unser Kommen vorbereitet, sage ich euch.“
Kims Mund klappte auf. „Du meinst, die Bucht von Callao war eine Falle?“
Julian nickte. „Ja, und das Ganze hat bestimmt mit den Lichtsignalen zu tun. Ich fürchte, dass der Kugelhagel von vorhin nicht die letzte böse Überraschung war!“