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Die List

Als der nächste Morgen dämmerte, ließ Drake die Mannschaft wie gewöhnlich zum Gebet antreten. Während Kim den Text murmelte, beobachtete sie den Himmel. Er bot ein atemberaubendes Schauspiel. Violette Wolken reihten sich aneinander. Von Osten schimmerte rotes Licht durch, gewann schnell an Kraft und eroberte leuchtend den Küstengürtel. Es schien ein besonders schöner Tag zu werden.

„Männer!“, brüllte der Kapitän, sobald das Gebet und der Treueschwur für Königin Elisabeth beendet waren. „Wie ihr alle wisst, ist unser Ziel die Cacafuego. Und ihr wisst auch, dass dieses Schiff über große Geschütze verfügt. Also kommt es darauf an, dass wir die Spanier zuerst sehen – und nicht die Spanier uns.“

Er blickte die Matrosen der Reihe nach an. Dann zog er unter seinem wie immer blütenweißen Hemd eine schwere Goldkette hervor und hob sie hoch in die Luft, damit sie jeder sehen konnte.

„Diese Kette bekommt derjenige, der die Cacafuego als Erster entdeckt!“, rief der Kapitän.

Die Mannschaft bekam große Augen. Ein Raunen ging durch die Reihen.

„Also, Männer, es lohnt sich, besonders wachsam zu sein!“, sagte Drake abschließend. „Und jetzt ran an die Arbeit!“

Der Kapitän jagte die Mannschaft in die Wanten. Nur Percy ging unter Deck und humpelte in seine Kombüse. Diego übernahm die Ruderpinne, während sich Drake und Filipe auf das Achterkastell zurückzogen.

Kim, Julian und Leon halfen mit, das kleine Stagsegel zu setzen. Hoch über ihren Köpfen arbeiteten die anderen Seeleute, und nach und nach fielen Vor-, Haupt- und Besansegel in den Wind, der sie aufblähte. Rasch gewann die Golden Hind an Fahrt.

„Mann, ist das herrlich!“, rief Leon übermütig, als er kurz darauf ganz vorn am rot und gelb gestreiften Galion des Schiffes stand und die Nase in die Brise hielt. Die Sonne streichelte sein Gesicht mit den vielen Sommersprossen, er schmeckte Salz auf den Lippen. In diesem Augenblick fühlte sich Leon wie ein echter Seemann, fast schon wie ein Pirat.

„Wetten, dass John noch eine viel bessere Aussicht hat!“ Kim lachte.

Leon wandte sich um. „Ich sehe ihn nicht.“

Da hörte er John rufen und blickte nach oben. Er staunte. John winkte ihm aus dem Krähennest zu.

„Kommt doch rauf!“, schrie der junge Pirat. Lässig lehnte er im hölzernen Korb am Masttopp.

Julian tippte sich nur an die Stirn. Nicht um alles in der Welt würde er da raufklettern. Er grinste Leon und Kim an: „Nach euch!“

Leon überlegte einen Moment, aber dann sagte er: „Muss nicht sein. Vielleicht ein anderes Mal.“

„Da würde noch nicht mal Kija raufklettern“, bemerkte Kim. Die ägyptische Katze hatte es vorgezogen, sich ein sicheres Plätzchen unter Deck zu suchen. Kim vermutete, dass sie sich bei Percy in der Kombüse aufhielt. „Kommt Jungs, wir machen uns beim Smut nützlich.“

Und so saßen sie kurz darauf in Percys leicht schwankendem Reich und schälten mal wieder Kartoffeln. Kija lag auf Kims Schoß und blinzelte träge. Die nächtliche Rattenhatz war ziemlich anstrengend gewesen.

Unterdessen hantierte Percy am Herd. „Hab William gebeten, die Angel auszuwerfen. Ich hoffe, dass er ein paar Fische fängt. Das wäre mal eine schöne Abwechslung auf dem Speisezettel“, brummte er vor sich hin. „Außerdem bekommt jeder heute einen Apfel. Da sind Vitamine drin, hat mir der Kapitän verraten. Und das soll gut gegen Skorbut sein.“ Der Smut grinste und deutete auf die Löcher in seinem Gebiss, wo vor langer Zeit einmal Eckzähne gewesen sein mochten. „Hätte ich früher wissen sollen …“

Der Mann hat wirklich einen sehr schrägen Humor, dachte Kim einmal mehr.

„Den Fisch könnte ich mit etwas Zitrone abschmecken“, sagte Percy, während er mit spitzen Fingern eine verhutzelte Zitrusfrucht unter die Lupe nahm. „Aber ob da noch viel Saft rauskommt? Nun, ich könnte ja auch …“

Ein Schrei ließ ihn verstummen.

„Das kam vom Oberdeck!“, rief der Smut. „Los, rauf!“

Schon hasteten sie den Niedergang hinauf. Sogar Kija kam mit.

Ein Großteil der Mannschaft hatte sich um den Hauptmast versammelt. Auch Drake und Filipe waren da. Nur Diego hatte seinen Posten nicht verlassen und stand immer noch an der Ruderpinne.

„Ich hab sie gesehen, ich hab sie gesehen!“, brüllte John und hüpfte wie ein Gummiball auf dem Deck herum. „Die Cacafuego!“

„Wo?“, fragte Drake atemlos.

„Hart backbord voraus!“, rief John. Seine Wangen waren vor Aufregung gerötet.

„Macht Platz, Männer!“, herrschte der Kapitän die Umherstehenden an. Dann eilte er zur Back und richtete das Fernrohr in die von John angegebene Richtung.

Es verging eine halbe Minute, die allen vorkam wie eine Ewigkeit. John kaute auf seiner Unterlippe herum. Nun winkte der Kapitän Filipe heran und reichte ihm das Fernrohr.

„In der Tat, sie ist es!“, rief der Navigator kurz darauf. „Und soweit ich es einschätzen kann, ist sie wie erhofft erheblich langsamer als wir.“

Jubel brach an Deck aus.

„Mir gehört die Kette!“, schrie John über den Lärm hinweg.

Mit gemessenen Schritten ging sein Onkel auf ihn zu und holte die Kette hervor. Plötzlich kehrte feierliche Stille ein. Drake lächelte sanft. Dann hängte er seinem Neffen die Kette um. John strahlte über das ganze Gesicht, während die Mannschaft applaudierte.

Schließlich hob der Kapitän die Hand und es kehrte wieder Ruhe ein.

„Wir sollten uns nicht zu früh freuen“, sagte Drake ernst. „Denn nun beginnt der schwierige Teil der Aufgabe …“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause, die William sofort für eine Frage nutzte.

„Sir, Sie wollen doch nicht etwa jetzt angreifen, oder?“

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Der Kapitän richtete seinen Blick auf den Matrosen. Seine Augen wurden schmal.

„Selbstverständlich!“, erwiderte er souverän.

„Aber … aber die Cacafuego wird uns auf den Meeresgrund schicken!“, stammelte William fassungslos. „Wir haben keine Chance gegen dieses Schiff, Käpt’n, schon gar nicht bei Tag!“

„Wenn ein Feigling wie du hier das Kommando hätte, dann wohl nicht“, sagte Drake kühl.

William ballte die Fäuste. Dann bekreuzigte er sich hastig. „Das ist Wahnsinn, absoluter Wahnsinn. Wir werden tot sein, bevor auch nur ein einziger unserer Enterhaken die Cacafuego berührt.“

Betretenes Schweigen. Sogar John war nachdenklich geworden. Die Gefährten warfen sich nervöse Blicke zu.

„Niemand wird sterben“, sagte der Kapitän sachlich. „Ich habe einen Plan, und er wird funktionieren, wenn jeder genau das tut, was ich sage, Männer.“

Ein Ruck ging durch die Mannschaft.

„Wir werden uns den Schatz der Cacafuego holen, das verspreche ich“, fuhr Drake fort. „Jeder von euch wird als reicher Mann in unser geliebtes England zurückkehren, jeder!“ Drakes Wörter knallten wie Peitschenhiebe über das Deck. Jetzt machte er einen Schritt auf William zu. Die Männer standen sich nun so dicht gegenüber, dass sich ihre Nasen fast berührten. „Was ist mir dir, William? Wirst du meinen Befehlen folgen oder soll ich dich über die Planke schicken?“

William senkte den Blick. „Aye, Sir, ich werde gehorchen“, murmelte er.

„Lauter, William, ich hab dich nicht gehört!“, forderte der Kapitän.

Mit hängenden Schultern wiederholte William den Satz laut und deutlich.

„Das rate ich dir auch“, zischte Drake, bevor er sich von William abwandte. „Jeder geht zurück auf seinen Posten. Wir halten geradewegs auf die Cacafuego zu. Wartet meine nächsten Befehle ab!“

Die Freunde erhielten keine neuen Aufgaben. Natürlich gingen sie nicht in die Kombüse zurück, sondern liefen zum Galion.

„Was hat Drake nur vor?“, fragte Julian.

„Das werden wir gleich wissen“, sagte Kim, während sie Kijas Köpfchen streichelte. „Und dann haben wir auch die Antwort auf die Frage, die am Anfang dieses Abenteuers stand, Jungs!“

„Hoffentlich ist es nicht wieder eine Falle“, sagte Julian.

Leon bedeckte die Augen mit der Hand. Ein gutes Stück vor ihnen war ein dunkler Punkt zu sehen. Das musste die Cacafuego sein! Jetzt hätte Leon viel für ein anständiges Fernrohr gegeben. „Mich würde interessieren, was William eigentlich plant“, sagte er mit besorgtem Gesicht.

„Schiff gefechtsklar machen!“, gellte da Drakes Kommando über das Deck.

„Kommt, wir schauen zu!“, rief Kim und sauste los.

Im Geschützdeck herrschte Hochbetrieb. Die Matrosen machten Lunten, Stopfer, Pulver und Kanonen bereit. Der Kapitän selbst überprüfte den Fortschritt der Arbeiten.

„Die Geschützluken bleiben zu!“, bellte er William an, als dieser eine Pforte öffnen wollte. „Niemand soll sehen, was wir vorhaben!“

Dann wandte er sich an einen anderen Mann. „Bereitet Brandpfeile vor. Notfalls schießen wir ihre Segel in Brand und machen ihnen Feuer unterm Hintern! Dann ist die Cacafuego manövrierunfähig.“

„Aye, Sir!“

Drake hetzte wieder aufs Oberdeck, dicht gefolgt von den Gefährten.

„Filipe, du übernimmst das Ruder. Diego, komm her!“, lautete die nächste Order.

Diego übergab die Pinne und sah den Kapitän fragend an.

„Sorg dafür, dass eine spanische Flagge gehisst wird“, verlangte Drake. „Außerdem bist du mir dafür verantwortlich, dass überall an Deck Tonnen mit Wasser stehen – für den Fall, dass die Spanier versuchen, uns in Brand zu schießen!“

„Aye, Käpt’n!“, erwiderte Diego und strahlte dabei über das ganze Gesicht. „Eine spanische Flagge – gute Idee!“

Leon blies die Backen auf. Das konnte wirklich ein heißer Kampf werden. Außerdem gab es vermutlich einen Verräter an Bord! Und der könnte, das ahnte Leon, in diesem gefährlichen Spiel noch eine entscheidende Rolle spielen.

Die Freunde beobachteten, wie John mit der Flagge den Hauptmast hinaufkletterte und sie über dem Krähennest hisste. Unterdessen wuchteten die Matrosen volle Wasser- und Sandfässer unmittelbar an die Masten.

Die Freunde schauten zum Bug. Der schwarze Fleck war größer geworden. Die Golden Hind holte die Cacafuego in Windeseile ein.

Julian hatte ein mulmiges Gefühl. Hoffentlich gab es kein richtiges Gefecht! In Gedanken suchte er schon ein Plätzchen, wo sie sich verkriechen konnten, wenn die Seeschlacht erst begann. Aber hier war alles aus Holz. Nichts, was eine eiserne Kanonenkugel aufhalten konnte! Julian beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Drake nicht so dumm sein konnte, die Cacafuego zur offenen Schlacht herauszufordern. Nein, der Kapitän musste noch etwas vorhaben – aber was?

Keine Viertelstunde später war das spanische Schiff gut zu sehen. Die stolze Galeone wirkte relativ plump und langsam. Sie mochte noch etwa fünfhundert Meter entfernt sein.

Drake befahl, dass sich die Golden Hind auf der Backbord-Seite der Cacafuego hielt.

Julian hatte den Eindruck, dass Drakes Schiff auf die Cacafuego zuflog, so schnell war sie. Er blickte zum Kapitän und sah, dass der Freibeuter listig lächelte.

„Macht unser Schiff langsam, Leute!“, schrie er.

Diego schaute den Kapitän ungläubig an. „Langsam, Sir? Sollen wir die Segel reffen?“

„Nein, kein Fetzen Segel wird eingeholt. Werft Treibanker aus. Füllt Tonnen mit Sand und hängt sie an das Heck!“

Sofort wurde der Befehl ausgeführt – und die Golden Hind verlor deutlich an Fahrt. Als Drake die fragenden Gesichter der Freunde bemerkte, erklärte er ihnen seinen Plan: „Sicher haben die Spanier uns schon entdeckt. Sie sehen ein Schiff mit spanischer Flagge unter vollen Segeln, das dennoch merkwürdig langsam ist. Sie werden denken, dass wir ein Problem haben, dass wir in Seenot sind. Aber ganz sicher werden sie nicht glauben, dass wir sie gleich angreifen werden.“

Staunend blickten die Gefährten wieder zur Cacafuego. Deren Segel waren gerefft worden. Es schien so, als ob die Galeone auf die Golden Hind warten würde. Langsam schob sich Drakes Schiff auf die Cacafuego zu. An Deck der Golden Hind machte sich nervöse Spannung breit.

„Pinasse backbord zu Wasser lassen und mit zwanzig Schützen besetzen. Die Pinasse bleibt dort in Position“, ordnete Drake als Nächstes an.

Kim war beeindruckt. „Die Spanier können die Pinasse und die Piraten nicht sehen! Das Beiboot wird von der Golden Hind verdeckt.“

Julians Herz klopfte jetzt immer schneller. Zwanzig Schützen! Fast glaubte er, schon den Pulverdampf riechen zu können.

Bis zu den Zähnen bewaffnete Männer kletterten in die Pinasse. In ihren Augen lag wilde Entschlossenheit. Unterdessen kroch die Golden Hind weiter auf die Cacafuego zu. Jetzt waren die Schiffe in Rufweite. Mit Erleichterung sah Julian, dass die Geschützluken der Cacafuego geschlossen waren. Offenbar war dort niemand auf Gefechtsstation!

„Taue der Treibanker kappen!“, befahl der Kapitän leise.

Von der Last befreit, nahm die Golden Hind wieder Fahrt auf, wechselte den Kurs und lag urplötzlich steuerbord der Cacafuego, während die Pinasse backbord blieb. Die Engländer hatten die Spanier in die Zange genommen.

„Geschützpforten auf!“, schrie Drake.

Auf dem Achterkastell der Cacafuego tauchten mehrere Männer auf und gestikulierten wild.

„Ergebt euch oder ihr werdet versenkt!“, brüllte Filipe auf Spanisch. Ein Wortschwall folgte von der Cacafuego.

„Was hat er gesagt?“, verlangte Drake zu wissen.

„Sie denken gar nicht daran aufzugeben“, antwortete Filipe.

Wie zur Bestätigung tauchten am Oberdeck der Spanier Musketenschützen auf und legten auf die Golden Hind an.

„Auweia“, sagte Kim, die bleich geworden war. Mit Kija, Leon und Julian verkroch sie sich hinter zwei dicken, mit Sand gefüllten Fässern.

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