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Sieg auf dem Weiher

„Haut rein!“, rief Kim lachend. Sie saß mit Kija auf dem Schoß im Bug des Ruderboots, während sich Leon und Julian in die Riemen legten. Es war ein sonniger Tag in den Sommerferien, und die Freunde hatten beschlossen, ihn am See ihres Heimatstädtchens Siebenthann zu verbringen. Hier gab es ein Schwimmbad, einen Minigolfplatz und den Bootsverleih.

„Wir können gerne die Plätze tauschen“, erwiderte Julian. Es war ziemlich heiß, und er sah überhaupt nicht ein, warum er sich unnötig abrackern sollte.

„Genau, genieß die Landschaft und entspann dich, Kim“, sagte Leon. „Schließlich haben wir Ferien!“

„Ich will euch ja nicht hetzen, Jungs“, gab Kim zurück, „aber die drei Heinis aus der Nachbarklasse haben Kurs auf uns genommen.“

Nun drehten sich Julian und Leon um. Ein anderes Ruderboot näherte sich ihnen, und zwar außerordentlich schnell.

„Das sind ausgerechnet Maximilian, Jonas und der dicke Nils“, Julian stöhnte. Die drei waren an der ganzen Schule verschrien, weil sie nichts als Blödsinn im Kopf hatten und immer wieder durch Prügeleien unangenehm auffielen.

Johlend winkten sie den Gefährten zu.

„Von denen werden wir uns nicht überholen lassen“, kündigte Kim an. „Lass mich mal.“ Sie wechselte mit Julian den Platz.

Kim und Leon gaben alles, konnten aber nicht verhindern, dass das andere Boot sie einholte.

„Wen haben wir denn da?“, tönte Nils, sobald sie auf gleicher Höhe waren. Es trennten sie nur noch etwa fünf Meter. „Drei lahme Schnecken und eine alte, doofe Katze.“

Seine Freunde lachten.

„Halt die Klappe!“, rief Kim. Sie spürte, wie sie sauer wurde. „Kija ist nicht alt und dreimal schlauer als du!“

Der dicke Nils stand auf, was das Boot gefährlich schwanken ließ.

„Vorsicht“, mahnte Leon feixend. „Du wirst euer Boot noch zum Kentern bringen!“

Nils deutete mit dem Finger auf sie. „Nehmt den Mund nicht so voll, Leute, sonst versenken wir euch. Ich wette, die alte Katze kann nicht schwimmen!“ Beifall heischend wandte er sich an seine Freunde, die wieder grölten.

Kim schloss die Augen. Die Kerle gingen ihr wirklich beträchtlich auf den Keks. „Sie kann’s. Und noch ein paar andere Dinge, von denen du noch nicht mal zu träumen wagst“, entgegnete sie gereizt.

Doch Nils schüttelte den Kopf. „Katzen hassen Wasser. Und weißt du warum? Weil sie eben nicht schwimmen können.“

Kim zeigte ihm einen Vogel.

„Na gut, wir werden es ja sehen“, rief Nils und hob die Faust. „Jetzt entern wir den Pott und werfen diese Schlaumeier ins Wasser! Angriff!“

Jonas und Maximilian, die an den Riemen saßen, drehten das Boot so, dass der Bug genau auf den Kahn der Freunde zeigte.

„Volle Kraft voraus!“, kommandierte Nils, der stehen geblieben war.

„Diese Verrückten wollen uns rammen“, sagte Julian erschrocken. „Wie müssen auf Kija aufpassen.“

Der Katze war die drohende Gefahr nicht entgangen. Ihre Augen waren ängstlich geweitet. Sie miaute klagend.

„Jetzt reicht es!“, zischte Leon. Seine Hände schlossen sich fest um den Riemen, während das andere Boot schnell näher kam. Der Junge sah das selbstgefällige Grinsen in Nils’ Gesicht. Nun winkte er auch noch. Was für ein Blödmann! Aber gleich würde er ein nasser Blödmann sein. Noch drei Meter, noch zwei. Jetzt kam Leons Stunde. Wie mit einer Lanze stieß er mit dem Ruder zu und traf das heranrauschende Boot schräg neben dem Bug. Der Schlag ließ den Kahn erzittern und prompt geriet Nils aus dem Gleichgewicht. Er vollführte einen seltsamen Tanz, bevor er über Bord ging und mit einem lauten Platsch ins warme Wasser des Weihers plumpste.

Gleichzeitig rammte sein Boot das der Freunde, die sich aber gut festhielten. Ihnen geschah nichts. Im Gegenteil: Durch den Aufprall entfernten sich die beiden Boote wieder etwas voneinander. Jonas und Maximilian versuchten, ihren Kumpel an Bord zu hieven, während die Gefährten davonruderten.

„Gute Aktion, Leon!“ Kim und Julian lachten.

„Danke!“, erwiderte Leon grinsend. „Die haben sich aber auch zu dämlich angestellt. Als Piraten hätten die nie Karriere gemacht.“

„Das haben wohl die wenigsten“, sagte Kim. „Selbst so berühmte wie Anne Bonny wurden irgendwann geschnappt!“

„Mir fällt noch Klaus Störtebeker ein“, rief Leon. „Der wurde geköpft, soviel ich weiß.“

„Ja, die meisten haben ein schlimmes Ende genommen.“ Kim ruderte langsamer, weil der Anlegesteg nur noch wenige Bootslängen entfernt war.

„Aber nicht alle“, korrigierte Julian. „Ein Pirat wurde sogar von der englischen Königin zum Ritter geschlagen: Francis Drake.“

„Geadelt? Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Leon.

Jetzt hatten sie den Anleger erreicht. Kija sprang als Erste von Bord.

„Doch, ich bin mir ziemlich sicher“, beharrte Julian. „Aber wir können ja nachschauen. Ein Blick ins Internet würde genügen. Habt ihr Lust?“

Leon und Kim waren dabei. Eine halbe Stunde später saßen sie in der altehrwürdigen Bibliothek des Bartholomäusklosters und surften im Internet. Die Bücherei hatte über die Mittagszeit geschlossen, aber Julian besaß ja einen Schlüssel. Rasch war er mit der Hilfe einer Suchmaschine fündig geworden.

„Seht ihr“, rief er triumphierend, „hier steht’s: Königin Elisabeth I. schlug Francis Drake am 4.4.1581 zum Ritter, weil er sich so viele Verdienste für England erworben hatte.“

„Wie denn das?“ Leon runzelte die Stirn.

„England und Spanien kämpften damals um die Vorherrschaft als Seemacht“, las Julian vor. „Die Spanier beherrschten die Küsten Südamerikas, trieben dort Handel und bauten Gold und Silber in Minen ab. Konkurrenz wurde nicht geduldet. Doch Drake scherte sich offenbar nicht darum. Er griff immer wieder die spanischen Schatzschiffe an und plünderte sie aus – mit Billigung der englischen Königin, denn Drakes Überfälle schwächten die spanische Flotte. Deshalb wurde Drake auch der ,Pirat der Königin‘ genannt.“

„Irre!“, rief Kim, die mit Kija auf dem Arm hinter Julian stand.

„Hier steht noch was Spannendes!“, fuhr Julian fort. „Sein größter Coup war der Überfall auf die Cacafuego!“

Leon lachte auf. „Was ist denn das für ein Name?“

Julian antwortete nicht gleich, sondern überflog den Text. „Das Schiff hieß eigentlich Nuestra Señora de la Concepcion. Aber weil es so viele Kanonen an Bord hatte und über eine sehr hohe Feuerkraft verfügte, wurde es ehrfürchtig Cacafuego genannt – der Feuerspucker.“

Interessiert beugte sich Leon vor. „Und dieses Schiff hat Drake geentert?“

„Ja, obwohl sein Flaggschiff, die Golden Hind, viel schwächer bewaffnet war. Drake erbeutete sechsundzwanzig Tonnen Silberbarren, vierzig Kilo reines Gold und vierzehn Kisten mit Silbermünzen. Das entsprach der Hälfte der damaligen jährlichen Steuereinnahmen von ganz England! Und niemand wurde bei dem Überfall ernsthaft verletzt“, rief Julian begeistert.

Kim schüttelte den Kopf. „Aber wie hat Drake das gemacht, wenn sein Schiff derart unterlegen war?“

„Das steht hier leider nicht“, antwortete Julian, während er den Text hin- und herscrollte. Er versuchte es auf einer anderen Internetseite, wurde aber auch dort nicht fündig. Dann nahmen die Freunde einige Fachbücher unter die Lupe.

„Hm, hier ist nur vermerkt, dass Drake im Februar 1579 von dem Piratennest Arica aus aufbrach und kurz darauf die Cacafuego überfiel“, sagte Kim, über einen dicken Wälzer gebeugt, und wiederholte ihre Frage: „Aber wie hat er das gemacht? Das will ich unbedingt wissen, Leute!“

„Ich auch!“, rief Leon. „Und wenn wir es in der Literatur nicht finden, gibt es nur noch eins …“

Kim zwinkerte ihm zu. „Genau, Tempus!“

Julian sah seine Freunde ungläubig an. „Ihr wollt an Bord eines Piratenschiffs?“

„Logo“, erwiderte Leon. „Vielleicht können wir uns da nützlich machen. Als Bootsjungen oder so. Und du hast doch gerade vorgelesen, dass bei dem Überfall auf die Cacafuego niemand verletzt wurde.“

„Es wurde niemand ernsthaft verletzt“, verbesserte Julian ihn. „Trotzdem ging es sicher ganz schön zur Sache.“

Kim klopfte Julian auf die Schulter. „Wir sind gewappnet“, sagte sie lachend. „Immerhin haben wir gerade die Attacke vom dicken Nils überstanden!“

Schließlich gab Julian seinen Widerstand auf, obwohl ihm die Sache nicht geheuer war. Wenig später schoben sie mit vereinten Kräften das schwere Regal zur Seite, hinter dem der geheimnisvolle Zeit-Raum Tempus verborgen war. Anders als sonst drängte sich Kija nicht vor. Kim ahnte, dass die kluge Katze wusste, wohin die Reise gehen sollte. Und Kija war keine große Freundin von Wasser und Schiffen. Die Katze hielt sich dicht hinter Kim, die als Erste den scheinbar endlosen Raum betrat, in dem das übliche diffuse, blaue Licht herrschte.

Nebel waberten wie fein gewobene Schleier um sie herum. Tausende von Türen, über denen je eine Jahreszahl prangte, schlugen in einem aberwitzigen Tempo auf und zu. Beunruhigende Geräusche drangen an die Ohren der Freunde, die über den im Rhythmus der Zeit pulsierenden Boden liefen und die Tür mit der Zahl 1579 suchten. Da die Zahlen keiner Gesetzmäßigkeit gehorchten, war es reiner Zufall, wann die Gefährten die richtige Pforte fanden. Zudem war das Licht heute besonders schlecht, sodass es den Freunden schwerfiel, die Zahlen überhaupt zu entziffern. Und so war es diesmal ein Geruch, der sie auf die richtige Fährte brachte.

„Wartet mal“, rief Julian unvermittelt. „Hier riecht es nach salziger Seeluft!“ Er ging dicht an den Türen vorbei. Und tatsächlich, plötzlich schälte sich das Tor mit der Zahl 1579 aus dem Nebel!

Die Freunde fassten sich an den Händen und konzentrierten sich ganz auf Arica. Denn nur so konnte Tempus sie an den richtigen Ort bringen. Dann machten sie den einen, aber entscheidenden Schritt durch die Tür in ein neues Abenteuer und fielen in ein schwarzes Nichts.

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