„Was habt ihr hier verloren?“, fragte eine raue Stimme. Julian wurde wie ein Spielzeug umgedreht. Mit großen Augen starrte er auf Diegos unendlich breite Brust. Dann erkannte er, dass auch Leon und Kim geschnappt worden waren – von der zweiten Wache. Nur Kija hatte sich davonmachen können.
„Aua, du tust mir weh!“, rief Julian.
„Falsche Antwort“, sagte Diego kalt.
„Wir bringen sie zum Kapitän. Soll er doch entscheiden, was mit ihnen geschieht“, sagte der andere Mann.
„Das kann ich mir schon denken“, entgegnete Diego und lachte unheilvoll.
Dann wurden die Freunde zu Drake geschleift. Vom Hauptdeck führte ein kurzer Niedergang zu einem höher gelegenen, kleinen Zwischendeck auf dem Achterkastell. Dort stand wie ein hölzerner Bungalow Drakes geräumige Kajüte. Um ihr Dach lief eine Reling, achtern gekrönt von einer Messinglaterne als Positionslicht.
Nachdem Diego an Drakes Salontür geklopft hatte, vergingen zwei Minuten. Dann öffnete der Kapitän mit einer Laterne in der Hand. „Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich zu stören, Bootsmann.“
„Aye, Käpt’n, wir haben die neuen Bootsjungen geschnappt, als sie an Bord herumgeschlichen sind. Womöglich wollten sie etwas stehlen.“
„Nein, das …“, begann Kim, wurde aber sofort unterbrochen.
„Ruhe“, sagte Drake unwirsch. „Bringt sie rein. Ich unterhalte mich nicht gern in der Tür.“
Die Freunde wurden in die Kajüte geschoben und waren überrascht. Sie standen in einem gepflegten Raum mit einem richtigen Bett, einer Truhe und einem Holztisch, auf dem ein Kerzenständer stand. Sein Licht fiel auf einen Kompass, einen Zirkel, ein scheibenförmiges Astrolabium und eine große Landkarte, auf der Gezeiten, Strömungen, Sandbänke sowie die Umrisse der Küsten von Süd- und Mittelamerika eingezeichnet waren.
„Was habt ihr drei an Deck gesucht?“, fragte Drake schneidend.
„Wir wollten nur frische Luft schnappen“, antwortete Julian wahrheitsgemäß. Dann berichtete er von ihren Beobachtungen.
„Lichtsignale?“, wiederholte der Kapitän. „Diego, sieh im Geschützdeck nach, sofort.“
Der Hüne verschwand. Einige Minuten verstrichen. Nervös schauten sich die Freunde an. Drake tat so, als seien die Gefährten gar nicht da. Mit gerunzelter Stirn studierte er die Karte. Sein Finger fuhr die Küste in nördlicher Richtung entlang.
„Callao“, murmelte er.
Dann klopfte es erneut und Diego erschien.
„Alle Luken dicht, Sir“, meldete er.
Drake musterte die Kinder. „Ihr habt offenbar gelogen“, stellte er nüchtern fest.
„Nein, Sir!“, rief Julian schnell. „Vermutlich hat derjenige, der die Signale vom Schiff gab, die Luke inzwischen wieder verschlossen!“
„Vielleicht ist der Kleine ein Lügner, aber logisch denken kann er“, sagte der Kapitän. „Ich kann euch nicht das Gegenteil beweisen, also werde ich euch dieses eine Mal noch verschonen.“ Er zwirbelte die Enden seines Bartes.
Die Freunde atmeten hörbar auf.
„Freut euch nicht zu früh“, fuhr Drake fort. „Ich werde euch im Auge behalten. Verlasst euch darauf. Und jetzt raus mit euch allen.“
Diesmal waren die Gefährten froh, als sie in ihre Hängematten klettern durften.
„Was waren das für Signale?“, fragte Julian leise.
Leon gähnte. „Gute Frage. Jemand an Bord hat etwas zu verheimlichen. Der Sache müssen wir auf den Grund gehen!“
„Stimmt“, murmelte Kim. „Aber erst morgen, Jungs.“ Dann schlief sie ein. Kija lag zusammengerollt auf ihrem Bauch.
Das Erwachen war hart. Die schrille Pfeife des Bootsmanns riss sie aus dem Schlaf. Alle schossen aus ihren Hängematten und stürmten den Niedergang hinauf. Nach und nach versammelten sich die Männer um den Hauptmast. Einige Laternen waren entzündet worden. Es dämmerte gerade. Der Himmel war grau und regenschwer. Ohne Trennungslinie ging das Meer in den Himmel über. Nur ganz im Osten, wo die Sonne sich verbarg, war das Grau eine Spur heller. Eine kalte Böe strich über das Schiff. Die Freunde hielten sich im Hintergrund und drängten sich fröstelnd aneinander.
Ob’s hier so etwas wie ein Frühstück gab?, überlegte Leon, während er die Matrosen musterte. Er erkannte Johns roten Schopf und den breiten Rücken von Diego. Auch Filipe war bereits da. Die meisten Augenpaare waren zum Achterkastell gerichtet. Die Mannschaft schien auf Drake zu warten. Niemand sprach.
Leon schaute wieder nach Osten, zum Land. Der schmale Sandstreifen und Dolores’ Spelunke waren jetzt verschwunden, verschluckt vom Nebel, der langsam auf die Golden Hind zukroch.
Leon fröstelte noch mehr. Wo blieb Drake? Er ließ seinen Blick ziellos über das Deck wandern und richtete ihn irgendwann wieder auf die Steuerbordseite. Dolores’ Spelunke war nach wie vor unsichtbar, aber dafür tauchte etwas anderes kurz aus dem Nebel auf – ein Schiff! Ohne Positionslichter oder Laternen glitt es unter vollen Segeln aus der Bucht von Arica und hielt Kurs Richtung Norden.
Leon gab Kim und Julian ein Zeichen und deutete auf die Nebelwand.
„Was ist?“, fragte Kim.
Leon schluckte. Das Schiff war weg! Das gab’s doch gar nicht! Angestrengt starrte er in den Nebel. Da – jetzt erkannte er wieder schemenhaft einen Mast.
„Ein Schiff läuft aus!“, flüsterte er seinen Freunden zu.
„Ja, jetzt erkenne ich es auch“, erwiderte Kim leise. „Und es sieht so aus, als wolle die Mannschaft nicht, dass man ihren Abschied von Arica bemerkt!“
Die Freunde schauten zur Mannschaft der Golden Hind. Aber die Männer blickten nach wie vor erwartungsvoll zum Achterkastell. Niemand schien das seltsame Schiff bemerkt zu haben. Jetzt wurde die Schiffsglocke geschlagen. Die Tür öffnete sich und Drake erschien in tadellosem Gewand. An seinem Gürtel hing ein langer Säbel.
Noch einmal sah Leon zurück. Es war kein Schiff mehr zu sehen. Der unbekannte Segler war im Schutz des Nebels verschwunden. Merkwürdig. Hatte das geheimnisvolle Schiff etwas mit den Lichtsignalen zu tun, die sie in der vergangenen Nacht beobachtet hatten?
Leon wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Glocke erneut erklang. Drake trat vor die Mannschaft und nahm seinen schwarzen, breitkrempigen Hut ab. Alle taten es ihm gleich, sofern sie etwas auf dem Kopf hatten. Dann sprach Drake ein Gebet. Die Matrosen murmelten den Text nach. Anschließend schwor Drake bei seinem Leben, der Königin treu zu dienen. Auch diesen Schwur wiederholten alle.
„Männer“, sagte Drake dann laut. „Wir haben in Arica frisches Wasser an Bord genommen sowie Fisch, Fleisch und Obst. Aber nicht nur das, wir haben auch drei neue Bootsjungen.“ Er zeigte auf die Freunde.
„Sie werden Percy in der Kombüse zur Hand gehen“, fuhr der Kapitän fort, „und auch sonst Handlangerdienste übernehmen.“
Ein älterer Mann zwinkerte Leon, Julian und Kim freundlich zu und deutete mit dem Daumen auf seine Brust. Offenbar war dieser zaundürre Mann mit dem leicht gebeugten Rücken der Smut namens Percy. Sein linker Unterschenkel fehlte. Stattdessen trug er eine Prothese, die nicht viel mehr als ein dicker, am Knie befestigter Holzstab war.
„Jetzt sind wir bereit zum Auslaufen“, rief Drake. „Auf uns wartet eine besondere Aufgabe.“
Er machte eine Kunstpause und studierte genüsslich die erwartungsvollen Blicke, die auf ihn geheftet waren. Als der Kapitän schließlich fortfuhr, lag ein Leuchten in seinen Augen.
„Wir werden nach Callao segeln“, kündigte Drake an und winkte Filipe heran. „Ich weiß, dass diese Gewässer gefährlich sind. Deshalb haben wir mit Filipe einen Navigator an Bord genommen, der sich hier gut auskennt. Und er wird uns zu einem ganz speziellen Schiff führen.“
Filipe lächelte etwas unbeholfen.
„Zur Cacafuego!“, rief Drake und reckte die Hand in den grauen Himmel.
Jubel brach aus.
„Irre!“, rief auch John. „Der Pott ist voller Gold und Silber!“
„Ja, und das gehört bald alles uns!“, brüllte Diego begeistert und nahm John auf seine breiten Schultern. „Ein Hoch auf unseren Käpt’n!“
Hüte flogen in die Luft. Aber Leon entging nicht, dass keineswegs alle begeistert von dem Plan waren.
Jetzt trat ein Matrose mit Kahlkopf und einer schiefen Nase vor. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Die Gefährten erkannten, dass er einer der beiden Männer war, die gestern Abend ausgepeitscht worden waren.
„Die Cacafuego, Sir? Sind Sie sicher, dass wir es mit ihr aufnehmen können?“, fragte er.
Drake sorgte für Ruhe. Dann entgegnete er kühl: „Du scheinst an meiner Urteilskraft zu zweifeln, William.“
Der Matrose blickte Drake direkt in die Augen. „Nun, Sir, die Cacafuego ist berühmt für ihre Feuerkraft. Ich weiß, dass sie dreißig Kanonen hat. Deshalb heißt sie ja auch Feuerscheißer!“
Einige lachten.
„Feuerspucker, William“, korrigierte Drake ihn.
„Wie dem auch sei“, erwiderte William. „Die Cacafuego wird uns in Stücke schießen. Wir werden kein Gold oder Silber finden, sondern den Tod.“
Drake machte eine wegwerfende Handbewegung. „Unsinn! Du bist ein verfluchter Angsthase!“
Diego grinste. Ein paar Männer lachten höhnisch.
In Williams Augen funkelte jetzt Wut. Er biss sich auf die Unterlippe.
„William ist verdammt jähzornig“, wisperte John den Freunden zu. „Und die Schläge, die er gestern erhalten hat, scheint er auch noch nicht vergessen zu haben.“
William wippte nervös auf den Zehenspitzen. „Ich habe keine Angst“, widersprach er. „Aber ich halte es für völligen Irrsinn, gegen ein Schiff anzukämpfen, das uns haushoch überlegen ist. Das ist Selbstmord, Käpt’n! Und ich will noch nicht sterben. Und ihr?“ Er blickte in die Runde. „Was ist mit euch? Wollt ihr sterben?“
Gemurre war zu hören. Die breite Zustimmung, die es gerade noch für Drakes Plan gegeben hatte, bröckelte.
„William, halt den Mund!“, blaffte Drake ihn an.
Der Matrose grinste unverschämt und rief: „Was ist: Wollt ihr in den sicheren Tod segeln?“
Drake griff zu seinem Gürtel und zog den Säbel. „Wenn du dich meinen Befehlen widersetzt, ist das Meuterei“, zischte der Kapitän. „Und darauf steht die Todesstrafe!“
Aus Williams Gesicht wich jede Farbe. Die Männer um ihn herum traten einen Schritt zurück.
Langsam hob William die Hände. „Schon gut, Käpt’n, ich habe doch nur meine Meinung gesagt.“
„Du hältst ab sofort den Mund!“, wiederholte Drake und machte einen Schritt auf William zu.
Unterwürfig senkte William den Kopf. „Aye, Käpt’n“, sagte er leise.
Drake schaute seine Männer der Reihe nach an. „Hat noch jemand von euch … Angst?“
Da brüllte Diego: „Auf zur Cacafuego! Machen wir dem alten Pott Feuer unter dem Hintern!“
Gejohle und Gegröle erklang, Waffen wurden in den Himmel gereckt. Drake schien die Lage wieder voll im Griff zu haben.
Doch Leon blieb wachsam und behielt William im Auge. Der Matrose sonderte sich ein wenig von den anderen ab, stand jetzt dicht bei der Ruderpinne, halb im Rücken des Kapitäns. Seine Hand tastete zum Gürtel, wo das lange Entermesser hing und ein hinterhältiges Lächeln huschte über sein Gesicht.