„Anker lichten, setzt die Segel, Kurs Nord!“, kommandierte Drake. In die Männer kam Bewegung. Staunend sahen die Freunde, mit welcher Geschwindigkeit die Matrosen in die Wanten sprangen und zu den Rahen hinaufkletterten. Gleichzeitig stemmten sich vier Mann gegen je einen hölzernen Arm der Ankerwinde und begannen, sie zu drehen.
„Wollt ihr mit rauf?“, fragte John die Gefährten lachend und deutete zur Spitze des Hauptmastes.
„Muss nicht sein“, erwiderte Julian schnell. „Vielleicht ein anderes Mal …“
„Macht nichts, dann geht zu Percy. Bis gleich!“ Mit diesen Worten hangelte sich John in der Takelage hinauf. Wenig später knatterten und donnerten die Segel im auffrischenden Südwind. Die Golden Hind nahm Fahrt auf und glitt in den Nebel hinein. An der Ruderpinne lehnte Diego, ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht. Drake und Filipe standen über ihm auf dem kleinen Zwischendeck vor der Kapitänskajüte und unterhielten sich. Der Kapitän hatte ein großes Fernrohr in der Hand, Filipe einen Davis-Quadranten, mit dem er, sobald die Sonne herauskam, die Position der Golden Hind ermitteln konnte.
„Na, wollt ihr euch nützlich machen?“, krächzte eine heisere Stimme.
Kim, Leon und Julian schreckten aus ihren Beobachtungen hoch. Hinter ihnen stand der einbeinige Percy und schmunzelte. „Ziemlich aufregend für euch Landratten, was?“
Die Freunde nickten.
„Und der kleine Tiger da gehört auch zu euch?“, fragte der Smut mit einem Blick auf Kija.
Wieder ein Nicken.
„Eine schöne Katze“, lobte Percy und streichelte ihr über den Kopf. „Hoffentlich kommt niemand auf die Idee, sie essen zu wollen.“
Kija wich zurück und machte einen Buckel. Jetzt lachte Percy laut auf und zeigte dabei sein höchst unvollständiges Gebiss. Er hatte keine Eckzähne mehr, dafür aber zwei erstaunlich große Schneidezähne.
Ein Hase mit schrägem Humor, dachte Kim, die gerne lästerte, aber klugerweise den Schnabel hielt.
„Spaß beiseite, folgt mir“, sagte der Smut und humpelte los. Jedes Mal, wenn sein Holzbein das Deck traf, gab es ein lautes Tock.
Percy führte die Gefährten tief hinunter in den Bauch des Schiffs. Sein fensterloses Reich lag noch unter dem Geschützdeck, also unterhalb der Wasserlinie. Hier gab es mehrere Regale mit Lebensmitteln, einen Tisch, auf dem einige Kohlköpfe und anderes Gemüse lagen, und eine Art Ofen mit zwei Kochplatten und einem Abzugsrohr, das durch die Decke nach oben führte. In einer Ecke stand ein großer Sack Kartoffeln. Der faulige Geruch hier unten verschlug den Freunden den Atem. Kim hielt sich die Nase zu.
Percy lachte. „Das kommt von der Bilge“, erläuterte er, „da gewöhnt ihr euch dran.“ Er zog eine Schublade auf und drückte den Freunden kleine Messer in die Hände.
„Ihr könnt die Kartoffeln schälen, los geht’s!“, ordnete der Smut an und kümmerte sich um das Feuer.
Leon, Kim und Julian begannen mit der Arbeit, während sich Kija auf dem Tisch zusammenrollte und alles im Blick behielt.
„Sag mal, Frühstück gibt’s hier wohl nicht, oder?“, wagte Leon nach einer Weile zu fragen.
Percy drehte sich um und schaute Leon an, als habe dieser gefragt, ob es an Bord einen Pool gebe. „Frühstück? Du kannst Haferbrei oder Zwieback haben.“
„Dann lieber Zwieback“, entschied Leon. Er bereute diesen Entschluss umgehend, als Percy in einen Sack griff und ihm sowie Julian und Kim staubtrockenen Zwieback zuwarf.
Auch der Smut selbst nahm sich ein Stück und knabberte mit seinen Hasenzähnen daran. „Die meisten hier an Bord legen keinen Wert auf Frühstück“, sagte er und wirkte dabei fast beleidigt. „Die sind zufrieden, wenn sie ihren Rum kriegen sowie Brot und ein bisschen Fleisch. Aber heute Mittag werden wir ein wenig Gemüse dazu anbieten – und natürlich Kartoffeln.“ Percy richtete den Blick zur niedrigen, rußgeschwärzten Kombüsendecke. „Oh, mir schwebt eine Komposition von Heringsfilets an Dillspitzen mit Kartoffelrahm vor.“
„Du kannst wohl richtig gut kochen, oder?“, fragte Kim überrascht.
„Natürlich“, erwiderte Percy. „Aber leider weiß das an Bord niemand zu würdigen. Außer dem Käpt’n. Der ist der Einzige mit ein wenig Kultur und Manieren. Ein guter Mann. Leider sehen das nicht alle so …“
Sofort wurden die Freunde hellhörig. „Wie meinst du das?“
Der Smut setzte sich an den Tisch und streckte das Holzbein aus. „Nun, ihr habt ja vorhin gesehen, dass nicht alle auf seiner Seite sind. Dieser William zum Beispiel. Aber auch andere warten nur darauf, dass Drake einen Fehler macht. Das wäre dann sein erster – aber auch letzter.“
Kim grübelte, während sie eine Kartoffel aus dem Sack nahm.
„Einige Männer haben nun einmal Angst vor Drakes Wagemut“, fuhr Percy fort und kratzte sich am ergrauten Hinterkopf. „Sie sind der Meinung, dass er ein zu großes Risiko eingeht.“
„Und was glaubst du?“, fragte Kim.
Der Smut ließ seine Faust auf den Tisch donnern, dass die Tomaten hüpften. „Ich bin auf seiner Seite! Unter Drakes Kommando haben wir schon einige spanische Galeonen überfallen und ausgeplündert. Was für ein Spaß! Die Spanier toben. Dieser Dummkopf von Don Francisco de Toledo hat sogar ein Kopfgeld auf Drake ausgesetzt.“
Kim setzte das Messer ab. „Ein Kopfgeld? Und wer ist dieser Don Dingsbums?“
„Toledo ist vom spanischen König Philipp II. zum Vizekönig von Peru ernannt worden. In dieser Funktion kommandiert Toledo auch die spanische Flotte in diesen Gewässern und ist dafür verantwortlich, dass die Handelsschiffe die Häfen sicher erreichen …“
„Und ihr seid ihnen ein paarmal in die Quere gekommen“, warf Kim ein.
„Kluges Kind!“, rief Percy und klopfte sich vor Vergnügen aufs Holzbein. „Der gute, alte Toledo ist so sauer, dass er zehn Kilo reines Silber auf Drakes Kopf ausgesetzt hat. Damit hätte man bis an den Rest seines Lebens ausgesorgt. Selbst, wenn man jeden Tag bei Dolores einkehren würde.“
Kim schwieg nachdenklich. Auf Drake war eine hohe Belohnung ausgesetzt. Da würde der eine oder andere Seemann an Bord vielleicht schwach werden. Gab es etwa Verräter auf der Golden Hind? Die geheimnisvollen Signale sprachen dafür …
Unvermittelt wurde die Tür aufgerissen und William erschien. Er wirkte sehr erregt. Als er die Kinder erblickte, verdüsterte sich seine Miene.
„Raus mit euch“, herrschte er sie an.
„Aber wir haben den Befehl, in der Kombüse zu helfen“, erwiderte Kim.
„Willst du mir widersprechen?“, fragte William drohend. Kim sah, wie seine Hand zum Entermesser glitt.
„Schon gut“, sagte sie schnell und warf eine halb geschälte Kartoffel in einen Eimer. „Wir gehen ja schon.“
Auch Julian und Leon erhoben sich. Mit Kija verließen sie die stickige Kombüse und hockten sich im Geschützdeck vor die Tür zum Trockenraum, wo die Ersatzsegel gelagert wurden. Das Schiff schwankte nun deutlich stärker als zuvor. Offenbar hatte der Seegang zugenommen.
„Was hat William vor? Warum will er uns nicht dabeihaben?“, überlegte Kim.
„Gute Frage“, sagte Leon. „Der Typ ist mir nicht geheuer.“
Julian lehnte sich gegen einen Spanten „Mir auch nicht. Sieht so aus, als hätte er etwas zu verheimlichen. Aber was hat Percy damit zu tun?“
Da wurden Stimmen laut. Sie kamen aus der Küche und klangen wütend.
„Die streiten sich!“, sagte Leon. „Lasst uns mal ein wenig lauschen.“
Schon war er an der Kombüsentür. In diesem Moment wurde die Golden Hind heftig durchgeschüttelt. Leon verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Hintern. „Mist!“, fluchte er. „Ich benehme mich wirklich wie die letzte Landratte.“
Dann legte er ein Ohr an die Kombüsentür. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte nichts hören. Plötzlich hatte er ein mulmiges Gefühl. Es war merkwürdig still da drinnen – und William hatte diese Kombüse mit seinem Messer betreten! Bedrohte William den alten Smut oder hatte er etwa …