Donnerstag, der 13. Mai

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1) Ottilie hat mich angelächelt! Mama meinte, das nenne man »Engelslächeln« und das sei noch kein bewusstes Lächeln, aber das ist mir ganz egal. Es war auf jeden Fall supersüß!

image Tiefpunkte image

1) Habe düstere Vorahnungen, was Hannas Plan betrifft.

2) Ich muss Ben heute noch Hannas Brief vorbeibringen.

Hanna hat Punkt eins von ihrem Plan schon in die Tat umgesetzt und ich fühle mich völlig hilflos. Das Ganze kommt mir vor wie der Autounfall, den ich letztes Jahr mit Papa hatte. Da sind wir bei Rot über die Kreuzung gefahren und mitten im Schaufenster der Sparkasse gelandet. Alles lief ab wie in Zeitlupe und man hatte das Gefühl, als sähe man das Ganze nur von außen und könne es nicht mehr aufhalten. Hanna hat mit ihrer Mutter geredet und die will die ganze Zeltsache beim Elternabend heute ansprechen. Ich hab gesagt, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie damit durchkommt. Wo Frau Simbrinck sich doch nicht gerne von den Eltern was vorschreiben lässt. Aber sie hat gesagt, diesmal schon. Bei dem »diesmal schon« haben Hannas Augen ganz komisch geleuchtet und da hab ich gewusst, dass sie ihrer Mutter noch was anderes erzählt hat. Ich weiß nicht genau, was (sie wollte es mir nicht sagen), aber wenn ich an Hannas Lesben-Verdacht denke, kriege ich ein ganz merkwürdiges Gefühl. Hannas Mutter ist so schon schlimm, aber auf Elternabenden soll sie besonders grässlich sein. Weil sie sich da immer in den Vordergrund drängt und so tut, als sei sie die Super-Mutter schlechthin und alle anderen nur Rabeneltern. (Hat Papa neulich Mama erzählt, als er dachte, ich würde es nicht hören.)

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Ich hab versucht, noch mehr aus Hanna rauszukriegen, aber sie hat nur so komisch gelächelt und jetzt überschlagen sich in meinem Kopf die Gedanken.

Zwei Stunden später.

Gerade eben hab ich aus meiner Jacke und meiner Jeans eine ziemlich perfekte Wurst gerollt. Wenn man von der Tür aus aufs Bett guckt, sieht die Wurst genauso aus wie ich, wenn ich unter der Bettdecke eingekuschelt bin. Außerdem habe ich meinen Eltern gesagt, dass ich hundemüde bin und heute früh schlafen will. Ich denke, das müsste reichen. In 34 Minuten beginnt der Elternabend. Ich habe beschlossen, hinzugehen und mich unterm Fensterbrett auf dem Schulhof zu verstecken und zu lauschen. Eigentlich wollte Papa auch hin, aber heute Nachmittag hat Mama wieder ein bisschen geheult und da hat er entschieden, doch lieber bei ihr zu bleiben und sich um Ottilie zu … Oh, schon kurz vor acht. Ich muss los. Bis gleich!9

22.46 Uhr.

Oh, mein Gott! Herr im Himmel! Ich kann nie wieder in die Schule gehen! Ich werde auswandern müssen. Abhauen nach … Keine Ahnung. Obwohl ich eigentlich gar nicht auswandern will, ohne Mama und Papa und Ottilie geht das ja wohl eh nicht und ich will auch auf kein Internat, aber in die Schule kann ich nach dem Abend auf gar keinen Fall mehr. Oh, Gott! Warum passiert so was nur immer mir?????????????

Okay, habe mich ein wenig beruhigt und berichte jetzt von Anfang an. Also, erst war auf dem Elternabend alles normal. Das Fenster stand offen und man konnte draußen fast jedes Wort verstehen. Die Eltern waren schon alle im Klassenzimmer und niemand hat mich bemerkt. Bisher hab ich immer vermutet, so ein Elternabend müsste superspannend sein (immerhin reden da die ganzen Eltern über uns und man kann knobeln, welche Eltern wohl zu wem gehören und so), aber anfangs war’s einfach nur megaöde. Die Mutter von der dicken Jette hat sich beschwert, dass die neuen Schulsweatshirts im Sekretariat alle in so kleinen Größen geliefert worden sind. Die Mutter von Jannick-Silbergebiss (die auch ein bisschen dick ist) hat ihr zugestimmt. Und anschließend haben alle angefangen, darüber zu diskutieren, ob das jetzt Diskriminierung gegen Übergewichtige ist oder nicht. Von den Vätern waren nur drei da und davon haben zwei ständig auf die Uhr geguckt und der dritte hat in der Nase gebohrt und die Popel unter den Tisch von Sophie geschmiert. (Ich glaub, es war der Vater von dem rothaarigen Oliver …). Als sie nach einer halben Stunde immer noch über die Sweatshirts gestritten haben, ist draußen unterm Fensterbrett mein linker Fuß eingeschlafen. Ich hab fast schon geglaubt, dass Hanna sich einfach nur wichtig gemacht und ihrer Mutter doch nichts erzählt hat, aber dann ging’s doch noch um die Klassenfahrt. Frau Simbrinck hatte kaum angefangen zu erzählen, was wir alles mitnehmen sollen, da hat Hannas Mutter sich schon gemeldet und gesagt, sie wünsche nicht, dass ihre Tochter sich mit Scharina ein Zelt teile.

Plötzlich war es genauso still wie bei uns neulich in der Klasse. Und dann hat Frau Simbrinck leise aufgestöhnt und sich zu Hannas Mutter umgedreht.

»Ich glaube nicht, dass das hierhergehört, aber wir können gerne nachher noch einmal unter vier Augen über diesen Punkt sprechen …«

Hannas Mutter hat gesagt, dass das sehr wohl hierhergehört, weil sexuelle Belästigung nämlich ein Thema sei, das alle etwas anginge, und plötzlich waren alle wieder wach. Olivers Vater hat sogar aufgehört, in der Nase zu popeln. Frau Simbrinck ist ganz rot im Gesicht geworden und hat gemeint, Hannas Ansichten übers Zelten hätten ihres Wissens nicht das Geringste mit sexueller Belästigung zu tun. Aber da hat Hannas Mutter sie schon unterbrochen und gesagt, das sei mal wieder typisch: Die Lehrer hätten keine Ahnung von dem, was in ihrer Klasse wirklich vorginge. Da müsse man sich ja nur die letzte PISA-Studie ansehen oder die letzte OECD-Untersuchung und überhaupt.

Jettes Mutter ist bei dem Stichwort »sexuelle Belästigung« ganz aufgeregt geworden und hat gefragt, wer Hanna denn belästigt hätte. Wenn das Oliver gewesen wäre, dann hätte sie nämlich auch was dazu zu sagen. Alle haben plötzlich Olivers Vater angeguckt, was der erst gar nicht mitgekriegt hat, aber dann hat er’s doch gemerkt und gemeint, er verwahre sich gegen irgendwelche Unterstellungen. Und gerade als Frau Simbrinck dazwischengehen wollte, hat Hannas Mutter gesagt, hier ginge es auch gar nicht um Oliver, sondern vielmehr um eines der Mädchen. Eigentlich wollte sie noch mehr sagen, aber im selben Moment ist der Vater von Jannick-Silbergebiss aufgesprungen und hat gesagt, endlich würde jemand das Thema mal ansprechen. Jannick traue sich nämlich schon gar nicht mehr in die Schule, weil die Mädchen ihn mit ihren Liebesbriefen und ihrem Gekicher immer so bedrängen würden, und diese ganze Knutscherei ginge sowieso immer von den Mädchen aus, die die Jungs als Übungsobjekte missbrauchen würden. Und das Ganze sei ja auch gefährlich wegen Jannicks teurer Zahnspange und wegen den ganzen Viren und der Grippegefahr.

Wo Jannicks Vater das mit den Viren gesagt hat, hat mich irgendwas an der Stirn gekitzelt und ich hab hochgeguckt und im selben Moment ist es dann passiert. Ich hab gesehen, wie sich eine dicke, behaarte Spinne genau über meinem Kopf abgeseilt hat. BOAH, WAR DAS EKLIG! Eine Sekunde lang bin ich total erstarrt und dann hat es »Plopp« gemacht und sie ist mir übers Gesicht gelaufen. Oh, Mann, ich sag dir, ich konnte echt nichts anderes tun – ICH MUSSTE EINFACH SCHREIEN. Weil das Fenster auf Kipp war, haben das natürlich alle gehört und sind aufgesprungen und Jettes Mutter hat vor Schreck auch erst mal geschrien. (Wahrscheinlich hat sie gedacht, das ist ein Terroranschlag. Jette hat mal erzählt, ihre Mutter sieht ständig überall Terroristen …). Nachdem Jettes Mutter dann endlich mit dem Schreien aufgehört hatte, hat Frau Simbrinck das Fenster aufgerissen und alle haben völlig irritiert nach draußen gestarrt. Bis Frau Simbrinck mich entdeckt hat. Erst da haben sich die anderen wieder etwas beruhigt. Frau Simbrinck hat mich einen Moment ziemlich sprachlos angesehen. Und dann sie mich gefragt: »Julie, was machst du denn hier?«

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Ich hab noch immer um mich gehauen, weil ich nicht wusste, ob ich die Spinne wirklich erwischt hab oder ob sie mir noch immer irgendwo in den Haaren rumkrabbelt. Außerdem ist mir überhaupt nichts eingefallen, was ich hätte antworten können. Also hab ich Frau Simbrinck nur ziemlich verwirrt angeguckt. Und dann hat Hannas Mutter (sie ist wirklich ätzend!!!) gesagt, na, es wäre doch ziemlich klar, was ich hier gemacht hätte. Ich hätte wahrscheinlich spioniert. Und dass sie gedacht hätte, für so etwas sei die Julia nun wirklich zu alt. Mir ist noch immer nicht eingefallen, was ich sagen könnte, aber ich hab gemerkt, dass meine Wangen ganz heiß geworden sind. Und als ich einen Blick in Frau Simbrincks Gesicht geworfen hab, hab ich begriffen, dass ich wahrscheinlich aussehe wie das leibhaftige schlechte Gewissen. Während Hannas Mutter und die anderen Eltern mich noch immer ganz empört angestarrt haben, hat Frau Simbrinck gemeint, ich sollte jetzt am besten nach Hause gehen, weil meine Eltern sich sonst Sorgen machen, und dabei hat sie ziemlich genervt ausgesehen. Sophies Mutter hat mir als Einzige kurz zugelächelt und dann hat Olivers Vater das Fenster geschlossen und ich stand da wie ein begossener Pudel und hab gedacht, ich fass es nicht. Wie kann man nur so ein Trottel sein?! AHHHHHHHH HHHHHHHHHHHHHHHHHH!!!!

Zehn Minuten später.

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Ich hab echt nicht gewusst, dass einem vor lauter Scham und Peinlichkeit schlecht werden kann, aber scheinbar kann es das sehr wohl. Wenigstens mir. Ich war eben zweimal auf dem Klo und hab versucht zu spucken, aber es kommt einfach nichts raus. Und jetzt, wo ich wieder in meinem Zimmer bin, hab ich das Gefühl, dass die Decke mit der weißen Ikea-Lampe immer weiter auf mich runterkommt. So ein Mist! Dabei war ich mir so sicher, dass sich das mit meiner Platzangst endgültig erledigt hat! Immerhin bin ich jetzt fast ein Teenager und das letzte Mal, als mir das passiert ist, war ich gerade mal vier.

Ich glaub, ich hab’s schon mal geschrieben. Das war kurz nach dieser Sache mit dem Kleiderschrank bei Mumi, in dem ich mich eingesperrt habe, weil ich gedacht hab, das wäre witzig. Na ja, wie gesagt, ich war erst vier. Und witzig war es dann überhaupt nicht.

Mumi und meine Eltern haben nämlich geglaubt, ich wäre bei den Nachbarn zum Spielen, und sind ohne mich zum Essen gefahren und ich hab fünf Stunden in dem dunklen Schrank gehockt und die Tür nicht mehr aufbekommen und mir vor lauter Verzweiflung in die Hose gemacht und alles war ganz schrecklich.

Anschließend konnte ich dann wochenlang nicht richtig schlafen, weil immer die Decke auf mich runtergekommen ist. Ich sag dir, das war echt fies, und ich hab überhaupt keinen Bock darauf, dass sich so was noch mal wiederholt und … Oh nein

Diese Scheiß-Decke!!!!

Fünf Minuten später.

Werde mich auf die Terrasse flüchten. Dort gibt es wenigstens keine Scheiß-Zimmerdecke. Bis gleich!

0.56 Uhr. Wieder zurück in meinem Zimmer.

Du glaubst nicht, was mir eben im Garten passiert ist! Weißt du, wer mit mir im Stockdunkeln draußen war? Das errätst du nie. Ben! Wirklich!!

Ich hab neben der Terrasse auf meiner alten Kinderschaukel gesessen und ganz tief ein- und ausgeatmet, damit mir nicht mehr so schlecht ist, und wirklich, es wurde dann auch gleich besser. Aber plötzlich hat es neben mir im Gebüsch geknackt. Ich hab mich vielleicht erschrocken! Zuerst hab ich mich ganz furchtbar gegruselt, weil ich mir sicher war, dass gleich ein Mörder mit gezücktem Messer auf mich zukommt, aber dann hab ich Ben im Nachbargarten gehört.

»Julie? Bist du das?«

Für einen Augenblick hab ich nicht gewusst, was ich sagen soll, aber dann hab ich schnell genickt.

»Ja. «

»Und was machst du draußen?«

»Ich schaukele.«

»Nachts um eins?«

»Das ist ja wohl nicht verboten, oder?«

Keine Ahnung, warum, aber irgendwie macht mich Bens Tonfall in letzter Zeit wütend. Ich mein, okay, seit ein paar Wochen ignoriert er mich nicht mehr, wie er das früher getan hat, aber dafür behandelt er mich jetzt ständig, als wäre ich seine kleine Schwester, und das nur, weil er schon lesen konnte, als ich noch in die Windeln gemacht habe. Und ja, manchmal hat er auch auf mich aufgepasst, als ich sechs war und er schon fast neun, wenn meine Mutter kurz mal wegmusste oder so, aber das gibt ihm noch lange nicht das Recht, mich noch immer wie ein Kleinkind zu behandeln, finde ich.

»Äh, Julie, ist alles in Ordnung? Du klingst irgendwie komisch.«

»Ich klinge nicht komisch. Ich klinge … erwachsen.«

»Erwachsen?«

»Was dagegen?«

»Nein, natürlich nicht. Ich mein … Soll ich vielleicht rüberkommen?«

»Nein.«

Ich hab den Kopf geschüttelt, aber irgendwie hab ich wohl nicht wirklich überzeugend geklungen, denn im selben Moment hab ich es im Gebüsch rascheln gehört.

»Warte, ich bin gleich da.«

Und genau in diesem Moment ist mir eingefallen, dass ich wegen des Wäschenotstands bei uns zu Hause mein uraltes Pferdenachthemd trage. Das mit den verwaschenen rosa Rüschen und der Aufschrift »Ich bin ein süßes Pony«. Ganz objektiv das hässlichste Nachthemd, das diesseits und jenseits des Äquators existiert. Außerdem sehe ich darin wirklich aus wie drei. Also hab ich angefangen, wie wild mit den Armen zu fuchteln. So nach dem Motto »Bis hierhin und nicht weiter«.

»Äh, vielleicht ist das doch keine so gute Idee. Ich hab nichts an, quasi und … STOPP!«

Ben ist stehen geblieben und hat mich ganz irritiert angesehen und dann ist sein Blick auf mein Nachthemd gefallen und man hat gemerkt, dass er Mühe hatte, nicht laut loszuprusten.

»Na ja, nichts würde ich das nicht nennen …«

Na, super. Ich hab innerlich die Augen verdreht, aber da ist er schon grinsend näher gekommen.

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»Warte, ich kann das irgendwie nicht lesen. Was steht da? Ich bin ein süßes Po…«

»Nichts. Klar?«

Ich hab die Arme über der Brust verschränkt und überlegt, wie ich das Thema wechseln kann, aber mir ist nicht das Geringste eingefallen. Im Film haben die blonden Highschool-Heldinnen in solchen Augenblicken immer einen total witzigen Spruch parat, aber im echten Leben klappt so was nie. Voll blöde. Also hab ich die Beleidigte-Leberwurst-Variante gewählt und gesagt, dass er gern wieder rübergehen kann, wenn er sich über mich lustig machen will, weil ich solche Sprüche zurzeit ungefähr so dringend brauche wie Kopfläuse mit Fußpilz. Ben hat geseufzt und dann hat er auf einmal wirklich ein bisschen schuldbewusst ausgesehen.

»Tut mir leid. Ich hab auch noch so einen Pyjama im Schrank liegen. Mit ›Spiderman‹ Aufdruck. Der sieht genauso panne aus.«

»Ach ja?«

Mir ist noch immer nichts eingefallen, was ich hätte sagen können. Schließlich hat er mit dem »genauso« ja quasi bestätigt, dass ich panne aussehe, und was soll man darauf schon antworten? Schön, dass wir beide manchmal panne aussehen, oder was?? Also ist das Schweigen immer länger geworden, und kurz bevor es richtig unangenehm geworden ist, ist Ben dann von der Schaukel aufgestanden und hat in den Himmel geguckt.

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»Hast du gewusst, dass es ein Sternbild gibt, das Bärenhüter heißt? Warte, ich zeig’s dir … Da! Und hier … Das ist Perseus, den mag ich am liebsten.«

Ben ist ein Stück näher gekommen, um mir die Sterne zu zeigen, und als er mich berührt hat, hab ich einen elektrischen Schlag bekommen. Zong! Ich bin richtig zurückgezuckt. Ich glaub, er hat das auch gemerkt, denn auf einmal ist er schnell von mir abgerückt.

»Sorry, ich mein, ich wollte nicht … Ich wollte dir das nur zeigen, wei…«

Ich hab Ben irritiert angeguckt, weil es echt selten ist, dass er sich so verhaspelt.

»Du wolltest mir das zeigen, weil …?«

Ben hat kurz geseufzt und dann weiter geredet.

»Na ja, Perseus erinnert mich immer an einen Dirigenten, der vor einem riesigen Orchester steht. Und dann hebt er seinen Taktstock und alle Sterne fangen, an zu leuchten und zu spielen, und … na ja, ich finde, wenn man ihn so ansieht, dann könnte man fast denken, der Himmel da oben macht Musik.«

»Woh!«

Ich hab nach oben geguckt und für einen klitzekleinen Augenblick kam es mir so vor, als ob da oben wirklich ein Mann seinen Taktstock heben würde, aber da ist Ben schon von der Schaukel aufgestanden.

»Tja, dann …«

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Er stand ganz unentschlossen da und für einen Moment hätte man glatt denken können, dass er nach irgendwas sucht, was er noch sagen kann.

»Dann verschwinde ich mal wieder …«

Ben hat sich zum Gehen umgedreht und plötzlich hab ich mich furchtbar allein gefühlt und mein Mund hat sich ganz von allein geöffnet.

»Warte!«

Ben ist stehen geblieben, und als er sich umgedreht hat, hab ich mich auf einmal sagen hören, dass ich es schön finden würde, wenn er bleibt. Unglaublich, oder? Ben hat eine Sekunde gezögert und dann hat er auf einmal ganz breit gelächelt.

»Echt?«

Ich hab nichts mehr gesagt, aber das war auch gar nicht nötig, denn im selben Moment hat er schon die Schultern gezuckt und gesagt: »Kein Problem.« Na, und dann ist er halt geblieben.

Der Mond hat geschienen und bei uns im Haus war es schon ganz dunkel und bei ihm drüben auch. Nur das Straßenlicht von den Parkplätzen hat ein bisschen herübergeleuchtet. Ich hab Ben gefragt, was er eigentlich noch so spät draußen macht, und er hat gegrinst und gemeint, das könnte er mich auch fragen. Ich hab gesagt, ich hätte ihn aber zuerst gefragt, und da hat er noch mehr gelächelt und gemeint, es würde vielleicht komisch klingen, aber er hätte ein Lied geschrieben. Bestimmte Lieder könne man eben nur nachts schreiben, wenn der Mond scheint und man sich alleine fühlt. So wie der einzige Mensch auf der Welt. Als er das gesagt hat, ist mir ganz komisch zumute geworden. Warm und irgendwie gemütlich und ich hab dann erst gemerkt, dass er ein Notenheft neben sich auf der Schaukel liegen hatte. Reingucken lassen wollte er mich dann aber doch nicht. Beziehungsweise, er hat gesagt, er würde es mir bei Gelegenheit mal auf seiner Gitarre vorspielen, aber nur, wenn ich ihm sagen würde, warum ich eben so geheult hab. Erst wollte ich nicht mit der Sprache herausrücken, aber dann hat er mich in die Seite gestupst und »Feigling« gesagt (so ganz nett irgendwie) und da hab ich’s ihm erzählt.

Erst das mit dem Elternabend, und weil er nicht verstanden hat, warum ich da überhaupt hingegangen bin, auch das mit Hanna und dass sie sich weigert, mit Scharina ein Zelt zu teilen. Und weil er nicht begriffen hat, warum Hanna mit Scharina partout nicht in ein Zelt will, hab ich ihm auch noch das mit dem Lesbisch-Sein erzählt. (Obwohl ich das eigentlich überhaupt nicht erwähnen wollte. Ich weiß auch nicht, wie das gekommen ist …)

Nur das mit Hannas Brief und ihrem Verliebtsein hab ich weggelassen, das wäre einfach zu peinlich gewesen. Und außerdem auch gemein gegenüber Hanna.

Ben hat genau in den richtigen Momenten geschwiegen und genau in den richtigen Momenten nachgefragt. Eigentlich merkwürdig. Wenn ich jetzt so zurückdenke, dann hab ich das Gefühl, als hätte mich noch nie jemand so gut verstanden wie Ben vorhin unten auf der Schaukel. Wobei das nicht heißt, dass ich mich jetzt in ihn verknallt hab oder so. Ganz bestimmt nicht! Das würde alles nur verkomplizieren – schließlich reicht es, wenn Hanna und der Rest der Mädchen aus meiner Klasse in ihn verknallt sind. Sich da auch noch einzureihen, wäre wirklich megadämlich und mir reichen die ganzen Probleme mit Hanna und Scharina und Ottilie und Mama und dieser blöden Zelterei schon dicke! Wirklich!! Und schließlich kann man einen Jungen ja auch nur so einfach nett finden, oder etwa nicht?! Das Komische an dem Gespräch eben ist auf jeden Fall, dass mir die ganze Sache mit dem Elternabend jetzt gar nicht mehr soooooo schlimm vorkommt. Vielleicht, weil Ben mir erzählt hat, dass ihm schon viel, viel peinlichere Dinge passiert sind. Als Sechsjähriger hat er zum Beispiel immer mit seinem Freund um die Wette vom Baum gepieselt und einmal ist die Oma von seinem Freund unten langgegangen und er hat ihr aus Versehen mitten auf den Kopf gepinkelt, na ja und da hat sie natürlich geschrien wie am Spieß – ich mein, hey, DAS ist richtig peinlich. Und überhaupt. Ben meint, morgen sähe die Welt bestimmt schon wieder ganz anders aus, und vielleicht hat er ja recht. Vielleicht dramatisiere ich ja auch alles viel zu sehr, weil ich später Schriftstellerin werden will, und die fühlen ja auch immer alles viel zu doll. Und deswegen fühle ich auch immer alles viel zu doll und kann auch nie hingucken, wenn jemand beim Casting für »Deutschland sucht den Superstar« schlecht singt, weil ich mich dann immer so entsetzlich für den schäme und …

Merke gerade, dass ich jetzt doch ziemlich müde werde. Ich glaub, ich versuche noch mal zu schlafen. Bis morgen!

9 Habe übrigens festgestellt, dass es nicht »Opportouristin«, sondern »Opportunistin« heißt. (Herr Clausen hat sich vor der ganzen Klasse über meine »neue Wortschöpfung« schlappgelacht, peinlicher geht’s nicht). Sollte Fremdwörter demnächst vielleicht erst benutzen, wenn ich sie noch mal im Wörterbuch nachgeschlagen habe.