Dupin könnte von keiner Gegend der Bretagne sagen, dass er sie nicht mag oder gar meiden würde. Nur muss er bei seinen Ermittlungen Rücksicht darauf nehmen, dass er außerhalb seiner Präfektur keine Befugnisse hat, sofern keine Sondergenehmigung vorliegt. Oder sich den Freibrief unbefugt selbst erteilen. Das geschieht bei seinem sechsten Fall, als er mit Claire zu einem ersten gemeinsamen Urlaub an die Rosa Granitküste aufbricht, jedoch zum Müßiggang so wenig Lust verspürt, dass er geradezu auflebt, als sich ein Mord ereignet. Unterdessen bleibt Claire ihrerseits heimlich in Kontakt zu ihrer Klinik. Und so kommt es dazu, dass herrliche Ausflugsziele wie die Corniche de l’Armorique mit den beeindruckenden Buchten von Locquirec und St-Michel-en-Grève unbeachtet bleiben, während ein folkloristisches Würstchenfest zur Erbauung herhalten darf:
»Übrigens findet Sonntagabend die 37. Nuit de la saucisse statt. In Plestin-les-Grèves, hier in der Nähe. Eine Nacht der Würste! Sie präsentieren Wurstspezialitäten des Nordens. Man kann alles probieren! Es gibt auch Musik.«
Bretonisches Leuchten, Seite 218
Dabei vergesse man nicht den Kommissar aus Lannion, der kritisch über Dupins Aktivitäten wacht. Sein Revier, ein Flusshafen an der Mündung des Léguer, besitzt einen Altstadtkern mit hübschen Fachwerkhäusern aus dem 15./16. Jahrhundert und der fotogenen Treppe Escalier de Brélévenez, die über 142 Stufen zur romanischen Église Brélévenez führt. Nur wenige Schritte von dieser ehemaligen Templerkirche entfernt befindet sich im unscheinbaren Haus Nr. 1, Rue de la Coudraie, eine Institution, die der Krimi in Paimpol verortet: Les Valseuses. Augenzeugen wollen dort das spätere Mordopfer mit einem Mann gesehen haben. Die angeblich zwielichtige Bar ist in Wahrheit Austragungsort kleiner Bühnenprogramme mit Theater, Jazz und Rock. Eine zweite Adresse in Lannion haben Claire und Georges genauer im Visier: die Distillerie Warenghem am südöstlichen Stadtrand (https://distillerie-warenghem.bzh ). Sie ist bekannt für ihren preisgekrönten Whisky Armorik, den Likör Elixir oder auch den Chouchen Melmor, eine Art Met, nur vierzehn Prozent stark, der nach keltischem Rezept durch das Fermentieren von Buchweizenhonig gewonnen wird. Um Claire gegenüber den Urlaubsschein zu wahren, macht auch Dupin Vorschläge für Unternehmungen:
»Ich würde gerne auch ein paar richtige Ausflüge machen [… ], ich meine zum Beispiel zu dem Nachbau des weltbekannten kleinen gallischen Dorfes in Pleumeur-Bodou.«
Bretonisches Leuchten, Seite 39
Dieses Village Gaulois (www.levillagegaulois.org ), das sich interaktiv und populärwissenschaftlich mit der Welt von Asterix beschäftigt, ist Teil des Freizeitareals Cosmopolis, auf dem auch das bretonische Planetarium (http://planetarium-bretagne.fr ) und das Telekommunikationsmuseum Cité des Télécoms (www.parcduradome.com ) zu finden sind. Die Wahl für einen solchen Park fiel auf diesen Ort, weil am 11. Juli 1962 von dort die erste Satellitenverbindung zwischen Amerika und Europa hergestellt wurde.
Was Kadeg schon einmal an der Bélon-Mündung verfolgte, kommt in »Bretonisches Leuchten« nochmals ins Bild: der skrupellose Sandabbau. Weltweit bedroht er Strände. In der Bucht von Lannion, beim Badeort Trébeurden, ist es eine Unterwasserdüne, in der ein Zweig des Agrarunternehmens Groupe Roullier über zwei Jahrzehnte hinweg jährlich 40000 m3 Muschelsand für die Landwirtschaft absaugen will. Die Romanfigur Dupin nimmt zu diesem Raubbau einige Spuren auf.
Auch wenn ich kein gebürtiger Bretone bin, habe ich hier doch schnell Wurzeln geschlagen. Es ist eine Region, in der »Gemeinschaft« noch eine starke Bedeutung hat. Man spürt in der Bretagne eine Verbundenheit der Bevölkerung, eine Art gemeinsame Bestimmung. Zu meiner allergrößten Freude hat man mich hier willkommen geheißen. Ebenso ist dies ein Land, wo der Begriff »authentisch« kennzeichnend klingt, Authentizität der Menschen, der Landschaften und der Kultur.
David Roussier, Distillerie Warenghem , Lannion
Am nördlichsten der zwölf Strände von Trégastel, am Grève de Toul Drez, liegen Dupin und Claire während ihrer bisher einzigen Ferien – zwei Wochen des für Dupin unerträglichen Nichtstuns – auf ihrem fliederfarbenen Handtuch. Das sollten auch Sie tun, und zwar exakt am selben Strand. Er liegt auf der Nordwestseite der Île Renote, die über einen schmalen Landsteg zu erreichen ist. Und auch das, was Dupin viel lieber tut, als auf dem Handtuch zu liegen, sollten Sie tun: schwimmen und über die Insel spazieren, einmal ganz herum und durch das rosa Felsenlabyrinth im Nordosten. Eineinhalb Stunden. Intensiver und intimer können Sie die weltberühmte Côte de Granit Rose nicht erleben. Die Steine sind tatsächlich hell- bis grellrosa – im Sonnenuntergang glühen und leuchten sie surreal auf – und haben fantastische Formen. Es ist ein Chaos von riesigen Granitbrocken, einzeln oder in wüsten Ansammlungen, die sich zuweilen hoch auftürmen. Und zwar überall: im Meer, aus dem Wasser ragend, auf den Inselchen, an der Küste, auch auf dem Strand. Als wären sie vom Himmel gefallen, als wäre ein Schauer von eigentümlichen Meteoriten wild verteilt niedergegangen. Die Hexe, die Schildkröte , die Palette des Malers, das Chaos, der Hase – sie heißen so, wie sie aussehen, da braucht man kein Bretone zu sein, um sie zu erkennen. Rosengranit ist der poetische Name des Gesteins, das schon in der Jungsteinzeit als Baumaterial diente und nur an wenigen Orten der Welt so prominent an die Erdoberfläche tritt wie hier. Was Sie gleich von Ihrem Handtuch aus bestaunen können, ist der Tête de Mort, ein Vorsprung in Form eines Totenkopfes, auf dem wiederum eine der amüsantesten Granitformationen der Gegend zu bewundern ist: der Tas de Crêpes, der Pfannkuchenstapel. Die Île du Grand Gouffre und die Île de Dé, zwei dem Strand vorgelagerte Inselchen, schützen vor allzu tosenden Fluten und bilden bei Ebbe eine Lagune. Sogar der Sand hier ist hellrosa und feinkörnig. Nur ganz allmählich fällt der Strand ins Wasser ab. In ein Meer, das nicht bloß durchscheinend ist, sondern vollkommen transparent. Ein zartes Türkisgrün zunächst, das in ein strahlendes Türkisblau übergeht, durch das Rosa des Grundes sondersam verstärkt. Erst weit draußen wird der Atlantik tiefblau. Dort sind die größeren der sagenumwobenen Sept-Îles zu sehen, fünf Seemeilen entfernt von der Küste und unbedingt einen Ausflug wert.
Nördlich von Lannion verschmelzen drei Gemeinden zu einem bildhübschen Urlaubskomplex, der trotz seiner Attraktivität selbst im Hochsommer nicht so heillos von Blechlawinen erdrückt wird wie Ziele an der Côte d’Azur oder der Riviera. Alle drei Orte – von West nach Ost sind es Trégastel, Ploumanac’h und Perros-Guirec – verdanken ihre Beliebtheit den berühmten rosa Granitformationen, zwischen denen Dupin und Claire ihren Urlaub verbringen. Ihr Hotel l’Île Rose wird man nicht finden, es handelt sich um einen Aliasnamen. Aber sonst ist alles vor Ort in Trégastel vorhanden, etwa das Aquarium Marin im Bauch der »Schildkröten«-Felsen (www.aquarium-tre gastel.com) oder das mehrfach von Dupin erwähnte Ensemble am zentralen Platz: Friseur, Bäcker, Dorfbar, die eigentlich eine Crêperie ist, und der Tabac-Presse, in dem der Kommissar immer wieder mit Informationen versorgt wird. Ein wenig aus der Zeit gefallen scheint die Chapelle Ste-Anne-des-Rochers – nicht zu verwechseln mit der sehenswerten romanisch-gotischen Église Ste-Anne-St-Laurent 3 km weiter südlich. Kunsthistorisch, so lässt es sich Dupin von seinem Hotelier erklären, hat die Kapelle keine Bedeutung. Aber es gibt eine alte Legende, »nach der in einer der Statuen der Kapelle der legendäre Rubin Côte de Bretagne versteckt sei. Ein drachenförmiger Edelstein, Teil des Goldenen Vlieses, einst im Besitz von Anne de Bretagne und bis heute spurlos verschwunden« (»Bretonisches Leuchten«, Seite 114). Tatsache ist indessen, dass dieser »Rubin« als Teil der Kronjuwelen im Louvre verwahrt wird, wo man ihn als Spinell von 107,88 Karat identifizieren konnte.
Legendär wurde auch die Granitformation Napoleons Hut beim Hafen von Ploumanac’h, allerdings in ganz anderem Zusammenhang. »Le chapeau de Napoléon est-il toujours à Perros?«, lautete eine harmlos klingende Frage, die am 3. August 1944 über BBC ausgestrahlt wurde. Es war das verschlüsselte Signal an die Résistance, den bewaffneten Kampf gegen die deutschen Besatzer aufzunehmen. In friedlicheren Zeiten, 1903, hatte sich Gustave Eiffels Sohn Albert neben Napoleons Hut ein Haus bauen lassen, das Dupin und Claire besichtigen wollen, als ihnen erklärt wird, dass es zum Verkauf stehe. Bei der Erstveröffentlichung von »Bretonisches Leuchten« 2017 war der Deal bereits perfekt. Vier Millionen Euro waren 2013 für die Immobilie verlangt worden, verkauft wurde sie 2016 für 2,5 Mio. Dabei liefert das Umfeld keinerlei Grund, den Preis zu drücken. Gleich vor der Nase erstreckt sich der Plage St-Guirec, wo vor Jahrhunderten der namensgebende Heilige aus Wales an Land gegangen sein soll. Ihm ist ein romanisches Oratorium gewidmet, das inmitten der Felsen ziemlich skurril wirkt. Guirecs Bildnis darin war ursprünglich aus Holz gefertigt, nur hieß es, dass Hochzeitswünsche in Erfüllung gingen, wenn man ihm mit Nadeln in die Nase stach. Das wurde so oft praktiziert, dass später eine Skulptur aus Granit aufgestellt wurde. Aber auch deren Nase ist mittlerweile stark ramponiert – ein schlechtes Zeichen, denn zur Ehe kam es laut Volksglauben nur dann, wenn die Nase dem Stich widerstand.
Dupins geliebter Hochsitz an diesem Strand ist die Terrasse des Hotels Castel Beau Site mit Panoramablick auf die Île Costaérès samt ihrem Schloss aus den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts. Der litauisch-polnische Bauherr Bruno Abdank-Abakanowicz hat dort Gäste aus seiner Heimat einquartiert, darunter den Literaturnobelpreisträger Henryk Sienkiewicz. Der nutzte den Aufenthalt, um dort seinen Roman »Quo vadis« zu schreiben. Von Claire, die eifrig in Reiseführern blättert, erfährt Dupin, dass das Schloss 1988 »Zweitwohnsitz eines sehr berühmten deutschen Schauspielers [wurde], der es liebevoll und originalgetreu restaurieren ließ, ehe es 2008 von Jérôme Chastagner erworben wurde.« (»Bretonisches Leuchten«, Seite 140). Der nicht namentlich genannte Deutsche ist Dieter Hallervorden, der das Schloss, anders als im Roman, nicht verkauft hat, aber wie der fiktive Besitzer Chastagner keine Besucher auf die Insel lässt.
Dafür entschädigt allemal ein etwa 4 km langer Spaziergang auf dem Zöllnerweg (GR 34) zwischen dem Plage St-Guirec in Ploumanac’h und dem Plage de Trestraou in Perros-Guirec. Die Felsformationen entlang dieser Strecke, da ist man sich einig, zählen zu den spektakulärsten der gesamten Bretagne, sodass aus einer Stunde Fußweg schnell mal ein halber Tag wird. Zum Abschluss kann man ab Perros-Guirec noch eine Bootstour hinaus zu den 15 km vorgelagerten Sept-Îles unternehmen (www.armor-navigation.com ). Der 40 ha große Archipel ist Schutzgebiet für siebenundzwanzig Brutvogelarten, darunter Papageientaucher, Tordalken und Eissturmvögel, und zugleich Lebensraum von Kegelrobben. Ein Landgang ist aber nur auf der Île aux Moines gestattet.
Jeweils donnerstags um 11 Uhr geht es los. Dann bietet das Maison du Littoral in Ploumanac’h eine Führung durch die Carrières de La Clarté an, in denen ab etwa 1920 der rosa Granit gebrochen wurde – für Dupin sind sie aber auch ein Tatort. Und immer wieder erhält er bei seinen Ermittlungen (die er mangels Zuständigkeit offiziell gar nicht als solche bezeichnen darf) Hinweise auf ein sehr besonderes Tal in der Nähe der Steinbrüche: La Vallée de Traouïéro. Eines Tages während seines Urlaubs kann sich der Kommissar für einen Spaziergang durch das Tal davonstehlen: Sieben Zugänge gibt es, sieben in der realen Welt, dazu sieben übernatürliche, sagt eine alte Legende. Dunkle, erdige Fußwege, die im mystischen Tal an der Rosa Küste verschwinden. Unten herrscht eine dumpfe Feuchtigkeit, eine seltsam wattige Stille, als würden sämtliche Geräusche geschluckt. Vom weichen Waldboden, von den Meeren an Königsfarnen, von den Moosen, von nach mythischen Urgestalten aussehenden Buchen, Kastanien, Eichen, Erlen, Eschen, von den herabgefallenen Ästen und dem Unterholz, von den hellgrünen lianenartigen Pflanzen, vom Efeu, von den Misteln weit oben, den vielen kleinen Blumen in satten Farben unten am Boden. Auf einmal entdecken Sie einen erstaunlich klaren, ja hellen Bach wie in einem Märchen. Abenteuerlich schlängelt er sich zwischen den Steinen, Farnen und Bäumen hindurch, auch durch verschachtelte Steinhöhlen und über offen daliegende dicke Baumwurzeln. Alles scheint belebt, auch die mächtigen rosa Felsbrocken, die wie ruhende Wesen, mächtige Riesen daliegen und wirken, als könnten sie im nächsten Moment aufwachen und sich erheben. Vom Himmel ist nichts zu sehen, nur indirektes, vielfach gebrochenes Halblicht fällt durchs Blätterdach ins Tal. Ein bisschen amazonische Bretagne. Ganz unmöglich zu sagen, wo man sich genau befindet: Alles sieht sich ähnlich, immer wieder hat man den Eindruck, an der Stelle, an der man gerade vorbeiläuft, schon gewesen zu sein. Ein perfektes Tal, das man einmal betritt und nie wieder verlässt, weil es sich immer weiter ausdehnt, wie weit man auch läuft. Irgendwann – wenn Sie nicht verloren gegangen sind – gelangen Sie an einen lang gezogenen, mäandernden Teich. Der Wald spiegelt sich so perfekt auf seiner Oberfläche, dass man sie zunächst gar nicht als Wasser wahrnimmt. Die ganze eigentümliche Welt hier unten gibt es plötzlich auch auf dem Kopf stehend. Machen Sie ein Experiment: Nehmen Sie die Uhr ab, bevor Sie in das Tal steigen, und schätzen Sie am Ende des Spaziergangs, wie lang Sie unterwegs waren. Dann vergleichen Sie mit der Uhr.
Östlich von Perros-Guirec scheint es sich mit den Granitwundern abrupt erledigt zu haben, doch dann trifft man an der Pointe du Château auf ein steinernes Postkartenmotiv, das aber nicht mehr als Postkartenmotiv verwendet werden darf. Gemeint ist ein Wohnhaus von 1861, das zwischen zwei Felsen klemmt und durch seine kuriose Lage zu einem bretonischen Wahrzeichen wurde. Die heutige Besitzerin hat viele Anstrengungen unternommen, das öffentliche Interesse abzulenken, denn so malerisch die Lage auch sein mag, ist es doch nicht angenehm, sein Leben quasi vor laufender Kamera zu verbringen. Ergebnis der Bemühungen war schließlich ein Gerichtsbeschluss, der es untersagte, »la maison entre les rochers« zu Werbezwecken abzubilden. Aus Souvenirläden ist das Motiv seither verschwunden, aber selbstverständlich nicht aus dem Internet. Und im April 2022 berichtete Ouest-France über einen Neuzugang, der Öl ins Feuer goss: Ein Café-Restaurant Ty Gouffre mit feinstem Blick auf die Küste einschließlich des eingeklemmten Hauses hatte den Betrieb aufgenommen. Es gibt dort Austern, Wurst- und Käseplatten, fangfrischen Fisch, kouign amann – und die freie Sicht auf den gouffre. Dieser »Höllenschlund« dicht bei dem vertrackten Haus ist ein Felsenriss, durch den bei hohem Seegang eine mächtige Fontäne schießt. Grund genug für einen Besuch – und das Café als Stein des Anstoßes fast schon ein Mordmotiv.
Als Entschädigung für ein möglicherweise entgangenes Fotosujet bietet sich eine durchaus vergleichbare Stätte im Hinterland an. Knapp 15 km südlich von Pontivy befinden sich in der Gemeinde Bieuzy mehrere Kapellen am Ufer des Flusses Blavet. Am schönsten ist die Chapelle St-Gildas, die im 15. Jahrhundert so malerisch gegen den Fels gelehnt wurde, dass sie dem Haus an der Pointe du Château das Wasser reichen kann.
Dass Dupin bislang nicht über St-Yves stolperte, verwundert ein wenig, denn der Heilige aus Minihy, einem Vorort des Flusshafens Tréguier, ist nicht nur Schutzpatron der Armen, sondern auch der Juristen. In der gotischen Église St-Tugdual, die einst den Status einer Kathedrale hatte, liegt der Schädel des 1253 geborenen Yves. Pilger finden oft Anlass, dort mal vorbeizuschauen und eine Spende zurückzulassen. Die gute Nachricht: St-Yves nimmt mittlerweile auch Kreditkarten und besitzt dafür eigens einen Automaten beim Reliquienschrein. Überhaupt kann ein wachsames Auge bei bretonischen Wallfahrten manche Kuriosität beobachten. Aber es gibt auch die magischen Momente, wenn sich etwa Pilger in Trachten vor dem Schädel versammeln, um Kerzen aufzustellen. Nicht St-Yves ist übrigens Hausherr der Kirche, sondern der wesentlich ältere Tugdual, der um 540 als einer der Gründerväter (siehe hier) von den Britischen Inseln herüberkam. Ein gotischer Kreuzgang mit Hortensienbeet und drei Türme – der älteste romanisch, der mit 63 m höchste neogotisch und der wirklich gotische unvollendet – machen den architektonischen Reiz des Bauwerks aus.
Gassen, Fachwerk und Grünanlagen von Tréguier laden zum Spaziergang ein, der dann auch zum Fluss Jaudy führt. Am östlichen Ufer und weiter bis zur Mündung des Trieux erstreckt sich die Presqu’île de Lézardrieux, eine herrlich wilde und einsame Halbinsel mit verlockenden Stränden im Norden bei Pleubian. Dort befindet sich auch die Sillon de Talbert, eine 3 km lange und nur 30 m breite Landzunge, die mit ihrer Form und der exponierten Lage einen eigentümlichen Reiz besitzt. Seevögel nutzen den schmalen Streifen als Brutgebiet, Menschen schätzen die angrenzenden Wasserflächen als Algenreservoir. Bis zu 10000 t werden dort jährlich gesammelt und verarbeitet, der Ort ist damit ein veritabler Konkurrent von Lanildut (siehe hier) . Auch wenn sich längst eine variantenreiche Algenküche etabliert hat, locken nach einer Wanderung über die Sillon die patatez bretonnes, eine bretonische Kartoffelspezialität im bodenständigen Restaurant Bigouden Blues (http://bigouden.blues.free.fr ).
Über eine 154 m lange Hängebrücke verlässt man die Halbinsel Lézardrieux Richtung Paimpol, einen betagten Hafen der Kabeljaufischer, die ihre Abenteuer vor Island und Neufundland bestanden. Der Schriftsteller Pierre Loti (1850–1923), in Deutschland bei Weitem nicht so bekannt wie in Frankreich, schrieb im Haus Place du Martray/Rue de l’Église einen Roman über »Die Islandfischer«. Heute liegen vor den Reederhäusern am Quai Morand vor allem Sportboote vor Anker. Dupin nimmt von dem Hafenstädtchen auch nur insofern Notiz, als er die »Cocos de Paimpol, die weißen zarten Bohnen, geradezu verehrte«. Da haben dann auch die eindrucksvolle Ruine der 1202 gegründeten Abbaye de Beauport (3 km südöstlich von Paimpol, http://abbayebeauport.com ) oder die vorgelagerte Île de Bréhat keine Chance, in Krimihandlungen verwickelt zu werden. Die hübsche autofreie Insel, die man ab L’Arcouest mit der Fähre erreicht (www.vedettesdebrehat.com ), gibt Nolwenn allerdings Anstoß zu einem kurzen Referat über Dinge, die einem längst dämmerten:
»Wer hat Amerika entdeckt? Bretonische Fischer von der Île de Bréhat! Und zwar Jahrhunderte vor Kolumbus. Sie sind auf Neufundland gelandet. Alles belegt. – Die amerikanische Unabhängigkeit? Erkämpft von einem Bretonen! [… ] Oder Halloween. Aber das wissen Sie, oder? Alles bretonisch! Anfang November, wenn es kalt wird, feiern die Kelten das Fest von Samhain. In dieser Nacht öffnen sich die verborgenen Tore zur dunklen Welt, und unheimliche Kreaturen schwirren durch unsere Sphären! Im 18. und 19. Jahrhundert haben keltische Auswanderer die Legenden und Bräuche nach Nordamerika gebracht und voilà: Halloween!«
Bretonischer Stolz, Seite 99
Wenn Bretonen einerseits die Welt erschlossen, so beließen sie doch andererseits Flecken in ihrer Heimat lange unberührt. So führt durchs wilde Trieux-Tal flussaufwärts bis Pontrieux noch heute keine Straße, jedoch immerhin ab Paimpol ein vapeur, eine Dampflok (www.vapeurdutrieux.com ), und der passeur, ein Bötchen (www.lepasseurdu trieux.com ). Das Château de la Roche-Jagu und das Viaduc du Leff sind markante Punkte am Wegesrand. Der Zug, dessen Personal in historische Kostüme gekleidet ist, macht auch Zwischenstopp an einem Haus, dessen Geschichte Dupin begeistern würde. In diesem Maison de l’Estuaire de Traou-Nez hängen gerahmte Zeitungsartikel wie Kunstwerke. Ihr Thema ist die Affäre Seznec aus den Jahren 1923/1924, die den Bretonen so nachhaltig aufs Gemüt schlug, dass mehrere Filme darüber gedreht und Bücher geschrieben wurden. Pierre Quéméneur, damals Besitzer dieses Hauses am Trieux, war nach Paris gereist, um Autos aus Beständen des US -Militärs an Sowjets zu verkaufen. Aber Quéméneur kehrte nicht zurück. Die Polizei ermittelte einen gewissen Guillaume Seznec als seinen Mörder, der zu lebenslanger Zwangsarbeit in Guyana verurteilt wurde, jedoch 1947 auf freien Fuß kam. Sieben Jahre später hatte Seznec einen tödlichen Verkehrsunfall. Quéméneurs Leiche wurde nie gefunden, ein Knochen, der 2018 in Seznecs Haus zutage kam und Hoffnungen gab, konnte einem Rind zugeschrieben werden. Was sich in Wahrheit zugetragen hat, ist noch heute Thema ausschweifender Spekulationen.
In Schopenhauers »Aphorismen zur Lebensweisheit« ist notiert, dass man alt werden muss, um zu erkennen, wie kurz das Leben ist. Zu dieser Einsicht gehört nicht minder, dass der Tod, oder ankou, wie Bretonen ihn nennen, niemandem erspart bleibt, mag er bettelarm oder steinreich gewesen sein. Das sollte nicht weiter verwundern, nur führt der Mensch sein Leben gerne so, als gäbe es kein Ende … was nicht unbedingt ein Irrweg ist, aber im Christentum kritisch betrachtet wird, da ja im Jenseits eine bittere Strafe warten könnte. Der danse macabre, der Reigen im Gefolge des Sensenmanns, bildet deshalb ein mahnendes Bildmotiv in mittelalterlichen Kirchen und ist in der Chapelle Kermaria-an-Isquit bei Plouha zu einem besonders ergreifenden Fresko gestaltet. Niemand sollte sich den virtuos gemalten Appell entgehen lassen, bevor zwischen St-Brieuc und Cap d’Erquy die kinderfreundlichen Sandstrände der Côte de Penthièvre erreicht sind. Wenn Sie Ende April in Erquy eintreffen, werden Sie möglicherweise Zeuge der Fête de la Coquille St-Jacques mit Konzerten und Ausfahrten auf Kuttern. Das Fest ist der Jakobsmuschel gewidmet, die dort mittlerweile aus natürlichen Vorkommen gefischt wird. Zur Blütezeit der Jakobspilgerfahrten kam die Muschel vor allem im spanischen Santiago de Compostela vor. Wer auf der Rückreise vom Jakobsgrab die auffälligen großen Schalen an der Hutkrempe trug, besaß also den Nachweis, tatsächlich im fernen Nordwesten Spaniens gewesen zu sein. Heute hingegen hat die Jakobsmuschel eher kulinarische Bedeutung. Da sie im Unterschied zur Auster schwimmen kann, besitzt sie festes Muskelfleisch, das zu mancherlei Kochkreation anregt. Dupin und Claire etwa verspeisen in ihrem Urlaub tartelettes de St-Jacques, eine Vorspeise, für die man Muschelfleisch mit Eiern, Butter, Schalotten, Crème fraîche, Petersilie und geriebenem Käse in Törtchen füllt und überbackt. Das ist ein völlig anderes Erlebnis als die Begegnung mit der glibberigen Auster. Aber der Kommissar hat zu Erquy noch ein weiteres Geheimnis vernommen (siehe hier) .
Fast ist nun die Zeit gekommen, sich vom Badeurlaub, wie Dupin ihn ja überhaupt nicht mag, gänzlich zu verabschieden. Richtung Osten nimmt der Tidenhub Ausmaße an, die an Weltrekorde reichen. Bei Flut finden Handtücher kaum Platz auf den verbliebenen Fetzen Strand, während bei Ebbe das Wasser bis in unergründliche Ferne flieht. Trotz allem dünnt das Urlauberaufkommen nicht aus, eher im Gegenteil. Die Bretagne wäre ja auch nicht die Bretagne, wenn sie nicht wieder mit anderen Attraktionen aufwarten würde. Wie dem 70 m über dem Meer aufragenden Cap Fréhel mit Leuchtturm, bizarren Felsen, Vogelkolonien und einem Ausblick, der weit über den markanten und offiziell ja leider normannischen Mont St-Michel hinausreicht. Diesen Klosterberg im Blick, kann man auch vom Kap aus auf dem GR 34 zum 5 km östlich gelegenen Fort La Latte spazieren, einer mittelalterlichen Festung in Bilderbuchlage, die auch schon Filmmotiv war (www.castlelalatte.com ). Zur anderen Seite hinaus, also westlich vom Cap Fréhel, fällt Dupin die imposante Landspitze Pointe du Jas auf. In Rennes, so weiß er, hängt im Musée des Beaux-Arts ein Gemälde des Spätimpressionisten Gustave Loiseau, das ebendiese Stelle zeigt. Autor Bannalec kommentiert: »Kennt man die Realität nicht, würde man sagen: Er hat die fantastischen Farben und Stimmungen – impressionistisch – erfunden, dabei sind sie realistischster Realismus. Eigentlich bretonischer Naturalismus.«
Seit es Asterix und Obelix gibt, die unbesiegbaren Gallier, also seit 1961, wird hitzig darüber gestritten, wo das legendäre »kleine gallische Dorf« denn nun liegen mag. Die Wahrheit ist: überall! Die ganze Bretagne ist dieses Dorf, alle hier sind diese Gallier. Alle, die so denken und fühlen wie sie, die die Freiheit und den Freisinn lieben wie die von keiner imperialen Übermacht besiegbaren Helden. Dennoch – auf der Karte in den Büchern wird unter der riesigen Lupe grob ein Punkt markiert. Könnte es sich um das heute siebentausend Einwohner zählende Städtchen Erquy handeln? Besonders Uderzo, der Zeichner, liebte die Bretagne. Aber wo gab oder gibt es Steinmetze mit einem Faible für Hinkelsteine? Dutzende Forscher suchten minutiös die Comics nach Hinweisen ab.
Manches spricht für Erquy, eine Region, die Uderzo gut kannte, da er und sein Bruder dort im Zweiten Weltkrieg Zuflucht gesucht hatten, um dem obligatorischen Arbeitsdienst zu entgehen. Nach dem Krieg kam er wieder, um mit seiner Familie Urlaub in Erquy zu machen. Dort gab es gleich mehrere Steinbrüche, in denen seit dem 19. Jahrhundert rosa Granit abgebaut wurde. Und die drei gewaltigen Steine, die man in der Lupenansicht sieht, existieren tatsächlich am Cap d’Erquy. In Uderzos letztem Band »Obelix auf Kreuzfahrt« wollen Hobby-Erkunder Anspielungen auf das frühere Fischerdorf Tu-ès-Roc im Norden von Erquy erkennen. Doch sicher ist nichts – die Autoren Goscinny und Uderzo nahmen das Geheimnis mit ins Grab.