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Bauen Sie sich eine Gemeinschaft auf

Im zweiten Kapitel habe ich Ihnen Chris vorgestellt, die sich wunderte, wie viele Warnungen sie zu hören bekam, bevor ihr Kind überhaupt geboren war. Am beunruhigendsten war für sie der wiederholte Ratschlag, sich mit ihrem Ausbildungsabschluss zu beeilen, weil sie es nach der Geburt des Babys nicht schaffen würde, weiter zur Schule zu gehen. Chris, die kurz vor der Abschlussprüfung zur Rettungssanitäterin stand, hatte diese eigentlich ablegen wollen, nachdem das Baby geboren war. Aber wie bereits erwähnt missbilligten die meisten ihrer Freunde und Verwandten ihren Entschluss und meinten, dass sie naiv und sogar selbstsüchtig sei, wenn sie ihr Kind dafür in die Kinderkrippe geben würde. Daraufhin befürchtete auch Chris, dass sie ihre Fähigkeit überschätzt hatte, Baby und Arbeit zu vereinbaren, und da sie ihrem Kind den besten Start ins Leben ermöglichen wollte, ging sie von der Schule ab und zog nach der Geburt ihres Sohnes Bradley zu ihrer Familie. Sie blieb 15 Monate lang zu Hause, und auch wenn sie die Zeit mit ihrem Sohn sehr genoss, dachte sie doch immer wieder an die Ausbildung, die sie aufgegeben hatte, und die Möglichkeiten und Vorteile, die diese für sie und auch ihren Sohn gebracht hätte. Schließlich schrieb sie sich ohne Wissen ihrer Familie für Kurse im College ihrer Gemeinde ein, meldete den Sohn in der zum College gehörenden Kinderkrippe an und nahm eine Teilzeitstelle in einem Altenpflegeheim an. Nachdem sich auch die Großeltern bereit erklärt hatten, sich an der Betreuung ihres Enkelkindes zu beteiligen, konnte Chris ein paarmal in der Woche ins Fitnessstudio gehen, wodurch sie körperlich fit und ausgeglichen blieb. Ihr Leben war weiterhin hektisch, aber Chris war der Ansicht, dass sie all das für ihren kleinen Jungen würde schaffen können.

Ich freue mich immer für Mütter, die sich dafür entscheiden konnten, bei ihrem Kind zu Hause zu bleiben, und unterstütze sie bei ihrer Entscheidung. Wer würde nicht gern so viel Zeit wie möglich mit dem wunderbaren kleinen Wesen verbringen, das man gerade geboren hat? Und was für ein Geschenk, wenn man derjenige ist, der all die wichtigen Sinneserfahrungen, die motorischen und kognitiven Erlebnisse, über die wir im letzten Kapitel gesprochen haben, initiieren und mit seinem Kind teilen kann! Aber mir fällt auch auf, dass viele Mütter, die in meine Praxis kamen, unbedingt ein Lob hören wollten, wenn sie sich entschieden, bei ihrem Baby zu Hause zu bleiben. Ihr Bedürfnis nach Bestätigung schmerzt mich, genauso wie es mich schmerzt, dass diejenigen Mütter, die ganztags arbeiten, sich dafür entschuldigen. Letztere beteuern immer, dass sie es aus ökonomischen Gründen tun müssten, und ihnen bewusst sei, dass es für das Baby besser wäre, wenn sie zu Hause bleiben könnten.

Das schlechte Gewissen der arbeitenden Mütter ist absolut unbegründet, und ihre Entschuldigungen sind fehl am Platz. Immer dann, wenn ich diesen Frauen versichere, dass ihre frühe Rückkehr in den Beruf keine negativen Folgen für ihre Kinder haben wird, muss ich an mein Gespräch mit Anh denken.56 Die vietnamesische Mutter hatte ihr Kind zwar in Vietnam zur Welt gebracht, lebte inzwischen aber in den USA. Ich hatte sie gefragt, ob sie während des Wochenbetts hatte ruhen können. Sie erzählte, dass gleich nach der Geburt ihrer mittlerweile fünf Jahre alten Tochter ihre Mutter und ihre Schwester vorübergehend bei ihr eingezogen waren. Aber diese Ruhephase für die Mutter währte nicht lange. Ganz ohne entschuldigenden Ton in der Stimme fügte Anh hinzu: »Bei uns müssen die meisten arbeiten, um ihre Familie zu ernähren. Wir organisieren dann einen Babysitter.« In ihrer Antwort drückte sich eine pragmatische Haltung aus, die ich schon bei vielen Müttern anderswo in der Welt kennengelernt hatte. Sie entschuldigen sich selten für das, was sie tun müssen, um ihre Familien zu unterstützen, und haben kein schlechtes Gewissen, wenn sie Hilfe in Anspruch nehmen. Leider ist dieses schlechte Gewissen (nicht nur) bei amerikanischen Eltern weit verbreitet, und Hilfe zu erhalten, wird im besten Fall als Luxus betrachtet, im schlimmsten Fall als Zeichen dafür, dass man seine Aufgabe als Mutter nicht erfüllen kann.

Ein Baby sollte eine Bereicherung unseres Lebens mit etwas Neuem und Wunderbarem darstellen, nicht das Ende von allem, was wir vorher waren. Und doch haben sich in den letzten Jahrzehnten in unserer Kultur zwei Ideale herausgebildet, die von den Eltern praktisch fordern, dass sie ihr eigenes Leben völlig umkrempeln: Gute Eltern sollten in der Lage sein, ihr Kind ganz allein großzuziehen, und kleine Kinder sollten so viel wie möglich mit ihren Müttern zusammen sein. Chris hatte sich gedrängt gefühlt, nach der Geburt ihres Babys den ganzen Tag zu Hause zu bleiben, aber zumindest war ihre Familie bereit, sie zu unterstützen, damit sie deren Erwartungen gerecht werden konnte. Wenn man bedenkt, was es für die meisten Menschen körperlich und finanziell bedeutet, diesen beiden Idealen zu entsprechen, ist es nicht verwunderlich, dass Frauen, die um den Millenniumswechsel herum und danach Kinder bekommen haben, die am stärksten gestressten Menschen in den USA sind, vielleicht sogar in der ganzen westlichen Welt.57

Wie bereits beschrieben erhalten Eltern in anderen Ländern nach der Geburt ihres Babys oft sehr viel Hilfe von der ganzen Familie und auch von anderen Mitgliedern ihrer Gemeinde oder Gemeinschaft. Und in vielen Fällen lässt diese Hilfe auch nach ein paar Wochen nicht nach, so wie es bei uns häufig der Fall ist. Eher ist es selbstverständlich, dass nach einer Geburt die Gemeinschaft dafür verantwortlich ist, den Eltern beim Aufziehen des Kindes zu helfen und sich jeden Tag um die kleine Familie zu kümmern. In ihrem Buch Welcoming Spirit Home erklärt die Autorin Sobonfu E. Somé aus Burkina Faso, Angehörige der Dagara, die Philosophie ihres Volkes in Bezug auf Kinder und Familie: »Es reicht nicht aus, eine gute Mutter oder ein guter Vater sein zu wollen; wir brauchen Hilfe und eine Gemeinschaft – die Gemeinschaft ist wichtig, damit das Elternpaar gesund bleibt.«58 In der südafrikanischen Wüste habe ich gesehen, wie Frauen mit enorm großen Wassereimern auf dem Kopf und dem auf den Rücken gebundenen Neugeborenen einen Hügel hinaufstiegen (wenn man sich zum Überleben um Essen und Wasser kümmern muss, fällt das Wochenbett flach). Diese Frauen waren ein Muster an Zähigkeit und Stärke, Selbstständigkeit und Aufopferung. Aber vermutlich brachten sie die Energie dafür auf, weil sie wussten, dass sie bei der Rückkehr in ihr Dorf nicht allein sein würden – Aufgaben wie die Betreuung der Kinder, das Saubermachen, das Kochen und alle anderen Haushaltspflichten würden aufgeteilt werden. Leider sieht es bei Eltern hierzulande ganz anders aus, und die Gründe liegen zum Teil gerade in dem, was Amerika groß gemacht hat, zum Beispiel im Geist der Unabhängigkeit und in der relativen geografischen Mobilität. Als Land sind die USA großzügig und mitfühlend, wenn bekannt wird, dass jemand von uns krank ist oder von einem Unglück wie zum Beispiel einer Naturkatastrophe getroffen wurde. Aber wenn es um die Erziehung von Kindern und das alltägliche Führen eines Haushalts geht, erwartet man von Eltern, dass sie alles alleine schultern. Natürlich sind wir es unseren Kindern schuldig, sie bedingungslos zu lieben, ihnen eine sichere, fürsorgliche, anregende Umgebung zu schaffen und für sie einzutreten, wenn es nötig ist. Doch historisch gesehen war es niemals ausschließlich die Aufgabe der Eltern, ein zufriedenes und erfolgreiches Kind großzuziehen. Vor nicht allzu langer Zeit teilten sich noch mehrere Personen die Verantwortung dafür.

Erziehung gelingt, wenn Verantwortung geteilt wird

Geschwister, Großeltern, Lehrer, Freunde – alle können und sollten eine Rolle spielen, wenn es um die Erziehung eines Kindes geht, genau wie Kindertagesstätten, Vorschulen und andere Betreuungseinrichtungen. In vielen Ländern ist das selbstverständlich. In Dänemark, das bei Umfragen, in denen es um das Land mit den glücklichsten Bürgern ging, wiederholt Platz eins belegte, besuchen fast alle Einjährigen ein öffentliches Programm zur Früherziehung, und 80 Prozent der Mütter mit Kindern unter 16 Jahren sind berufstätig.59 In Belgien gehen die meisten Kinder mit zweieinhalb Jahren in eine Kindertagesstätte,60 in Japan mit drei Jahren. In den USA aber, wo die frühkindliche Erziehung nicht öffentlich gefördert wird und daher von den Eltern selbst bezahlt werden muss, besuchen nicht einmal 50 Prozent der Dreijährigen eine Kindertagesstätte.61 Bei Kindern, die vier Jahre alt sind, erhöht sich der Prozentsatz nur auf 69 Prozent. Das erklärt meiner Meinung nach zum Teil auch, warum nicht berufstätige Mütter genauso stressgeplagt sind wie berufstätige – sie versuchen oft mit aller Kraft, dem fast unerreichbaren amerikanischen Erziehungsideal gerecht zu werden. Wie sehr man seine Kinder auch liebt, ihre ständige Gegenwart und Forderung nach Aufmerksamkeit kann doch sehr anstrengend sein. Trotzdem ermutigt unsere Gesellschaft Mütter, den größten Teil ihrer Zeit allein mit ihren kleinen Kindern zu verbringen. Ist es da erstaunlich, wenn diese Frauen erschöpft und ausgelaugt sind? Dänische Mütter – von denen die meisten berufstätig sind – haben jeden Tag durchschnittlich 90 Minuten Zeit für sich selbst, amerikanische Mütter 36.62

Traurig finde ich auch, dass Mütter, die sich ein paar Stunden Kinderbetreuung leisten können, oft ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie diese Zeit für sich selbst nutzen. Besonders deutlich wird dies in Internetforen, in denen sich Mütter austauschen. Dort wird oft nach Empfehlungen für Einrichtungen gefragt, in denen kleine Kinder tageweise untergebracht werden können. Begründet wird dieser Wunsch dann damit, dass die Frauen ein bisschen Zeit allein brauchen, um einkaufen zu gehen oder Dinge zu erledigen. Meist fügen die Fragestellerinnen noch etwas Ähnliches hinzu wie »… oder um zur Pediküre zu gehen!«, begleitet von einem Emoji. Warum muss der Wunsch der Mutter, sich um ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern und etwas nur zum Vergnügen zu tun, zu einem Witz reduziert werden? Warum sollte es Frauen peinlich sein zuzugeben, dass sie einfach etwas Zeit für sich selbst haben möchten?

Es gibt keinen Grund, sich schlecht zu fühlen, wenn Sie Ihr Kind in einer Betreuungseinrichtung unterbringen, egal ob sie währenddessen arbeiten gehen, eine Ausbildung machen oder etwas tun, was nur ihrer persönlichen Zufriedenheit dient. Eine im April 2014 erschienene Untersuchung im Journal of American Marriage and Family – die erste groß angelegte Langzeitstudie dieser Art – kommt zu dem Ergebnis, dass die Dauer der mit den Eltern verbrachten Zeit bei Kindern zwischen drei und elf Jahren sehr viel weniger Einfluss auf deren verhaltensbezogene, emotionale und akademische Entwicklung hat als Einkommen und Bildungsniveau der Mutter.63 Die Qualität der Aktivitäten und die emotionale Bindung zwischen Eltern und Kindern spielen eine ungleich größere Rolle als die Quantität der miteinander verbrachten Zeit. Allerdings gibt es eine Ausnahme: Während der Jugendjahre, gerade zu dem Zeitpunkt, an dem viele Eltern die Zügel lockern und sich aus dem Leben ihrer Kinder zurückziehen, hat es einen großen Einfluss auf die Teenager, wie viel Qualitätszeit sie mit ihren Eltern verbringen.64 Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, zusammen mit Belegen aus der ganzen Welt, dass es für kleine Kinder, deren Eltern sich ihnen oft intensiv widmen, keine negativen Folgen hat, wenn sie eine qualitativ gute Tageseinrichtung besuchen oder mit einem vertrauenswürdigen Babysitter zusammen sind. Eine solche Auszeit von den Eltern hilft den Kindern sogar, soziale Fähigkeiten zu entwickeln.

Was muss ich bei der Wahl einer Betreuungseinrichtung beachten?

Um eine gute Betreuungseinrichtung zu finden, sprechen Sie mit anderen Eltern, überprüfen Sie die Referenzen und Zulassungen der Einrichtungen und statten Sie ihnen einen Besuch ab. Ich habe immer am meisten erfahren, wenn ich direkt vor Ort einige Zeit das Miteinander von Betreuern und Kindern beobachtet habe. Informieren Sie sich immer über mehrere Betreuungseinrichtungen, bevor Sie Ihre Entscheidung treffen. Kommen nach der ersten Auswahl nur noch einige infrage, verbringen Sie dort probehalber etwas Zeit mit Ihrem Kind. Auf jeden Fall sollte die Tagesstätte die Möglichkeit bieten, dass Sie Ihr Kind jederzeit besuchen können.

Das Schlüsselwort für die Betreuung ist natürlich Qualität. Und Qualität kann teuer sein, deswegen ist in skandinavischen und anderen Ländern, die eine universelle Kinderbetreuung bieten, die Beitragshöhe dafür auf einen bestimmten Prozentsatz des Familieneinkommens begrenzt. Studien zeigen, dass es einem Kind unter sechs Jahren schaden kann, wenn es in der Zeit, in der es mit einem Elternteil zusammen ist, hauptsächlich fernsieht oder »gar nichts« tut.65 Es kann davon ausgegangen werden, dass dieses Ergebnis nicht nur in Anwesenheit von Vater oder Mutter zu erwarten ist, sondern auch in der jedes anderen Erwachsenen. Das bedeutet, dass Eltern, die sich keine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung leisten können, zurecht besorgt sind, dass die Betreuung durch andere Erwachsene oder in einer Institution der Entwicklung ihres Kindes schaden könnte. Daher sollte mehr dafür getan werden, diesen finanziell schlechter gestellten Familien zu helfen und ihren Kindern eine gute Zukunftsperspektive zu bieten; das wäre jedoch Thema eines anderen Buches. Wenn aber Familien aus der Mittel- und der mittleren Oberschicht ihre kleinen Kinder fremdbetreuen lassen, geschieht dies meist in qualitativ guten (teureren) Einrichtungen, sodass Schuldgefühle und Sorgen ungerechtfertigt und sogar schädlich wären. Und nicht nur für die Erwachsenen.

Gefühle sind ansteckend

Die meisten Menschen wissen intuitiv, dass sich eine Depression der Eltern negativ auf den Umgang mit ihrem Kind auswirken kann. In puncto Stress und schlechtem Gewissen gehen jedoch viele davon aus, dass diese Gefühle nur uns selbst belasten, nicht aber unsere Kinder. Das ist ein Irrtum. Der Stress, die Erschöpfung oder die Schuldgefühle, die Sie mit sich herumtragen, fließen in die Interaktionen mit Ihrem Kind ein. Eine Mutter, die es leid ist, ständig auf dem Sprung zu sein, ist nicht mehr so aufmerksam, so geduldig und so fröhlich wie eine Mutter, die regelmäßig Zeit für sich selbst hat, in der sie sich ausruht, Sport treibt, ihren eigenen Interessen nachgeht oder sich mit ihren Freundinnen zum Mittagessen trifft. Und wenn Sie Ihre Arbeit als notwendiges Übel empfinden, das Sie vom Zusammensein mit Ihrem Kind abhält, dann wird Ihr Kind Ihre Arbeit schließlich auch als etwas Negatives ansehen; wenn es alt genug ist, wird es dann alles tun, um Sie so lange wie möglich davon abzuhalten. Jeder, der einmal den Tag damit begonnen hat, sein Bein aus der Umklammerung eines schreienden Kleinkindes zu befreien, weiß, wovon ich rede. Kinder spüren es, wenn sich ihre Mutter oder ihr Vater mit der Wahl, die sie getroffen haben, nicht wohlfühlen. Berufstätige genau wie nicht berufstätige Mütter, die sich jedes Mal sorgen, sobald sie ihr Kind in die Obhut anderer übergeben, senden dem Kind die unterschwellige Botschaft, dass es ohne die Mutter an seiner Seite nicht wirklich sicher ist.

Besser wäre es, Kindern von Anfang an zu vermitteln, dass Arbeit zum Leben gehört und im besten Fall sogar Spaß macht, und dass man keinen Widerwillen dagegen entwickeln muss. Kate aus Australien, die als Rettungssanitäterin arbeitet, hat in dieser Hinsicht eine ideale Einstellung: »Durch meine Arbeit bin ich eine bessere Mutter. Ich mache mehr aus der Zeit mit meiner Tochter, und mir ist wichtig, dass wir gemeinsam viel Spaß haben. Ich glaube, es ist gut für uns, dass wir eine Zeit lang nicht zusammen sind.«66 Es stärkt Ihr Kind, wenn Sie ihm vermitteln, dass es auch ohne Sie eine schöne Zeit haben kann und dass Sie immer zu ihm zurückkommen werden. Säuglinge, die das schon früh lernen, wachsen zu Kleinkindern heran, die keine Angst haben, wenn ihre Eltern nicht bei ihnen sind.

Daher ist es gut für Sie und Ihre Kinder, wenn Sie neben Ihrem Dasein als Elternteil noch ein eigenständiges Leben haben. Und es ist auch gut für die Beziehung zu Ihrem Partner. Sie müssen sich Freiräume schaffen, in denen Sie sich ausschließlich aufeinander konzentrieren – und das nicht nur gelegentlich. Ansonsten besteht das Risiko, dass Sie vergessen, was Sie damals, bevor Ihre Kinder da waren, ursprünglich zusammengeführt hat. Kinder reagieren negativ, wenn in ihrem Zuhause Stress und Sorgen herrschen, und sie reagieren positiv, wenn es mit Glück und Harmonie erfüllt ist. Ein Zuhause mit Eltern, die sich noch immer lieben, die gern zusammen sind, ob mit oder ohne ihren Nachwuchs, ist ein wundervoller Nährboden für eine glückliche Kindheit. Und es bekommt auch den Eltern gut, weil es sie auf die Zeit vorbereitet, in der sie wieder nur zu zweit sein werden. In unserer Kultur sind nicht nur die Erwartungen an Eltern gestiegen, sondern auch an das, was wir in allen Phasen unseres Lebens erwarten und erreichen sollten.

Es ist gut für Sie und für Ihre Kinder, wenn Sie auch ein eigenständiges Leben haben.

In einem Artikel der New York Times67 wird die Historikerin und Familienexpertin Stephanie Coontz zu dem Thema zitiert, warum Paare über 50 sich häufiger scheiden lassen als je zuvor: »Wir erwarten Gleichberechtigung, Intimität, Freundschaft, Spaß und sogar noch Leidenschaft – alles in einem Alter, das man früher als Lebensabend bezeichnet hat.« Aber jeder muss sich selbst bemühen, diese hohen Erwartungen zu erfüllen. »Man darf zum Beispiel in all den Jahren mit den Kindern seine Partnerschaft nicht vernachlässigen und sich einbilden, dass sie nicht darunter leidet.« Ob Sie sich Zeit für sich selbst nehmen oder sie mit Ihrem Partner verbringen, betrachten Sie diese Momente als vorbeugendes Mittel für eine glückliche Ehe und gegen das »Empty-Nest-Syndrom«, wenn die Kinder erst mal aus dem Haus sind.68

Was Sie gegen Stress und Schuldgefühle tun können

  1. Erkennen Sie an, was Sie tun, und kritisieren Sie sich nicht für das, was Sie nicht tun

    Anstatt unzufrieden zu sein, weil Sie nicht der gesellschaftlichen Vorstellung von einer idealen Mutter entsprechen, stellen Sie eine Liste mit all den wunderbaren Sachen zusammen, die Sie für Ihre Kinder tun: Schlaflieder singen, Fingerspiele, Musik laut stellen und mit Ihrem Kind auf dem Arm herumtanzen … das kostet alles nichts, nimmt wenig Zeit in Anspruch und hat eine enorm positive Auswirkung auf Ihr Kleines.

  2. Verfolgen Sie Ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen

    Gehen Sie mit gutem Beispiel voran und zeigen Sie Ihren Kindern, dass es möglich ist, eine wunderbare, liebevolle Mutter zu sein und trotzdem arbeiten zu gehen oder sich in der Gemeinde zu engagieren. So sehen Ihre heranwachsenden Kinder Sie als vollständiges Individuum, nicht nur als Elternteil, dessen ganzes Leben sich nur um den Nachwuchs dreht. Kinder fühlen sich oft unter Druck gesetzt, wenn sie spüren, dass sie der einzige Lebenssinn ihrer Eltern sind. Es ist in Ordnung, wenn Sie auch an sich selbst denken. Stellen Sie Ihre Bedürfnisse ruhig ab und zu an die erste Stelle. Und tun Sie das möglichst bald. Je eher ihr Kind merkt, dass es auch ohne Sie sicher ist und Spaß haben kann, desto größer ist die Chance, dass es später keine Verlustangst entwickelt. Wenn Sie ihm seine Verlustangst nehmen oder sie von vornherein vermeiden können, beseitigen oder vermeiden Sie damit einen Stressfaktor, der im Leben der Eltern die meisten Schuldgefühle hervorruft.

  3. Verlustangst vermeiden

    Verlustangst ist die Angst vor dem Unbekannten und sie kann schon sehr früh auftreten. Am häufigsten begegnet sie mir bei Kleinkindern, die ausschließlich gestillt und die meiste Zeit von einem Elternteil betreut wurden, meist der Mutter. Nur allzu oft höre ich von folgender Szene: Eine Mutter möchte ihr Kleines nur für ein oder zwei Stunden beim Vater lassen, damit sie etwas erledigen oder zum Friseur gehen oder einen Zahnarzttermin wahrnehmen kann. Während ihrer Abwesenheit schreit das Kleine ununterbrochen. Der Vater ist verzweifelt, weil er sein Kind nicht trösten kann, und hat danach meist keine Lust mehr, sich dieser Situation noch einmal auszusetzen.

Dieses Szenario lässt sich vermeiden, indem der Vater von Anfang an in die Pflege und Betreuung des Babys mit einbezogen wird und die Mutter sich regelmäßig etwas Zeit für sich selbst nimmt und ihren Partner mit dem Nachwuchs allein lässt. In diesem Fall werden Vater und Kind diese innigen Momente zu zweit sehr genießen. Noch besser ist es, wenn die Eltern ihr Kind schon frühzeitig daran gewöhnen, sich auch in der Gegenwart anderer Betreuer sicher zu fühlen. Führen Sie Freunde und Familienmitglieder in die Welt Ihres Babys ein, lassen Sie sie das Kleine halten und mit ihm spielen. Lassen Sie auch ab und zu jemanden babysitten, damit Sie und Ihr Partner zusammen ausgehen können. Wenn Sie gemeinsam Freunde besuchen, legen Sie Ihr Kind in deren Gäste- oder Kinderzimmer schlafen. Wenn Sie Ihr Kind behutsam an verschiedene Umgebungen und Menschen gewöhnen, wird es sich bei seinen jeweiligen Betreuern sicher fühlen und sogar die Gelegenheit genießen, mit anderen Zeit zu verbringen, ohne dass Sie ständig dabei sind.

Mein Kind hat bereits Verlustangst – was kann ich tun?

Sie sollten die Situationen, in denen Ihr Kind normalerweise ängstlich reagiert, nicht vermeiden, sondern sie im Gegenteil häufiger herbeiführen. Organisieren Sie Termine, um mit einer Großmutter oder engen Freunden Zeit zu verbringen. Verlassen Sie das Zimmer möglichst nicht, solange Ihr Kind noch an Ihnen klebt. Warten Sie ab, bis es zufrieden mit einem Freund oder einer geliebten Person beschäftigt ist und sich von Ihnen abwendet, bevor Sie aus dem Zimmer gehen. Dazu können mehrere Versuche nötig sein, aber bemühen Sie sich weiter, bis Ihr Kind sich schließlich auch ohne Sie sicher fühlt. Sprechen Sie in einem begeisterten Tonfall über diese Spielstunden und entschuldigen Sie sich nie dafür, dass sie weggehen.

Warten Sie mit dieser Gewöhnung auf keinen Fall, bis Ihr Kleines in die Kindertagesstätte, die Vorschule oder die Schule kommt. Es kann für ein Kind sehr beängstigend sein, zwei völlig neue Erfahrungen zur selben Zeit machen zu müssen. Viel besser ist es, wenn Ihr Kind schon daran gewöhnt ist, Zeit mit anderen Kindern und ohne Sie zu verbringen, bevor es in die Kita, die Vorschule oder die Schule geht. Da es mit diesen neuen Institutionen nur Positives verbinden soll, geben Sie ihm vorher genug Gelegenheiten, seine Unabhängigkeit in einer liebevollen Umgebung zu erproben, in der keinerlei Druck herrscht. Wenn dann die Eingewöhnung in eine neue Institution bevorsteht, sprechen Sie voller guter Erwartungen darüber, damit Ihr Kind sich darauf freut. Erzählen Sie, dass es dort viele andere Kinder treffen wird, dass es bestimmt einen tollen Spielplatz und viele fröhliche Gruppenaktivitäten geben wird. Die meisten Kinder, die daran gewöhnt sind, Zeit ohne ihre Eltern zu verbringen, freunden sich schnell mit der neuen Situation an, besonders wenn sie dort Freunde wiedertreffen.

Setzen Sie Prioritäten

Natürlich ist es etwas ganz anderes, ob Sie Ihr Kind ein paar Stunden allein lassen, um einen Fotografiekurs zu besuchen oder etwas zu erledigen, oder ob Sie morgens das Haus in der Gewissheit verlassen, dass Sie erst abends wiederkommen werden. Wie sollten Sie da kein schlechtes Gefühl haben, dass Sie den Tag nicht mit Ihrem Kind verbringen können oder dass es Sie vielleicht vermisst? Wie können Sie verhindern, dass Sie sich bei dem Versuch, Ihre Berufstätigkeit und Ihre Aufgaben als Mutter gleich gut zu meistern, völlig überfordert fühlen? Vorausgesetzt, Sie zweifeln die Qualität der Betreuung, in der Sie Ihr Kind zurücklassen, nicht an, kommt hier die Lösung: Prioritäten setzen.

Als wir in Idaho lebten, war ich im Umkreis von 200 Kilometern die einzige Ärztin für Neugeborene. Manchmal arbeitete ich die ganze Nacht auf der Intensivstation, fuhr nach Hause, duschte und arbeitete dann den Tag über im Krankenhaus. Es gab nur wenige Pausen, denn bei meiner Arbeit hatte ich ständig mit Situationen zu tun, in denen es um Tod oder Leben ging. So war es eine Notwendigkeit, dass ich sehr schnell lernte zu entscheiden, was für mich und meine Familie wirklich wichtig war und was nicht. Und ohne einen einzigen bedauernden oder schuldbewussten Blick stellte ich das, was weniger wichtig war, hintenan.

Viele fühlen sich überfordert, aber oft verschlimmern sie ihre Lage selbst dadurch, dass sie Dinge tun, die für ihre Lebensqualität oder die ihrer Kinder nicht unbedingt nötig sind. Wenn Sie Ihren Abend zu Hause mit einem verärgerten oder frustrierten Gefühl beginnen, weil die Wäsche noch nicht gewaschen ist, hilft das niemandem. Nehmen wir an, ein sauberes Zuhause ist für Sie Voraussetzung dafür, sich entspannt und ausgeruht zu fühlen. Wenn Ihr Partner Ihnen nicht helfen kann und Sie sich keine Reinigungskraft leisten können, nehmen Sie sich, wenn die Kinder im Bett sind, zehn Minuten Zeit und machen Sie einen Teil Ihrer Wohnung sauber – nur einen Teil – und dann hören Sie auf damit. Der Staub in den Ecken, andere Haushaltspflichten, die sozialen Medien, das Lesen der Zeitung oder die Nachrichtensendung … manchen erscheinen diese Dinge wichtig, aber sie können warten. Ihre Kinder sollten es nicht. Wenn Sie sich in der Zeit, die Sie mit Ihren Kindern verbringen, durch nichts ablenken lassen, und auch nicht das Gefühl haben, eigentlich tausend andere Dinge tun zu müssen, wird Ihr Stresspegel sinken. Und infolgedessen sinkt auch der Stresspegel Ihres Kindes. Es muss spüren, dass Ihnen die Zeit mit ihm heilig ist, dann wird es sich auch nicht mehr zurückgesetzt fühlen, wenn Sie zur Arbeit gehen.

Es geht nicht nur darum, was Sie mit Ihrem Kind tun, sondern wie Sie es tun.

Denken Sie immer daran, dass die Phase, in der Ihr Kind klein ist, nur kurze Zeit währt. Zusammen singen, kochen (sogar ein Kleinkind kann mit einem stumpfen Messer eine Avocado schneiden), reden, ein Entspannungsbad bereiten, herumalbern … es geht nicht nur darum, was Sie mit Ihrem Kind tun, sondern wie Sie es tun. Die Qualität der gemeinsamen Zeit und vor allem die Stimmung währenddessen ist wichtiger als die Anzahl der Stunden. Sie werden in Ihrem Kind keine positiven Gefühle hervorrufen, wenn Sie zwar in seiner Nähe sind, aber dauernd auf Ihr Handy starren oder herumrennen, weil Sie etwas im Haushalt erledigen wollen – oder wenn Sie durch Ihre Haltung vermitteln, dass Sie nur darauf warten, dass es ins Bett geht, um Ruhe zu haben. Das sind keine Augenblicke, an die Sie gern zurückdenken werden. Es sind verpasste Gelegenheiten, die mit etwas gutem Willen und Aufmerksamkeit zu schönen Momenten für Sie und Ihr Kind hätten werden können.

Deborah, eine Kinderkrankenschwester, die gleichzeitig als Babysitterin arbeitet, hat miterlebt, welch unnötigen Stress sich Eltern oft machen, wenn sie keine Prioritäten setzen und nicht darauf vertrauen, dass ihre Kinder auch bei anderen Menschen gut aufgehoben sind. Deborah sollte eingestellt werden, um während eines sechstägigen Karibikurlaubs der Eltern auf die 18 Monate alte Ainsley und den acht Jahre alten Brett aufzupassen. Wie es für verantwortungsvolle Eltern, die ihre Kinder eine Woche lang in die Obhut einer Babysitterin geben, selbstverständlich ist, führte die Mutter, Judy, ein langes Gespräch mit Deborah und überprüfte deren Referenzen. Deborah schien eine sehr gute und vertrauenswürdige Babysitterin zu sein. Doch obwohl Judy wusste, dass Deborah 14 Jahre Erfahrung mitbrachte und ausgezeichnete Referenzen besaß, benahm sie sich, als hätte die Babysitterin keine Ahnung, wie man Kinder versorgt. Im Laufe von etlichen Telefongesprächen und Besuchen in Judys Haus erklärte sie Deborah jede Einzelheit der täglichen Routine und wiederholte immer wieder, was sie zu tun hätte. Damit Deborah auch ja alles richtig machte, schrieb sie ihr vor ihrer Abreise alle Anweisungen noch einmal im Detail auf. Deborah war auch eine gute Köchin, und sie und Judy besprachen mehrere Gerichte, die den Kindern gefallen würden. Doch als Deborah am ersten Tag im Haus der Familie erschien, war die Tiefkühltruhe voll mit Essen, das Judy bereits vorgekocht hatte. Während Deborahs ersten Besuchs bei der Familie hatte Judy ihr den Schrank der Kinder gezeigt und ihr aufgetragen, sie solle sie dem Wetter angemessen kleiden. Das konnte kaum problematisch werden, da Sommer war und es in den folgenden Tagen mit Sicherheit warm und sonnig sein würde. Aber als Deborah am ersten Arbeitstag die Kinderzimmer betrat, lag dort die jeweils aufeinander abgestimmte Kleidung für sechs Tage bereit.

Bevor die Eltern zu ihrer Reise aufbrachen, verbrachte Deborah einen Abend mit der Familie, um die Zubettgehroutine der Kinder kennenzulernen. Die Atmosphäre war angespannt und nichts fühlte sich richtig an. Beim Abendessen unterbrach Judy immer wieder das Gespräch, um den Achtjährigen aufzufordern, seine Ellbogen vom Tisch zu nehmen. Als das Essen beendet war, verbrachte sie 20 Minuten damit, im Wohnzimmer herumzurennen und jedes einzelne Spielzeug aufzuheben, den Mülleimer zu leeren, den Kompost zu wenden und noch weitere Dinge im Haus zu erledigen, während der Vater sich schon in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte. Die Badezeit war kurz und verlief effizient; Judy badete das kleine Mädchen, und ihr Ehemann kam lange genug aus seinem Zimmer, um mit dem Jungen zu helfen. Als die Kinder im Bett waren, erschien Judy im Wohnzimmer, ließ sich in einen Sessel fallen und sagte mit einem bedauernden Lächeln: »Bin ich geschafft!« Anscheinend erwartete sie eine mitfühlende Bemerkung von Deborah, die diese aber nicht über sich brachte. Nicht, wenn all die Erschöpfung so offensichtlich selbst verschuldet war.

Schließlich reisten die Eltern ab, und Deborah verbrachte sechs Tage mit den Kindern, in denen sie alles genauso machte, wie Judy es ihr aufgetragen hatte, allerdings ohne sich dabei verrückt zu machen. Sie ging zur Arbeit, während die Kinder in der Schule und in der Kindertagesstätte waren, ansonsten spielte sie mit ihnen, bereitete ihnen das Essen, badete sie, brachte sie ins Bett und erledigte alle Aufgaben im Haushalt. Zugegeben – sie konnte sich ganz auf die Kinder konzentrieren, denn niemand bat sie abends noch per E-Mail um die Zustimmung für ein Projekt, sie musste keine Korrespondenz mehr führen oder ein Hand-out für eine Präsentation am nächsten Tag vorbereiten. Aber ihrer Beobachtung nach luden sich die Eltern durch den Anspruch, ihren Kindern eine perfekte Umgebung zu schaffen, so viele Verantwortlichkeiten auf, dass darunter die Qualität der miteinander verbrachten Zeit litt.

Und wie erging es den Kindern? Lasteten der Stress, die Sorge und der Druck allein auf den Eltern? Deborah erzählte mir zwei Dinge, die mich vermuten lassen, dass dem nicht so war. Wenn sie mit dem Achtjährigen ein Spiel spielte, schien dieser kaum Spaß daran zu haben. Alles artete für ihn in eine Konkurrenzsituation aus, und er war ein sehr schlechter Verlierer. Das kleine Mädchen hatte ständig gequengelt, als seine Mutter noch dabei war, hörte aber damit auf, sobald Deborah sie betreute. Für mich klangen Deborahs Schilderungen, als hätten die Kinder bereits verinnerlicht, dass Unruhe und Stress dazugehören, wenn man es im Leben zu etwas bringen will. Was für eine traurige Lektion für die Kinder, und was für ein anstrengendes Leben für die Familie. Judy hätte alle Mittel zur Verfügung gehabt, um ihren Stress zu mindern und Ruhe in das Familienleben zu bringen, aber sie konnte keine Hilfe annehmen. Sie fürchtete, die Kontrolle zu verlieren und ihre Kinder jemandem anzuvertrauen, der ihre hohen Standards womöglich nicht erfüllte. Damit aber tat sie ihrer Familie keinen Gefallen, im Gegenteil.

Wie soll Ihr »Dorf« aussehen?

In anderen Gesellschaften, in denen Mütter und Väter sich zufriedener über ihr Leben äußern als in den USA, versteht man, dass ein starkes Land starke Familien braucht. Daher gibt es dort staatlich finanzierte Programme oder enge Kontakte innerhalb der Familien und Gemeinschaften, die es den Eltern erlauben, ihre eigenen Bedürfnisse mit denen ihrer Kinder in Einklang zu bringen. Sobonfu E. Somé, die teils in ihrer Heimat Afrika, teils in Kalifornien lebt, erklärt, warum für Kinder auch das Dorf wichtig ist: »Wenn ein Kind mit der Vorstellung groß wird, dass nur Mama und Papa für es verantwortlich sind, an wen wendet es sich dann mit einem Problem, das Mama und Papa nicht lösen können?«69 Und sie fügt einen sehr einfachen, aber für amerikanische Ohren radikalen Gedanken hinzu: »Wenn die Eltern allein dafür verantwortlich gemacht werden, was aus einem Kind wird, ist das von zwei Menschen einfach zu viel verlangt – und sehr häufig gibt es ja sogar nur einen Elternteil.« Genau so ist es.

Es ist anzunehmen, dass in den USA in absehbarer Zeit von staatlicher Seite aus kaum für Verbesserungen gesorgt werden wird. Also müssen Eltern sich »Dörfer« errichten, um Hilfe bei der Erziehung ihrer Kinder zu erhalten. Nur so können sie das Gefühl vermeiden, niemals alles schaffen zu können und dauernd im Hintertreffen zu sein. Nur so werden sie auch Zeit finden für ihren Partner, ihre Freunde und alle, die ihnen wichtig sind. Die Hilfe einer Gemeinschaft könnte viel dazu beitragen, den Dauerstress zu reduzieren, der so viele Eltern zermürbt und unter dessen Auswirkungen auch die Kinder und die gesamte häusliche Situation leiden.

Beginnen Sie zu Hause

Wenden Sie sich zuallererst an Ihren Partner. Auch wenn sich Männer heute viel mehr an der Hausarbeit beteiligen als früher, tun sie im Durchschnitt noch immer weniger als die Frauen. (Übrigens scheint bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften die Hausarbeit in den Jahren, in denen die Kinder heranwachsen, gerechter verteilt zu sein.70) Aus irgendeinem Grund scheinen Männer das schmutzige Geschirr, die nicht zusammengelegte Wäsche und die ungemachten Betten, die ihre Frauen verrückt machen, gar nicht zu bemerken. Oder sie machen sich nicht die Mühe, etwas dagegen zu tun. Viele Männer bemerken leider noch nicht einmal, wie viel »unsichtbare« Arbeit, also Arbeit, die sie gar nicht wahrnehmen, auf den Schultern ihrer Frauen lastet. Sie erkennen nicht an, wie viel Aufwand es ist, Kinderarzttermine zu vereinbaren, nach den richtigen Betreuungseinrichtungen zu suchen, sich um Verabredungen zum Spielen zu kümmern und Ferienlager auszuwählen. Tatsächlich erfordert die Planung eines Kinderlebens zusätzlich zum eigenen Leben Voraussicht und Energie und nimmt viel von der freien Zeit, die einer Mutter bleibt, ob sie nun berufstätig ist oder nicht. Auch wenn Väter immer mehr Zeit damit verbringen, im Haushalt zu helfen oder sich um ihre Kinder zu kümmern, haben Berichten zufolge Väter im Durchschnitt drei Stunden mehr Freizeit in der Woche zur Verfügung als Mütter.71 Wenn Eltern nicht schon frühzeitig eine gleichmäßige Arbeitsteilung für einen Haushalt mit Kindern vereinbaren, nehmen sich Väter ihre freie Zeit, wann sie wollen, und gehen davon aus, dass die Mütter das Gleiche tun. Doch viele Frauen glauben, sie dürfen sich keine Pause gönnen, ehe nicht alles getan ist, was ihrer Meinung nach getan werden muss. Und da es eigentlich immer noch irgendetwas zu tun gibt, passiert es, dass Mütter einen großen Teil ihres Lebens damit verbringen, wie eine Flipperkugel zwischen Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen hin und her zu springen.

Idealerweise sollten Paare eine tragfähige Arbeitsteilung vereinbaren, bevor sie Eltern werden. Aber auch bei Paaren mit gutem Willen kann es unbeabsichtigt zu einer ungleichen Aufgabenverteilung kommen. Meist passiert das schleichend. Zum Beispiel ist es für die Eltern eines Neugeborenen vielleicht anfangs einfacher, wenn die Mutter die Hauptverantwortliche für alle Aufgaben rund ums Baby ist. Wird das Kind älter, häufen sich die mit ihm zusammenhängenden Verantwortlichkeiten langsam, ohne dass es den Eltern auffällt, bis die Mutter explodiert oder sich – innerlich wütend – zurückzieht. Irgendwann fragt sich das Paar entsetzt, wieso die Beziehung mit einem Mal so voller Spannungen und Aggressionen ist.

Oft müssen Mütter erst einmal aktiv eine Veränderung einfordern. Alexandra Bradner schlägt in dem 2013 in der Zeitschrift Atlantic Monthly erschienenen Artikel »Einige Theorien, warum Männer nicht genauso viele Aufgaben im Haushalt erledigen« Folgendes vor: Mütter könnten eine Liste aufstellen, in der sie all die »unsichtbaren« Arbeiten notieren, die zum Führen eines Haushalts und zum Aufziehen der Kinder notwendig sind; dazu könnte zum Beispiel gehören, dass man daran denken muss, Geburtstagskarten an Familienmitglieder zu schreiben und dass für einen gut organisierten Einkauf die wöchentlichen Mahlzeiten vorausgeplant werden müssen. Männer, die ihre Beziehung zu ihrer Frau verbessern möchten – ganz zu schweigen von der Atmosphäre zu Hause –, könnten sich die Liste ansehen und sich fragen, wie viele dieser Aufgaben sie jemals übernommen haben. Dann könnten beide zusammen Wege finden, wie sie besser kommunizieren, damit der Mann mehr Verantwortung übernimmt.72 Vielleicht ist es schwer zu realisieren und auch nicht unbedingt nötig, dass beide Partner jeweils genau die Hälfte tun; wichtiger als eine absolut gleiche Aufteilung ist, dass auch Ihr Anrecht auf Freizeit anerkannt wird und Ihr Partner Ihre Mehrarbeit nicht als selbstverständlich voraussetzt. Dieser Ratschlag klingt vielleicht weniger nach einem Buch über Kindererziehung als nach einer Paartherapie. Aber wenn Sie eine glückliche und intakte Beziehung führen, sind auch Sie glücklich und psychisch »intakt«, was wiederum eine glückliche und gesunde Mutter aus Ihnen macht. Wenn Sie auf sich selbst achten und für die Hilfe sorgen, die Sie brauchen, schaffen Sie damit auch eine wichtige Grundlage für den zukünftigen Erfolg Ihres Kindes.

Wenn Sie auf sich selbst achten und für die Hilfe sorgen, die Sie brauchen, schaffen Sie damit auch eine wichtige Grundlage für den zukünftigen Erfolg Ihres Kindes.

Wenn die Kinder älter sind, können auch sie im Haushalt helfen. Einer Dreijährigen macht es vielleicht schon Spaß, dafür verantwortlich zu sein, dass der Hund jeden Morgen eine Portion Trockenfutter erhält – auch wenn sie wahrscheinlich oft daran erinnert werden muss. Ein Fünfjähriger kann helfen, den Tisch abzuräumen. Diese kleinen Aufgaben nehmen Ihnen nicht viel Arbeit ab, und vielleicht wären sie sogar schneller erledigt, wenn Sie sie selbst übernähmen. Aber die Kinder schon früh am Haushalt zu beteiligen, ist eine gute Voraussetzung für später, wenn sie älter sind und mehr Verantwortung übernehmen können. Eine Mutter, die für ihre zwei Jungen täglich eine Liste mit den von ihnen im Haushalt zu erledigenden Aufgaben schrieb, erzählte mir, dass der letzte Punkt immer lautete: »Frag ›Wie kann ich helfen?‹« Auf diese Weise lernen Kinder, darauf zu achten, was andere alles tun, und sie werden es normal finden, dass alle Familienmitglieder für ihr gemeinsames Zuhause mit anpacken.

Nehmen Sie Hilfe von außen an

Zwei Jahre nachdem wir in die USA gezogen waren, ließen wir uns scheiden. Eine Zeit lang war ich alleinerziehend mit drei Kindern, und weitgehend isoliert von meiner Familie, die auf der anderen Seite der Welt lebte. Ich fand eine Anstellung bei einer örtlichen Bank und bemühte mich sehr um die Hilfe der Gemeinschaft. Später heiratete ich Jim. Er war Professor an der Universität gewesen und arbeitete damals als Sportdirektor. Wir bekamen ein Kind. Ich hatte niemals meinen Traum aufgegeben, Ärztin zu werden, und ich glaubte, es jetzt angehen zu müssen, weil ich sonst nie wieder die Gelegenheit dazu haben würde. Aber wie sollte ich das schaffen? Sollte ich es wirklich wagen? Jim und ich redeten viel darüber und trafen schließlich eine Entscheidung: Wir würden zusammen daran arbeiten, meinen Traum zu verwirklichen. Jim half mir auf jede ihm mögliche Art, und ich wurde an der medizinischen Abteilung der University of Colorado angenommen. Nach dem Abschluss meiner Ausbildung an der Universität zogen wir nach North Carolina, wo ich eine Stelle für die Facharztausbildung bekommen hatte. Vor unserem Umzug hatte ich unser Baby jeden Tag in eine sehr gute Betreuungseinrichtung gebracht, die anderen drei Kinder fuhren mit dem Schulbus zur Schule. In North Carolina war ich morgens dafür verantwortlich, die Kinder zu versorgen, denn Jim ging schon sehr früh zur Arbeit, um mir am Nachmittag mit den Kindern helfen zu können. Doch dann, während meiner Facharztausbildung, hatte ich jede dritte Nacht Schichtdienst, sodass ich morgens nicht zu Hause sein konnte. Und mein Mann musste weiterhin sehr früh das Haus verlassen, bevor irgendeine Betreuungseinrichtung öffnete. Was sollten wir tun?

Entschlossen, eine Lösung zu finden, ging ich ins örtliche Schwimmbad. Ich kannte dort niemanden, aber ich setzte mich neben eine Gruppe von Frauen und begann, mit ihnen zu reden. Nach einiger Zeit schilderte ich ihnen mein Problem: Ich brauchte jemanden, der jeden dritten Morgen um 4 Uhr 30 bei mir zu Hause sein würde, um die paar Stunden zu überbrücken, bis meine Kinder zur Tagesbetreuung und in die Schule gehen konnten. Die Frauen lächelten mitfühlend und sagten: »O ja, das ist wirklich ein Problem.« Sie wussten auch keine Lösung, versprachen jedoch, sich bei Freunden umzuhören, ob jemand eine Idee hätte. Zu meiner Überraschung rief eine der Frauen ein paar Tage später an und sagte, ihr Mann sei Football-Coach und gezwungen, in aller Herrgottsfrühe aufstehen – und sie stünde mit ihm auf. Wenn mein Mann unsere Kinder auf dem Weg zur Arbeit bei ihr absetzen könnte, würde sie das Baby später in die Tagesbetreuung bringen und die älteren Kinder könnten bei ihr in den Schulbus steigen. Sie fügte hinzu, dass es ihr ein gutes Gefühl gäbe, einer anderen Familie helfen zu können. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine sehr freundliche und einfach wunderbare Frau. Meine Kinder freuten sich immer schon auf die Tage, an denen sie morgens bei ihr waren.

Man sollte sich nicht dafür schämen, andere um Hilfe zu bitten.

Man sollte sich nicht dafür schämen, andere um Hilfe zu bitten und zuzugeben, dass man nicht alles allein schaffen kann. Wenn amerikanische Familien sich gegenseitig mehr helfen würden, anstatt zu verheimlichen, wie sehr sie sich abmühen, würden sich unterstützende Netzwerke bilden. So könnten sie nach der Geburt ihrer Kinder auch mit einem geringen Haushaltsbudget eine hohe Lebensqualität aufrechterhalten. Nehmen Sie eine qualitativ gute Kinderbetreuung wahr, verlassen Sie sich auf Ihre Freunde und delegieren Sie Aufgaben, wann immer das möglich ist, falls Sie sich so weniger ausgenutzt und überfordert fühlen. In einigen Gemeinden wurden Vereine zur Kinderbetreuung gegründet, die Müttern die Möglichkeit bieten, Teilzeit zu arbeiten. Anderswo gibt es Babysitting-Gruppen, damit die Eltern einmal in der Woche oder im Monat zusammen ausgehen können, um ihre Beziehung zu pflegen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Es ist wichtig, unseren Kindern beizubringen, dass wir nicht die Einzigen sind, bei denen sie sich sicher fühlen können. Und sie müssen uns als eigenständige Personen sehen, die neben ihrem Kind auch noch andere Interessen, Leidenschaften und Verpflichtungen haben. Es ist gut, wenn Kindern bewusst ist, dass ihre Eltern all die Dinge tun können, die sie tun möchten – sei es eine ehrenamtliche Arbeit, eine Ausbildung oder ein Hobby –, und trotzdem viel Liebe und Zeit für sie übrig haben. Deswegen müssen Sie dafür sorgen, dass Sie nicht das Gefühl haben, das Gewicht der Welt ruhe auf Ihren Schultern. Sie müssen einen Teil dieser Last auf andere Schultern verlagern. Werden Sie kreativ, bitten Sie um Hilfe. Und wenn Sie das getan haben, lassen Sie Ihre Helfer auch wirklich helfen. Sie können nicht alles allein schaffen, und Sie sollten es auch nicht versuchen.