Der (moralische) Mord an Johannes Paul I.

Das unbekannte Treffen zwischen Papst Johannes Paul I. und Marcinkus

Am 29. September 1978 wurde die Welt von der Nachricht erschüttert, man habe Johannes Paul I. tot in seinem Bett aufgefunden. Seit seiner Ernennung waren erst dreiunddreißig Tage vergangen; sein Pontifikat war damit eins der kürzesten der Kirchengeschichte.[1] Im Lauf der Jahre wurden zahlreiche Thesen aufgestellt, um seinen Tod zu erklären, man sprach sogar von Mord: Der Papst sei dem damaligen Präsidenten der Vatikanbank Paul Casimir Marcinkus und der Welt, für die er stand, im Weg gewesen. Ein erstklassiges Mordmotiv, zweifellos, aber auch nicht mehr. Abgesehen von kaum haltbaren Beweisen und ein paar Schlussfolgerungen fand sich nichts, was für diese Ermittlungsrichtung sprach. Allerdings wurde das Image des Kirchenstaats dadurch beschädigt, dass sich die Todesursache nicht eindeutig nachweisen ließ und somit der Vatikan gar Schauplatz eines fürchterlichen Verbrechens hätte sein können. Der düstere Schatten dieses Ereignisses fiel noch auf die nachfolgenden Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Und bis heute verbreitet der Tod von Johannes Paul I. in der Kurie Angst und Schrecken, weil mancher dort noch diejenigen herumlaufen sieht, die den Mord ausgeführt und davon profitiert haben könnten.

In diesem Kapitel widme ich mich einer bislang überwiegend ungeklärten Frage: Vor welcher Situation stand Papst Johannes Paul I. nach seiner Wahl im Vatikan? Wie stark wurde der Vatikan von Marcinkus’ Seilschaften beherrscht? Inwiefern konnte Marcinkus auf den Rückhalt und das stille Einverständnis mächtiger Kardinäle und hoher Würdenträger zählen? Dank bislang unveröffentlichter interner Dokumente der Vatikanbank kann an dieser Stelle erstmals von dem beeindruckenden Finanznetz berichtet werden, das die Kurie bis in die höchsten Kreise hinein durchzog. Kurz vor dem vierzigsten Todestag des vielleicht beliebtesten Papstes und seiner voraussichtlichen Seligsprechung kann die schmutzige Spur von Marcinkus’ Geld, die bis in die Räume des Vorgängers von Johannes Paul I., Papst Paul VI., führt, die entscheidende Antwort auf zahlreiche Fragen liefern, die im Zusammenhang mit dem überraschenden Papsttod ungeklärt geblieben sind.

Allerdings setzt mein Bericht schon einige Jahre früher ein, im Frühjahr 1972. Damals wurde der künftige Papst Johannes Paul I. und damalige Patriarch von Venedig Albino Luciani von dem Präsidenten der Vatikanbank Marcinkus im Vatikan empfangen.

»Bieten Sie ihm einen Platz an«, sagt der unumschränkte Herrscher der Vatikanbank zu seiner Sekretärin, der schweigsamen Maria Vittoria Marigonda. Sie soll den bekannten Gast, der im Vorraum langsam ungeduldig wird, hereinbitten. Albino Luciani war schon vor vierzig Minuten in Begleitung seines Sekretärs und eines Freunds aus Venedig durch den Eingang des altehrwürdigen Turms Niccoló V. geschritten, in dem die Bank residiert, und die Stufen zum Präsidentenbüro hinaufgeeilt. Er ist äußerst beunruhigt. Ihm macht insbesondere ein Punkt zu schaffen, der sich in seinem künftigen, kurzen Pontifikat als entscheidend erweisen wird. Er lässt sich weder von Marcinkus’ rüden, arroganten Umgangsformen beeindrucken, vor denen ihn einige Freunde gewarnt haben, noch überrascht ihn die Extravaganz des Bischofs, der seine ungewöhnliche Leidenschaft für Zigarren, Golfplätze und Sporthallen auf eine für damalige Zeiten unverschämte Weise zur Schau stellt. Auch dass der Amerikaner mit litauischen Wurzeln 1,86 Meter groß und kräftig ist, schüchtert ihn nicht ein.[2]

Doch was ihm zu schaffen macht, ist die Nähe von Marcinkus zu Papst Paul VI., einem aufrechten und über jeden Zweifel erhabenen Hirten der katholischen Kirche. Schon räumlich ist die Nähe offensichtlich: In nur wenigen Minuten gelangt man, ohne von ungebetenen Lästermäulern gesehen zu werden, vom Büro des IOR-Präsidenten in die Papstwohnung. Schaut man vom Petersplatz auf den Apostolischen Palast, dann liegen die beiden Räume nur wenige Meter Luftlinie voneinander entfernt. Das Gebäude der Vatikanbank grenzt an den Papstpalast, in dem gleich hinter dem Damasushof die Päpste wohnen. Außer Franziskus, der sich entgegen des Protokolls für das Gästehaus Santa Marta entschieden hat.

Doch Luciani fragte sich vor allem, wieso dieser mürrische Geistliche mit den geringen Finanzkenntnissen eine so steile Karriere im Kirchenstaat gemacht hat. Scheinbar unaufhaltsam führte sein Aufstieg vom Generalsekretär über den Präsidenten der Organisation für die Sicherheit der Papstreisen bis in die strategischen Höhen der Vatikanbank.[3] Marcinkus verfügte zweifellos über Organisationstalent und Führungsqualitäten,[4] doch er verstand nichts vom Bankwesen, was für einen solchen Posten eigentlich Voraussetzung gewesen wäre. Lucianis negative Einschätzung verstärkte sich noch, als die Vatikanbank ihre Aktienmehrheit an der Banca Cattolica del Veneto an die Banco Ambrosiano von Roberto Calvi abgab. Der Aktienverkauf war von raffinierten Finanzjongleuren[5] eingefädelt worden. Wie alle im Vatikan wussten, war das nicht das Werk des amerikanischen Bankiers und Bischofs, sondern skrupelloser Führungskräfte wie Luigi Mennini, dem mächtigsten Laien in der Bank. Als erfahrener Bankier hielt der Eisenbahnersohn und Vater von vierzehn Kindern, der in einem bescheidenen, bieder eingerichteten Büro residierte, die Fäden in der Hand.

Das Aktiengeschäft mit Roberto Calvi hatte der Präsident der Vatikanbank im Alleingang abgeschlossen, ohne den Patriarchen von Venedig und die venezianischen Bischöfe einzubeziehen oder zumindest vorab zu informieren. In Venedig war man verärgert. Warum überließ man eine katholische Traditionsbank einem eher undurchsichtigen Privatbankier wie Calvi? Luciani wollte Erklärungen, aber auch seinen Unwillen zum Ausdruck bringen. Nach einem Termin bei Giulio Andreotti hatte er einen Audienztermin bei Paul VI. erhalten. Dort wollte er sein persönliches Bedauern über den Vorgang zum Ausdruck bringen. Der Papst hatte ihn herzlich empfangen, aber seine Beschwerde nicht sonderlich ernst genommen. Doch um den Patriarchen von Venedig zu besänftigen, hatte er ihm ein direktes Treffen mit Marcinkus angeboten, weil dieser bestimmt alles genau erläutern könne. Das zumindest hoffte Albino Luciani. So weit der Hintergrund des Treffens zwischen dem Patriarchen aus Venedig und der Nummer eins der Vatikanbank, über dessen Inhalt hier erstmals berichtet wird.

Die Sekretärin von Marcinkus kündigt Luciani also an. Während seine Begleiter im Vorraum zurückbleiben, betritt er ohne besondere Begeisterung das Büro und geht auf Marcinkus zu. Als er vor ihm steht, bringt er ohne jedes Vorgeplänkel, aber auch ohne laut zu werden, sofort seine Beschwerde vor. Er nimmt sogar die These vorweg, dass die venezianische Diözese alle Konten schließen und zur Banco San Marco transferieren wolle.[6] Luciani ist dafür bekannt, dass er sensibel und eher zurückhaltend ist. Sein sanftes Lächeln wird Jahre später um die Welt gehen. Doch anders als man vielleicht denken würde, ist er keinesfalls anpassungsbereit und nachgiebig. Er trägt seine Vorstellungen mit Entschiedenheit vor. Er ist es nicht gewohnt, zurückzuweichen. Kompromisse liegen ihm nicht.

Marcinkus lässt ihn reden, ohne etwas zu sagen oder eine Miene zu verziehen. Wie der Patriarch von Venedig bald merkt, hört ihm sein Gegenüber nur aus Höflichkeit zu, ohne von seinen Fragen irgendwie beeindruckt oder überhaupt daran interessiert zu sein. Der Präsident der Vatikanbank ist kühl und selbstsicher. Ihn kann scheinbar nichts erschüttern. Egal, was Luciani fragt, er erhält keine Antwort. Schon nach wenigen Minuten ist das Treffen beendet. Doch die unüberbrückbare Distanz, die hier zwischen den beiden Männern sichtbar wird, wird in den nächsten Jahren noch zunehmen. Sie sind in allem unterschiedlicher Meinung, angefangen beim Evangelium. Während Luciani, wie heute Papst Franziskus, eine Kirche der Armen wollte, weil die Kirche nur so glaubwürdig sein könne, konnte Marcinkus besser als die Ave Maria am Rosenkranz Geldscheine zählen. Dass Paul VI. seinen künftigen Nachfolger ausgerechnet zu Marcinkus schickte, der ihn derart behandelte, lässt das Verhältnis zwischen Papst und Bankier noch merkwürdiger erscheinen. Warum förderte der Papst diesen Mann? Eine offene Frage, vor allem für den bescheidenen Pastor Albino Luciani aus Canale d’Agordo in den Dolomiten, einem kleinen Dorf, das in dessen Geburtsjahr 1912 nur knapp zweitausend Einwohner hatte.

Luciani verlässt Marcinkus’ Büro mit düsterer Miene und leicht irritiert. Gegenüber seinen Begleitern erwähnt er nur einen einzigen kurzen und bislang unbekannten Satz des mächtigen Bankiers in Priesterkleidung, der ihn besonders verstört hat: »Während Sie für die Diozöse arbeiten«, hatte Marcinkus beim Abschied gesagt, »arbeite ich für das Überleben der Kirche«. Der scharfe, verächtliche Ton verriet viel über den mächtigen Mann, der mit einer Laienschar selbstherrlich über das Finanznetz im Vatikan herrschte. Albino Luciani war für Marcinkus damals ein Niemand, der sicherlich kein Problem darstellen würde; er war nur einer von vielen italienischen Bischöfen, die sich über Dinge beschwerten, die sie nichts angingen.

Der Bankier der Vatikanbank konnte damals nicht ahnen, dass dieser sanft lächelnde Venezianer kaum sechs Jahre später vom Konklave zum Nachfolger von Paul VI. bestimmt werden würde, und hätte wohl auch niemals gedacht, dass Johannes Paul I., wie er sich dann nannte, so entschlossen wie niemand vor und nach ihm versuchen würde, Führung und Finanzen des Vatikans transparent zu gestalten.[7]

Ein hervorragendes Motiv

Wieso konnte Marcinkus sich dieses Verhalten überhaupt erlauben? Weil ihm Anfang der siebziger Jahre eine strategische Aufgabe zugefallen war: Er sollte das von verschiedenen Seiten in Bedrängnis geratene Vermögen des Vatikans retten. Und zwar schnell. Nach dem Tod von Johannes XXIII. waren die Spenden der Gläubigen dramatisch zurückgegangen, von 19 auf 5 Milliarden Lire. Zudem schwebte über dem Vatikan das drohende Damoklesschwert der Steuer: Seit die Sozialisten in der Regierung waren, plante man, Dividenden zu besteuern. Für die Kirche bedeutete das angesichts eines Aktienvermögens von 1,2 Milliarden heutiger Euro eine erhebliche Belastung.

 

Um der Steuer zu entgehen, musste man das italienische Aktienvermögen schnellstens loswerden. Paul VI. hatte diese Aufgabe Marcinkus und dessen ziemlich effektivem Steuerberater, dem Sizilianer Michele Sindona, anvertraut.[8] Sindona machte gerade steil Karriere. Bei waghalsigen Finanzgeschäften wandte sich die italienische Geschäftswelt gern an ihn. Und nicht nur das. Er schuf auch Finanzkanäle, über die die Mafia ihre Gelder waschen konnte; zu seinen Kunden gehörten Bosse wie der Italoamerikaner Joe Adonis aus der Familie Vito Genovese. Gleichzeitig war Sindona unentwegt bemüht, das Aktienvermögen des Vatikans ins Ausland zu transferieren: ob Aktien der Immobiliengesellschaft Bastogi, der ältesten italienischen Aktiengesellschaft, oder des Unternehmens Pastanella. Dass er diese Aufgabe übernehmen konnte, lag an seiner Seilschaft mit Marcinkus und dem Mailänder Privatbankier Roberto Calvi. Es war Sindona gewesen, der dem Präsidenten der Vatikanbank gleich nach dessen Amtsübernahme Calvi vorgestellt hatte. Bei Sindona liefen die Fäden zweier Welten zusammen, die eigentlich unterschiedlicher kaum sein konnten: Mafia und Vatikan. Dieses Triumvirat konnte die Aktienkurse an der Mailänder Börse beeinflussen und manipulieren. Denn die drei Männer bildeten einen starken Interessenblock, der von mächtiger Seite, wie von der Freimaurerloge P2 (Propaganda Due), geschützt wurde. So konnte Licio Gelli, der »Meister vom Stuhl« der Loge – er ist zugleich ein Freund Marcinkus’ und pflegt gute Beziehungen zu Paul VI. – viele Führungskräfte aus Justiz, Streitkräften, Polizei, Politik und Wirtschaft um sich versammeln. Giulio Andreotti nannte Sindona 1973 sogar den »Retter der Lira«, weil er dessen Meinung nach in der Lage war, die italienischen Märkte, aber auch das politische und wirtschaftliche Establishment zu schützen.

Doch das Problem waren nicht nur die Geschäfte der Vatikanbank, auf die Sindonas und Calvis Leute mit Marcinkus’ Zustimmung nach Belieben Zugriff hatten. Hinzu kommt eine weitere erschütternde Tatsache, die erst heute, 45 Jahre später, deutlich zutage tritt und entscheidend zum Verständnis der Gründe beiträgt, die zum Tod von Johannes Paul I. führten. Denn das in der Vatikanbank entwickelte System hatte die Grenzen des altertümlichen Turms, in dem sich die Bankbüros noch heute befinden, längst überschritten. So wie ein Magnet alles an sich zieht und alle Widerstände überwindet, hatte der Machtblock seine Tentakel bis in die Räume des Apostolischen Palastes ausgestreckt, bis in die Papstwohnung hinein. Marcinkus und seine Truppe in der Vatikanbank betreuten umfangreiche Girokonten verschiedener unverdächtiger vatikanischer Würdenträger, und zur Freude der hochgestellten Kontoinhaber vermehrte sich das Geld auf den Konten prächtig. Das Treffen zwischen Luciani und Marcinkus, das auf den ersten Blick unbegreiflich scheint, konnte derart verlaufen, weil Marcinkus mittlerweile zum Alleinherrscher in der Bank aufgestiegen war und im Vatikan über enorme Macht verfügte. Die Lage war schlimmer, als man es sich überhaupt vorstellen kann.

Das ausgedehnte Machtsystem um Marcinkus war durch unüberschaubare Verzweigungen und Absprachen gekennzeichnet. Marcinkus’ Netzwerk umfasste hohe Prälaten, Bischöfe und unverdächtige Kardinäle, darunter die engsten Mitarbeiter von Paul VI., zuständig für Vorgänge, die auch den Papst betrafen. Die Kurie wurde von Marcinkus’ Seilschaft beherrscht. Was dem Patriarchen von Venedig widerfahren war, war nur die logische Folge davon, denn der Bankier Gottes fühlte sich unantastbar. Niemand konnte mit dem Finger auf ihn zeigen und ihn bei den Oberen ankreiden, denn er betreute deren Konten und fädelte die Finanzgeschäfte ein – und diese Geldströme hatten nichts mit den religiösen Werken zu tun, die die Vatikanbank im Namen trägt: IOR – Institut für die religiösen Werke (Istituto per le Opere di Religione). Theoretisch könnte man natürlich auch denken, dass Marcinkus und seine Mitarbeiter durch ihre überwältigende Machtfülle und ihren großen Einfluss dazu verführt wurden, Girokonten einfach ohne Wissen der Inhaber für ihre eigenen schamlosen Geschäfte zu nutzen. Doch der hohe Rang der beteiligten Kontoinhaber macht das unwahrscheinlich. Damit hätten sich Marcinkus und Co. auf gefährliche und noch dazu völlig überflüssige Weise angreifbar gemacht und falls sie aufflogen, den konkreten Vorwand für ihren Rausschmiss gleich mitgeliefert.

Die Girokonten des Papstes und seines Privatsekretärs 

Am bemerkenswertesten in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass die Beziehung zwischen Marcinkus und Paul VI. weit enger und umfassender war, als bisher öffentlich bekannt und als Albino Luciani bei seiner Wahl zum Papst jemals hätte ahnen können. Die beiden Männer hatten sich über den einflussreichen Prälaten Pasquale Macchi kennengelernt, der schon Mitte der fünfziger Jahre zum Privatsekretär des einstigen Erzbischofs von Mailand Giovanni Battista Montini und späteren Papstes Paul VI. geworden war.[9] Macchi hatte die Ernennung von Marcinkus zum IOR-Präsidenten befürwortet und war, wie auch Kardinal Giovanni Benelli, zum wichtigen Ansprechpartner des Papstes geworden. Der vertrauensvolle Privatsekretär teilte mit Marcinkus und Calvi die Liebe zur Kunst,[10] doch der eigentliche Dreh- und Angelpunkt ihrer Beziehung war das Geld. »Macchi hatte das Ohr des Papstes und Marcinkus seinen Geldbeutel«, stellte der Autor John Cornwell sehr treffend fest.[11]

Die größten Überraschungen hält allerdings die Analyse der Kassenblätter der Vatikanbank jener Jahre bereit, auf denen sämtliche Kontobewegungen – die wichtigsten Belege finden sich im Anhang –, dokumentiert sind. Insbesondere die Konten von Macchi deuten auf eine ungewöhnliche Vermögenssituation für einen Priester hin, der sich eigentlich um die Seelen der Gläubigen kümmern soll. Zum besseren Verständnis empfiehlt es sich, in die Mitte der siebziger Jahre zurückzukehren, wenige Jahre nachdem sich Luciani und Marcinkus zum ersten Mal begegnet waren. Damals verdiente ein durchschnittlicher Arbeiter – inflationsbereinigt – ungefähr 800 heutige Euro, während ein Kleinwagen wie der Fiat 126  6000  – 7000 Euro kostete. Macchi besaß im Wesentlichen zwei Konten mit schwindelerregend hohen Einlagen, ein Lira- und ein Dollarkonto. Sein persönliches Girokonto mit der Kontonummer 051 3 01303L, von dem hier erstmals öffentlich die Rede ist, wies am 20. März 1974 einen Saldo von sage und schreibe 1.707.364,54 Lire oder inflationsbereinigt nach Istat, dem italienischen Bundesamt für Statistik, 9,5 Millionen Euro auf.[12] An diesem Tag wird das Konto durch eine gewaltige Finanzoperation fast leergeräumt: Der Gegenwert von 1.687.071,96 Dollar wird entnommen und anschließend, wieder in Lire, auf ein zweites persönliches Girokonto mit der Nummer 001 2 01103Y umgebucht. Auf diesem befinden sich nun, wiederum inflationsbereinigt, 9.325.844,54 Euro. Ebenso verdächtig scheinen auch die Beträge auf anderen Konten, etwa dem Depotkonto 051 6 00555K von »Privatsekretär Seiner Heiligkeit (M.M.)«,[13] mit Aktiva im Wert von 2.126.608,54 Dollar, was heute ungefähr 11.700.000 Millionen Euro entspricht.

Ungewöhnliche Kontobewegungen für einen Privatsekretär, erst recht für den des Papstes, ungewöhnlich aber auch im Vergleich zu den Vorjahren. Das Dollarkonto von Macchi erlebt ausgerechnet im Jahr 1974 einen nie dagewesenen Höhenflug. Auch wenn das am 8. Januar 1970 eröffnete Konto von Anfang an prächtig gedieh, blieb der Zuwachs verglichen mit dem Zeitraum der Jahre 1973–74 doch bescheiden. In dem von uns betrachteten Zeitraum lag der höchste Saldo am 28. Januar 1971 bei 200.000 heutigen Euro.

Aber damit noch nicht genug der Überraschungen. Am 23. März 1974 taucht in einem Vorgang mit einer US-Bank sogar Papst Paul VI. auf. Auf zwei Schecks ist sein Name ausdrücklich vermerkt. So muss der Scheck Nummer 0152 der New Yorker FNCB-Bank im Wert von 1.150.000 Dollar oder 6.355.963 heutiger Euro in der Vatikanbank verbucht werden.[14] Und wer ist der Empfänger? »Zu Gunsten S. H. Paul VI. als Auszahlung Jahresergebnis 1973«, heißt es in dem entsprechenden Kassenblatt. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um die Dividenden einer mit dem Vatikan verbundenen Aktiengesellschaft, auch wenn das daraus leider nicht hervorgeht. Die Dividenden stehen also Paul VI. zu. Abgewickelt wird das Ganze über das Konto der New Yorker FNCB bei der Vatikanbank. Zur gleichen Zeit sind in den Büchern der New Yorker Bank – sicherlich rein zufällig – ziemlich undurchsichtige Geschäftsvorgänge zwischen Italien und den USA verzeichnet.[15]

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Doch zurück zu den beiden Schecks für den Papst, denn der zweite ist noch vielsagender. Der Scheck Nummer 0153 hat denselben Empfänger (»Zu Gunsten S.H. Paul VI.«) und führt ebenso zu der New Yorker FNCB. Doch diesmal handelt es sich um eine Verbindlichkeit und einen erheblich geringeren Betrag: 275.000 heutige Euro. Das Außergewöhnliche an diesem Vorgang ist jedoch der Inhaber, dessen Konto 051 3 01588 mit diesem Betrag belastet wird. In dem entsprechenden Kassenblatt – siehe Anhang – steht überraschenderweise: Cisalpine Fund. Um wen handelt es sich hier? Vermutlich um die Geisterbank Cisalpine Overseas von Calvi, dem entscheidenden Faktor beim Zusammenbruch der Banco Ambrosiano. Die wenige Jahre zuvor, am 23. März 1971, gegründete Cisalpine Overseas Bank hatte ihren Sitz in Nassau, Bahamas, und sollte 1980 zur Banco Ambrosiano Overseas werden, mit Marcinkus, Sindona und Gelli im Vorstand. Die Cisalpine gehörte zu den führenden Gesellschaften der sogenannten »Auslandsabteilung« der Ambrosiano, zu der Calvi Bankgelder umlenkte, die er unbeobachtet verwalten wollte. Die römischen Staatsanwälte Luca Tescaroli und Maria Monteleone, die später im Todesfall Calvi ermittelten, halten in ihrem Gedächtnisprotokoll fest:

Die Gründung der Cisalpine Overseas Bank durch Roberto Calvi, Michele Sindona und Prälat Marcinkus im Jahr 1971 erweckt Aufmerksamkeit, weil die Bank bei ihrer Gründung Einlagen in Höhe von 240 Millionen Dollar von der Ambrosiano erhielt, die 1977 schließlich sogar bei 456,6 Millionen Dollar lagen. Doch offensichtlich stammten nur 254 Millionen Dollar von den Beteiligungsgesellschaften der Ambrosiano-Gruppe. Die Herkunft der restlichen 211,6 Millionen Dollar konnte von den Prüfern der italienischen Zentralbank Banca d’Italia nie geklärt werden.

Es gibt verschiedene Anhaltspunkte dafür, dass der Cisalpine Fund zu der Gesellschaft in Nassau gehörte. Da Marcinkus’ Vatikanbank Anteile an dem Fond hielt, kann man davon ausgehen, dass die Bank Dividenden einnahm und für eventuelle Kosten aufkam. Und genau dafür wurde der Cisalpine Fund gegründet. Allerdings erscheint hier zum ersten Mal der Name von Papst Paul VI. auf einem Dokument der Vatikanbank, das im Zusammenhang mit der Ambrosiano steht, oder eigentlich, noch schlimmer, mit einer Scheingesellschaft von Calvi, die man den »Geldspeicher des Parallelimperiums von Roberto Calvi« genannt hat.[16] Viel Erklärungsspielraum gibt es hier nicht. Am naheliegendsten ist wohl die Annahme, dass der Papst auf dem Scheck angeführt wurde, um von vornherein jede Kritik an den klassischen Back-to-Back-Vorgängen von Calvi zum Schweigen zu bringen, daran, dass zwischen Calvis Banken Gelder hin- und hergeschoben wurden, um Empfänger und Aussteller zu verschleiern. Die zweite mögliche Erklärung wäre noch besorgniserregender: Paul VI. hat tatsächlich von den Auslandsspekulationen der Achse Marcinkus-Calvi profitiert und wäre somit unauflöslich mit dem Präsidenten der Vatikanbank verbunden. In gewissem Sinne lässt sich auch aus Marcinkus’ eigenen Aussagen eine Erklärung herauslesen. Er stellt nämlich wiederholt fest, dass »der Papst über sämtliche Gewinne der Vatikanbank verfügt«.[17] Doch das scheint vor allem ein windiger Schachzug zu sein, mit dem er dem Vatikan eine offensive Verteidigungsstrategie auferlegen will. Marcinkus spricht hier lediglich von einer sehr allgemeinen Verfügbarkeit, während die Kassenblätter von sehr greifbaren, realen Erträgen zeugen.

Johannes Paul I. und Franziskus träumen von demselben

Wenn die Gewinne aus Calvis Cisalpine Overseas Bank dem Papst unmittelbar zu Verfügung standen, konnte das nur eins bedeuten: Der Papst war mit dem System einverstanden. Oder sollte er von den Vorgängen, bei denen es in den Kassenblättern »Zu Gunsten von S.H. Paul VI.« heißt, nichts gewusst haben? Allerdings würde das andere, ebenso besorgniserregende Fragen aufwerfen: Wie konnte es sein, dass Paul VI. von den gewaltigen Geldströmen, die über das Konto seines Privatsekretärs flossen, nichts wusste? Woher stammten die beträchtlichen Geldmengen, die über das Kontennetz von Macchi bewegt wurden? Und zu welchem Zweck wurden sie sogar auf die Privatkonten des päpstlichen Privatsekretärs eingezahlt? All diese Fragen sind bis heute ungeklärt. Doch angesichts der engen persönlichen Beziehung zwischen Macchi und Marcinkus muss man wohl davon ausgehen, dass die Konten der sichtbare Spiegel ihrer Beziehung waren und der eigentliche Empfänger der Gelder Macchi war.[18]

Ein Jahr später zeigten sich erste Risse im System. Schon im Spätsommer 1974 sollte sich der Zusammenbruch von Sindonas Galaxie ankündigen.[19] Die italienische Zentralbank bestellte den Anwalt Giorgio Ambrosoli zum Konkursverwalter. Wenige Jahre später, 1979, sollte Ambrosoli dann von einem Auftragskiller Sindonas ermordet werden. Doch wer nun geglaubt hatte, dass das ganze System mit Sindonas Niedergang zusammenbrechen würde, sah sich enttäuscht: Es handelte sich nur um leichte Setzrisse. Durch das Ende der Ära Sindona wurde Marcinkus’ und Calvis Rolle in dem System noch gestärkt. Calvi leitete in jenen Jahren mehr Gelder denn je von der Banco Ambrosiano zu der im Schatten zwischen Bahamas, Südamerika und Schweiz prächtig gedeihenden Offshore-Galaxie um.

Für Italien ist es eine dunkle Zeit. Die Unternehmen leiden unter der Wirtschaftskrise, die sozialen Konflikte nehmen zu und der Terrorismus verbreitet Angst und Schrecken. Besonders die Entführung und anschließende Ermordung des christdemokratischen Politikers Aldo Moro, der am 9. Mai 1978 tot aufgefunden wird, erschüttert das Land. Am 6. August desselben Jahres stirbt Paul VI. nach 15 Papstjahren in Castel Gandolfo.[20] Im Konklave, das darauf folgt, wird Albino Luciani zum 263. Papst gewählt: »Möge der Herr euch verzeihen, was ihr mit mir gemacht habt«, waren die ersten Worte des neu gewählten Papstes.

Johannes Paul I. möchte die Kurie von Anfang an reformieren. Sein Ziel ist es, die Organisationsstruktur umzukrempeln und dem intern herrschenden Machtsystem das Haupt abzuschlagen. Schon am Nachmittag des 28. September 1978 bestellte er seinen höchsten Mitarbeiter, Kardinal Jean-Marie Villot, ein, um ihm mitzuteilen, dass er entlassen ist. Dasselbe Schicksal ereilte bald auch Marcinkus und dessen engste Mitarbeiter, den Generalsekretär der Bank, Prälat Donato de Bonis, und Luigi Mennini, den Kopf des Finanznetzes.

Johannes Paul I. stellte sich eine transparente Kirche vor, die für die Armen da ist; er wollte den zunehmend größer und stärker werdenden Machtblock in und um die Vatikanbank, der sich seiner Verbindungen zu Gelli, zur P2, zu Calvi und wer weiß welchen anderen kriminellen Unterwelten rühmte, aufbrechen.[21] Auch wenn Paul VI. mithilfe dieses Systems vielleicht die Vatikanfinanzen hatte sanieren können, waren die Methoden und Geldströme für Johannes Paul I. inakzeptabel. Die Kardinäle versuchten, ihm das Vorhaben – aus Eigeninteresse oder um einen Skandal zu vermeiden – auszureden, und rieten ihm stattdessen zu kleineren Veränderungen der Fassade, indem man gewisse Leute wegbeförderte.[22] Doch der Papst hörte auf niemanden, auch nicht auf Kardinal Villot, der ihn mit sanfter Überredungskunst dazu bringen wollte, die Meinungsverschiedenheit diplomatisch beizulegen. Obwohl das Vorhaben in der Kurie ein Erdbeben auslösen würde, wollte es der Papst voranbringen, um mit den skrupellosen Geschäften des Trios Sindona-Calvi-Marcinkus endlich Schluss zu machen. Vom ersten Tag an ging er auf Konfrontationskurs. Doch er konnte nicht wissen, wie weit verzweigt das Netz und wie groß die Macht des monolithischen Blocks war. Man nimmt ihn erbarmungslos unter Dauerbeschuss. Man will ihm die Selbstachtung nehmen und ihm das Gefühl geben, der Rolle nicht gewachsen zu sein. Man will ihn isolieren. Marcinkus’ rüde Aussage über den neuen Papst ist in dieser Hinsicht äußerst vielsagend:

Dieser arme Mann, Papst Johannes Paul I., kommt aus Venedig, das ist eine kleine überalterte Diözese, 90.000 Menschen in der Stadt, alte Priester. Auf einmal verschlägt es ihn dann hierher, und er weiß nicht einmal, wo die Büros sind. Er weiß überhaupt nicht, was das Staatssekretariat macht. […] Sie nannten ihn den lächelnden Papst […] Aber lassen Sie mich eines sagen … das war ein sehr nervöses Lächeln. […] Er übernimmt also das Ganze. […] Er setzt sich hin, der Staatssekretär bringt ihm einen Stoß Papiere und sagt: »Gehen Sie das durch!« Er weiß nicht einmal, wo er anfangen soll.[23]

Das große Bedürfnis, eine andere Kirche aufzubauen, lässt den Papst Tag für Tag angespannter werden, wie auch sein persönlicher Arzt, Giuseppe Da Ros, feststellen sollte, der ihn nur eine Woche vor seinem Tod untersuchte: »Seine neue Rolle bedeutete eine erhebliche Belastung. Auf diese Verantwortung war er nicht vorbereitet oder daran gewöhnt. Ich habe ihm gesagt, dass er mit diesem Pensum nicht weitermachen könne, aber er antwortete mir nur, das ginge eben nicht anders.«[24] Trotzdem kann die Todesursache nicht einfach nur übermäßiger Stress gewesen sein.

Die Händler im Tempel

Papst Johannes Paul I. stirbt am 28. September, nachts. Am nächsten Tag erläutert der Vatikan in einer Pressemitteilung, dass der päpstliche Leibarzt, Renato Buzzonetti, als Todesursache »einen akuten Infarkt des linken Herzmuskels« festgestellt habe:

Heute Morgen, den 29. September 1978, gegen 5.30 Uhr fand der päpstliche Privatsekretär John Magee den Papst nicht wie sonst in der Privatkapelle vor und suchte ihn darum in seinem Zimmer auf. Dort fand er ihn tot in seinem Bett. Das Licht war eingeschaltet, als würde er lesen. Der Arzt Renato Buzzonetti, der sofort herbeigeeilt kam, stellte den Tod fest. Vermutlich ist dieser am Vorabend gegen 23 Uhr durch einen akuten Infarkt des linken Herzmuskels eingetreten.

Als man die Öffentlichkeit informierte, entstanden sofort zwei Lager. Während die einen meinten, der Papst sei ermordet worden, sagten die anderen, er sei der Last des Amtes aufgrund seiner schwachen Gesundheit nicht gewachsen gewesen. Zu den verschiedensten Vermutungen trugen zahlreiche Ungereimtheiten bei, die die veröffentlichte Darstellung des Todes von Anfang an begleiteten. Wer hatte den leblosen Körper von Johannes Paul I. wirklich gefunden? Laut Vatikan der päpstliche Privatsekretär, doch das wurde schon kurze Zeit später bestritten. Wesentlich glaubwürdiger scheint, was die Sekretäre des Papstes sagen. Pater John Magee habe das päpstliche Schlafzimmer als Erster betreten, gefunden habe ihn aber jemand anders: Schwester Vincenza Taffarel. Die Krankenschwester betreute den Papst seit über zwanzig Jahren, seit seiner Zeit in Venedig. Pater Magee berichtet:

Die Schwestern brachten dem Papst gewöhnlich um 5.00 Uhr morgens Kaffee, weil er um 4.30 Uhr aufstand und dann Kaffee trank. Sie stellten den Kaffee auf die Brüstung, wo er ihn wegnehmen konnte. Doch an jenem Morgen bemerkten sie, dass er den Kaffee nicht getrunken hatte. Sie klopften an die Tür, aber niemand antwortete. Als sie die Tür öffneten, sah eine der Schwestern (Vincenza Taffarel), dass über dem Bett die Leselampe brannte. Der Papst war tot. Die Schwestern klopften daraufhin an meine Tür und riefen: »Der Papst ist tot, der Papst ist tot.« Ich antwortete: »Das kann nicht sein. Ich habe gestern noch mit ihm gesprochen, er war völlig gesund.« »Doch, doch, kommen Sie, so kommen Sie doch«, riefen sie. Also habe ich mir die Soutane übergeworfen und bin hinuntergerannt. Den Schwestern sagte ich, sie sollten draußen warten; ich bin allein in das Zimmer gegangen und habe gesehen, dass der Papst tot war. Er saß dort, als würde er lesen: In den Händen hielt er die Blätter einer Predigt. Ich erinnere mich, dass die Fingerspitzen das Papier geradezu durchbohrt hatten. Er hatte noch die Brille auf und lächelte. Aber als ich ihn berührte, war er steif und kalt. Der Tod musste schon vor längerer Zeit eingetreten sein. Ich habe mich niedergekniet und geweint.[25]

Warum wurde keine Obduktion vorgenommen? Nach Bekanntwerden des Todes kamen die in Rom anwesenden Kardinäle zusammen und berieten darüber, entschieden aber, den Leichnam lediglich von drei Ärzten untersuchen zu lassen. Am 2. Oktober lag der Arztbericht dann auf dem Schreibtisch von Privatsekretär Kardinal Villot: Buzzonettis Diagnose wurde bestätigt, nur einer der drei Ärzte empfahl eine Obduktion. Als sich die Kardinäle zum zweiten Mal trafen, beurteilten sie den auf Tod durch Herzinfarkt ausgestellten Totenschein als zuverlässig und sprachen sich mit großer Mehrheit gegen eine Obduktion aus. Damit war der Leichnam ohne weitere Überprüfungen oder Untersuchungen zum Begräbnis freigegeben.[26]

Doch die These vom natürlichen Tod krankt an einem Widerspruch. In der gesamten Geschichte des Vatikans gehörte die Gesundheit der Päpste stets zu den bestgehütetsten Geheimnissen. Die Gläubigen werden zwar informiert, wenn der Papst ins Krankenhaus eingeliefert wird oder sich die Audienz- und Reisezeiten ändern, aber kaum oder nie über Einzelheiten seines Gesundheitszustands. Die Krankenakte des Papstes wird in der Papstwohnung sorgfältigst gehütet, und ohne die ausdrückliche Zustimmung des Papstes hat dazu niemand Zugang. Wie konnte also Buzzonetti, der den Papst noch nie untersucht hatte, einen akuten Infarkt des linken Herzmuskels diagnostizieren? Nur der Leibarzt Da Ros kannte den Gesundheitszustand oder mögliche Leiden des Papstes. Er hat aber stets gesagt, sein Patient habe keinerlei Herzprobleme gehabt, kein Diabetes und noch nicht einmal einen erhöhten Cholesterinwert. Kann man die vom Vatikan genannte Version also wirklich für glaubwürdig halten, ist ein lächelnder, wie lesend im Bett sitzender Papst ohne jeden Anflug von Leiden im Gesicht bei einem Infarkt eigentlich zu erwarten? Ein lächelndes Gesicht passt eher zu einem Tod durch Vergiftung: Aufnahme des Gifts beim Lesen, dann Koma und Tod. Das würde auch erklären, warum sich die Kardinäle gegen eine Obduktion aussprachen. Das Gift hätte man im Körper nachweisen können. Wäre es nicht besser gewesen, alle Zweifel durch eine Obduktion auszuräumen? »Das hat man bei Päpsten noch nie gemacht«, sagt die Kurie dazu. Doch auch einen solchen Tod hatte es noch nie gegeben und er hätte daher vielleicht noch nie dagewesene Maßnahmen erfordert.[27]

Die persönlichen Assistenten und Mitarbeiter von Johannes Paul I. wussten allerdings, dass er gesundheitliche Probleme hatte. Nach der Generalaudienz des Papstes vom 28. September 1978, dem Tag seines Todes, hatte Schwester Taffarel noch ein dramatisches Gespräch mit Johannes Paul I. geführt. Der Schwester war aufgefallen, dass sich die Falten im Gesicht des Papstes vertieft, seine Hände schwer geworden waren:

 

Schwester: Heiligkeit, ich habe den Eindruck, dass Ihre Hände dicker geworden sind.

Papst: Nicht nur die Hände, Schwester, auch die Füße kommen mir wie tote Gewichte vor, die mich nach unten ziehen. Ich kann die Knie kaum noch bewegen. Aber sicher kommt das von der großen Belastung, das geht vorbei.

S.:Soll ich nicht Doktor Da Ros rufen?

P.:Nein, nein. Wegen ein paar schweren Beinen wollen wir doch niemanden stören. Da Ros ist erst am Samstag hier gewesen und hat gesagt, mit meinem Herzen sei alles in Ordnung.[28]

Das passt zu dem, was zwei Privatsekretäre des Papstes – leider erst Ende der achtziger Jahre – gesagt haben. Am 2. Oktober 1987 erzählte Prälat Diego Lorenzi in einem Interview mit Enzo Tortora, dass der Papst am Tag vor seinem Tod über Stiche in der Brust geklagt habe. Der Privatsekretär Pater Magee bestätigte dies dann ein Jahr später in einem Interview mit »30Giorni«. Der Papst habe am Nachmittag des 28. September über Schmerzen und Stiche in der Brust sowie ein Beklemmungsgefühl geklagt und Schwester Vincenza daher »um eine der Tabletten« gebeten, »die man auf die Zunge legt«. Anschließend habe er gesagt: »Ich fühl mich gut, Schwester Vincenzas Pillen wirken wirklich Wunder.«

Privatsekretär Lorenzi erinnert sich:

Ungefähr in der Mitte des Abendessens (gegen 20.15 Uhr) klagte der Papst über Stiche in der Brust. Auf unsere Bitte, einen Arzt zu rufen, antwortete er: »Ach was, das vergeht, das vergeht schon wieder.« Da es uns unsere Erziehung verbot, dem Willen Höhergestellter und erst recht dem des Papstes zu widersprechen, haben wir keinen Arzt gerufen. Welche Folgen das haben sollte, konnten wir zu diesem Zeitpunkt nicht beurteilen. Nach dem Abendessen rief der Papst Kardinal Giovanni Colombo an, damals Erzbischof von Mailand. Ich glaube, sie suchten einen Nachfolger für das Patriarchat in Venedig. Anschließend begleiteten wir den Papst zu seinem Schlafzimmer. Pater Magee sagte noch: »Über dem Bett ist eine Schnur mit einem Schalter. Wenn in der Nacht irgendetwas sein sollte, können Sie den Schalter betätigen. Wir leiten dann alles Notwendige in die Wege.« Der Papst verabschiedete sich mit den Worten: »Bis morgen, so Gott will.«[29]

Wurde Johannes Paul I. also ermordet, oder von einem Infarkt dahingerafft? Keine der zahlreichen Rekonstruktionen jener Nacht kann diese Frage eindeutig beantworten. Ein Motiv, den Papst aus dem Weg zu räumen oder seinen Tod zumindest nicht zu bedauern, hätten viele gehabt. Aber wie so oft, liegt die Wahrheit wohl in der Mitte. Der Papst wurde nicht mit Vorsatz ermordet, aber man kann auch nicht sagen, er sei einfach nur an den Belastungen seiner Aufgabe gestorben. Der Papst fühlt sich Tag für Tag mehr umzingelt und hat Angst, sich irgendjemandem anzuvertrauen. Jeden Tag muss er neue furchtbare Zustände entdecken. In diesem Buch wird endlich über diese Zustände berichtet, die sich durch die damaligen Kassenblätter der Vatikanbank beweiskräftig dokumentieren lassen: Der Machtapparat um Marcinkus, Mennini und De Bonis wucherte nicht nur außerhalb des Vatikans, wie bisher stets behauptet, sondern auch im Innersten des Heiligen Stuhls. Es lag nicht nur einfach an der Arbeitsbelastung, sondern an der zunehmenden Erkenntnis, dass die Händler den Tempel gestürmt hatten und die Kurie mittlerweile in ihren Händen war. Die zuvor aufgeführten Kassenblätter liefern dafür den vernichtenden Beweis: Bei Geschäften und Kontovorgängen, die über die Vatikanbank abgewickelt wurden, landeten nicht nur unglaubliche Beträge auf dem Konto der rechten Hand von Paul VI., sondern es wurden auch Schecks auf den Papst ausgestellt, deren Spur zu der Gesellschaft von Calvi führte.

Jeder Vorgang der Vatikanbank erschütterte den Papst aufs Neue. Weil die Bank Schutz von oberster Stelle genoss, bekamen die Bischöfe und Kardinäle dort alles, was sie wollten. Genauso wie Schauspieler, Regisseure, Politiker und Unternehmer, wie das nächste Kapitel zeigen wird. Die Tentakel des Systems reichten bis in den letzten Winkel des Vatikans und haben vermutlich auch Papst Johannes Paul I. erdrückt. Als er sich der unbeschreiblichen und tragischen Zustände bewusst wurde, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand derart, dass er starb.

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