Wir schreiben den 3. Juli 2013. Nachdem er seine Notizen noch einmal durchgegangen ist, verlässt der deutsche Aristokrat Ernst von Freyberg, der wenige Monate zuvor, am 15. Februar, auf ausdrücklichen Wunsch von Benedikt XVI. die Präsidentschaft des IOR übernommen hat, sein Zimmer im Gästehaus Santa Marta, in dem auch Papst Franziskus wohnt. Er weiß genau, dass dieser Sommertag für ihn entscheidend sein wird.[1] Man erwartet ihn zu einer der heikelsten Besprechungen seines Lebens, an der die höchsten Vertreter des Heiligen Stuhls teilnehmen. Außer dem Papst und Staatssekretär Tarcisio Bertone ist auch der gesamte Kardinalsrat geladen. Anwesend sind die einflussreichsten Kardinäle, ebenso weitere Prälaten, die in der Machtgeometrie der Kurie wichtige Positionen einnehmen. Selbstverständlich findet die Besprechung hinter verschlossenen Türen statt. Franziskus ist erst seit wenigen Monaten im Amt, er stellt gerade die Weichen für die zukünftige Ausrichtung seines Pontifikats. Einer der Teilnehmer der Unterredung zeichnet daher jedes Wort des IOR-Präsidenten auf: Dank der Aussagen weiterer anwesender Prälaten kann hier erstmals berichtet werden, was in jener dramatischen Besprechung geschah und was der Bankier in seiner Rede vortrug.
Langsam betreten die Würdenträger den großen Saal in der dritten Etage des Apostolischen Palasts, der zwischen der nun verschlossenen Wohnung Benedikts XVI. und dem Staatssekretariat liegt.[2] Papst Bergoglio schaut jeden an. Die Mehrheit der anwesenden Kardinäle hatte sicherlich für ihn gestimmt, viele aber erst im letzten Wahlgang. Da waren die Spitzen der Kurie aufgefordert worden, sich der Linie anzuschließen, die sich im Konklave herauskristallisiert hatte. Von Freyberg tritt ein und sucht geradezu den Blick des Papstes. Der Heilige Vater zeigt keine Regung. Manche im Saal betrachten diesen Anwalt, Bankier und Geschäftsmann mit Neugier oder interessiert, andere herausfordernd oder, wie Bertone, mit demonstrativer Gleichgültigkeit. Von Freyberg rückt nervös seine Brille zurecht und tritt ans Mikrofon.
Man war in der Kurie aus zwei Gründen auf seine Ausführungen gespannt. Der eine war eher oberflächlicher Natur. Man interessierte sich aus einer gewissen am Heiligen Stuhl weit verbreiteten geschwätzigen Boshaftigkeit heraus für die Vergangenheit des Bankiers. Bis vor Kurzem war von Freyberg nämlich Aufsichtsratsvorsitzender von Blohm+Voss gewesen, der deutschen Werft mit Sitz in Hamburg, die schon für die NS-Wehrmacht Kriegsschiffe und U-Boote gebaut hatte. Dieser sanft wirkende, schlicht und elegant auftretende Bankier war gewiss kein Kriegstreiber, doch die Kardinäle konnten sich angesichts seiner vorherigen Funktionen einer scharfzüngigen Ironie und bissiger Bemerkungen nicht enthalten.
Der zweite Grund betraf ein zumindest gewagtes Interview, das von Freyberg kurz zuvor der »New York Times« gegeben hatte. »Zu einzelnen Kunden kann ich keine Kommentare abgeben«, hatte er bei der Ankündigung von Null-Toleranz gegenüber Geldwäsche geäußert, »aber ich kann Ihnen sagen, dass ich den in der Presse kursierenden Namen nachgegangen bin und sie persönlich überprüft habe. Ich habe keinen einzigen der Namen bei uns gefunden. Dieser eine Mafia-Boss, jener Politiker, Osama bin Laden. Keiner von ihnen hat ein Konto bei uns, noch haben sie eine Vollmacht für irgendein Konto.«[3] Tags darauf war der Bankier auf Radio Vatikan noch deutlicher geworden. Nummernkonten? Riesige Beträge ohne Eigentümer? »Das ist reine Erfindung. Es gibt keine Nummernkonten. Seit 1996 ist es technisch unmöglich, in unserem System ein Nummernkonto zu eröffnen und es wäre auch gegen Vatikanrecht. Ich habe mir selber das System angesehen und Zufallsproben gemacht: Ich habe keine Anzeichen für Nummernkonten gefunden.« Nicht einmal hinsichtlich der Vergangenheit? »Das würde in unserem System nicht funktionieren.«[4]
Die rundherum abwehrende Position wird von manchen Kardinälen als gefährlich betrachtet. Die gewagte Äußerung »dieses Laien« – wie ihn einige Purpurträger barsch bezeichneten, ohne ihn beim Namen zu nennen –, der gerade erst in den Vatikan gekommen war, könnte den Heiligen Stuhl eklatanten Dementis aussetzen. Seit Marcinkus’ Zeiten waren fiktive Inhaberangaben und Nummernkonten eine eingespielte Praxis. Das hatte sich 2009 herausgestellt und ist in dem Buch Vatikan AG unzweifelhaft belegt. Auch das vorliegende Buch dokumentiert dies mit weiteren Fällen und Unterlagen. Wozu also abstreiten, noch dazu in einem so heiklen Augenblick? Man schlug damit genau die entgegengesetzte Richtung zu der Linie ein, die Papst Franziskus tagtäglich vorgab, nämlich die Leichen aus dem Keller zu holen und nicht mehr zu verstecken. Daher wurde die Rede des IOR-Präsidenten mit Spannung erwartet: Würde der Bankier auf dieser riskanten Linie beharren? Von Freyberg entscheidet sich, Italienisch zu sprechen, damit er vom Großteil der Anwesenden verstanden wird. Er beginnt seinen Vortrag mit Zahlen, damit alle erkennen können, welche großen Geldmengen er zu verwalten hat. Im Saal ist es mucksmäuschenstill:
Wir verwalten die Gelder des Heiligen Stuhls, der Diözesen, der männlichen und weiblichen Kongregationen, in einer Gesamthöhe von über 2 Milliarden. [Diese Konten bilden, A.d.A.] unsere wichtigste Nutzergruppe. Es gibt auch Einzelpersonen, 13.000 an der Zahl; diese sind vor allem die Angestellten und Rentner des Heiligen Stuhls, des Vatikanstaates und des IOR. Dann gibt es eine Gruppe von mehr oder weniger 1400 Personen, die nicht im engeren Sinn zu dieser katholischen Welt gehören: die diplomatischen Missionen, Diplomaten und ehemalige Diplomaten beim Heiligen Stuhl, nicht unsere, sondern die, die zu uns kommen, und es sind ehemalige Beziehungen des Heiligen Stuhls: das ist eine sehr unterschiedliche Gruppe … [Da sind, A.d.A.] viele Erbschaften […] außerdem haben wir aus Gründen der Tradition diese Kundschaft. Wir verwalten mehr oder weniger 7 Milliarden, 5 Milliarden in unserem eigenen Haushalt und 2 Milliarden von Dritten. Die Nutzer hinterlegen ihre Mittel bei uns, und wir investieren sie vor allem in Staatsanleihen und bei anderen Banken. Wir geben nur ganz wenig Kredit. Bei einer Bilanz von 5 Milliarden haben wir Kredite über nur 25 Millionen. Unsere Hauptaufgabe besteht darin, das Vermögen zu schützen, nichts weiter, daher gibt es bei uns keine Swap-Geschäfte oder Hedgefunds. Es ist eine reine Tätigkeit des Vermögensschutzes. Es gibt noch einen zweiten Dienst, den wir leisten, und das ist der Zahlungsdienst, der für unsere Nutzer wichtig ist, vor allem für die Kongregationen, die viele Aktivitäten in der Welt haben.
Ab und zu macht der Bankier im Italienischen Fehler: Er sagt »Pensionisten« statt »Pensionäre«, »Diplomierte« statt »Diplomaten«. Bertone korrigiert ihn zuweilen, was den Kardinälen ein verhaltenes Grinsen entlockt. Aber die Atmosphäre bleibt angespannt. Von Freyberg weiß, dass er die heikelste Angelegenheit erst noch ansprechen muss. Es ist wohl sicher das erste Mal, dass ein Präsident der Vatikanbank vor einem so qualifizierten Parkett mit Papst, Kardinalstaatssekretär und den einflussreichsten Kurienkardinälen das heiße Eisen der Geldwäsche anspricht.
Als ich hierhergekommen bin, war klar, wo ich anfangen sollte. Es gibt zwei große Bereiche: das eine sind die illegalen Geschäfte unserer Kunden, das nennt sich heute anti money laundering [Geldwäschebekämpfung, A.d.A.], und das andere ist die Kommunikation. Beide sind nämlich eng miteinander verknüpft. Zu unseren Nutzern ist meine persönliche Beobachtung, heute … also … heutzutage … ehm …, ist meine persönliche Beobachtung folgende: Bis zum 1. April 2011 hat es kein vatikanisches Gesetz zur Geldwäsche gegeben. Bis zu diesem Zeitpunkt hat das IOR seine Geschäfte gehandhabt, wie man es für richtig hielt, und wie man dachte, dass die Vorgesetzten es wünschten. Das hat sich am 1. April 2011 verändert, mit einem Gesetz [das erste Geldwäschegesetz im Vatikanstaat, A.d.A.], das im IOR nicht sehr eingehend erläutert worden ist. Das heißt, es gab ein Gesetz, aber es gab keine Einweisung, keine Vorschrift, wie es genau umzusetzen war. Mit dem Ergebnis, dass es in den letzten beiden Jahren Transaktionen gegeben hat, die nicht regelkonform waren, und nicht immer wurden sie rechtzeitig gemeldet.
Eisiges Schweigen im Saal. Was der Bankier da gesagt hat, wiegt schwer. Der Präsident lastet ausgerechnet den Vorgesetzten, also den Kardinälen, die undurchsichtige Verwaltung der IOR-Gelder an, als es noch keinerlei Vorschriften zur Geldwäsche gab. Die Vatikanbank habe die eigenen Geschäfte so verwaltet, »wie die Vorgesetzten es wünschten«. Es handelte sich somit nicht um eigenständige Entscheidungen der Institutsführung, es war der ausdrückliche Wille der Vorgesetzten, der Kardinäle und des Papstes. Das ist noch nicht alles. Als das Gesetz gegen Geldwäsche – endlich, wenn auch mit enormer Verspätung – in Kraft trat, wurde es nicht angewandt. In der Presse und im Fernsehen wurden überall die neuen Vorschriften begrüßt, die der Vatikan sich gegen Geldwäsche zugelegt hatte, aber niemand befolgte sie beim IOR. Praktisch eine Reform, die auf halber Strecke steckenblieb. Es wurde den Forderungen der Medien und der Gläubigen nach Transparenz einerseits nachgegeben, aber nicht gesagt, was von Freyberg bei seiner mit Spannung erwarteten Rede anprangerte: Ohne entsprechende Anwendungsregeln konnte niemand beim IOR den neuen Regeln Folge leisten. Dadurch hat die Bank mitten in Rom weiterhin als Offshore-Bank gearbeitet. Und zwar trotz der Flut von Pressemeldungen, die übereifrig die angekündigte Transparenz zelebrierten.
Von Freyberg fährt mit der Frage der Nummernkonten und der anonymen Kunden fort, die er bereits in den Interviews mit der »New York Times« und »Radio Vatikan« angesprochen hatte, und es unterläuft ihm dabei, zumindest auf den ersten Blick, ein unerklärlicher Ausrutscher:
Was haben wir für ein Problem? Es sind vor allem natürliche Personen, die ihre Konten für gesetzeswidrige Geschäfte nutzen, Geldwäsche in jeder Hinsicht. Es kann sich um Angehörige des Klerus handeln oder um Laien: Es gibt keine Regel, die besagt, bei welcher Gruppe dieses Risiko höher ist. Ich glaube nicht, dass es um viele Fälle geht. All jene, von denen in der Presse die Rede ist, habe ich eigenhändig am ersten Tag am Computer überprüft, und sie waren nicht dabei. Es gab kein Konto Andreotti, es gab unter uns nicht die gewissen Gentlemen, die in den Zeitungen standen: von alldem gab es nichts. […] Das zweite Thema ist die Kommunikation. Das größte Problem des IOR besteht darin, dass es die Botschaft des Heiligen Vaters und des Vatikans vernachlässigt. Das ist meine Aufgabe: dass das gelöst wird. Ich habe mit der Kommunikation angefangen, und unser Problem ist folgendes: Wir leben in einem Dreieck aus tatsächlichen Ereignissen wie dem Ambrosiano; aus falschen Gerüchten wie Andreotti, Osama bin Laden und all den anderen; und aus einem vollkommenen Stillschweigen von unserer Seite. Was unsere Kommunikation betrifft, haben wir entweder mit niemandem gesprochen, oder in nicht sehr glücklicher Weise; oder in den letzten Jahren meines Vorgängers, sehr individuell, so würde ich das nennen. So haben wir uns nie wirklich gegen falsche Gerüchte zur Wehr gesetzt und auch nie zugegeben, was davon stimmte. Darum haben wir jetzt einen Fachmann für Kommunikation geholt, um systematisch auf die Kirche und die Öffentlichkeit zuzugehen. Daher gab es eine erste Woche mit den Journalisten, gerade … einen Jahresbericht zu verfassen und ihn ins Internet zu stellen, so dass alle sehen können, dass er da ist. Hinsichtlich der Geldwäsche habe ich eine Firma geholt, die sich Promontory nennt, Weltmarktführer in diesem Bereich, glaube ich, und die schauen sich jetzt jedes einzelne Konto bei uns an, ob es in Ordnung ist oder nicht. Das sind derzeit etwas mehr als tausend Konten, und da sind vielleicht zehn, die nicht in Ordnung sind, und wo wir etwas machen müssen. Zum Dritten haben wir – und diese Arbeit ist fast schon beendet – eine große Rechtsanwaltskanzlei geholt, Cleary Gottlieb, das Büro in Rom, aber es ist eine us-amerikanische Kanzlei, und die haben ein Rechtsgutachten darüber erstellt, wie wir rechtlich einzuordnen sind. Denn wir leben in einer Welt und arbeiten in einer Welt. Wir sind nicht nur im Vatikanstaat, und wir müssen diese Regeln beachten. Das hat nichts mit der Frage der Souveränität zu tun, sondern das sind die normalen Regeln für jeden [der eine, A.d.A.] Summe von 7 Milliarden verwaltet, auch in anderen Ländern. Auch die anderen Länder wollen ein wenig wissen, was sich so tut. Und wir müssen uns auch den Regeln anderer Staaten anpassen. So, das ist eine Zusammenfassung unserer Situation, wie sie im Augenblick ist.
Papst Franziskus hört sehr aufmerksam zu. Der deutsche Bankier verleugnet das Konto Andreotti beim IOR. Das sieht nach einem ungeschickten Versuch aus, die ungelöste Vergangenheit der vatikanischen Bank auf die dunklen Jahre der Marcinkus, Sindona und Calvi einzugrenzen. Aber jenes Machtsystem war nur zunehmend schwächer geworden, verschwunden war es nicht. Es war zeitweilig abgetaucht, um dann umso stärker und mit neuen Leuten wieder aufzutauchen, um weitere Unmengen schmutzigen Geldes reinzuwaschen.
Gewiss, manche Vorkommnisse konnten einen in die Irre führen. Man denke nur an die Entscheidung des IOR von 1984, 405 Millionen Dollar als »freiwilligen Beitrag« an die Liquidatoren der Banco Ambrosiano zu zahlen, um alle noch offenen finanziellen Streitigkeiten im Zusammenhang mit Calvis Bank beizulegen.[5] Aber es wäre eine sehr oberflächliche Lesart, deshalb anzunehmen, die Bank habe damit eine Kehrtwende vollzogen. Marcinkus wurde vom Vatikan nie im Stich gelassen. Auch dies wird durch die neuen Unterlagen sowie durch verschiedene Quellen belegt. Marcinkus’ Verteidiger etwa, Adolfo Gatti, genoss im Vatikan höchstes Vertrauen. Aus den geheimen Buchungsunterlagen der Bank geht hervor, dass auch er über ein Konto beim IOR verfügte – und dass einige üppige Honorare mit dem Geld der vatikanischen Bank beglichen wurden: Ein Honorar von einer Milliarde Lire wurde am 31. Juli 1984 vom Konto Nr. 001 9 10420T bezahlt, das für Gerichtskosten vorgesehen war. Am selben Tag wurde ein weiterer Verteidiger Marcinkus’ bezahlt, Professor Agostino Gambino, für den Heiligen Stuhl Mitglied in der italienisch-vatikanischen Kommission zum Zusammenbruch von Calvis Banco Ambrosiano und früher Anwalt von Sindonas Banca Privata. Im Rahmen der Kommission hatte Gambino sich bemüht, die Verantwortlichkeiten des IOR-Präsidenten kleinzureden und ihn praktisch als Opfer Calvis darzustellen: »Es gibt keinerlei Beleg für eine Schuld von Marcinkus«, sagte er. Am 31. Juli 1984 zahlt man ihm eine Milliarde Lire, genauso viel wie Adolfo Gatti.[6]
Die Mailänder Richter, die 1987 wegen des Bankrotts der Banco Ambrosiano den Haftbefehl für den amerikanischen Bischof und einige seiner Mitarbeiter ausstellten, sahen das anders.[7] Doch Marcinkus konnte sich in seiner einige Jahre zuvor geäußerten Vorhersage bestätigt fühlen: »Ich mag ein miserabler Bankier sein, aber wenigstens sitze ich nicht im Gefängnis.«[8] Der Haftbefehl wurde vom Kassationsgerichtshof aufgehoben, gab aber in Verbindung mit den Ermittlungen zu Calvi durch Staatsanwalt Pier Luigi Maria Dell’Osso für Papst Wojtyła und den damaligen Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli Anlass, den IOR-Präsidenten zum Rücktritt zu drängen. Erst 1989 stellte dieser sein Amt zur Verfügung.[9]
Bis 1996 blieb Marcinkus als ehemaliger Präsident im Vatikan. »Er fürchtet, beim Verlassen des Vatikans verhaftet zu werden«, tuschelten die Gegner vielleicht nicht ohne Grund: Da er sein jahrelanges mächtiges Amt nun nicht mehr innehatte, wäre möglicherweise beim Verlassen des kleinen Staates eine verfahrenssichernde Maßnahme gegen ihn verfügt worden. Nach dem Ende der gerichtlichen Wirren um die Banco Ambrosiano zog der vielleicht unbequemste Prälat der Kirche nach Sun City in Arizona: als Pfarrer, so wie viele andere alte Seelsorger. Zusammen mit Marcinkus waren 1989 auch seine Mitarbeiter Luigi Mennini und Pellegrino de Strobel von ihren Ämtern im IOR zurückgetreten, die ebenfalls im Fokus der Presse und der Staatsanwaltschaften standen. Doch die gesamte Führungsstruktur der Bank blieb unverändert. Nach zwanzig Jahren skrupellosen Geschäftsgebarens bei völliger Straffreiheit konnte das Geldinstitut nur schwerlich einen raschen Wandel vollziehen.
Marcinkus zieht sich aus der Bank zurück, De Bonis wird Prälat des Instituts und gibt ein paar Interviews, um sich von seinem Vorgänger und Mentor abzusetzen. Dessen Position hat in der Zwischenzeit Angelo Caloia übernommen, ein lombardischer Katholik, der dem Bankier Giovanni Bazoli sehr nahestand. Johannes Paul II. hatte Caloia im Juni 1989 wegen seiner allgemein geschätzten Tugenden ausgewählt, um endlich einen Schlussstrich unter eine allzu lästige und sperrige Vergangenheit zu setzen, die den Ruf des Vatikans schwer beschädigt hatte.
Man muss naiv oder böswillig sein, um zu glauben, das IOR sei nach dem Abgang von Marcinkus plötzlich zu einer ethischen Bank geworden. Tatsächlich gedeiht das unorthodoxe System munter weiter. Gerade in den Jahren nach 1989 wird in dem von Prälat Donato de Bonis geformten Kontensystem ein Großteil der Enimont-Schmiergelder reingewaschen. Die Industriellenfamilie Ferruzzi hatte sie an die Parteien der Ersten und Zweiten Republik[10] gezahlt, um die Geschicke der Montedison-Gruppe von denen des Energieriesen Eni zu trennen. Dadurch wurde der Enimont-Konzern aufgelöst, und Raul Gardinis Traum, die chemische Industrie Italiens in einem einzigen Konzern zusammenzufassen, war geplatzt. Die Ferruzzis bauten dabei auf einen Mann, der in Italien schon seit jeher im Mittelpunkt von Intrigen, Geschäften und geheimen Machenschaften stand: Luigi Bisignani. Und der pflegte beste Beziehungen zu Prälat De Bonis.
Die Probleme stellen sich ein, als die Ermittlungsrichter von Mani pulite den Schmiergeldskandal Tangentopoli näher ins Visier nehmen und gegen die Vermittler des Geschäfts Sergio Cusani, Mauro Giallombardo und eben Luigi Bisignani vorgehen. Die Ermittler verfolgen die Geldströme, und die stärksten führen direkt in den Vatikan. Den Ermittlern zufolge flossen zwei Drittel der 130 Milliarden Lire Schmiergeld, nämlich 88,9 Milliarden, über das IOR. Manche Gelder liefen insbesondere über das Konto Andreottis und konnten damit möglicherweise den Mann beschädigen, der damals als Kandidat für das Amt des italienischen Staatspräsidenten gehandelt wurde.
Von 1987 bis 1992 führt De Bonis dem Vatikan über 26 Milliarden Lire (heute etwa 26 Millionen Euro) flüssige Mittel zu und legt sie auf das Konto der »Fondazione Spellman«. Die Existenz des Depots Nummer 001 3 14774 C zu leugnen, das 1987 beim IOR auf den Namen einer inexistenten »Stiftung Francis Spellman« eingerichtet wurde, zu dessen Zeichnungsberechtigten auch der siebenmalige Ministerpräsident Giulio Andreotti gehörte, ist daher ein Schlag ins Gesicht der Wahrheit, der plumpe Versuch, eine Sache abzustreiten, die längst zur historischen Tatsache geworden ist. Dieses Depot bildet den eigentlichen Kern des aus der Vatikanbank heraus betriebenen Geschäfts, um die größte je in der Geschichte Italiens aufgedeckte Schmiergeldzahlung zu vertuschen und umzuverteilen. Man brachte Staatsanleihen ein, die von Prälat De Bonis zu Geld gemacht wurden, das man dann auf die Konten von Politikern und Mittelsmännern verteilen konnte. Etwa an Sergio Cusani, der im Hauptverfahren von Mani pulite angeklagt und schuldig gesprochen wurde.
Dies alles geschieht, obwohl Caloia Präsident der Bank ist: Er ist die saubere Weste, mit der die allzu sperrige Vergangenheit in Vergessenheit geraten soll. Doch das Restyling ist eigentlich nur kosmetischer Natur. Es soll dazu dienen, das IOR wieder vorzeigefähig zu machen, damit der Druck durch die Medien nachlässt. In Wirklichkeit laufen die dunklen Machenschaften munter weiter. Auf Anweisung von Kardinal Casaroli versucht Caloia einerseits, die Neugier der Mailänder Staatsanwälte im Zaum zu halten, indem er deren Anfragen in irreführender Weise beantwortet. Andererseits ist er bemüht, nicht unter die Räder des kriminellen Systems zu geraten, das unter Paul VI. eingerichtet wurde. Es muss für ihn eine echte Demütigung gewesen sein, zu entdecken, dass unter seiner Präsidentschaft Milliarden an Schmiergeldern reingewaschen wurden, ohne dass er davon wusste. Wie bereits in Vatikan AG ausführlich beschrieben, fand Caloia heraus, dass auf den siebzehn Hauptkonten, die De Bonis nach und nach in der Bank eingerichtet hatte, von 1989 bis 1993 Transaktionen im Wert von über 310 Milliarden Lire vorgenommen wurden. Das entspricht heute etwa 300 Millionen Euro. Allein die Ein- und Auszahlungen in bar beliefen sich auf 110 Milliarden.[11] Das ist die mittlerweile gesicherte Wahrheit der Parallelstruktur des IOR, eines gigantischen Schwarzgeldsystems, das in den Jahren nach Marcinkus aufgebaut worden war.
De Bonis nutzte den Eintritt Caloias und das Machtvakuum nach dem Rückzug Marcinkus’, um durch das Handling gewaltiger Summen die eigene Position zu stärken. Die anständigen Buchhalter des IOR waren völlig desorientiert: »Der Neue«, ließen sie sich bei der Vorarbeit zu diesem Buch vernehmen, »war schlimmer als der Alte. Manche Männer waren noch dieselben, die Geschäfte wurden mit raffinierteren Mitteln betrieben, aber wie eh und je ohne jegliche Bedenken.« De Bonis gab sich jedermann gegenüber als bescheidener, großmütiger Priester. Wenn jemand aus seiner Heimatregion Basilicata in die Bank kam, empfing er ihn herzlich. Er öffnete das oberste Schubfach seines Schreibtischs, und die Jüngeren fragte er: »Wie lange hältst du dich in Rom auf?« Dann schenkte er ihnen ein paar Scheine als Taschengeld. In der Bank war er für sein Bonmot bekannt: »Ich bin keusch, aber ich habe nie ein Armutsgelübde abgelegt!« Dennoch distanzierte er sich ostentativ vom Geld, mit einer ungewöhnlichen Attitüde: Er nahm nur druckfrische Banknoten in die Hand und hütete sich davor, benutzte Geldscheine anzufassen. Dadurch könne man sich eine Infektion zuziehen, so seine Begründung.
Es stellt sich die Frage, wie dieser Fehler von Freybergs zu erklären ist. Schließlich hatte er sich nie etwas zuschulden kommen lassen und genoss einen ausgezeichneten Ruf. Benedikt XVI. hatte ihn nach der Ankündigung des eigenen Rückzugs im letzten Moment berufen, um den Einfluss der italienischen Kurie auf die Finanzen des Vatikans zurückzudrängen. Die Frage ist nicht unerheblich, denn die erwähnte Versammlung findet in einem entscheidenden Augenblick statt. Franziskus ist erst seit wenigen Monaten im Amt. Der Papst muss Prioritäten setzen und seine Mitarbeiter auswählen. Auf sie wird es entscheidend ankommen, wenn die angekündigten Reformen umgesetzt werden sollen. Doch von Freyberg wirft auf der einen Seite der obersten Hierarchie des Vatikans vor, dem IOR willentlich freie Hand gelassen zu haben, sodass die Geschäfte ohne jede Transparenz fortgesetzt werden konnten. Auf der anderen streitet er Andreottis Konto ab. Warum tut er das? Möglicherweise aus gutem Glauben. Vermutlich hat man ihm die Wahrheit vorenthalten, damit er sich vor Franziskus blamiert. Eine subtile Art, um ihn zu schwächen und ihn vor dem neuen Papst als unverlässlich erscheinen zu lassen. Tatsächlich trifft Franziskus ein Jahr später die Entscheidung, ihn zu ersetzen. Seit meinem Buch Vatikan AG wusste man, dass es ein Konto gab, für das Giulio Andreotti die Zeichnungsberechtigung hatte, aber vermutlich hat man dies von Freyberg gegenüber als verzerrte und interessengeleitete Darstellung abgetan.
Von Freybergs Präsidentschaft wurde zur kürzesten in der Geschichte der Vatikanbank. Zwanzig Jahre währte die Ära Marcinkus, weitere zwanzig jene Caloias. Der deutsche Bankier blieb nicht einmal sechzehn Monate, nur bis zum 9. Juli 2014. Hätte er die internen Unterlagen der Bank eingehender studiert, hätte sich ihm ein beunruhigendes Bild offenbart, von dem die Öffentlichkeit noch heute kaum etwas weiß.
Aus den Geheimarchiven der Vatikanbank, die ich zum Teil für dieses Buch einsehen konnte, ergibt sich ein ganz anderes Bild als jenes, das der deutsche Bankier entworfen hat. Die Dokumente belegen, wie weit dieses geheime System verbreitet war, das auch nach Marcinkus’ Rückzug auf sehr solide Unterstützung hinter den Mauern des Vatikans zählen konnte.
Erst 1993, und somit erst vier Jahre nach dem Amtsantritt Caloias, beschloss Johannes Paul II., der Weltöffentlichkeit dieses System nicht länger zuzumuten, und gab dem neuen Chef des Staatssekretariats, Kardinal Angelo Sodano, Anweisung, für einen Wechsel in der Bank zu sorgen. Höchstvertraulich und diskret natürlich, ohne weitere Skandale auszulösen und die Öffentlichkeit aufzuschrecken. Caloia, der nur auf die Gelegenheit zum Befreiungsschlag gewartet hatte, wurde mit der Umsetzung beauftragt. Seine Arbeit erfolgte in direkter Absprache mit dem Kardinalstaatssekretär. Der Präsident hatte an zwei Fronten vorzugehen: Zunächst sollte er alle in die Machenschaften verstrickten oder willfährigen Leiter ihres Postens entheben, sodann alle Girokonten ausfindig machen und sperren lassen, die für unlautere Geschäfte verwendet oder auf zwielichtige Personen ausgestellt worden waren. Nachdem das Schmiergeldkarussell, das unter seiner Präsidentschaft stattgefunden hatte, ans Licht gekommen war, vertraute Caloia niemandem mehr. Am 11. April 1993 gelang es ihm, De Bonis abzusägen, der zum Prälaten des Malteserordens ernannt und mit einem gemütlichen Büro in der sehr zentral gelegenen Via Condotti in Rom abgespeist wurde. Doch es ist nur ein halber Erfolg. Denn De Bonis übt weiterhin Druck und Einfluss auf einige Angestellte und Führungskräfte der Bank aus, um die eigenen Geschäfte und Interessen zu verteidigen. Caloia hatte nahezu kein Vertrauen mehr zu Gianni Bodio, dem Nachfolger Menninis auf dem Posten des Generaldirektors, und misstraute den fünf Abteilungsleitern der Bank: Prälat Carmine Recchia, dem Komtur Lelio Scaletti, Pier Giorgio Tartaglia, Paolo Scarabelli und Mario Clapis. Er versuchte zwar, sie sich gefällig zu machen, indem er ihnen jedes Jahr einen Bonus gewährte (20 Millionen Lire an Bodio, 5 an Prälat Recchia, wie den vertraulichen Zahlscheinen zu entnehmen ist, die ich für dieses Buch in Augenschein nehmen konnte), aber die Atmosphäre in der Bank blieb feindselig. Caloia wandte sich an Sodano, um auf einen Austausch der leitenden Person zu drängen, beispielsweise Prälat Carmine Recchia, der sich zu Marcinkus’ Zeiten als Leiter des Bankarchivs im Hintergrund gehalten hatte.[12] Caloia verlangte seine Versetzung: »Seine Praxis hat stets darin bestanden, die Aktivitäten des ehemaligen Prälaten [De Bonis, A.d.A.] zu decken«, schrieb er an den Staatssekretär. »Sein Ausscheiden hätte eine größere Transparenz der Geschäftsabläufe zur Folge und würde verhindern, dass sich ein nicht ungefährliches stillschweigendes Einverständnis und interne Einflussnahmen verfestigen.«[13] Kurz darauf ordnete Sodano De Bonis’ Versetzung an.
Was hingegen bis heute nicht bekannt war, und wovon dieses Buch nun berichtet, ist das Vorgehen an der zweiten von Caloia eröffneten Front: die Sperrung verdächtiger Konten, nachdem die Ermittlungen italienischer Staatsanwaltschaften das illegale Gebaren beim IOR aufgedeckt hatten. Unter den geprüften Buchungsunterlagen fällt die interne Liste mit 46 Konten auf, die am 20. Juni 1994 gesperrt wurden, und auf denen über 43 Milliarden Lire lagen (siehe Tabelle). Eine umfangreiche Liste mit allem Möglichen. Da gibt es Guthaben, die dem parallelen IOR von Prälat De Bonis zuzuordnen sind, wie das des Bauunternehmers Domenico Bonifaci (24 Milliarden), den Fondo San Serafino der Familie Ferruzzi (1,4 Milliarden) und das Konto Fondazione Francis Spellman mit einem gesperrten Kontostand von über 7 Milliarden Lire. Aber auch andere, zunächst unverdächtige Konten werden beschlagnahmt. Etwa die Nummer 051 3 00336, die auf das Partikularsekretariat von Papst Paul VI. ausgestellt ist, mit zweieinhalb Milliarden Lire. Peanuts verglichen mit den gewaltigen Beträgen, von denen in den vorherigen Kapiteln die Rede war. Wozu also sperren? Offenkundig hatte jemand das Konto vor dem Zugriff Caloias erleichtert.
Wesentlich ist jedoch ein anderer Aspekt. Die Beschlagnahme beweist, dass über dieses Konto, das laut Kontobezeichnung dem engsten Umfeld Paul VI. zuzuordnen ist, verdächtige Summen gegangen sind. Der Verdacht war Anlass genug, es zu sperren. Hier stellt sich dieselbe Frage, die wir zuvor schon aufgeworfen haben: Handelt es sich um ein Konto, das vom Sekretariat Paul VI., also von Prälat Pasquale Macchi, ohne Wissen des Papstes für persönliche Zwecke benutzt wurde, oder erfolgten die Transaktionen mit dessen Einverständnis? Und weiter: Kann es sein, dass Macchi und der damalige Papst von diesen Geldflüssen nichts wussten? Das ist kaum anzunehmen. Denn in diesem Fall wäre zu erklären, warum jemand im IOR ein derart hohes Risiko einging, das Girokonto des Privatsekretärs des Papstes zu nutzen. Es wäre weitaus einfacher und sicherer gewesen, das Geld auf eines der vielen fiktiven Konten zu legen, die damals für manche verschwiegene Einzahlung verwendet wurden.
Geht man die Liste der Kunden durch, die in das Visier Caloias geraten waren, zeigt sich, dass auch die Konten von Priestern, Prälaten und späteren Kardinälen gesperrt wurden. Etwa die vier Konten des damaligen Erzbischofs Sergio Sebastiani, Wirtschafts- und Finanzexperte des Vatikans. Obwohl sein Name in der Schwarzen Liste auftaucht, nimmt Sebastianis Karriere im Vatikan keinen Schaden. 1994 wird er zum Generalsekretär des Komitees für die Vorbereitung des Heiligen Jahrs 2000 ernannt. 1997 wird er Präsident der Präfektur für die ökonomischen Angelegenheiten des Heiligen Stuhls, der strategischen Aufsichtsbehörde über die verschiedenen Dikasterien, eine Art vatikanischer Rechnungshof. Zu seinem vertrauten Berater wählte Sebastiani den römischen Bankier Giampietro Nattino, der damals mit seiner Geschäftsbank Finnat in der italienischen Hauptstadt und im Vatikan als Aufsteiger galt. 2016 wird gegen Nattino wegen Geldwäsche im Zusammenhang mit dem IOR und anderen Banken ermittelt. Auf Caloias Schwarzer Liste finden sich auch Diplomaten wie Henryk Kupiszewski, der polnische Botschafter beim Heiligen Stuhl und beim Malteserorden; religiöse Kongregationen und Orden wie jener der Barmherzigen Brüder vom Heiligen Johannes von Gott (Fatebenefratelli, 1,3 Milliarden) oder der »Suore min. inf.« (vermutlich Suore ministre degli infermi – Orden der Krankenpflegerinnen) aus Lucca (2 Milliarden).
Doch ein weiteres Dokument der Parallelstruktur des IOR, das in den Safes der Vatikanbank aufbewahrt wird und hier erstmals ans Licht der Öffentlichkeit gelangt, ist noch bestürzender (siehe Anhang). Es handelt sich um eine von De Bonis eigenhändig geschriebene und unterzeichnete Notiz, mit der der Prälat alle von ihm verwalteten Girokonten auflistet. Es gibt dabei drei Gruppen von Guthaben, je nach Valuta und Inhaber (in Lire und in Dollar, auf eigene Rechnung oder für Dritte). Einige Konten lassen sofort an Karol Wojtyła denken, die Konten 001 3 11595, lautend auf »Mons. Stan.« und 001 3 11746, »Sua Sant.« [Seine Heil.], in Lire, sowie die Dollarguthaben 051 3 04011 »Sua Sant.« und 051 3 04020 »Don Stanisl«. Offensichtlich könnte es sich um vier Referenzkonten des früheren Papstes, Johannes Paul II., und seines Sekretärs, des polnischen Kardinals und emeritierten Erzbischofs von Krakau Stanisław Dziwisz, handeln.
Dass die vier Konten in dieser Liste erscheinen, in der De Bonis die Konten mit fiktiven Inhabern aufführt, verwundert. Bei diesen Kunden will man die Namen nicht nennen (die Konten: 001 3 16764 »Jonas Foundation«, genutzt von Luigi Bisignani; 001 3 14774 »Spellman«, mit der Unterschrift Andreottis; 001 3 14337 »Santa Caterina« und 14577 »San Marino«, deren Inhaber noch im Dunkeln liegen). Man muss daher annehmen, dass der Prälat entweder die auf den Papst und seinen Privatsekretär ausgestellten Konten verwaltete, oder diese nur dem Anschein nach auf sie ausgestellten Konten nutzte, um zweifelhafte Gelder in Umlauf zu bringen. Beides ist besorgniserregend und wirft dieselben Fragen auf wie die ähnliche Situation zwanzig Jahre zuvor. Damals gab es unter dem Duo Marcinkus-De Bonis jene merkwürdigen Transaktionen auf den Konten von Prälat Pasquale Macchi, des Privatsekretärs von Paul VI. Angesichts der Verflechtung zwischen den Päpsten (Paul VI. und nun Johannes Paul II.) und den übelsten Verwaltern der Vatikanbank, Marcinkus und De Bonis, muss man die Beziehungen zwischen der Skandalbank und den Papstgemächern in ihrer Gesamtheit betrachten. Handelt es sich um eine zufällige Übereinstimmung, oder belegt sie vielmehr Gepflogenheiten, die jahrzehntelang fortgeführt wurden, ohne dass irgendeine Reform Abhilfe geschaffen hätte? Denn – das muss gesagt sein – selbst in der weniger schlimmen Annahme eines Vortäuschens besonderer Beziehungen würde sich die Frage stellen, wie skrupellose Personen Konten benutzen konnten, die auf den Papst und seinen Partikularsekretär ausgestellt waren, ohne dass jemand diese skandalträchtige Praxis aufdeckte.
Caloia hat sich bestimmt redlich bemüht. Doch Tag um Tag zeigt sich sein Tun als der klassische Tropfen auf den heißen Stein. Der Präsident hatte weder die Mittel noch die Autorität, um die nach außen zur Schau getragene Transparenz innerhalb der Bank auch durchzusetzen. Marcinkus hatte sich mehrfach mit dem Papst getroffen und sich mit ihm auch über die finanziellen Erfordernisse des dem Papst so sehr am Herzen liegenden polnischen Volkes ausgetauscht. Caloia musste auf eine offizielle Zeremonie warten, um den Papst zu Gesicht zu bekommen. In der Zwischenzeit ergossen sich unterschiedlichste Geldströme unbekannter Herkunft in die Vatikanbank und machten eine echte Kontrolle praktisch unmöglich. Der Präsident ordnete an, sämtliche Büros mit Computertechnik auszustatten, um die Vorgänge transparenter zu gestalten. Doch die Fallstricke und die schwarzen Kassen waren gut getarnt. Auch weil häufig größere Barbeträge gar nicht über die Schalter am Hauptsitz der Bank eingezahlt wurden, sondern über Zwischenkonten auf ausländischen Banken. Vor allem in der Schweiz.
Die Casa Santa Birgitta ist ein elegantes vierstöckiges Wohnhaus, in dem die Birgitta-Schwestern leben.[14] Die Andachten finden in der nahe gelegenen Kirche statt. Gleich daneben befindet sich das Heim für Pilger, die ein paar Tage bleiben wollen. Dieses himmlische Fleckchen Erde befindet sich in Lugano in der Schweiz. Ein Ort der Ruhe und Entspannung für Körper und Geist mit fantastischem Blick von der malerischen Terrasse auf See und Berge. Anfang Sommer 2017 suche ich den Ort auf. Eine steile Treppe führt von der Via Calloni unter steinalten Bäumen in den Garten und zum Gebäudekomplex. In dem viersprachigen, mit etwas altertümlichen Fotos bebilderten Werbeprospekt, den mir eine gleichmütig dreinblickende Schwester an der Rezeption überreicht, ist zu lesen: »Die Schwestern des Birgittenorden freuen sich, Gäste jeden Alters und Konfession in ihrem einfachen, gemütlichen Hotel willkommen zu heissen. Es erwarten Sie eine gepflegte Küche, schöne Zimmer, grosser Speisesaal, vier Aufenthaltsräume, Lift, Konferenzraum, Kappelle.« Eine preiswerte Unterkunft mitten in der Stadt: 127 Franken (111 Euro) pro Kopf im Einzelzimmer und 106 Franken (93 Euro) im Doppelzimmer, mit Vollpension, und dem Genuss, von den Küchenschwestern bekocht zu werden. Mehr ist nicht in Erfahrung zu bringen. Die sehr streng wirkende Schwester am Empfang im typischen dunkelgrauen Ordenskleid und mit der weißen Leinenkrone mit fünf roten Punkten schöpft bei meinen Fragen Verdacht, geht nicht auf meine Bitte um weitere Informationen ein und lässt mich einfach stehen.
Diese Residenz ist das Glanzstück des Ordens des Allerheiligsten Erlösers, der auch Birgittenorden genannt wird. Das Mutterhaus befindet sich in Rom an der Piazza Farnese, Äbtissin ist Mutter Tekla Famiglietti. Die Birgittenschwestern sind in der ganzen Welt tätig und verfügen über Klöster in den USA, Mexiko, auf Kuba, in Indien, auf den Philippinen, in Indonesien und in halb Europa. Während des Pontifikats von Johannes Paul II., als Caloia das IOR leitete, war Mutter Famiglietti die einflussreichste Ordensschwester in den vatikanischen Palästen. Sie verband mit Johannes Paul II. und seinem Sekretär Stanisław Dziwisz eine solide Freundschaft, die von gegenseitiger Achtung geprägt war. Beide wussten zu schätzen, was der Orden im kommunistischen Polen geleistet hatte. Außerdem pflegte die Äbtissin regelmäßigen Kontakt zu Fidel Castro und seinem ersten Sekretär Carlos Valenciaga Díaz und sie genoss die Achtung und Anerkennung des damaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti. Von dessen Konto, auf die »Fondazione Francis Spellman« lautend, flossen mehrere Überweisungen zu ihren Gunsten. »Mit ihr gab es einmal ein Missverständnis«, erzählte mir Pietro Orlandi, der Bruder Emanuelas, der achtzehn Jahre lang in verschiedenen Funktionen beim IOR angestellt war. »Wenn sie in die Bank kam, verhielten sich ihr gegenüber alle sehr ehrerbietig, während sie zu uns Angestellten immer sehr abweisend war. Wer sie bediente, bekam aber ein großzügiges Trinkgeld. Als ich einmal dran war, sah ich, dass sie eine Hand in die Tasche steckte: Sie zog einen Geldschein heraus und hielt ihn mir hin. Ohne mich anzusehen, ohne irgendetwas zu sagen. Ich nahm ihn nicht an, lehnte höflich ab, und sie zog die Hand mit dem Geld sofort zurück. Meine Kollegen standen wie versteinert, sie fürchteten eine Vergeltung für meine Geste, die allerseits als Respektlosigkeit betrachtet wurde. Ich aber lebte von meinem Gehalt, das ich mir auf ehrliche Weise verdiente, nicht von den Pfründen Schwester Teklas, die unglaubliche Mengen Geld bei uns hatte.«[15]
Auch in der Schweiz gab es eine Mutter Tekla. Sie verließ das Haus der Birgitten in der Via Calloni und begab sich ins Zentrum von Lugano, wo Banken und Treuhandgesellschaften dicht an dicht liegen. Es gibt keine Gewissheit, dass es dieselbe Schwester war, wahrscheinlich trug sie nur denselben Namen. In jenen Jahren betrat sie rasch die Räume der Banco di Lugano: »Wenn Mutter Tekla kam«, berichtete einer der Bankangestellten, »löste dies in der Bank eine gewisse Hektik aus. Wichtige Kunden kamen durch einen abgelegenen Nebeneingang in die Bank, praktisch durch die Garage. Die Schwester fuhr mit dem Lift in den dritten oder vierten Stock und betrat einen der kleinen Salons, die den bedeutendsten Kunden vorbehalten waren. In meiner Erinnerung war die Schwester spröde, kurz angebunden, und verachtete Geld demonstrativ. Sie kam jedes Mal mit einer Reisetasche aus ziemlich steifem Leder, die ein Vermögen in bar enthielt. Sie betrat das Büro mit der geschlossenen Tasche, schob sie über den Tisch und verlangte, den Betrag dem Konto gutzuschreiben. Wenn der Bankbeamte pflichteifrig und ehrerbietig fragte: ›Wie viel ist es?‹, gab sie immer dieselbe Antwort: ›Ich zähle das Geld nie, tun Sie das.‹ Wenn einer sie dann fragte, woher die vielen Millionen stammten, ließ sie ihn auflaufen: ›Wieder hat uns eine Wohltäterin verlassen‹, gab sie lakonisch zur Antwort und verfiel dann erneut in Schweigen. Einmal musste Mutter Tekla ein paar Minuten warten, weil der Kollege noch mit einem anderen Kunden beschäftigt war. Als er schließlich kam, empfing sie ihn eisig: ›Wenn Sie mich das nächste Mal so lange warten lassen, stehe ich auf und gehe, und Sie kriegen mich nie wieder zu Gesicht. Ich gehe über die Straße zur Konkurrenz. Die warten nur drauf … Aber vorher erzähle ich Ihrem Vorgesetzten, was passiert ist. Sie müssten sich eigentlich geehrt fühlen, mich hier zu haben, stehlen Sie mir nicht meine Zeit.‹«[16]
Das Einlagensystem der Birgitten in der Banco di Lugano war ein komplexes Kontensystem mit mehreren Konten und Unterkonten, von denen einige direkt mit dem IOR verbunden waren. Wenn die Gelder in der Bank des Papstes ankamen, stellte keiner Fragen, keiner tat einen Mucks. In der Organisation der Bank fehlten gewiss auf allen Ebenen jene Antikörper, die heute im großen Kreditgeschäft die Geldwäsche bekämpfen. Caloia mochte die Bank von Kumpanen, Partnern und Verbündeten Marcinkus’ gesäubert haben, konnte sich aber beileibe nicht die Tarnkünste derer vorstellen, die das IOR benutzten – mochten es Priester, Prälaten oder Schwestern sein –, um Kapital vor der Steuer zu verbergen oder seine unrühmliche Herkunft zu verschleiern. Auch wenn das bei den Birgitten vermutlich nicht der Fall war, zeigen diese Vorfälle, wie die Bargeldströme den Weg in die vatikanische Offshore-Bank fanden. Eine unbeschreibliche Dynamik, die mindestens bis 2014 anhielt.