August 2009. Wieder läuft ihm ein Schauer über den Rücken. Die Hitze in Venedig ist unerträglich. Professor Ettore Gotti Tedeschi überquert den Markusplatz und sucht unter den Kolonnaden Schatten. Nicht die Schwüle macht ihm zu schaffen, sondern der Gedanke an einen Anruf, den er wenige Tage zuvor erhalten hat. Ein kurzes Gespräch, das ihn aber zutiefst verstört hat. Seitdem findet er kaum mehr Schlaf und starrt nachts mit weit aufgerissenen Augen an die Decke. Der Professor erinnert sich an jedes einzelne Wort, das der Anrufer gelassen ins Telefon gesprochen hat, ein allgemein geschätzter und pragmatischer Mann der Institutionen, der sich vor allem wegen seines Weitblicks Gehör zu verschaffen weiß. »Also, Ettore, es heißt, du gehst zum IOR, Gratulation! Präsident der Vatikanbank! Das ist doch eine große Chance!« Pause. »Aber …, na ja, nimm’s mir nicht übel, wir sind schon zu lange befreundet. Ich möchte dir einen Rat mit auf den Weg geben.« Wieder eine kurze Pause. »Schau, bald werden sich die Dinge dort radikal verändern. Dann musst du vorbereitet sein und dich vor allem zu schützen wissen.«
»Pardon, in welcher Hinsicht?«, fragt der Professor. Wieder ein Moment der Stille, bevor die Antwort kommt. »Na ja«, erwidert der Freund deutlich leiser, »du musst unbedingt vermeiden, die Namen der Kontoinhaber zu erfahren. Falls es nämlich irgendwann einmal zu strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Bank kommen sollte, brauchst du nicht … Denke darüber nach, das ist ein großer Vorteil …« Gotti Tedeschi fällt ihm ins Wort: »Und wenn ich doch nach den Namen der Kunden fragen sollte?« »Dann, mein Freund, bleiben dir noch fünfzehn Minuten, um deine Kinder in Sicherheit zu bringen. Bis bald, mein Lieber, und noch mal herzlichen Glückwunsch.« Ist das ein freundschaftlicher Rat oder eine Drohung? Fest steht nur, dass der Professor verstört zurückbleibt.[1]
Ein paar Tage später lädt Kardinal Tarcisio Bertone ihn ins Staatssekretariat. Er möchte ihm offiziell vorschlagen, den Vorsitz des IOR zu übernehmen. Bevor er akzeptiert, bittet Gotti Tedeschi um ein vertrauliches Gespräch mit Benedikt XVI. und dessen Assistenten, Prälat Gänswein. Dem Gespräch entnimmt der Bankier, dass der Heilige Vater die Finanzen des Vatikans deutlich transparenter gestalten möchte. Hinter diesem Schachzug Benedikts XVI. steckt ein Plan mit ehrgeizigen Zielen, der bereits den Weg für die Reformen ebnet, die Papst Franziskus vier Jahre später vorantreiben wird. Das IOR soll zu einer Bank werden, die es mit den transparentesten Kreditanstalten der westlichen Welt aufnehmen kann. Eine echte Revolution. Um aber deren tatsächliche Tragweite und Wucht erfassen zu können, ist es erforderlich, ein paar Monate zurückzugehen. Wir begeben uns wieder in die Papstgemächer im Apostolischen Palast und nehmen an vertraulichen Unterredungen des Heiligen Vaters teil. Neue Dokumente und die Aussagen einiger Teilnehmer machen uns dies möglich.
Es sind entscheidende Momente im Kampf zwischen dem Papst und den Händlern, die sich im Tempel mittlerweile häuslich eingerichtet haben. Ein Kampf, der die zweite Hälfte des Pontifikats von Benedikt XVI. geprägt hat. Über allem schwebt das unerbittliche Gefühl der Ohnmacht, unter dem der Papst leidet. Er hegt tiefe Sorge um die Zukunft der Kirche, die allzu sehr unter dem Einfluss der Kräfte steht, die den Kirchenstaat nach eigenem Gutdünken verwalten wollen.
Einige Entscheidungen, die Benedikt XVI. getroffen hat, um die Rolle der Kirche in der Welt zu bekräftigen, sollte man im Lichte der nun vorliegenden Erkenntnisse noch einmal näher betrachten. Der Papst hat seine Agenda mit dem Kampf gegen Kindesmissbrauch begonnen und damit die Diözesen auch finanziell belastet, vor allem in Irland und in den Vereinigten Staaten. Gleichzeitig war ihm klar, dass er auch ein anderes entscheidendes Thema angehen musste, das Thema Geld und insbesondere das Verhältnis der Geistlichen und der Kurie zum Geld. Ein äußerst umstrittenes Thema, denn Geld ist unerlässlich, verdirbt aber den Charakter. Eigentlich sollte es Mittel zum Zweck sein, wird aber zuweilen zum Selbstzweck. Das Problem liegt also stets bei denen, die mit dem Geld umgehen: die also den Heiligen Stuhl in dessen eigenem Auftrag verwalten.
Gerade von dieser Front her rühren denn auch die stärksten Erschütterungen, deren destabilisierende Wirkung für den Amtsverzicht vom 11. Februar 2013 ausschlaggebend sein sollte. Doch zunächst müssen wir die Entstehungsgeschichte dieser Auseinandersetzung im Vatikan näher betrachten. Andernfalls lassen sich weder die letzten Schritte Benedikts XVI. noch die anschließende Wahl Bergoglios zum Papst verstehen. Vor allem aber lässt sich nur so beurteilen, wie groß die Chancen für Franziskus heute sind, diese Herausforderung erfolgreich zu bewältigen. Denn wie sich noch herausstellen wird, besteht eine überraschende Kontinuität zwischen den beiden Pontifikaten. Ohne die mutige, aufreibende Vorbereitung durch Benedikt XVI. besonders in den letzten, dramatischen Monaten am Ruder des Schiffs der Kirche hätte Bergoglio im März 2013 im Konklave niemals eine Mehrheit gefunden. Alles beginnt im Sommer 2009, kurz vor dem Gespräch Bertones mit Gotti Tedeschi, als sich die Ereignisse überschlagen.
Wortlos, aber rot vor Zorn kommt Tarcisio Bertone aus dem Arbeitszimmer Benedikts XVI. Mit einem flüchtigen Gruß im Sekretariat verlässt er die päpstlichen Gemächer im ersten Stock des Apostolischen Palasts. Gewöhnlich achtet der Kardinal darauf, die Tür hinter sich zuzuziehen, wenn er zum Heiligen Vater bestellt wird, damit niemand lauschen kann. Doch dieses eine Mal bleibt die Tür während des gesamten Gesprächs nur angelehnt. Die Unachtsamkeit des Kardinalstaatssekretärs macht es möglich, hier den Inhalt des Gesprächs wiederzugeben. Der ausgeprägte, raue deutsche Akzent, die betont langsame Redeweise und der feste Blick Benedikts XVI. unterstreichen seine Entschlossenheit. Noch nie war der Papst derart deutlich. Zweimal betont er Bertone gegenüber das Adjektiv ›mustergültig‹: Er will, dass sein Gegenüber endlich begreift, welche Richtung die Finanzverwaltung im Vatikan einschlagen soll. »Damit die Leute uns Gehör schenken« – dies der Sinn von Benedikts Mahnung – »müssen wir uns mustergültig verhalten. Mustergültig gegenüber den anderen, der internationalen Finanzwelt. Wenn alle Länder sich an die Transparenzregeln zu halten haben, müssen wir unsere Regeln ändern, damit uns niemand angreifen kann.«
Der Papst bezieht sich auf die weltweite Entwicklung nach dem Attentat vom 11. September 2001 auf die Twin Towers in New York. Die Ermittlungen zu den Finanzströmen Al-Qaidas veranlassten die meisten westlichen Länder, strenge Regeln zur Transparenz von Banken zu erlassen und Steueroasen unter Druck zu setzen. Der Papst ist ungehalten, weil man beim IOR nicht genug getan hat, um die Schattenseiten aufzuhellen, und man es fahrlässig versäumt hat, die von den internationalen Organisationen seit Jahren angemahnten Anpassungen vorzunehmen. Mit den neuen Rechnungslegungsregeln soll die Geldwäsche bekämpft werden, um die Geldflüsse zu stoppen, über die sich Drogenhandel oder internationaler Terrorismus finanzieren. Auch wenn Benedikt XVI. dies nicht explizit ausspricht, richtet sich die Vorhaltung gegen die Verwaltung des kleinen Staates. Der Papst unterstreicht nicht zum ersten Mal, dass man sich in der Kurie mit der Umsetzung seiner Anweisungen zu viel Zeit lässt. Alles wird auf die lange Bank geschoben, wodurch jeder neue Ansatz einen Teil seiner Wirkkraft einbüßt. Der bürokratische Apparat behält seine alten Gepflogenheiten bei: Auf jeden Schritt nach vorn folgen unweigerlich zwei Schritte zurück.
Damit soll jetzt Schluss sein. Die nachdrückliche Mahnung Benedikts XVI. lässt keinen weiteren Aufschub zu. Er verlangt von Bertone klare und sofortige Maßnahmen. Nun ist der Kardinal am Zug. Er soll die soeben erhaltene Mahnung in die Tat umsetzen und damit zeigen, dass er die Anweisungen des Heiligen Vaters getreu zu befolgen weiß. So reift im Staatssekretariat die Idee heran, Angelo Caloia, den Nachfolger von Marcinkus im Amt des IOR-Präsidenten zu ersetzen. Mit Caloias Abgang würden nämlich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Zum einen würde das innerhalb wie außerhalb des Vatikans als klares Zeichen eines Kurswechsels empfunden, zum anderen würde damit ein inzwischen unerwünschter hoher Beamter seines Amtes enthoben. Warum ausgerechnet der Präsident des IOR? Weil er das schwächste Glied ist. Der Manager aus der Lombardei ist ein Laie, das macht ihn im Vergleich zu seinem Vorgänger Marcinkus ›angreifbarer‹. Außerdem gehört Caloia inzwischen zur alten Garde, zu den Leitern, die noch als Ausdruck des Pontifikats von Johannes Paul II. gelten. Ein Machtbereich, der von Bertone nach und nach in die Minderheit abgedrängt wurde. Denn Tag um Tag hatte der Kardinalstaatssekretär die eigenen Gefolgsleute begünstigt und eine große Machtfülle in den Dikasterien und Kongregationen angehäuft. Damit hatten sich in den Jahren zuvor die Gleichgewichte innerhalb der Kurie verschoben. Caloia konnte auf immer weniger Schutzheilige zählen. Bertone mochte ihn nie besonders. Er warf ihm unter anderem eine allzu große Nähe zu Giovanni Bazoli vor, einem Bankier und Widersacher jenes Cesare Geronzi, dem der Kardinalstaatssekretär seinerseits schon lange nahestand.[2] Dabei ist ein weiterer skandalträchtiger Aspekt nicht außer Acht zu lassen. Über Caloia brauten sich damals nämlich schon dunkle Wolken aus Zweifeln und Verdächtigungen hinsichtlich mehrerer Immobilienverkäufe des IOR zusammen, die angeblich zu Gefälligkeitspreisen veräußert worden waren. Eine Vermutung, die damals gerade erst aufkeimte – erst im Herbst 2015 kam sie im Rahmen einer internen Untersuchung wegen Veruntreuung ans Licht (die Ende 2017 noch nicht abgeschlossen war)[3] –, aber bereits als Argument gegen diejenigen ins Feld geführt wurde, die den Präsidenten im Amt halten wollten.
Der Vorwand für die Absetzung Caloias erreicht nach Ansicht ausländischer Beobachter wie Philip Willan vom »Guardian« und des amerikanischen Schriftstellers und Journalisten Gerald Posner[4] durch das Erscheinen meines Buches Vatikan AG im Mai 2009 zusätzlichen Auftrieb. Anhand zahlreicher unveröffentlichter und vertraulicher Dokumente hatte ich darin belegt, wie der Präsident des IOR die Erben Marcinkus’ ertragen hatte, die es schafften, zahlreiche illegale Transaktionen durchzuführen. Während in Italien Anfang der 1990er-Jahre der Tangentopoli-Skandal aufflog, geschahen in der Bank des Papstes zu viele Dinge ohne Wissen des Präsidenten.
Während der zwanzig Jahre seines Vorsitzes war Caloias Eigenständigkeit immer mehr zusammengeschmolzen.[5] Es kam zu einer Gewichtsverschiebung hin zum Generaldirektor der Bank, Paolo Cipriani. In der Geometrie des vatikanischen Finanzsystems kam dem Generaldirektor schon seit geraumer Zeit eine erhebliche Bedeutung zu. Den Vorgänger Ciprianis, Commendatore Lelio Scaletti, hatte das katholische Wochenblatt »Famiglia Cristiana« sogar als ›Legende‹ bezeichnet.[6] Eine Persönlichkeit, um die sich zahlreiche Mythen rankten, und an die sich viele noch erinnerten. Scaletti war 1947 als einfacher Angestellter[7] zum IOR gekommen und bildete gewissermaßen das historische Gedächtnis der Bank. Vom frühen Morgen an durchstreifte er die Büros und überprüfte Transaktionen und Investitionen. Er trug stets ein wichtiges Notizbuch in der Tasche, das Namen, Nummern und Kongruenzen der vertraulichsten Konten verzeichnete, die das Rückgrat der vatikanischen Bank bildeten. »Wenn ich auspacke«, mahnte er zuweilen, »bricht in Italien alles zusammen.« Er behielt seine Spitzenposition bis zum Oktober 2007, als er mit über achtzig Jahren die absolute Altersgrenze erreicht hatte und in Rente ging.[8] »Bei all seinem Geheimwissen«, scherzte man unter den Prälaten, »ist es schon beachtlich, dass er das IOR lebend und nicht mit den Füßen voran verlassen hat.«
Doch wer konnte an seine Stelle treten? Wer gab die Gewähr für absolutes Stillschweigen, Diskretion und Vertrauenswürdigkeit? »Es war nicht einfach, ein solches Erbe [von Scaletti, A.d.A.] anzutreten«, schrieb »Famiglia Cristiana«, »und eine derartige Persönlichkeit zu ersetzen, die über die Jahrzehnte das Vertrauen nicht nur seiner Vorgesetzten, sondern auch von Kardinälen wie Tardini, Samorè, Casaroli, Sodano und Ratzinger gewonnen hatte«.[9] So wurde Cipriani zum Vorzugskandidaten: Er hatte bei Scaletti gelernt, genoss den Rückhalt von Geronzi, war ein fähiger Manager mit besten internationalen Erfahrungen in New York, London und vor allem in Luxemburg, wo er für den IOR als Broker tätig war, der Kirche sehr ergeben, kurzum: der richtige Mann für diesen Posten. So wurde Cipriani zu einer Führungskraft in strategisch höchstwichtiger Funktion, die das volle Vertrauen des Staatssekretariats genoss und über die vielen Operationen und die zahlreichen Kunden, die Tag für Tag in der Bank vorsprachen, bestens Bescheid wusste.
Caloia hat es natürlich versucht. Seit der Wahl Benedikts XVI. im April 2005 probierte Marcinkus’ Nachfolger das eine und das andere in Richtung Transparenz, ohne allerdings vorzeigbare Ergebnisse zu erzielen. Alle Bemühungen, von außen auf die Einführung von Regeln zur Bekämpfung der Geldwäsche zu drängen, liefen unweigerlich ins Leere. Das IOR sollte weiterhin als Offshore-Bank bestehen bleiben. Caloias Versuch etwa, die Bank durch Datenverarbeitungstechnik zu modernisieren[10], brachte nur magere Ergebnisse, und die Verwaltungsprozesse waren dadurch nicht transparenter geworden. Es ist paradox, dass ausgerechnet dieses Manko an Transparenz zum offiziellen Grund für Caloias Absetzung werden sollte. Dabei hatte gerade die vatikanische Hierarchie von Transparenz nichts wissen wollen. Von Freyberg hat das in seiner Erklärung vor Papst Franziskus deutlich gemacht. Eine höhnische Begründung somit.
Im Juli 2009 bemühte sich Bertone, rasch einen geeigneten Nachfolger zu finden. Er stieß auf eine gewisse Zustimmung für Ettore Gotti Tedeschi, einen Bankier, der dem Opus Dei nahestand. Das Opus Dei wird im Vatikan quer durch alle Fraktionen geschätzt. Viele in der Kurie kannten Gotti Tedeschi bereits. Der konservative Katholik, verheiratet und Vater von fünf Kindern, war Präsident der spanischen Santander-Bank für Italien und stand in persönlicher Beziehung zu Benedikt XVI. Er hat das passende Profil, um den vatikanischen Finanzen zu einer größeren ethischen Ausrichtung zu verhelfen. Der Professor hat die Porta Sant’Anna des Vatikans schon öfter durchschritten. Er kannte Ratzinger bereits, als dieser noch Kardinal und Präfekt der Glaubenskongregation war. Er hatte sich mehrmals mit dem Papst getroffen und war mit ihm einer Meinung, was die Sicht auf die Wirtschaft, die Kritik an der Globalisierung und die Notwendigkeit einer größeren Transparenz im Umgang mit Geld anging.
Die Gespräche zwischen den beiden veranlassten Benedikt XVI. 2007, erstmals als Papst, nach dem Bankier zu verlangen und ihn um Mithilfe bei der Ausarbeitung der Enzyklika Caritas in veritate zu bitten. Der Papst greift darin die Macht jener Finanzwelt an, die nur auf den Profit aus ist und eine extreme Ungleichheit fördert, die durch die Wirtschaftskrise in den reichsten Volkswirtschaften noch verstärkt wird.[11] Der Text erschien im Juni 2009, als sich der Plan für eine Aufräumaktion beim IOR bereits abzeichnete. Nun spricht sich bereits herum, dass Ratzingers Mitarbeiter als der richtige Mann für den Vorsitz der Bank gilt.[12]
Für Benedikt XVI. sind Geld und Finanzen ein Instrument zur Evangelisierung der Welt, um der Kirche zu helfen, ihre Aufgaben zu erfüllen. Auf Grundlage dieser Positionen wird die Bindung zu dem Bankier noch stärker. Gotti Tedeschi stellt der Kurie seine qualifizierten Kompetenzen in Finanzangelegenheiten zur Verfügung. Sie sind unerlässlich für die Bewältigung von Ausnahmesituationen, wie sie zu jener Zeit die Bilanzen des Heiligen Stuhls erschüttern. Nach einem Aktivsaldo von 3,1 Millionen in 2006 endet das Geschäftsjahr 2007 mit einem Passivsaldo von 13,5 Millionen, das im Folgejahr 2008 auf 15 Millionen ansteigt.
Es ist nicht das erste Mal, dass Gotti Tedeschi sich mit den Finanzen des Vatikans zu befassen hat. Abgesehen von seiner Mitarbeit an der Formulierung der Enzyklika war der Professor bereits 2007–2008 Mitglied eines ad hoc[13] einberufenen Gremiums gewesen, das die Rechnungslegung des Governatorats überprüfen, Defizite bereinigen und weitere finanzielle Angelegenheiten rationalisieren sollte. Das Governatorat ist praktisch die Regierung des kleinen Staates Vatikanstadt, es hat die ordentliche und außerordentliche Verwaltung zu gewährleisten sowie Einnahmen und Ausgaben zu beaufsichtigen. Bis zu jenem Zeitpunkt hatten die Einnahmen (aus den Vatikanischen Museen, dem Verkauf von Münzen und Briefmarken) die Ausgaben (Personal, Instandhaltung und Beschaffung) ausgeglichen. Aber nun hatten sich Risse im System aufgetan. Gotti Tedeschi konzentriert sich insbesondere auf die Restrukturierung zweier Investmentfonds, die erhebliche Verluste angehäuft haben: jenen des Governatorats und den Fonds Paul VI., die jeweils ein Portfolio von ca. 200 Millionen verwalteten. Die Verluste waren unter dem neuen Präsidenten des Governatorats Kardinal Giovanni Lajolo ans Licht gekommen, der plötzlich große Löcher in seinem Haushalt vorfand.[14]
Die folgende Umgestaltung der Bilanzen des Governatorats stellt eine Pionierleistung dar, die noch dem Pontifikat Franziskus’ zugutekommen wird. Um eine konkrete Kostensenkung zu erreichen, gibt Benedikt XVI. sein Einverständnis zur Empfehlung Gotti Tedeschis, die umfassende Überprüfung der Ausgaben der vatikanischen Behörde den Beratern von McKinsey anzuvertrauen. Gewiss, sie leisten ihre Arbeit kostenlos, aber der Eintritt externer Fachleute im Herbst 2008 kann durchaus als Vorbote der Linie betrachtet werden, die auch im anschließenden Pontifikat befolgt werden sollte. 2013 genehmigte Papst Franziskus Beraterverträge über Millionen Euro, um die Kurie zu modernisieren, wobei er diese Aufgaben den internationalen Branchenriesen überließ (KPMG, Ernst & Young und Deloitte), die Dutzende von Experten in den Vatikan schickten. Unter Paul VI. oder Johannes Paul II. wäre das undenkbar gewesen.
In derselben Zeit stellt sich auch das Problem der Kosten für die Medien des Heiligen Stuhls. Die Fernsehsender, Radiostationen und Zeitungen generierten erhebliche Verluste, 20 bis 30 Millionen jährlich, die das Governatorat zu tragen hatte. Lajolo hatte sich bei Bertone beschwert, da er einen derart starken Aderlass nicht länger hinnehmen wollte. Diese Kosten machten immerhin 10 bis 15 Prozent des Haushalts seines Dikasteriums aus.
Man versucht deshalb, den Haushalt zu sanieren und besser zu strukturieren: durch Kostensenkungen, Einnahmensteigerung und effizienteres Finanzgebaren mithilfe eines Komitees aus vier Bankiers, darunter Gotti Tedeschi. Es folgen Sitzungen, Besprechungen, die Ausarbeitung von Strategieplänen, um Schnitte vorzunehmen, wo dies machbar ist, und die Verluste einzudämmen. Alle zwei Wochen tritt der Ausschuss dieser Laienberater zusammen und tauscht sich mit Lajolo aus, ebenfalls mit dem verlässlichen Erzbischof Renato Boccardo, dem Sekretär des Kardinals, der dann durch Bischof Carlo Maria Viganò ersetzt wurde. Die Mannschaft von McKinsey unter der Führung von Vittorio Terzi aus Mailand, die sich hingegen auf Auftragsvergaben konzentriert, stößt auf Unregelmäßigkeiten bei Werksverträgen sowie auf ungewöhnliche Steigerungen der Marktpreise von bis zu 300 Prozent bei Ausschreibungen.
Gut acht Jahre nach dem Attentat auf die Twin Towers und seit Beginn des Kampfs gegen Terrorismus und Steueroasen bleibt das IOR die einzige Offshore-Bank Europas. Zumindest auf der formellen Ebene hatten sich damals mehrere Länder den neuen gesetzlichen Vorgaben angepasst: Luxemburg ebenso wie San Marino, Monaco oder Liechtenstein. Auch die Schweiz führte die Anpassung an die neuen Transparenzvorgaben durch. In den beiden Körperschaften des Vatikans, die am meisten mit Geld zu tun haben, also der Güterverwaltung des Heiligen Stuhls (APSA) und der Vatikanbank IOR, ist alles auf dem Stand von 2001 geblieben. Als wäre nichts geschehen, als hätte der 11. September nicht einen tiefen Einschnitt bedeutet. Das IOR nutzt weiterhin einen eingespielten Mechanismus: Obwohl die Bank des Papstes nur über einen einzigen Standort verfügt, nämlich den Vatikan, agiert sie über ein sehr dichtes Netz aus Hunderten von Giro-, Durchgangs- und Depotkonten, auf die sie festen Zugriff hat. Diese Konten befinden sich seit den Zeiten von Marcinkus und Sindona bei schweizerischen, luxemburgischen, französischen und deutschen Banken. Von hier aus gehen Überweisungen ab oder kommen an, deren tatsächliche Nutznießer im Verborgenen bleiben, da sie als Transaktionen zwischen den Konten ein und derselben Bank betrachtet werden: alles unter dem Deckmantel des IOR. Innerhalb der Bank kennen nur zwei Personen die echte Identität derer, die hinter diesem Schutzschirm die Gelder hin- und herschieben: der Direktor und dessen Stellvertreter. Dieses System garantiert absolute Anonymität. Deshalb zieht es das schmutzigste Geld der Welt an und eignet sich für die schlimmsten Geldwäscheoperationen.
Für das weltweite Kreditgeschäft ist dieser Zustand nicht länger tragbar. Es muss sich etwas ändern, und zwar schnell.[15] Im September 2009 trifft Gotti Tedeschi seine Entscheidung und nimmt das Amt an. Ende Oktober richtet er sich in seinem neuen Büro ein.[16] Die Räume von Präsidentschaft, Sekretariat und Vorraum sind zwar anders angeordnet als zu Zeiten Marcinkus’, aber die geheimnisvolle Aura ist dieselbe geblieben und wirkt so beunruhigend wie eh und je. Deshalb entschließt sich der Professor, im neuen Amt von Beginn an den Rat seines einflussreichen und gut informierten Freundes zu befolgen und sich niemals nach der Identität der Konteninhaber zu erkundigen. Er wird wohl zu der Überzeugung gelangt sein, dass dies gar nicht erforderlich ist. Benedikt XVI. persönlich hat ihn aufgefordert, einen Schlussstrich unter jene dunkle Zeit zu setzen. Ihm obliegt die Aufgabe, die vatikanischen Finanzen für die Zukunft neu aufzustellen. Er sollte sich vor allem um die Grundsätze kümmern. Der Papst sollte ihm dabei den Rücken freihalten, ihm die Stolpersteine aus dem Weg räumen, Widerstände beseitigen und die Mission beschleunigen, die Bank auf einen vorbildlichen Weg zu führen, sodass sie mit den Kreditinstituten der westlichen Länder gleichziehen konnte. So wird Gotti Tedeschi sich das gedacht haben. Die Lage erweist sich aber als verdammt kompliziert, viel undurchsichtiger als erwartet. Der sicherlich unerlässliche Rückhalt durch den Papst ist nicht ausreichend. Es ist alles viel zu sehr kompromittiert. Das alteingesessene, gut verankerte System lässt sich nicht so einfach ausmerzen.
Anfangs ist überhaupt nicht zu erahnen, welche Kämpfe wenige Monate später ausbrechen werden. Die Tätigkeiten außerhalb der Kontrolle des IOR werden das ganze Jahr 2010 über fortgesetzt. Die Eckpunkte der Roadmap für den Wandel werden erst nach und nach abgesteckt und verfeinert. Prälat Gänswein verfolgt diese Arbeit persönlich im Auftrag Benedikts XVI. Zwei Prioritäten werden festgelegt: ein Gesetz zu verabschieden, das die Risiken hinsichtlich der Provenienz der verschobenen Gelder und die diesbezüglichen Verfahrensvorschriften regelt, und ein Gremium zu schaffen, das die Anwendung dieses Gesetzes überwacht.
Das sieht nach einer grundlegenden und leicht umzusetzenden Entscheidung aus, aber die Kurie reagiert nicht, wie sie soll. Viele, die über keine zeitgemäße Finanzkultur verfügen, halten sie für eine entbehrliche Umstellung, mit der man sich Zeit lassen kann. Andere, die ihre Macht kompromittiert sehen, betrachten sie als gefährliche Neuerung, die zu wer weiß welchem Unbill führen werde. Woche um Woche vergeht, und der vom Papst ersehnte Frühling des Finanzwesens spaltet die kleine Welt immer stärker. Es gibt aber auch Unterstützer. Rund um Benedikt XVI. formiert sich eine Gruppe vor allem deutscher, österreichischer und amerikanischer Kardinäle, die jedoch außerhalb der vatikanischen Mauern wohnen und daher nicht überblicken können, was hier geschieht. In der Kurie selbst findet der Vorstand des IOR nur wenige Anhänger (Attilio Nicora, ein paar Diplomaten und eine Handvoll einflussreicher Bischöfe wie Giorgio Corbellini und Gänswein selbst), denen eine mächtige Achse gegenübersteht: das Staatssekretariat, die Männer Bertones und Machtgruppen wie die Kolumbusritter, eine der einflussreichsten gemeinnützigen Organisationen der Welt.
Jeder Schritt dieser Reform soll behindert und verzögert werden. Jede Veränderung untergraben. Jeder, der sich auf die Seite Benedikts XVI. stellt, soll isoliert, ausgegrenzt und zuweilen sogar diskreditiert werden. Es ist eine Kraft am Werk, die zu verhindern versucht, dass das IOR sich der übrigen westlichen Welt anpasst und auf das Privileg der Geheimhaltung verzichtet, die denen so am Herzen liegt, die etwas zu verbergen haben.
Als klar wird, dass der Papst es ernst meint und zahlreiche fähige Fachleute anheuert und renommierte Gesellschaften engagiert, beginnt sich in der geschützten Ruhe der vatikanischen Paläste Unzufriedenheit zu regen. Im Sommer 2010 tritt Professor Marcello Condemi durch die Porta Sant’Anna, einer der größten Experten für Regeln gegen die Geldwäsche in Europa, nebenbei ein angesehener Berater der italienischen Notenbank Banca d’Italia.[17] Er hat ein klares Mandat: den »Rechts- und Verwaltungsrahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche in den Rechtsordnungen des Vatikans auszuarbeiten, um sie mit den auf internationaler Ebene geltenden Grundsätzen und Standards gegen die Geldwäsche in Einklang zu bringen«, wie er in seinem Lebenslauf schreibt. Begleitet wird er von Rechtsanwalt Francesco De Pasquale, ebenfalls ein anerkannter und geschätzter Fachmann auf dem Gebiet der illegalen Finanzpraktiken.[18]
Für die Ausarbeitung der Verfahrensanweisungen wird hingegen die große Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte engagiert. Es sieht endlich danach aus, als könnte sich der Wandel durchsetzen. Monatelang arbeitet dieses gemischte Team aus Fachleuten unablässig an seinen Aufgaben. Deloitte legt einen höchst geheimen Bericht vor, der verschiedene Schwachstellen in den noch geltenden Vorschriften bezeichnet und bewertet: die Gefahr unzulässiger Geldverschiebungen ist chronisch, der Mangel an Transparenz offensichtlich, die Unterschlagung von Beträgen seitens des Personals möglich, bei Transaktionen ist es üblich, die Beteiligten nicht anzugeben. Alles in allem eine lange Liste stets unterschätzter Gefahren.
Der September 2010 bringt zwei sehr schlechte Nachrichten. Die Banca d’Italia verschickt an alle Kreditinstitute im Land einen Rundbrief und fordert sie auf, jeden Vorgang, der das IOR zum Gegenpart hat, sorgfältig zu prüfen und verdächtige Fälle zu melden. Aus einer solchen Meldung, die wenige Monate zuvor abgesetzt worden war, entwickeln sich gerade Ermittlungen der römischen Staatsanwaltschaft wegen Geldwäsche. Es geht dabei um den Transfer von 23 Millionen Euro von einem Konto, das die vatikanische Bank beim Credito Artigiano eröffnet hatte, auf Depots bei der Bank J. P. Morgan in Frankfurt.
Eigentlich ein klassischer Vorgang nach dem zuvor beschriebenen und beim IOR gängigen Muster. Doch diesmal ist etwas schiefgelaufen. Und zwar für immer. Ein neuer Sachverhalt ist eingetreten: Ein Kreditinstitut, das mit dem IOR zusammenarbeitet (in diesem Fall der Credito Artigiano) hat an die Banca d’Italia eine Meldung geschickt, und diese hat die Akte an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Die Staatsanwaltschaft hat ein Verfahren eröffnet und damit ein ungewöhnlich starkes Signal über den Tiber gesendet. Die Ermittlungen richten sich gegen Gotti Tedeschi, den Direktor Cipriani und dessen Stellvertreter, Massimo Tulli. Der Präsident schafft es, den Nachweis zu führen, dass er von dem Vorgang nichts wusste, sodass er auf Antrag der Staatsanwaltschaft freigesprochen wird. Der ein Jahr zuvor erhaltene Rat, sich nicht für die Inhaber der Konten und die Auftraggeber der Transaktionen zu interessieren, erweist sich als prophetisch und rettet ihn. Die anderen leitenden Angestellten werden im Prozess zu geringen Strafen verurteilt oder treten mit der Wahl von Franziskus zum neuen Papst von der Bühne ab. Eine der ersten Maßnahmen des neuen Papstes besteht darin, wenig vorzeigbare Gestalten und solche wie Cipriani, gegen die ermittelt wird, aus dem Blickfeld zu nehmen und ihrer Ämter zu entheben. Die alte Garde muss zurücktreten. Am 1. Juli 2013 stellen Cipriani und Tulli ihre Ämter zur Verfügung. Im November desselben Jahres wird Rolando Marranci zum neuen Direktor ernannt. Doch der Frühling im Finanzwesen ist weit davon entfernt, seine Ziele erreicht zu haben.
In jenen Tagen gegen Ende des Jahres 2010 zeigt sich Benedikt XVI. mit ziemlich finsterer Miene. Diese Nachrichten und die Reaktion der Medien beunruhigen ihn. Der Heilige Stuhl läuft Gefahr, dramatische Entwicklungen der Vergangenheit wiederaufleben zu sehen. Die hier gesammelten Zeugnisse und Aussagen lassen auch Folgendes erkennen: Papst Ratzinger weist seine engsten Vertrauten an, den Gerichtsbehörden weitgehende Unterstützung zukommen zu lassen. Mehrfach lässt er im Gespräch mit seinem Assistenten durchblicken, dass die Zeiten der harten Konfrontation vorbei sind. Einer seiner Aussprüche findet den Weg aus den päpstlichen Gemächern und spricht sich in der Kurie herum: »Wir haben nichts zu verbergen, und wir verbergen auch nichts.«
Am 30. Dezember 2010 wird die Entschlossenheit des Kirchenhirten für jedermann erkennbar: Mit einem apostolischen Schreiben in der Form des Motu proprio richtet Benedikt XVI. die Vatikanische Finanzinformationsbehörde (AIF) ein. Das Gremium soll die Aufsicht über alle Dikasterien und Ämter des Heiligen Stuhls und der römischen Kurie führen. Gleichzeitig erlässt er vier Gesetze gegen Geldwäsche für die Vatikanstadt, die am 1. April 2011 in Kraft treten sollen. Das neue Regelwerk ist recht eindeutig: Girokonten dürfen nur auf Geistliche oder auf religiöse Körperschaften ausgestellt werden. Für jedes Depot darf es nur einen Zeichnungsberechtigten geben. Wenn ausländische Gerichte oder Finanzbehörden entsprechende Anträge stellen, soll das AIF Ermittlungen aufnehmen. In den Räumen der Gendarmerie, der Kaserne der vatikanischen Polizei, sind die Bauarbeiten in vollem Gang. Die Arbeiter ziehen neue Mauern hoch, um eine Gefängniszelle zu errichten, die bei Bedarf bereitsteht. Strafprozess und Sanktionen, Geldstrafen von bis zu zwei Millionen Euro für entsprechende Vergehen. »Wir müssen mit der Geheimniskrämerei aufhören«, stellt Benedikt XVI. im päpstlichen Appartement im Gespräch mit Universitätsdozenten fest, »denn Geheimnisse machen verdächtig, Vertraulichkeit wird dagegen von jedermann verstanden und gewahrt.« Eine deutliche Aussage des Papstes: Vertraulichkeit ist ein legitimes Vorrecht des Staates, Geheimnisse hingegen sind unakzeptabel.
Doch die Konflikte lauern hinter vielen Ecken. Einer, von dem man bisher nichts wusste, betrifft die Ernennung des Präsidenten der AIF. Um die volle Kontrolle zu erhalten, möchte Bertone den Posten mit einem Laien seines Vertrauens besetzen. Sollte ihm dies gelingen, wäre es allerdings ein sehr schlechtes Signal für die Kurie. Glaubwürdiger wäre ein allseits geachteter, erfahrener Kardinal. Ein Laie würde schnell in eine Minderheitenposition geraten, wäre den Klagen des einen oder anderen Prälaten ausgesetzt und könnte davon erdrückt werden. Dennoch drängt Bertone in diese Richtung, stößt aber auf die Ablehnung Gänsweins. Der Sekretär hält mit Unterstützung der Gruppe um Condemi Benedikt XVI. stets auf dem Laufenden. Schließlich behält er die Oberhand. Ende Januar 2011 wird der Kardinal Attilio Nicora zum Präsidenten der AIF bestimmt und Francesco De Pasquale zu dessen Generaldirektor. Nicora verfügt über eine Ausbildung in Wirtschaftsfragen, umfassende Kenntnisse der vatikanischen Finanzen und ihrer Schwachstellen und pflegt beste Beziehungen zur italienischen Politik.[19] Bertone gibt sich allerdings nicht geschlagen und versucht, ihm Steine in den Weg zu legen. Um das Wirken des neu ernannten Kardinals zu behindern, setzt sich der bürokratische Apparat des Heiligen Stuhls in Bewegung und versucht, die Einberufung des Gremiums zu verzögern, das die Ernennung bestätigen soll. Auf diese Weise kann die neue Behörde ihre Arbeit erst verspätet aufnehmen.
Von einem Gesetz gegen Geldwäsche möchte man erwarten, dass es nach der Verabschiedung nur noch umzusetzen und dafür Sorge zu tragen ist, dass es eingehalten wird. Das sieht nach einer einfachen Aufgabe aus, vor allem im kleinsten Staat der Welt, einer Theokratie, in der der Papst die höchste Autorität darstellt. Dem ist aber nicht so. In dieser absoluten Monarchie scheint sich alles ins Gegenteil zu verkehren. Gewiss, wenn der Papst seine Unterschrift unter ein Blatt Papier setzt, wird, was er geschrieben hat, augenblicklich Gesetz, wobei die typischen Schwerfälligkeiten demokratischer Systeme wie durch Zauberhand übersprungen werden. Doch dann wird das Gesetz nicht angewendet. Es fehlen die Durchführungsbestimmungen, vielleicht ist ein Stempel nicht entzifferbar, eine Unterschrift ist womöglich nicht ausgeschrieben, ein Kopiergerät tut seinen Dienst nicht, die Post wird verspätet zugestellt, einzelne Punkte werden zum Vorwand genommen und unterschiedlich ausgelegt. Das Papier trägt zwar die Unterschrift des Papstes, aber es bleibt alles beim Alten. Alles endet auf dem Abstellgleis der Gleichgültigkeit und lässt den Zug der Reform entgleisen. Ob Benedikt XVI. oder Franziskus das Sagen hat, macht dabei keinen großen Unterschied.
Condemi und Kardinal Nicora bleiben nun drei Monate Zeit, um die AIF aufzubauen, die ab April über die Anwendung der neuen Gesetze wachen soll. Es werden Büros eingerichtet und die wenigen Stellen besetzt. Dank seiner langjährigen Erfahrung verfügt Nicora über eine tiefgehende Kenntnis der dunklen Ecken im vatikanischen Finanzwesen. Er weiß, wo er prüfen und wonach er fragen soll. Kaum fängt er an, die Verfahrensanweisungen umzusetzen, werden Zäune, Schranken und Mauern hochgezogen. Erste Konflikte mit den Funktionsträgern, die die Konten führen und auf den Finanzmärkten aktiv sind, bahnen sich an. Sie sind ganz und gar nicht gewillt, sich von diesem neuen Gremium überwachen zu lassen. Sie haben sich gut eingerichtet in der Gewohnheit, letztlich nur dem Referenzkardinal oder bestenfalls dem Kardinalstaatssekretär Rede und Antwort zu stehen. In einer Verwaltung, in der die einzelnen Bereiche nicht miteinander kommunizieren. Zwangsläufig arbeitet man gegeneinander, weitab von jeder Beobachtung durch die Medien. Es kommt zu einer Schlacht, die sich jetzt erst in ihrer Gesamtheit nachzeichnen lässt. Nicora bemüht sich um Konsens. Er stärkt seine Position, indem er neben Condemi als seinem Stellvertreter weitere gewichtige Persönlichkeiten aus der vatikanischen Nomenklatura in den Rat der AIF aufnimmt. Darunter den Juristen Giuseppe Dalla Torre del Tempio di Sanguinetto, den Gerichtspräsidenten des Staates Vatikanstadt. Die AIF klopft nun an die Türen der verschiedenen Dikasterien: APSA, Propaganda Fide, bis hin zu beinahe unbekannten Stiftungen. Es beginnen zügige Unterredungen mit verschiedenen Instanzen, die nachweisen sollen, dass sie die neuen Transparenzverfahren anwenden. Soweit sich dies ergründen lässt, stellt sich zunächst die APSA unter dem aus Ligurien stammenden Kardinal Domenico Calcagno quer, aber ebenso die Leitung des IOR, deren Chefs Tulli und Cipriani eng mit Bertone verbunden waren und gegen die damals ermittelt wurde. Im IOR wartet übrigens ein Berg von Arbeit. Das Gesetz legt fest, dass jeder Inhaber eines Kontos identifiziert werden muss. Das erweist sich als verdammt schwierig, denn es tauchen Kürzel, Stiftungen, Decknamen, mögliche Strohmänner auf. Beim Kardinalstaatssekretär laufen die tagtäglichen Klagen der Leiter der verschiedenen Wirtschaftsdikasterien zusammen. Die AIF beharrt weiter auf ihrer Aufgabe und verlangt nach Daten, heiklen Informationen, detaillierten Angaben zu einzelnen Vorgängen. Die Spannungen nehmen zu.
Im November 2011 kommen die Inspekteure von Moneyval in den Vatikan. Diese europäische Behörde hat die Aufgabe, zu überprüfen, welche Schritte unternommen wurden, um in die White List des internationalen Finanzwesens aufgenommen werden zu können. Das Dutzend Fachleute, die in jenen Tagen im Gästehaus Santa Marta untergebracht werden, befragen etliche Leiter der verschiedenen Wirtschaftsdikasterien, analysieren Gesetzestexte, prüfen Verfahrensanweisungen und die verwendeten Prüfmechanismen. Nach Abschluss der Arbeiten beendet Moneyval die Inspektion Ende November mit einer vertraulichen Besprechung in der AIF. Dabei wird ein mehrseitiger Bericht verlesen, in dem gewürdigt wird, welche Arbeit in so kurzer Zeit geleistet wurde. Man nennt auch einige Punkte, die noch verbessert werden müssen, bis die Inspekteure im November 2012 erneut in den Vatikan kommen werden. Der Wille zur Umkehr ist also vorhanden und er ist stark: »Wenn unsere Kritikpunkte angenommen«, so das Statement Moneyvals, »und entsprechend umgestaltet werden, werden wir die Schlussprüfung für die Aufnahme in die White List vornehmen.«
Leider war dieser Optimismus fehl am Platz. Der Vatikan verhält sich widersprüchlich. Man nimmt die Komplimente und die Unterstützung von Moneyval gerne entgegen, beherzigt aber die Ratschläge nicht. Auf der einen Seite machen sich Nicora und seine Mannschaft an die Arbeit, um den Mahnungen Folge zu leisten und die Transparenzgebote umzusetzen. Es gibt jedoch auch Leute, die wie Penelope nachts auftrennen, was tagsüber gewoben wurde. In einer geheimen Aktion soll genau das Gegenteil erreicht, die geleistete Arbeit vernichtet und zur Undurchsichtigkeit zurückgekehrt werden. Für diesen regelrechten Handstreich in der Finanzverwaltung des Heiligen Stuhls ist der entscheidende Monat der Dezember 2011. Während Nicora, Condemi und De Pasquale an den Regeln feilen, bemüht sich eine kleine Arbeitsgruppe im Staatssekretariat um einen unglaublichen Auftrag: das Gesetz gegen Geldwäsche genau in die andere als die von Moneyval geforderte Richtung zu ändern. Es soll ein chirurgischer Eingriff an wenigen, aber entscheidenden Artikeln werden, insbesondere jenen, die die Kriterien für Transparenz und den Informationsaustausch festlegen.
Die Initiative schien von Bertone selbst auszugehen, der dabei auf drei Prälaten baute. Einer davon war der Staatssekretär für die Beziehungen mit den Staaten, der aus Genua stammende Ettore Balestrero. Dieser stand in enger Beziehung zu Kardinal Mauro Piacenza, der damals Präfekt der Kongregation für den Klerus war und als möglicher Nachfolger des Kardinalstaatssekretärs galt. Einige Laienmitarbeiter waren auch mit von der Partie.[20]
Sie bereiten einen verhängnisvollen Doppelschlag vor, der alle bisherigen Schritte zunichte zu machen droht. Bald wird die Rolle der AIF vom Staatssekretariat abhängen, so dass das Gremium über recht wenig Eigenständigkeit verfügen und jeder Anspruch auf Transparenz zwangsläufig eingeschränkt wird.[21]
Der zweite Schachzug ist ähnlich subtil. Wenn eine ausländische Behörde um Informationen ersucht, werden die Verfahrensweisen für die Erteilung dieser Auskünfte komplizierter sein, mehr Zeit in Anspruch nehmen. Eine andere Einrichtung als die AIF soll es in der Hand haben, festzulegen, »was wem wann mitgeteilt wird«. Der AIF soll eine rein operative Rolle ohne jede Entscheidungsbefugnis zukommen. Während Moneyval eine Vorwärtsentwicklung sehen möchte, drehen diese Sabotageaktionen das Rad wieder zurück.
Klammheimlich werden diese Veränderungen ausgetüftelt und dem Gouverneur des Staates Vatikanstadt, Kardinal Giuseppe Bertello, zur Unterschrift vorgelegt. Nicora, Condemi, Gotti Tedeschi und die gesamte Gruppe der AIF werden in Kenntnis gesetzt und sind schockiert. Es handelt sich um eine eindeutige Aushöhlung ihrer Arbeit. Diese Veränderungen bedeuten für den Heiligen Stuhl einen Rückschlag um Jahre. Nicora bittet Bertone um eine Unterredung, aber ohne Erfolg. Dieser spielt auf Zeit, lässt die Tage vergehen und setzt darauf, dass sich die Lage beruhigt. Bertello kehrt nach einem Krankenhausaufenthalt wegen einer Kataraktbehandlung zurück und unterschreibt die Änderungen. Nun wird die Lage für Nicora schwierig. Er erwägt die Möglichkeit einer Besprechung mit Papst Benedikt, um den Heiligen Vater persönlich auf die Vorgänge aufmerksam zu machen. Er fürchtet allerdings die Reaktion des Kardinalstaatssekretärs, der ihn auf seine persönliche Schwarze Liste setzen könnte. Erst mehrere Wochen später ist Bertone zu einer Besprechung mit dem Chef der AIF bereit. Von dieser Besprechung war bisher nichts bekannt, doch nun lässt sie sich rekonstruieren. Nicora bringt Bertone das Dokument mit den neuen Vorschriften und versucht, ihn davon zu überzeugen, wie gefährlich diese Initiative ist. Doch Bertone zeigt sich abweisend und desinteressiert. Nicora versucht, sein Gegenüber argumentativ davon zu überzeugen, den Änderungsantrag zurückzuziehen. Aber vergeblich. Alle Argumente prallen an Bertone ab. Im Gegenteil, der Versuch des AIF-Präsidenten bewirkt eine Gegenreaktion.
Da der Kardinalstaatssekretär nun fürchtet, Nicora könne Druck auf Benedikt XVI. ausüben, beschließt er die neuen Vorschriften sofort zu genehmigen. Dadurch treten sie weitaus früher in Kraft, als dies dem üblichen Vorgehen entspricht. Der Präsident der Aufsichtsbehörde AIF ist bestürzt. Von diesem Augenblick an verfällt dieser anständige Kardinal in eine Art Depression. Man bescheinigt ihm eine Beinkrankheit, die ihn zwingt, seinen Lebensrhythmus zu ändern. Er ist ständig auf Medikamente angewiesen, die ihn schwächen. Zur selben Zeit zeichnet sich auch der endgültige Niedergang des Pontifikats Benedikts XVI. ab. Die Abänderung dieses Gesetzes zeigt, dass der Papst inzwischen außen vor ist. Er hat nichts gegen den Handstreich unternommen, der seine Anweisungen zunichte gemacht hat. Moneyval erfährt von diesen Veränderungen und kehrt im März 2012 in den Vatikan zurück. Die Inspekteure vergleichen die zwei Fassungen des Gesetzes und erstellen einen Vorbericht, in dem sechs kleine englische Wörter wenig Spielraum für Interpretationen lassen: »With this you did steps back«, damit haben Sie sich zurückentwickelt. Die Lage wird immer vertrackter: Der Präsident des IOR droht mit seinem Rücktritt, falls man nicht zur ursprünglichen Fassung zurückkehrt. Am 8. März 2012 gibt das amerikanische State Department bekannt, man habe erstmals auch den Vatikan in die Liste der 68 Länder aufgenommen, bei denen man ein hohes Risiko an Geldwäsche vermutet. Eine weitere Blamage. Aber es kommt noch dicker.
Einige Tage später treffen mehrere Banken die Entscheidung, die in ihren Filialen eröffneten Konten des IOR zu schließen.[22] Nicora weiß nicht, was er tun soll. Seine engsten Mitarbeiter drängen ihn, Benedikt XVI. zu informieren, doch der Kardinal rafft sich nicht dazu auf. Gänswein unterstützt Nicora, sagt ihm, er solle dagegenhalten, nicht klein beigeben. Auch der Vizepräsident des IOR, der Bankier und Mitglied der Trilateralen Kommission Ronaldo Schmitz, bezieht in jenen Tagen Stellung.[23] Schmitz fordert eine anachronistische Eigenständigkeit der Bank: Das IOR solle nicht nachgeben, nur weil ausländische Banken Konten schließen. Der hohe Manager schlägt vor, die Depots nach Deutschland zur Deutschen Bank zu verlegen. Die Idee führt zum Bruch mit Gotti Tedeschi. Die beiden Positionen sind unvereinbar. Schmitz verlangt vom Aufsichtsrat der Vatikanbank eine harte Linie gegenüber den Zentralbanken, aber Gotti Tedeschi ist dagegen. In einer Besprechung sagt er, er werde die Konten niemals nur deshalb verlegen, weil die Zentralbanken die mit dem Institut für die Religiösen Werke verbundenen Depots schließen. Vielmehr sei zu fragen, warum die Banken diese Konten ablehnten. Doch die Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand: weil beim IOR die Regeln der Transparenz nicht befolgt werden.
Bertone sieht sich das alles an und wartet ab. Er gewährt Gotti Tedeschi einen inständig verlangten Termin. Der Präsident des IOR betritt das Büro des Kardinalstaatssekretärs konzentriert und angespannt. Ohne große Umstände nennt er die dringendsten Forderungen: Das alte Gesetz muss verbessert werden, der italoamerikanische Anwalt Jeffrey Lena ist zu entfernen, Cipriani ist zu entlassen, die wirtschaftlichen Strukturen sind neu aufzustellen. »Gewiss, wir werden sehen, wir werden sehen«, unterbricht ihn Bertone. Im Kardinalstaatssekretariat geht auch eine vom Präsidenten des IOR unterschriebene Denkschrift ein, in der erneut hervorgehoben wird, wie sehr diese Veränderungen am Gesetzestext die Glaubwürdigkeit Benedikts XVI. und des Heiligen Stuhls beeinträchtigen können, auch auf internationaler Ebene. Man müsse sich deshalb sofort mit den Problemen befassen und sie lösen.
Die Lösung kommt zwar rasch, fällt aber nicht so aus, wie Kardinal Nicora sie sich vorgestellt hatte. Am 23. Mai trifft sich der Berater des Staatssekretariats, Rechtsanwalt Marco Briamonte von der Kanzlei Grande Stevens, mit dem Bankier Alessandro Profumo, der seit März den Vorsitz der Banco Monte dei Paschi di Siena übernommen hat. Da er von dessen Freundschaft mit dem Präsidenten der Vatikanbank weiß, lässt der Bertone nahestehende Anwalt eine giftige Bemerkung fallen: »Sie sehen morgen Gotti Tedeschi? Vermutlich zum letzten Mal als Präsidenten des IOR.« Profumo lacht nervös, der junge Anwalt bleibt hingegen unbeirrt. In der Tat ist er gut informiert. Der Verwaltungsrat des IOR wird Gotti Tedeschi das Vertrauen entziehen. Er tut dies im Übrigen derart abrupt und unter Missachtung aller Gepflogenheiten, dass auch dieser Vorgang beunruhigende Fragen aufwirft.