Niederlage und Revanche

Der Krimi um den Rücktritt 

24. Mai 2012. Benedikt XVI. hat soeben zu Abend gegessen und sitzt auf dem Sofa im Fernsehraum. Ehe er das Abendgebet spricht und dann zu Bett geht, sieht er noch die Abendnachrichten. Währenddessen erreicht ihn eine überraschende Nachricht: Der Aufsichtsrat des IOR hat Professor Ettore Gotti Tedeschi das Vertrauen entzogen. Eine unwirkliche Stille senkt sich über das päpstliche Appartement. Der Papst weiß nichts von dieser Entscheidung, man hat ihn weder hinzugezogen noch verständigt. Und das ist nicht das erste Mal: Sein Kammerdiener Paolo Gabriele, der ihn überallhin begleitet, erzählte mir damals: »Wir, die wir den Papst bedienen, teilen den schmerzlichen Eindruck, dass der Heilige Vater über die heikelsten Sachverhalte nicht Bescheid weiß.« Bei solch einer dramatischen Entscheidung nimmt der Papst demnach nur eine Zuschauerrolle ein. Wie ist das möglich?

Dass Benedikt isoliert ist, wird auch durch Prälat Gänswein belegt, der in einem Interview mit der Tageszeitung »Il Messaggero«[1] von den Reaktionen jenes Abends berichtet: »Benedikt XVI., der Gotti ans IOR berufen hatte, um die Politik der Transparenz zu fördern, war überrascht, sehr überrascht von diesem Akt des Misstrauens gegenüber dem Professor. Der Papst schätzte und mochte ihn, doch aus Respekt vor der Zuständigkeit der Verantwortlichen entschied er sich, vorerst nicht einzugreifen.« Warum wurde der Papst nicht zu Rate gezogen, bevor man dem Bankier das Vertrauen entzog? Schließlich hatte er selbst ihn an die Spitze der Vatikanbank geholt.

Die Erklärung des Privatsekretärs des Heiligen Vaters macht ziemlich sprachlos. Benedikt XVI. war demnach geschwächt, wenn nicht gar faktisch seiner Funktionen enthoben. Gewiss, es war nicht seine Aufgabe, den Mann an der Spitze des IOR zu ernennen oder abzusetzen, aber es liegt auf der Hand, dass eine derart wichtige Entscheidung nicht getroffen werden konnte, ohne ihn einzubeziehen. Aber niemand berät sich mit ihm. Niemand informiert ihn auch nur.[2]

In diesen Tagen ist es ein weiterer Umstand, der wie ein finsteres Vorzeichen für den aufsehenerregenden Rücktritt des Papstes im darauffolgenden Jahr wirkt. Mehrere Gesprächspartner von Benedikt XVI., in unterschiedlichen Ämtern und Funktionen, nehmen wahr, dass er für die Angelegenheiten auf der Agenda immer weniger Interesse zeigt. Schon seit dem Sommer 2011 beteiligt er sich nicht mehr so intensiv an der Lösung der Probleme des kleinen Staates, um die Jahreswende 2012 dann noch weniger. Gänsweins Schilderung eines ahnungslosen Papstes passt dazu und wird über Jahre die beherrschende Sicht bleiben, sich schließlich jedoch ändern. Benedikt selbst widerspricht dem, zumindest indirekt, in einem Gespräch mit seinem Biografen Peter Seewald, das im September 2016 in Buchform erscheint.[3] Benedikt XVI. verspürt die Notwendigkeit, die damaligen Umstände zu erläutern, und übernimmt die Verantwortung für die Entscheidung:

Für mich war von Anfang an das IOR eine große Frage, und ich habe hier zu reformieren versucht. Das geht nicht schnell, weil man sich selber einarbeiten muss. Es war wichtig, es den bisherigen Händen wegzunehmen. Es musste eine neue Leitung gefunden werden, und es schien dabei aus vielen Gründen richtig, keinen Italiener mehr zum Chef zu bestellen. Ich kann sagen, dass ich mit Baron Freyberg eine sehr gute Lösung gefunden hatte.

Ein Dementi ohne jeden Zweifel, wenn auch verspätet und indirekt, das dennoch keine Klarheit schafft. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Benedikt XVI. Negatives über den Präsidenten des IOR zugetragen worden. In einer immer heftigeren und intensiveren Verleumdungskampagne versucht man, Gotti Tedeschi geistig, ethisch und sogar hinsichtlich seines körperlich-seelischen Zustands die Legitimität abzusprechen. Der Umgang mit den Regelungen zur Geldwäschebekämpfung erfordert eine Zuverlässigkeit, die er nicht bieten kann. Daher das Misstrauen. Allerdings mit einer ungewohnten Schärfe im Ton. In neun Punkten werden die Gründe aufgelistet, die den Aufsichtsrat formell veranlasst haben, den Präsidenten zu stürzen. Eigentlich fehlt nur noch der Vorwurf, Geld aus der Kasse genommen zu haben. Jede Unredlichkeit und jedes denkbare Fehlverhalten wird Gotti Tedeschi unterstellt. Aus welchem Grund? Warum war es nötig, ihn mit solcher Heftigkeit und in aller Öffentlichkeit zu desavouieren? Man kann ihn schlecht des Diebstahls bezichtigen: Er bekommt kein Entgelt, selbst die Reisen und die Unterkunft im Hotel bezahlt er aus eigener Tasche. Man kann ihm auch keine Unfähigkeit vorwerfen. Sein Lebenslauf lässt das nicht zu: Der Bankier ist der oberste Vertreter der Banco Santander in Italien, eines der weltweit größten Geldinstitute. In der Vergangenheit hat er schon einmal selbst eine Bank gegründet. Er berät den italienischen Schatzminister, ist Berater der halbstaatlichen Investitionsbank Cassa Depositi e Prestiti. Da kann man kaum behaupten, er sei unfähig und ungeeignet.

Das Misstrauen wird in neun Punkten begründet, die angeblich ebenso vielen Schwachpunkten der Präsidentschaft entsprechen. Schade, dass diese Punkte Schritt für Schritt vom Betroffenen mit einer Denkschrift für eine Anhörung im Vatikan widerlegt wurden, zu der es allerdings nie gekommen ist. Einer der Punkte sei hier beispielhaft angeführt: Man wirft dem Präsidenten vor, den Aufsichtsrat nicht über die eigene Tätigkeit informiert zu haben. In dem Papier, das die Justizbehörden Neapels im Rahmen eines Verfahrens in anderer Sache beschlagnahmt haben, führt Gotti Tedeschi pedantisch auf, wie viele E-Mails er in den vergangenen zwölf Monaten jedem Ratsmitglied geschickt, wie viele er erhalten und wie viele Unterlagen er jedem zugestellt hat. Doch dem Professor wird weder ein Einspruchs- noch ein Verteidigungsrecht zugestanden, obwohl er dies mündlich und schriftlich unzählige Male eingefordert hat.

Viele Fragen bleiben deshalb bis heute unbeantwortet. Warum wurde Gotti Tedeschi nie angehört? Warum wurden die neun Punkte nie besprochen? Warum wurde er von einem Tag auf den anderen jeder Tätigkeit enthoben? Dabei hätte es genügt, wenn Benedikt XVI. ihn persönlich zum Rücktritt aufgefordert hätte: Als kirchentreuer Erzkatholik und Anhänger des Papsttums wäre Gotti Tedeschi der Aufforderung sofort nachgekommen. Das Ziel ist offenbar ein anderes. Es geht darum, die Glaubwürdigkeit des abtretenden Präsidenten zu beschädigen. Man soll sich weder innerhalb noch außerhalb der Kurie auf ihn berufen dürfen.

Wenige Monate zuvor, Ende 2011, geschieht etwas, was sich als Ankündigung der bevorstehenden Absetzung lesen lässt. Im Turm Nikolaus V., in dem das IOR seinen Sitz hat, ist die zentrale Halle für die Weihnachtsfeier der Bankangestellten geschmückt. Nach dem traditionellen Austausch von Grußworten und Glückwünschen nimmt der Präsident an der sorgfältig gedeckten großen Tafel Platz und findet zu seiner Rechten einen Gast, den Psychotherapeuten Pietro Lasalvia. Dieser war in der Vergangenheit bei einigen Streitfällen im Zusammenhang mit Mobbingvorwürfen gegen den Vatikan tätig gewesen.[4] Nach den Kontroversen um einige Mitarbeiter, die sich nicht hinreichend geschätzt gefühlt hatten, wird seine Teilnahme an der Feier von manchen daher als Geste der Versöhnung interpretiert. Gotti Tedeschi und Lasalvia plaudern ein Weilchen miteinander. Lasalvia zeigt sich von der Persönlichkeit des Bankiers so beeindruckt, dass er ein paar Monate später in einem Schreiben vom 18. März 2012 an den IOR-Direktor Cipriani ein psychologisches Profil von ihm entwirft:

Anlässlich eines Festmahls, das die Direktion vor den heiligen Weihnachtsfeiertagen für die Angestellten des IOR ausgerichtet hatte, wurde ich von Ihnen eingeladen und hatte Gelegenheit, neben dem Präsidenten Gotti Tedeschi zu sitzen, den ich bis dahin noch nicht kannte. Überrascht hat mich die Distanz zum Gegenstand dieses Anlasses, d. h. dem Menschenmaterial, das die Tätigkeit des IOR mit Leben erfüllt, und die Kluft zur Direktion [d. h. zu Cipriani selbst, A.d.A.], die hingegen wie ein guter Familienvater an einem Anlass der Eintracht zwischen dem sakralen Umfeld und der täglich verrichteten profanen Arbeit teilnahm. Zudem hat der Präsident meine Aufmerksamkeit vollständig monopolisiert und die eigene Person verherrlicht mit aus meiner Sicht unangemessenen Bemerkungen zur Sittlichkeit der Beschäftigten ebenso wie zu den Fähigkeiten des Klerus. Ich muss sagen, dass mich dies alles bestürzt hat, vor allem in Anbetracht meiner Erwartungen, die auch von der vorteilhaften Darstellung geprägt waren, die Sie, Herr Direktor, mir auch indirekt stets auf elegante Weise zu bieten wussten.

Aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit sowie des mir anvertrauten Auftrags konnte ich nicht umhin, Sie auf eine gewisse Widersprüchlichkeit zwischen den – wenn auch in einem beiläufigen, nicht strukturierten Gespräch – zutage getretenen Charakterzügen und der heiklen Repräsentationsfunktion hinzuweisen, die Dr. Gotti Tedeschi bekleidet. In der Sache ergaben sich Züge der Egozentrik, des Narzissmus und eines gewissen Realitätsverlusts. Dieser lässt sich einer psychopathologischen Fehlfunktion gleichsetzen, die als »soziale Acedia« bekannt ist, ein Begriff, der sich aus der christlichen Literatur ableitet, aber recht gut einige Verhaltensmuster beschreibt, die nach dem derzeitigen Kenntnisstand des sozialen Gehirns pathologisch sind. Meine Beobachtung ist angebracht, da die Diagnose, Prävention und Therapie von arbeitsbedingtem Stress zu meinen professionellen Zielen zählen, und diese Situation sowohl für den Betroffenen, der sich u.a. nicht dem Protokoll unterworfen hat, als auch für die Gemeinschaft der Mitarbeiter eine Stressquelle darstellt. Darüber hinaus könnte diese Kluft aus der Sicht einer »Einheit«, für die das christliche Muster der Familie den wesentlichen Ansatz bietet, Verwirrung stiften und damit Unbehagen hervorrufen. Abschließend sei gesagt, dass meine Beobachtungen nicht den Anspruch einer Diagnose erheben, sondern eine professionelle Beobachtung darstellen, von der ich Sie in Hinblick auf meine Aufgabe und im Einklang mit meinem christlichen Glauben in Kenntnis setzen wollte, zum Wohle des Instituts ebenso wie zum Wohle jedes Einzelnen, der ihm angehört, einschließlich des Präsidenten.

Faktisch beobachtet der Arzt zufällig den damaligen Präsidenten, greift zur Feder und schreibt diese negative Anamnese, die er Gotti Tedeschis erklärtem Feind, dem Direktor Cipriani, aushändigt. Darf man wirklich annehmen, dass dies alles nur Ergebnis eines Zufalls ist? Die Frage lässt sich nicht leicht beantworten. Mit Sicherheit geht in der Kurie sofort das Gerücht herum, der Professor sei nicht mehr ganz bei Verstand. Diese unwiederbringliche Gelegenheit lassen sich seine Gegner natürlich nicht entgehen. Dass Lasalvia »Nachbar Ciprianis« ist, wie das Wochenblatt »Famiglia Cristiana« hervorhebt,[5] und vor allem Freimaurer, scheint nicht wesentlich zur Ergründung der Frage beizutragen, ob dies alles absichtlich in Szene gesetzt wurde oder nicht.[6]

In Wirklichkeit ist man von verschiedener Seite aus echten oder vorgeschobenen Gründen daran interessiert, Gotti Tedeschi den Garaus zu machen. Nachdem die Ermittlungen gegen das IOR zur Einleitung eines Verfahrens gegen Gotti Tedeschi, Cipriani und Tulli geführt hatten, machen sich manche große Sorgen wegen seiner Entscheidung, vor der italienischen Staatsanwaltschaft auszusagen und die Sachlage zu klären. Damals wurden viele kritische Stimmen in der Kurie laut. Mit der italienischen Justiz zusammenzuarbeiten hieß, einen lästigen Präzedenzfall zu schaffen und damit die künftigen Entscheidungen des Heiligen Stuhls zu belasten. Deshalb fürchten viele dieses Vorhaben. Dank der Lateranverträge hätte sich Gotti Tedeschi als Präsident des IOR und damit als Beschäftigter einer zentralen Behörde des Vatikans auf seine Immunität berufen können. So wie Marcinkus, De Strobel und Mennini ein Vierteljahrhundert zuvor. Auf die Fragen von Ermittlungsrichtern einzugehen wird von vielen in der Kurie als ein Akt der Unterwerfung unter die Macht eines anderen Staates gewertet, eine feindselige und skandalträchtige Option. Eine gewiss oberflächliche Sichtweise, die die Mahnungen von Benedikt XVI. unberücksichtigt lässt. Es spielt keine große Rolle, dass der Papst selbst Transparenz und Strenge gefordert hat (»Wir haben nichts zu verbergen«) und die weltlichen Justizbehörden anerkannte, als es darum ging, Entschädigungen an die Opfer von Kindesmissbrauch zu zahlen. Damals hatte er dazu aufgerufen, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Erschwerend kommt ein weiterer Beweis hinzu, das Ergebnis eines protektionistischen Staatsverständnisses: Gotti Tedeschi hat das Gesetz gegen Geldwäsche angeregt, das von Menschen außerhalb der Kurie verfasst wurde und die vatikanischen Finanzen dem Scheinwerferlicht externer Überwachung aussetzt. Viele halten den Bankier für den verlängerten Arm Mario Draghis und jener Finanzmacht, die sich Zugang zum Heiligen Stuhl verschaffen will. Lauter gute Gründe, ihn abzusägen.

Das Staatssekretariat sitzt zu Gericht

Durch die Entscheidung des Präsidenten, der Staatsanwaltschaft Rede und Antwort zu stehen, gerät die Kurie zunehmend aus dem Häuschen. Viele beäugen sich misstrauisch. Ein Klima des Verdachts, gegenseitiger Anschuldigungen, der Bosheiten und Erpressungen greift um sich. Es kommt zuweilen zu geradezu irrealen Situationen, von denen hier zum ersten Mal berichtet wird. Etwa zur Bildung einer Art informellen Tribunals im Vatikan gegen jene, die – manchen zufolge – als Nestbeschmutzer auftreten. In einem langen Interview, das ich mit Francesco De Pasquale[7] geführt habe, prangert dieser die genannten Vorfälle kühl und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen an. Auch diesen Fachmann hatte man zunächst bestellt, um aufzuräumen, und dann ohne große Umstände vor die Tür gesetzt. De Pasquale ist keine Randfigur, denn er wurde zum ersten Direktor der vatikanischen Finanzaufsicht AIF bestellt. Kardinal Nicora und Professor Condemi hatten ihn berufen, um die von Benedikt XVI. gewünschte Wende herbeizuführen.

Avvocato De Pasquale, Sie wurden in den Vatikan geholt, um die neuen Vorschriften gegen schmutziges Geld umzusetzen. Für wie lange?

Begonnen hat es 2010. Professor Condemi bat mich, an der Ausarbeitung des ursprünglichen Gesetzes mitzuwirken, das Benedikt XVI. am 31. Dezember desselben Jahres erlassen hat. Offizielle Mandate hatte ich von 2011 bis 2014. In den ersten anderthalb Jahren war ich Direktor der AIF, bevor ich das Amt René Brülhart übergab und in den Verwaltungsrat kooptiert wurde. Damals gab es nichts, lediglich dieses Gesetz und den Verwaltungsrat der Behörde. Es musste alles erst aufgebaut werden. Es gab keinerlei Kontrolle, am IOR machten sie, was sie wollten, manche [leitende Angestellte, A.d.A.] handelten im Namen des Instituts und managten eine Unmenge von Unterkonten. Das heißt, die konnten da alles Mögliche machen. Sie maßten sich an, die Banca d’Italia einfach mit einer Überweisung im Namen des IOR abzuspeisen, obwohl die Zentralbank wissen wollte, wer die tatsächlichen Inhaber und Nutznießer jener Mittel waren.

Im Vatikan fand damals eine grundsätzliche Auseinandersetzung statt …

Ja, einen Teil der Arbeit haben wir zu Ende geführt, aber beim zweiten Teil hat man es uns nicht mehr gestattet. Bei den Auseinandersetzungen ging es um die Vorschriften, die abgeändert und angewandt werden sollten. Es ging darum, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, und mir wurde klar, dass man noch nicht bereit war, diese Veränderungen anzugehen.

Wie war damals die Atmosphäre zwischen Ihnen und Professor Condemi sowie Kardinal Nicora, also gegenüber jenen, die die Geldwäschevorschriften zu implementieren versuchten?

Manche Vorfälle machen das ziemlich deutlich. Ende September 2010 rief mich eines Tages Prälat Balestrero an, der Untersekretär für die Beziehungen mit den Staaten, und bat mich, zu einer Besprechung des Rates des Staatssekretariats zu kommen, bei der es um das Problem der gegen das IOR aufgenommenen Ermittlungen gehen sollte: gegen Cipriani und Tulli wurde bereits ermittelt. Ich dachte, wir sollten dazu beitragen, Klarheit zu schaffen. Mein Stellvertreter Alfredo Pallini war dabei, auch Nicora. Wir gehen rein, und finden den versammelten Führungsstab vor: neben Bertone saßen dort Mamberti, Balestrero und Wells in einer Reihe, eine Art Tribunal sozusagen.[8]

Warum? 

Cipriani und die Leiter des IOR beschuldigten mich und Pallini, sie bei der Staatsanwaltschaft angezeigt zu haben und geheime Beziehungen zur betreffenden amerikanischen Bank zu unterhalten. Ihnen zufolge hätten wir sogar an einem Abendessen mit leitenden Managern von J. P. Morgan in Mailand teilgenommen.

Ein Komplott also …

Schade nur, dass ich damals nie in Mailand war. Sie hatten das frei erfunden. Wir haben ziemlich lebhaft geantwortet und es entstand eine Art Streitgespräch, das ziemlich aufgeregt verlief.

Ist das für den Vatikan ungewöhnlich?

In der Tat … Es mischten sich alle ein, allen voran Nicora, um die Gemüter zu beschwichtigen: »Nein, nein, wir müssen zusammenarbeiten … untereinander«. Pallini war sprachlos. Er sah mich an und reichte am nächsten Tag seinen Rücktritt ein.

Hat man Sie beschuldigt, um das für sich zu nutzen und Sie in Schwierigkeiten zu bringen?

Davon gehe ich aus.

Richteten sich diese Anschuldigungen gegen Sie und Ihren Mitarbeiter oder auch gegen Kardinal Nicora?

Indirekt auch gegen Nicora. Ich denke, Nicora wurde vorgeworfen, unter dem Einfluss der Beamten der Banca d’Italia zu stehen.

Dann stand auch Nicora in Misskredit?

Mit der Zeit habe ich versucht, diese Verwerfung besser zu verstehen, die sich in den Folgejahren noch zuspitzte. Auch Nicora war in den Augen des neuen Direktors Brülhart ein Feind, weil er die Geschäfte des IOR nicht gerade befürwortete.

Um welche Art von Geschäften ging es dabei aus Ihrer Sicht? Konnten Sie sich davon einen Begriff machen?

Ich hätte mir davon einen Begriff machen können, wenn ich die Zeit und die Mittel gehabt hätte, jenen Geheimnissen auf den Grund zu gehen …

Was hatten Sie bis dahin unternommen?

Es ging darum, festzulegen, was die Aufsichtsbehörde tun sollte, welchen internen Institutionen und Behörden gegenüber sie tätig werden sollte. Vor allem ging es darum, die verschiedenen Gremien und Einrichtungen von innen heraus für dieses Thema zu sensibilisieren. Die internationalen Kontrollen standen kurz bevor, folglich musste alles sehr schnell gehen. Wir fingen an, eine ganze Reihe von Rundschreiben in Umlauf zu bringen, die den internen Gremien Handreichungen zur Anwendung der Geldwäschevorschriften lieferten. Es wurde die Identifikation der Kunden verlangt, die angemessene Prüfung und Registrierung der Vorgänge, die Meldung verdächtiger Operationen, die Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden der anderen europäischen Länder. Wir hatten mehrere Besprechungen mit der [Güterverwaltung] APSA, dem IOR, und ich empfand die Zusammenarbeit mit dem Präsidenten als gut, der sich bemühte, den Vatikan auf den Weg zur White List zu bringen: Er stand auf unserer Seite. Auf wenig oder fast keine Zusammenarbeit stieß ich allerdings in der Führungsebene des IOR. Damals war Cipriani Direktor und Tulli Vizedirektor, dieselben, die erst kürzlich wegen des Verstoßes gegen die italienischen Geldwäschevorschriften verurteilt wurden, wenn auch zu einer geringen Strafe.

Aus wem bestand die AIF, und wie waren die Beziehungen zu diesen Personen? 

Es gab eine gute Zusammenarbeit mit dem Präsidenten, Kardinal Nicora, und vor allem mit Condemi. Auch mit dem AIF-Ratsmitglied Cesare Testa, der bereits das Zentralinstitut für die Besoldung der Priester geleitet hatte. Mit den anderen beiden Mitgliedern waren die Beziehungen schwierig. Einer war der Jurist Dalla Torre, der andere ein Steuerberater, der auch für die APSA arbeitete, Claudio Bianchi. Die bremsten, sie waren vom Staatssekretariat eingesetzt worden und bremsten alle unsere Initiativen aus. Dalla Torre vertrat übrigens auf Antrag des Staatssekretariats einen Standpunkt pro veritate zu den Aufgaben der AIF, wonach diese nur für Vorgänge ab dem 1. April 2011 Akteneinsicht und Aufsichtsbefugnisse beanspruchen durfte, also seit Inkrafttreten des Gesetzes. Doch alle anhängigen Berichte betreffen Vorgänge aus früherer Zeit. Daraus ergab sich eine Auseinandersetzung mit den Anwälten des IOR.

Wer waren die Anwälte des IOR?

Einer war Briamonte, und dann war da der Amerikaner Jeffrey Lena, Berater des Staatssekretariats, den der Untersekretär für Außenbeziehungen Balestrero auf das Thema angesetzt hatte. Für die inneren Angelegenheiten war stattdessen Wells zuständig, mit den Untersekretären Filoni und Mamberti. Beide befassten sich damit. Balestrero hatte Lena als Berater berufen, er selbst hatte von Geldwäschebekämpfung keine Ahnung. Briamonte hingegen war ein Berater des IOR.

Aber nicht Gotti Tedeschis.

Ich glaube, der Präsident wurde ziemlich ausgegrenzt: Sie zeigten ihm gar nichts.

Wem unterstand die AIF?

Sie war eigenständig, ist als selbständige Behörde entstanden. Diese Behörden zur Geldwäschebekämpfung müssen in den verschiedenen Ländern zwangsläufig wenigstens formal eigenständig sein.

Gab es eine Zeit, in der sie unter die Kontrolle des Staatssekretariats geriet? 

Zur Auseinandersetzung innerhalb der Behörde kam es, weil Briamonte, als wir die Geldwäschevorschriften zu überarbeiten hatten – das Gesetz Nr. 127 vom 30. Dezember 2010 –, die Auffassung Dalla Torres übernahm, wonach uns kein Zugang zu den Daten des IOR zustand, lediglich zu denen ab dem 1. April 2011. Es war offensichtlich, dass sie keine Zusammenarbeit wollten. Übrigens kündigte ich Cipriani an, dass wenige Wochen später, im Herbst 2011, die Inspekteure von Moneyval kommen würden, worauf er mir wortwörtlich entgegnete: »Ach, ich bin dann ohnehin in Australien.«

Wie ist diese Boykotthaltung zu erklären?

Man hatte dort von diesem Thema keine Ahnung. Die dachten, diese Maßnahmen würden sie nicht betreffen, deshalb war ihnen die Sache nicht bewusst. In den zahlreichen Besprechungen mit dem Governatorat und der Gendarmerie fanden wir bei einigen eine größere Offenheit vor, weil ihnen die Bedeutung klar war, andere kapierten es einfach nicht, wieder andere boykottierten, bis sie beim Eintreffen der Inspekteure von Moneyval merkten, wie wichtig die Sache war. Erst dann gaben sie nach. Die AIF hatte zu viele Befugnisse und zu viel Eigenständigkeit. Das Staatssekretariat führte einige Änderungen ein, die sehr negativ waren … Es legte beispielsweise fest, dass für jedes Abkommen der AIF mit den Behörden anderer Länder eine Art Unbedenklichkeitserklärung des Sekretariats erforderlich war.

Na ja, das ist die politische Behörde …

Das widersprach den internationalen Standards, denn die Geldwäschebehörde musste eigenständig sein, sie durfte nicht von einer Unbedenklichkeitserklärung des Staatssekretariats abhängen. Den Inspekteuren von Moneyval wurde klar, dass es Rückschritte gab, und sie sagten es uns ganz offen. Daher der Konflikt, denn sie wollten die Funktion der AIF unter die Fittiche des Staatssekretariats bringen.

Wer sie?

Balestrero, Wells, Lena, folglich auch Bertone.

Hatte Bertone die fachliche Kompetenz, um diese Dinge zu begreifen?

Nein, überhaupt nicht.

Dann nahm er also Anregungen auf, die ihm zugetragen wurden?

Die bekam er von Balestrero und von Wells. Balestrero hat einmal zu mir gesagt: »Also, muss man diesen Leuten von Moneyval denn die Wahrheit sagen?«

Kaum zu fassen. Sind Sie sich sicher?

Ja, ich gab zurück: »Schauen Sie, das Problem ist, dass die ja nicht dumm sind. Wenn man ihnen Quatsch erzählt, merken sie das vielleicht.«

Welche Kompetenz in Finanzangelegenheiten hatten diese Monsignori eigentlich?

Anfangs hatten sie sie nicht, aber nach und nach begriffen sie, worum es ging. Es gab ständig Besprechungen, auch zur Diskussion über die Änderungen am Gesetz. Nach und nach wurde auch Lena einiges klar. Als es den Rückschritt gab, stellte das IOR die Zusammenarbeit mit uns ein. Anfangs hatte es unsere Bitten um Auskunft beantwortet, aber ab Januar/Februar 2012 hörte die Zusammenarbeit auf, oder es hielt nur die Fassade davon aufrecht. Das Geldwäschegesetz räumte uns anfangs erhebliche Inspektionsrechte ein, und beim IOR war man sehr besorgt. Daher sagten sie in den Folgemonaten, insbesondere zu diesem Punkt, dass die Inspektionen erst dann durchgeführt werden könnten, wenn eine Regelung festgelegt würde, die allerdings erst nach Anhörung des Staatssekretariats erlassen werden könnte. Das hat die Arbeit stark beeinträchtigt. Auf der anderen Seite konnte Moneyval nicht begreifen, warum wir nicht mit unseren Inspektionen loslegten. Es gab eine objektive Lücke: Sie [die Inspekteure der AIF, A.d.A.] konnten handeln, aber in Ermangelung der Regelungen traten wir auf der Stelle. Um die Blockade aufzuheben, musste ich immer wieder darauf beharren. Ich bereitete auch einen Entwurf für eine Regelung vor, eine ganz einfache, und schickte sie an das Staatssekretariat. Nach einer Weile schickten sie mir als Antwort ein unlesbares Papier zurück, zehn Seiten lang. Spielten sie auf Zeit? Es war eine chaotische, verworrene Regelung, ich weiß nicht, wo sie die abgeschrieben hatten. Der Inhalt war jedenfalls inakzeptabel, weil er vorsah, dass wir die Unterlagen erst einsehen konnten, wenn wir die Kontrolle beim zu überprüfenden Amt dreißig Tage vorher anmeldeten. Kurz, eine für mich, für uns, für die internationalen Standards unzumutbare Sache.

Was geschah dann? 

Bis zum Juli 2012 hatten wir keine Inspektionsregelung und damit auch keine Möglichkeit, Prüfungen vorzunehmen. Aber schauen wir es uns der Reihe nach an. Die Leute von Moneyval stellten fest, dass wir uns zurückentwickelt hatten, so versuchten wir in der Vollversammlung Abhilfe zu schaffen. Der Bericht von Moneyval vom 4. Juli 2012 enthielt keine negative Bewertung. Es war ihnen klar geworden, dass wir wenig Zeit gehabt hatten. Ich glaube, dass das Staatssekretariat irgendwie Druck gemacht hat [auf europäischer Ebene, A.d.A.]. Italien hat nicht gedrängt: Bei der Vollversammlung kann jeder sprechen, Fragen stellen, Auskunft oder Aufklärung verlangen und so weiter. Italien hat den eigenen Delegierten im letzten Moment zurückgezogen, weil Vittorio Grilli, der damals stellvertretender Wirtschafts- und Finanzminister war, vom Vatikan angehalten wurde, in dieser Sache keinen Druck auszuüben. Daher war die Bewertung insgesamt nicht negativ und wir verpflichteten uns … Meine Position war nicht einfach, denn ich musste intern sehr kritisch sein, nach außen aber das Geleistete verteidigen. Diese Arbeit zwang sie, mich weiterhin zu halten. Da ich wegen meiner vergangenen Erfahrung in der Geldwäschebekämpfung bei der Banca d’Italia auch bei Moneyval und den Inspekteuren bekannt war, die in den Vatikan kamen, wussten sie, wer ich war und vertrauten mir. Das heißt, wenn ich vor der Bewertung vom Juli abgesägt worden wäre, hätten sie schon ein paar Probleme bekommen, denn den Präsidenten des IOR hatten sie ja bereits rausgeworfen. Angesichts des großen Aufhebens, das sämtliche Zeitungen davon machten, hat ihnen die Absetzung nachher vielleicht sogar leidgetan. Einen Tag später kam die Geschichte mit Vatileaks und dem Kammerdiener ans Licht. Ich denke, das geschah, um die Aufmerksamkeit abzulenken.

Wie hat man innerhalb der AIF den Fall des Kammerdieners Paolo Gabriele erlebt?

Negativ, weil das einer war, der mit uns zusammenarbeitete, während die anderen das fast überhaupt nicht taten. Professor Gotti Tedeschi wurde intern kritisiert, weil er der römischen Staatsanwaltschaft seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit erklärt hatte. Als das herauskam, habe ich gedacht: »Na gut, jetzt ist es mit uns aus.« Als im Juli der Bericht erschienen war, versuchte ich, mit dem Staatssekretariat Kontakt aufzunehmen, und es gab eine komplette Blockade. Balestrero war nicht aufzufinden. Ich musste die Unterschrift für das Einvernehmensprotokoll mit der italienischen UIF einholen [der Unità di Informazione Finanziaria, der zentralen Meldestelle Italiens für Geldwäsche, A.d.A.]. Er antwortete mir erst, als ich bereits einen Schritt weiter war und ihm die notwendigen Angaben übermittelt hatte: »Aha, sehr interessant die Zusammenarbeit mit der italienischen UIF, wir müssen darüber reden.« Ich begriff, dass er bloß Zeit schinden wollte, dass nicht ich mich um diese Sache kümmern sollte. Im Oktober rief Nicora mich an und sagte mir, das Staatssekretariat habe beschlossen, René Brülhart zum Direktor zu ernennen. Und mich in den Verwaltungsrat zu kooptieren, wie es dann im November 2012 geschehen ist.

Was stellte Brülhart damals eigentlich dar: Kam er von außerhalb, oder hatte er bereits irgendeinen Auftrag im Vatikan?

Er war Leiter der FIU [Financial Intelligence Unit, A.d.A.] Liechtensteins gewesen, und ich glaube, er war Berater des Staatssekretariats. Ich gehe davon aus, dass er das Gesetz umgeschrieben hat, den sogenannten »Schritt zurück«. 

Und warum meinen Sie, dass Brülhart deren Vertrauen genoss?

Weil er Berater des Staatssekretariats war. Bei jeder Tätigkeit innerhalb des Vatikans, selbst wenn andere Ämter oder Gremien zuständig waren, schuf das Staatssekretariat eine Art Einheit, die dieselben Dinge machte, wie eine Art Schattenregierung. Das geschah auch bei der AIF: Unter meinen Angestellten befand sich auch Tommaso Di Ruzza, der Schwiegersohn des früheren Gouverneurs der Banca d’Italia Antonio Fazio. Di Ruzza war mit dem Staatssekretariat in Kontakt und boykottierte daher unsere Arbeit, Dalla Torre stand ihm mit seinem Rat zur Seite. Schließlich sahen wir uns gezwungen, ein paar Leute einzustellen, um zu vermeiden, ständig von den beiden Vertretern im Verwaltungsrat ausgebremst zu werden, das war noch, bevor Brülhart kam. Später, ab November 2012, wurde der Verwaltungsrat nach und nach entmachtet und kam nur noch ganz selten zusammen, während er sich unter mir ständig getroffen hat und über jeden Vorgang auf dem Laufenden gehalten wurde. Brülhart ging offenkundig in Abstimmung mit dem Staatssekretariat vor, daher hatte er kein Interesse … [das Gremium häufiger einzuberufen, A.d.A.]. Nicora war für sie ohnehin ein Feind.

Hat Brülhart das Kommando in der AIF ganz an sich gerissen?

Natürlich. Nicora war stets überzeugt, in der Auseinandersetzung zwischen ihm und Brülhart werde dieser den Kürzeren ziehen. Stattdessen wurde er selbst abgesägt, Anfang 2013 hat man ihn zum Rücktritt gezwungen.

Und all diese Vorschriften, die die AIF dem Staatssekretariat untergeordnet haben? 

Die wurden nach und nach angepasst. 2013 schafften sie die genannte Unbedenklichkeitsbescheinigung wieder ab, weil sie ja nun ohnehin alles unter Kontrolle hatten. Sie brauchten den Wisch nicht mehr. Nach und nach nahmen sie alles, was sie eingeführt hatten, wieder zurück, und es gab eine weitere Reform des Gesetzes, ich glaube im August 2013, die das IOR auf Linie mit den internationalen Standards brachte, allerdings nur der Form nach. Das Gesetz umzusetzen, es zum Laufen zu bringen, ist eine andere Sache.

Die Inspektionstätigkeit war das Ergebnis von etwas, was erst noch aufgebaut werden musste, sozusagen das Dach des Hauses.

Natürlich, aber nach dem Moneyval-Bericht, der einen Mangel an Befugnissen der Aufsichtsbehörde festgestellt hatte, wusste das Staatssekretariat ganz genau, dass hier Maßnahmen erforderlich waren, und ich denke, das hat ihnen Sorgen gemacht, auch weil zuvor die Konten in Ordnung zu bringen waren.

Welche Konten waren denn in Ordnung zu bringen?

Ich glaube, die Beratungsgesellschaft Promontory hat daran gearbeitet, auch wenn schon im Jahr zuvor einiges bereinigt worden war. Als das Staatssekretariat sich nach dem Besuch von Moneyval im November der Gefahren und Risiken bewusst wurde, kappte das IOR nahezu die Kontakte zu uns, und ich denke, dass die problematischsten Sachen etwa in einem Jahr beseitigt wurden. Dann kam Promontory und bereinigte weiter, aber da muss man sehen, was für eine Bereinigung das war.

Spielten in dieser ganzen Geschichte die Kolumbusritter auch irgendeine Rolle?

Sie hatten einen Vertreter im Aufsichtsrat des IOR, Carl Anderson. Die Initiative für die Absetzung Gotti Tedeschis ging von Anderson aus, mit der Unterstützung von Jeffrey Lena. Ihm gegenüber beklagte ich mich einmal darüber, dass Cipriani und Tulli keine Mitarbeit zeigten. Er gab mir zur Antwort, dass für sie nicht Cipriani und Tulli das Problem waren, sondern der Professor. Bald darauf sägten sie ihn dann ab.

Aber woher kamen diese ganzen Befürchtungen? 

IOR-Direktor Cipriani hatte große Sorge, dass wir uns die alten Vorgänge ansehen wollten. Ich weiß nicht, wie berechtigt die Sorge war, in dem Sinn, dass die alten Sachen vielleicht … Er sagte: »Ihr werdet doch wohl nicht die Angelegenheiten der Banco Ambrosiano aufarbeiten wollen?«

Als Sie dem Verwaltungsrat beitraten, wurde Ihre Rolle deutlich eingeschränkt …

Im Verwaltungsrat nahm man nach und nach diesen Mangel an Transparenz von Seiten Brülharts zur Kenntnis. Am 16. Januar 2014 schrieben wir als Verwaltungsrat an den neuen Kardinalstaatssekretär Parolin und beklagten in dem von allen unterschriebenen Brief die Undurchsichtigkeit. Wir verteidigten das Vorgehen Nicoras, wir bezogen also Stellung. Es gelang mir sogar, Dalla Torre zur Unterschrift zu bewegen, was er nachher wahrscheinlich bereut hat.

Und die Reaktion?

Der Brief führte zur Verschiebung der Erneuerung des Verwaltungsrates: Sie wollten alle Italiener rauswerfen. Bald darauf wurde Nicora zum Rücktritt gezwungen, denn da es ihm nicht gelungen war, die Entlassung Brülharts durchzusetzen, reichte er seinen eigenen Rücktritt ein. Er hatte ein Gespräch mit Parolin, in dem er sagte: »Na schön, dann muss ich abtreten.« Also trat er zurück, und am 30. Januar 2014 wurde Giorgio Corbellini zum Interimspräsidenten der AIF ernannt. Eine Zeit lang beklagte auch er sich … Nun war der Weg für Brülhart frei: Im darauffolgenden November wurde er Präsident.

Wie stellt sich die Lage in der Behörde heute dar?

Ich glaube, die Verfahrensanweisungen stehen, aber … Bei all diesen Consultingfirmen, die mitgemischt haben – ich glaube, es fehlte keine, Pricewaterhouse Coopers, McKinsey, Deloitte, Promontory, Ernst & Young – werden die Verfahrensanweisungen bestimmt in Ordnung sein. Sagen wir, es hat eine kosmetische Anpassung gegeben.

Alles in Ordnung also?

Die Verfahrensanweisungen reichen nicht aus. Es müsste jemand seine Nase in die Konten stecken. Aber der einzige Evaluierungsbericht ist der vom Juli 2012, danach gibt es zwei Fortschrittsberichte (2013 und 2015), die aber keine Evaluierung darstellen, hinsichtlich einer Evaluierung sind sie irrelevant. Da der Vatikan hier das Schlusslicht ist, muss er erst noch eine zweite Evaluierung erhalten, während die anderen Länder bereits drei oder vier davon haben. Dieser Bericht hat dann nicht nur die normative Übereinstimmung mit den internationalen Standards zu überprüfen, sondern die Wirksamkeit, das heißt die Anpassung, die Umsetzung. Dann wird man sehen … Aber ich denke, da wird noch viel Zeit vergehen.

Weshalb?

Weil sie jetzt die Hebel in der Hand haben, diese Evaluierung so lange wie möglich hinauszuzögern, und auf den Kalendern der Aufsichtsgremien (Moneyval und FATF, der internationale Arbeitskreis Maßnahmen zur Geldwäschebekämpfung) scheint der Vatikan noch nicht auf. Es gibt zwei Listen: Die erste umfasst die Länder, die sogar bis 2022 der Prüfung unterzogen werden, die zweite jene Länder, für die noch kein Prüfungstermin feststeht. Darunter befindet sich vermutlich auch der Vatikan. Vielleicht haben sie Angst, dass ihnen hinsichtlich der Wirksamkeit [der Anwendung des Gesetzes, A.d.A.] etwas entgangen ist. Im Juni 2014 hatte ich ein Gespräch mit Parolin, der mich fragte, was zu tun sei …

Was haben Sie Parolin geantwortet?

Ich habe ihm gesagt, die AIF müsse gestärkt werden, ich habe ihm empfohlen, sich nicht amerikanischer Expertise zu bedienen, sondern eher europäischer, und schließlich habe ich ihm noch geraten, die Anpassung nicht nur als Kosmetik zu betreiben. 

Und was hat er geantwortet?

Gar nichts. Als guter Diplomat schwieg er einfach. Er ist jemand, der lieber Dinge in Erfahrung bringt, als sich zu äußern. Diplomatenschule bei Sodano, vermute ich. Ich denke, er macht seine Arbeit gut. Auf jeden Fall ein großer Schritt nach vorn, verglichen mit Bertone.

Das Ende des Pontifikats

Die Verhandlungen zum Fall Emanuela Orlandi, der Rauswurf Gotti Tedeschis und die – trotz Ansätzen zur Transparenz – heftig umstrittenen vatikanischen Finanzen, der Skandal um die Veröffentlichung höchst vertraulicher Dokumente aus den Gemächern des Papstes: Diese drei Affären entwickeln sich erstaunlicherweise zur selben Zeit, zwischen Herbst 2011 und Frühling 2012. Die Ereignisse überschlagen sich. Man muss sie aber gemeinsam betrachten, um das Schlusskapitel des damaligen Pontifikats zu verstehen, die Machtspiele derer, die die Lage ausnutzen wollten, und die Reaktionen Benedikt XVI., der die Kirche bereits auf seinen Rücktritt vorbereitete. Die Verhandlungen um das Verschwinden von Emanuela Orlandi beispielsweise, die nach Jahren völliger Funkstille wieder aufgenommen worden waren, scheiterten plötzlich im März 2012 unmittelbar vor dem Misstrauensvotum gegen den Präsidenten des IOR.

Ebenfalls im Herbst 2011 versuchte der Kammerdiener Benedikts XVI., Paolo Gabriele, Verbindung zu mir aufzunehmen. Er hatte vor, mir Kopien von Unterlagen zu Vorfällen von Korruption, Privilegien und Übergriffen zuzuspielen. Gabriele genießt das volle Vertrauen von Benedikt XVI. und seines Assistenten Gänswein. Bereits seit 2006 sammelte und fotokopierte er vertrauliche Dokumente, ohne dass es jemand merkte. Zumindest hatte es den Anschein. Bei unseren Treffen erzählte er mir von mehreren unter den Teppich gekehrten Skandalen, von denen die Öffentlichkeit noch nichts wusste. All diese Geschichten waren durch umfangreiche Unterlagen belegt, die dann die Grundlage für mein Buch Seine Heiligkeit bildeten, das im Mai 2012 in Italien erschienen ist.

In der ersten Geschichte geht es um Carlo Maria Viganò, den der Papst gerufen hatte, um bei Ausgaben und Auftragsvergaben aufzuräumen. Er wurde am 16. Juli 2009 zum Sekretär des Governatorats ernannt. Viganò ist eine Persönlichkeit, wie sie in der Welt der Kirche nur selten anzutreffen ist. Er ist hochintelligent und tritt wie ein Manager oder Unternehmer auf. Nichts bleibt bei ihm dem Zufall überlassen. Er ist tiefgläubig und charakterfest, weshalb er manchmal auch unbequeme und riskante Positionen bezieht. Gleichzeitig ist er unnachgiebig, mutig, äußerst fähig und willensstark. Bald lässt er alle Zurückhaltung fahren und prangert vor dem Papst schwarz auf weiß Fehlbeträge, Fälle von Korruption und aufgeblähte Vergabepreise an, etwa die Kosten für den Weihnachtsbaum auf dem Petersplatz von beinahe einer halben Million Euro. Viganò sieht sich im Recht und gerät mit Bertone und der von ihm so genannten Schwulenlobby des Vatikans in Konflikt. Der Erzbischof ist sich nicht recht bewusst, worauf er sich einlässt, als er die Machtverhältnisse in der Kurie durcheinanderbringt.

Im Sommer 2011 reagiert das Staatssekretariat mit voller Wucht. Im September verliert Viganò seinen Posten im Governatorat und wird durch den sizilianischen Bischof Giuseppe Sciacca ersetzt, einen eisernen Gefolgsmann Bertones. Aber damit nicht genug. Viganò soll aus der Vatikanstadt verschwinden. Man will ihn »so weit weg wie möglich« haben, wie mehrere Prälaten von Bertone verlangen. Am besten in Afrika. Im Juli stirbt in Baltimore wegen postoperativer Komplikationen Kardinal Pietro Sambi, der Apostolische Nuntius in Washington. Benedikt XVI. ergreift sofort die Gelegenheit und verfügt Viganòs Versetzung. Am 19. Oktober reist dieser in die USA. Das prestigeträchtige Amt behält er bis 2016. In den Vereinigten Staaten verfällt er aber keineswegs der Resignation. Er erzählt der einflussreichen Gemeinschaft amerikanischer Bischöfe und Kardinäle von seinen Entdeckungen in der Kurie, insbesondere von der uneingeschränkten Macht Bertones und anderer italienischer Purpurträger.[9] Ausführlich breitet der Bischof sein Wissen über Unregelmäßigkeiten und Geheimnisse vor jenen Kardinälen aus, die beim nächsten Konklave ein deutliches Votum für einen Wandel aussprechen und Bergoglio zum Nachfolger Benedikts XVI. wählen.

In den Monaten, in denen ich mich mit Gabriele treffe, der mir zahlreiche Fotokopien von Dokumenten aushändigt, geschieht etwas Alarmierendes, das die Sache zum Krimi macht. Manche der Papiere, die der Kammerdiener mir überlassen hatte, werden im März und April 2012 von der Tageszeitung »Il fatto quotidiano« veröffentlicht. Die Exklusivmeldungen aus der Feder Marco Lillos rufen Aufsehen hervor und nehmen faktisch einige der Themen aus Seine Heiligkeit vorweg. Was war geschehen? Wie konnte es sein, dass Gabriele dieselben Unterlagen auch einem anderen Journalisten überlassen hatte? Aus welchem Grund? Ein solches Verhalten ließ sich logisch nicht nachvollziehen. Auf meine Frage hin versicherte mir der Kammerdiener, er habe keinen anderen Kontakt außer zu mir. Entweder er war ein ausgezeichneter Schauspieler, oder er sagte schlicht die Wahrheit. Ich glaube ihm. Gabriele ist durch den Umstand echt betroffen. Er versucht, mir so gut es geht zu helfen. Mit Sicherheit lügt er nicht. Wahrscheinlich hat jemand im Vatikan die Entscheidung getroffen, einige der Unterlagen, die in meinem bald erscheinenden Buch enthalten sind, an die Öffentlichkeit zu bringen, um manches vorwegzunehmen und zu erklären. Doch woher wissen die, welche Unterlagen in meinem Besitz sind? Ich neige keineswegs zu Verschwörungstheorien, aber ich habe den deutlichen Eindruck, dass irgendetwas nicht stimmt.

Dann geschieht noch etwas Unerwartetes: Der Vorstand des IOR spricht Gotti Tedeschi das Misstrauen aus, die entsprechende Pressemitteilung wird am 24. Mai vom Presseamt verbreitet. Die Nachricht geht um die Welt. Sollten die Details der Auseinandersetzung um den Umgang mit den vatikanischen Finanzen ans Licht kommen, würden die Medien der ganzen Welt ihr Augenmerk auf diese Angelegenheit fokussieren. Alle würden Fragen stellen. Es bestünde die Gefahr, dass die Wahrheit über die Ränkespiele des IOR zutage treten würde. Warum wurde Gotti Tedeschi aus dem Amt katapultiert?

Kaum 24 Stunden später erobert der sogenannte Vatileaks-Skandal die Titelseiten der Tageszeitungen: Der Kammerdiener des Papstes, Paolo Gabriele, wird mit der Anschuldigung verhaftet, mir Unterlagen übergeben zu haben. Im Rückblick auf jene Zeit kann ich getrost die Feststellung treffen, dass das zeitliche Zusammentreffen der Affäre um Gotti Tedeschi und jener um Paolo Gabriele kein Zufall gewesen sein kann. Die – zwecklose, unverhältnismäßige und für einen unbescholtenen Menschen maßlos überzogene – Verhaftung hat eindeutig denen in die Hände gearbeitet, die die öffentliche Aufmerksamkeit von der höchst brisanten Frage der Transparenz des IOR ablenken wollten. Und nicht nur das. Vatileaks machte es möglich, im Vatikan das Klima eines »Polizeistaats« einziehen zu lassen, weil durch geschickt platzierte Informationen die Existenz einer unwahrscheinlichen Geheimorganisation an die Wand gemalt wurde. Diese habe die Operation mit dem Kammerdiener ausgeheckt. Im Nachhinein erwies sich das natürlich als Hirngespinst. Aber trug dies nicht alles dazu bei, die Angst zu schüren und damit die Überwachungsbefugnisse der Sicherheitskräfte des kleinen Staates zu erweitern? Es wird kein Zufall sein, dass Gotti Tedeschi in den Büros auf Wanzen stieß, die er dann seinen Anwälten und den Justizbehörden meldete. Die Regisseure von Vatileaks haben zunächst einige Dokumente vorab den Zeitungen zugespielt und dann die Skandalwelle der Empörung geritten, um die mediale Aufmerksamkeit vom IOR abzulenken. Sie haben Gabriele kriminalisiert und am Heiligen Stuhl ein Klima der Einschüchterung erzeugt.

 

Kehren wir zu jenen dramatischen Tagen und Stunden zurück, in denen man versuchte herauszufinden, wer die Dokumente den Journalisten zuspielte. Am Nachmittag des 24. Mai begegnet Gänswein Paolo Gabriele, sieht ihm in die Augen und flüstert: »Schauen Sie, ich habe Sie stark im Verdacht, ich kann es nicht beweisen, aber nur Sie können wissen, was geschehen ist.« Das ist das Ende. Als Gabriele in der Nacht desselben Tages verhaftet wird, denkt er nicht an seine Kinder, seine Frau, den Papst oder den Skandal. Nein, sein erster Gedanke geht, wie er später Freunden anvertraut, an seine Mutter, die er viele Jahre vorher genau in der Nacht des 24. Mai verloren hatte, als er erst dreieinhalb Jahre alt war. Durch den Umstand, dass er genau am selben Tag verhaftet und in eine Zelle gesteckt wird, »wo ich nicht einmal die Arme ausbreiten konnte«, wie er seinen Freunden gerne erzählt, fühlt er sich irgendwie geschützt. Gendarmerieinspekteur Domenico Giani verhört ihn, wird dabei laut, Gabriele denkt an seine Kinder, an die Labilität dieses Pontifikats. Giani fragt ihn, ob er auch das Dossier über Emanuela Orlandi fotokopiert habe. Der Chef der Gendarmerie ist besorgt, doch der Kammerdiener verneint. Später berichtet er Emanuelas Bruder Pietro Orlandi davon und ebenso dem Ermittlungsrichter Giancarlo Capaldo, der den Fall betreut. Gabriele steht die Haft, den Prozess und die sich nach und nach auflösenden Anschuldigungen mit Entschlossenheit durch.

Von vielen Seiten wird versucht, seine Glaubwürdigkeit zu beschädigen, so wie man es mit Gotti Tedeschi gemacht hat und ein paar Jahre später auch mit Lucio Ángel Vallejo Balda tun wird, dem Sekretär der Kommission für die wirtschaftliche und administrative Neustrukturierung des Vatikans (COSEA), die Papst Franziskus im Sommer 2013 eingerichtet hat. Oder im Sommer 2017 mit dem Rechnungsprüfer Libero Milone, um dessen Ausschluss zu rechtfertigen. Lauter psychisch labile Menschen: Unter diesem Vorwand werden sie von der Kurie aus dem Weg geräumt.

Gabriele verliert seine Arbeit, seine Wohnung und sein Ansehen, weil er sich dafür einsetzt, wenigstens einige der Skandale in die Öffentlichkeit zu bringen, von denen das Leben im Vatikan geprägt ist. Seine Anschuldigungen aber sind nicht umsonst. Gleichzeitig beauftragt Benedikt XVI. Kardinal Julián Herranz und zwei weitere Kardinalskollegen mit einer Untersuchung der verborgenen Missstände innerhalb der Kurie. Die drei vertiefen sich im Sommer und Herbst 2012 eingehend in das Thema und überreichen Benedikt XVI. schließlich im Dezember desselben Jahres einen umfangreichen Abschlussbericht. Dieses Dokument übergibt Benedikt XVI. dem neuen Papst Franziskus am 23. März 2013 beim ersten Treffen in der Bibliothek von Castel Gandolfo. Ohne Paolo Gabriele wäre die Kommission Herranz überhaupt nicht gebildet worden, Benedikt XVI. hätte die dunklen Geheimnisse des kleinen Staatsgebildes nicht ausloten lassen. Vielleicht wäre er nicht einmal zurückgetreten, mit jenem verzweifelten letzten Schritt, der der Wiederherstellung jener Glaubwürdigkeit dienen sollte, die die Händler im Tempel zunehmend zerstört hatten. Am Ende des Gerichtsverfahrens erhält Gabriele eine leichte Strafe: Das Gericht lässt mildernde Umstände gelten, weil es überzeugt ist, dass der frühere Kammerdiener aus mehreren Gründen für das Wohl der Kirche gehandelt hat. Eine Strafe folglich, die nichts mehr mit dem Strafmaß zu tun hat, das die Meldungen aus dem Staatssekretariat gleich nach der Verhaftung dieses unbescholten Dieners Benedikts XVI. in Aussicht gestellt hatten. Gabriele hatte diese jahrelangen Missstände nicht mehr mitansehen können. Er schrieb zwei Briefe an Benedikt XVI. Er bat um Vergebung und erhielt sie. Der Papst begnadigte ihn, vor allem um der Familie seines Kammerdieners die Unbeschwertheit und die Sicherheit wiederzugeben, die sie verloren hatte. Das solide und enge Verhältnis zu Benedikt XVI. bleibt bestehen. Gabriele lebt jetzt außerhalb der vatikanischen Mauern, in der Nachbarschaft von Ingrid Stampa, einer der Benedikt XVI. am nächsten stehenden Personen. Zu Weihnachten erhält er einen Glückwunsch des emeritierten Papstes. Es schwebt allerdings noch ein Damoklesschwert über seinem Haupt: Denn es läuft noch ein Verfahren gegen Unbekannt wegen Verleumdung und übler Nachrede gegenüber Giani, Verunglimpfung der Institutionen und Angriff auf die Sicherheit des Staates.

Sollte sich Gabriele einen falschen Schritt erlauben, liegt daher eine Akte griffbereit, die sich gegen ihn verwenden lässt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb er sich Zurückhaltung auferlegt hat. Er sondert sich ab, gibt keine Interviews oder Erklärungen an die Presse und lehnt die zahlreichen Angebote ab, in einem Film oder einem Buch vom Leben Benedikt XVI. zu erzählen. Er will lediglich vergessen werden und sich ein normales Leben aufbauen. Gleich nach dem Skandal, dem Prozess und der Vergebung des Papstes war die Nachricht durchgesickert, der Vatikan habe dem vormaligen Kammerdiener großzügigerweise einen Arbeitsplatz gewährt, diesmal außerhalb der vatikanischen Mauern. In Wirklichkeit wurde er nicht beim Vatikan angestellt, sondern mit einem Grundgehalt von eintausend Euro bei einer Genossenschaft, die Dienstleistungen für das in vatikanischem Besitz befindliche Krankenhaus Bambino Gesù erbringt. Doch mit einem nicht gerade glücklichen Ausgang: Zunächst war er enttäuscht, weil man ihm praktisch keine Arbeit zuwies, dann kündigte er. Den Aussagen seiner Kollegen zufolge konnte Gabriele sich nicht damit abfinden, einen Lohn zu bekommen, ohne etwas dafür zu tun, noch irgendetwas schuldig zu sein, nachdem er mit der vatikanischen Justiz abgerechnet und die Zuneigung und Vergebung des emeritierten Papstes erhalten hatte. In diesem Sinne schrieb er einen langen Brief an Kardinal Parolin, bat um ein Gespräch und vertraute auf die Rechtschaffenheit des neuen Kardinalstaatssekretärs. Als im Apostolischen Palast die Nachricht von diesem Brief durchsickert, zweifeln viele daran, dass der Kardinal ihn beantworten wird. Gabriele fürchtet, der Mann sei kaum oder gar nicht über die Sache informiert, da Parolin zur betreffenden Zeit als Apostolischer Nuntius im fernen Venezuela war. Nach monatelanger Funkstille erreicht Gabriele ein Anruf aus dem Staatssekretariat, mit dem ein Gesprächstermin vereinbart wird.

Ich hatte schon seit Jahren keine Gelegenheit mehr, mit dem Kammerdiener Benedikts XVI. zu sprechen, kann mir aber vorstellen, wie er sich gefreut hat, den Kardinalstaatssekretär treffen und sich mit der Welt der Kurie endgültig versöhnen zu können. Diese hatte sich in der Zwischenzeit dank Papst Franziskus spürbar verändert. Gabriele hatte im Vatikan gelebt, seine Kinder sind dort groß geworden, er hat sich als echter »Diener der Kirche« verstanden, wie er mir immer wieder sagte. Nur wenige Freunde sind ihm verblieben. Einige Kardinäle, gewiss, etwa Kardinal Paolo Sardi, der ihn stets in Schutz genommen hat, da er Gabrieles Redlichkeit kannte.

Das Treffen mit Parolin erweist sich als nützlich. Im Staatssekretariat bleibt nicht unbemerkt, wie geschickt der Kardinal aus dem Veneto seine diplomatische Kunst eingesetzt hat, um Gabriele tief in die Seele zu blicken und zu verstehen, was in den letzten Jahren des Pontifikats von Benedikt XVI. geschehen war. Er stellt wenige, aber gezielte Fragen. Man kann sich gut vorstellen, dass das Gespräch mit dem Wunsch des früheren Kammerdieners endete, in den Vatikan zurückkehren zu können. Parolin sondiert in den vatikanischen Instanzen. Bei Benedikt XVI. spricht dessen alte Freundin und vertraute Mitarbeiterin Ingrid Stampa vor. Auch der Substitut im Staatssekretariat, Kardinal Wells, versucht, Gabriele zu helfen, aber es gibt auch Widerstände, allen voran bei Becciu und bei Giani. Manche fürchten, seine Rehabilitierung könne als Affront gegen Benedikt XVI. aufgefasst werden. Wieder einmal ist gerade dieser es, der alle überrascht und im Staatssekretariat die Feststellung trifft, jeder Mensch habe ein Recht auf eine zweite Chance. Knappe, aber klare und aufschlussreiche Worte.

Dadurch löst sich die Blockade. Parolin bespricht die Angelegenheit mit Papst Franziskus. Man findet eine neue Stelle, aber erst im Juli 2015, nach monatelanger Verzögerung und der Beseitigung bürokratischer Stolpersteine. Es gilt auch, diejenigen zu überstimmen, die unter Missachtung der Lehre von der Vergebung die Wiedereingliederung Gabrieles boykottieren wollen. »Ohne diese Skandale hätte das Konklave nicht den Schritt gemacht, der dann zur Wahl Papst Franziskus’ geführt hat«, kommentiert ein betagter Kurienkardinal. Es bliebe noch herauszufinden, ob Gabriele, wie er selbst behauptet, auf eigene Faust gehandelt hat, oder ob er aus dem Vatikan heraus von jemandem gestützt wurde, der dem Papst helfen wollte, wovon der Autor dieses Buches ausgeht.

Letztendlich wurde der frühere Kammerdiener dem amerikanischen Kardinal James Michael Harvey, Jahrgang 1949, unterstellt, dem Erzpriester der Basilika San Paolo fuori le Mura. Dieses Amt wird gewöhnlich Kardinälen in fortgeschrittenem Alter übertragen (zu den letzten Vorgängern gehören der 80-jährige

Andrea Cordero Lanza di Montezemolo und der 75-jährige Francesco Monterisi), als Lohn für ihren langen Dienst an der Kirche. Harvey war bei seiner Ernennung erst 63 Jahre alt. Böse Zungen in der Kurie meinen, der Kardinal habe den Aufstieg Gabrieles im Apostolischen Palast erst möglich gemacht. Harvey war dort nämlich Präfekt, bevor er diese Funktion im November 2012 an Gänswein übergab. Demnach würde er dafür büßen, dass er Gabriele zunächst als Hausangestellten und dann als Assistenten für die Papstwohnung empfohlen hatte. Die Kurie vergisst nicht, vor allem vergibt sie nicht.

Der Zeitraum von Ende 2011 bis Mitte 2012 ist für das Verständnis der Auseinandersetzungen entscheidend, die auch heute noch unter Papst Franziskus anhalten. Es kam damals zu einer ganzen Reihe von Kettenreaktionen. Auf der einen Seite versuchte der Papst, die Dinge im Vatikan zu ändern, den Kindesmissbrauch zu bekämpfen und für transparente Finanzen zu sorgen, auf der anderen versuchten die im Vatikan bestehenden Machtblöcke, die Veränderungsbestrebungen zu hintertreiben und zu untergraben. Gerade in den heftigsten Momenten der Auseinandersetzung wird sich Benedikt XVI. zu dem unerwarteten und ungeheuerlichen Schachzug des Amtsverzichts entschlossen haben, um auf diese Weise die herrschenden Machtblöcke in ihre Schranken zu verweisen. Denn mit seinem Rücktritt sahen sich die Leiter sämtlicher Dikasterien der römischen Kurie gezwungen, ebenfalls einen Schritt zurück zu machen. Einem pragmatischen Wissenschaftler wie Benedikt XVI., einem der größten lebenden Intellektuellen, konnte natürlich nicht entgehen, welche Auswirkungen seine Aufsehen erregende Entscheidung in der Welt des Katholizismus hervorrufen würde. Deshalb musste die Entscheidung sorgfältig in die Wege geleitet werden, auf zwei Ebenen: Zum einen musste man die Kirche vorbereiten und von Schwachstellen und Belastungen befreien; zum anderen ging es darum, das anschließende Konklave in die Lage zu versetzen, einen Nachfolger zu wählen, der einerseits die Unterstützung der Gläubigen genoss, andererseits aber auch die Kraft haben musste, den Reformprozess fortzuführen. Jene Kraft, von der Benedikt XVI. wusste, dass er sie nicht besaß.