Die Macht der Schwulenlobby

Das Opfer: »Ich habe nicht die Kraft, zu reden«  

Die Beschwerde von Kamil Tadeusz Jarzembowski über das Präseminar kommt für die vatikanischen Behörden kaum überraschend. Nicht zum ersten Mal gibt es Hinweise darauf, dass in dem Seminar für Jugendliche, die sich berufen fühlen, alarmierende Dinge passieren.

Schon im Sommer 2013 hatten mehrere hohe Kurienmitglieder einen anonymen Brief erhalten: der frühere Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano,[1] der bereits genannte Kardinal Angelo Comastri und mehrere Mitarbeiter des damaligen Kardinalstaatssekretärs Tarcisio Bertone, wie der Sekretär für die Beziehung mit den Staaten und heutige Kardinalpräfekt des Obersten Gerichtshofs der Apostolischen Signatur, Dominique Mamberti. Nach Erhalt des Schreibens wandte sich Sodano an Comastri und an Prälat Vittorio Lanzani, Sekretär der Dombauhütte von St. Peter, und bat die beiden um Aufklärung. Daraufhin bestellte man den Rektor von St. Pius X., Enrico Radice, ins Staatssekretariat. Doch Radice bestritt alle in dem Schreiben genannten Vorfälle; wie er meinte, seien die Jungen wohl lebhaft, aber erwähnenswerte Vorfälle gebe es nicht. Letzten Endes betrachtete man das Schreiben als Auswuchs der Gerüchte und Verleumdungen, die wie ein lästiger Wind durch die Heiligen Paläste wehten, und Comastri vernichtete es.[2] Vielleicht schwieg man darum zunächst beharrlich, als Jarzembowski wenige Monate nach seinem Rauswurf aus dem Präseminar über weitere Vorfälle berichtete.

Das Schweigen wich in den nächsten Monaten einem Feuerwerk von Andeutungen und Unterstellungen: Jeglicher Vorwurf wurde bestritten, und der junge Seminarist sollte isoliert und seine Glaubwürdigkeit unterminiert werden. Er sei von Rachegelüsten, enttäuschter Liebe oder, schlimmer noch, von Geldgier getrieben, hieß es nun. »Nichts davon ist wahr«, sagt Jarzembowski, »ich will kein Geld, ich will Aufklärung und Gerechtigkeit.« Ich kann nicht überprüfen, wie glaubwürdig seine Aussagen sind, und veröffentliche in diesem Buch darum auch keine Namen, möchte aber in diesem Zusammenhang doch auf einige Punkte hinweisen.

Es versteht sich natürlich von selbst, dass das Präseminar St. Pius X. hier nicht kriminalisiert werden oder behauptet werden soll, die von Jarzembowski beschriebenen Vorfälle seien dort an der Tagesordnung. Über Wahrheit und Ausmaß des Beschriebenen zu befinden, ist Aufgabe der zuständigen Behörden. Doch wenn es in einem Seminar, in dem auch neunjährige Kinder leben, tatsächlich zu Einschüchterungsversuchen, Übergriffen und sexuellem Missbrauch gekommen sein sollte, muss man über die Schwere der Vorwürfe wohl nicht lange diskutieren. Fest steht jedenfalls, dass Jarzembowski im Lauf der Jahre nicht nur von mehreren ehemaligen Mitschülern, von Priestern und sogar Bischöfen unterstützt wurde, sondern auch von Menschen, die ähnliche Übergriffe durch Antonio beklagen. Hätte er sich alles nur ausgedacht, stände er mittlerweile allein da. Doch bis heute helfen ihm heimlich Leute aus dem Vatikan und lassen ihm Informationen zukommen, damit er sich doch noch Gerechtigkeit verschaffen kann.

Dann wäre da noch ein weiterer, noch wichtigerer Punkt: das Verhältnis zwischen dem mutmaßlichen Opfer und seinem Fürsprecher. Paolo wird von Jarzembowski laufend über den Fortgang der Ereignisse informiert; er weiß also darüber Bescheid und ist einverstanden. Dritten gegenüber hat er mehrfach deutlich gemacht, dass er seinem ehemaligen Zimmernachbarn dankbar sei, da er selber aufgrund der belastenden Ereignisse nicht die Kraft gehabt habe, etwas zu tun. »Manchmal entschuldigt er sich bei Kamil, weil er ihn schlecht behandelt«, sagt ein Freund von Paolo, »aber er leidet eben noch immer unter dem Geschehenen, und wenn die Erinnerung hochkommt, erkennt er sich manchmal selbst nicht wieder. Dann steigt eine unkontrollierbare Wut in ihm hoch. Doch er hat sich schon mehrmals bei Kamil dafür bedankt, dass er die Briefe geschrieben hat und dass er sich öffentlich für ihn einsetzt, weil er nicht die Kraft dazu hat. Heute ist Paolo auch wegen etwas ganz anderem besorgt: dass dieser Typ [der den mutmaßlichen Missbrauch begangen hat, A.d.A.] wirklich Priester werden und sogar unterrichten könnte!« Kurzum, dass man den Bock zum Gärtner macht. Tatsächlich wurde Antonio mittlerweile, als wenn nichts gewesen wäre, in seiner Diözese zum Priester geweiht.

Betrachtet man die wenigen offiziellen schriftlichen Reaktionen der Kirche auf Jarzembowskis Beschwerde, dann wird deutlich, dass damit offensichtlich nur ein Ziel verfolgt wird: den jungen Seminaristen zu beruhigen und möglichst von weiteren Schritten abzuhalten. Der Briefwechsel zwischen Jarzembowski und einigen Prälaten ist in dieser Hinsicht äußerst aufschlussreich. So schreibt Kardinal Comastri, Erzbischof des Petersdoms, am 2. Juli 2014:

Liebster Kamil,
bezüglich Deines Briefes vom 23. Juni kann ich Dir sagen, dass ich […] alle Informationen an den Bischof weitergegeben habe und dieser seine Entscheidung nach gründlicher Abwägung bekräftigt hat. Meinerseits bin ich ihm gegenüber vollkommen offen gewesen und habe ihm nichts von dem vorenthalten, was ich weiß. Ehe der Bischof endgültige Schritte veranlasst hat, hat er alles gründlich erwogen. Was Deine weitere Zukunft betrifft, würde der Rektor Dir helfen, im römischen Seminar für Minderjährige oder einer anderen von Dir vorgeschlagenen Institution aufgenommen zu werden. Meinerseits wünsche ich mir, dass Du zu einer heiteren Seele zurückfindest und Dein Herz Frieden findet. Du wirst so Dinge und Personen besser beurteilen und die nächsten Schritte für Deine Zukunft besser in Angriff nehmen können. Ich werde für Dich beten und Dein Herz dem Unbefleckten Herz Mariens anvertrauen, damit Licht und Frieden wieder Einzug darin halten.

Kardinal Angelo Comastri

Ähnliches schreibt auch Bischof Diego Coletti in mehreren E-Mails. Hier die E-Mail vom 12. Juli 2014:

Ich habe Dein Schreiben erhalten und gelesen. Meinerseits kann ich Dir nur empfehlen, mit denen zu sprechen, die Deine persönliche Situation aus der Nähe verfolgt haben und die, so denke ich, nach reiflicher Überlegung entschieden haben, was zu Deinem und zum Besten anderer ist. Ich rate Dir, Dich direkt an die zu wenden, die Dir diese Entscheidung mitgeteilt haben. Ich achte diese Menschen sehr und kann mir nicht vorstellen, dass sie leichtfertig, ohne ihrer Verantwortung und Zuständigkeit Rechnung zu tragen, entschieden haben. Ich hoffe, dass Du zu Heiterkeit und Sanftmut zurückfindest. Ich bete für Dich.

Diego Coletti

Die E-Mail vom 31. Juli 2014 klingt schon eindeutiger:

Lieber Kamil,
mein Computer hat heute Morgen gemacht, was er wollte, darum weiß ich nicht, ob Du meine Nachricht bekommen hast.

Ich schreibe Dir darum noch einmal und hoffe, dass es diesmal klappt. Ich habe mich heute lange mit […] unterhalten und versucht, alle Informationen zu Deiner Herzensangelegenheit zu bekommen. Vollkommen unabhängig von einer Bewertung Deiner Person oder Deines Verhaltens, bin ich dabei zu der Überzeugung gelangt, dass es aus vielen Gründen keinen Sinn mehr hat, dass Du am Seminar bleibst. Du wirst sicher verstehen, dass eine fruchtbare Lehrer-Schüler-Beziehung und eine Beurteilung Deiner Berufung nicht mehr möglich sind, wenn das Vertrauen zwischen Schüler und Lehrer einmal erschüttert ist. Das Vertrauen kann dabei auch erschüttert sein – und wie ich Deinem Schreiben entnehme, scheint das ja zumindest auf Deiner Seite der Fall zu sein –, ohne dass jemand im Einzelnen daran Schuld hat. Ich verstehe, dass diese Situation für Dich nicht schön ist, aber Du musst auch verstehen, dass es schwierig ist, Dir als Grund für die Entscheidung einen konkreten »strafrechtlich relevanten« Grund oder Vorwurf zu nennen. Häufig, ich sage es noch einmal, sind menschliche Beziehungen, ohne dass eine Seite daran Schuld hätte (oder beide mehr oder weniger), so nachhaltig gestört, dass es sinnlos und sogar kontraproduktiv wäre, daran festzuhalten. 

Das solltest Du einfach zur Kenntnis nehmen und Deinen Weg woanders fortsetzen. Ich glaube, dass wäre wirklich zu Deinem Besten. Ich weiß, dass Don Magistrelli Dir vor einigen Tagen geschrieben hat, Du möchtest Dich in Demut üben und … auch in ein wenig Dankbarkeit für das, was man in diesen Jahren mit Dir und für Dich getan hat.

Ich hoffe, dass meine Erläuterungen Dir helfen können, zu innerem Frieden zurückzufinden.

Ich bete für Dich.

Diego Coletti

Da dieses Buch bald erscheinen wird, kommt es nun den zuständigen Behörden zu, die Vorfälle im Einzelnen aufzuklären. Jarzembowski hat mittlerweile bei der römischen Polizei in Trastevere ausgesagt, und Paolo, das mutmaßliche Opfer, hat sich in Begleitung seines Anwalts mit den Anwälten der möglichen Gegenseite getroffen und ihnen gegenüber die Vorwürfe und Erzählungen seines Freunds bestätigt. Wenn Jarzembowskis Aussagen tatsächlich zutreffen, würde das bedeuten, dass man erstmals unmittelbar im Vatikan Missbrauchsfälle aufdecken würde, und schlimmer noch, in einem Präseminar mit jungen Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als Messdiener im Petersdom und vielleicht einmal Priester zu werden.

Bislang war so etwas nur außerhalb des Vatikans vorgekommen oder zumindest nur außerhalb davon aufgedeckt und angezeigt worden. Doch wie es der perfide Zufall wollte, kam ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als der Papst bei der Generalaudienz im Petersdom den Brief erhalten und erste Nachforschungen angeordnet hatte, eine weitere monatelang geheim gehaltene Drogen- und Sexgeschichte ans Tageslicht, die im Vatikan und in den internationalen Medien hohe Wellen schlug. Und so unglaublich es klingt, hatte sich das Ganze unmittelbar im Vatikan abgespielt.

Drogen- und Schwulenparty in der Glaubenskongregation 

In diesem Fall erhielt die Gendarmerie, die Vatikanpolizei, im Winter 2016 den ersten Hinweis: In einem anonymen, allgemein gehaltenen Schreiben hieß es, ausgerechnet in einem der wichtigsten, symbolträchtigsten Gebäude des Vatikans, im Palazzo del Sant’Uffizio, dem Palast der Kongregation für die Glaubensfragen, hätten mehrere Treffen mit Strichern stattgefunden. Das Gebäude, das hinter den Kolonnaden des Petersplatzes, auf der Grenze zwischen Italien und dem Vatikan liegt, genießt den Status der Extraterritorialität: Obwohl auf italienischem Staatsgebiet, unterliegt es den Gesetzen des Vatikans. Zu seinen Bewohnern gehören einflussreiche Kardinäle wie der langjährige Privatsekretär von Benedikt XVI., Josef Clemens, oder die ehemalige Nummer eins der Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten, Kardinal Vesasio De Paolis, der von seiner eleganten Dachwohnung im obersten Stock Aussicht auf den Petersplatz genießt.

Nach Eintreffen des anonymen Schreibens ging der Kommandant der Gendarmerie, Domenico Giani, der Sache einige Monate lang dezent nach. Seine Mitarbeiter unterhielten sich etwa unauffällig mit einigen Nonnen, die ebenfalls in dem Gebäude wohnten. Die Gendarmerie muss sich in solchen Fällen mit Erzbischof Giovanni Angelo Becciu auseinandersetzen, dem mächtigen Innenminister des Vatikans. Becciu gehört zu den grauen Eminenzen der Kurie aus der Zeit von Benedikt XVI. und hat in der Nach-Bertone-Ära sogar noch an Macht gewonnen, weil er das nicht unerhebliche Machtvakuum ausfüllt, das durch die kluge, zurückhaltende Art des neuen Kardinalstaatssekretärs Pietro Parolin entstanden ist. Als Substitut des Staatssekretariats stimmte Becciu Ermittlungen zu, solange diese absolut diskret erfolgen würden.

Im Mittelpunkt der Gerüchte stand Luigi Capozzi, der 1967 in Maiori an der Amalfiküste geboren wurde und seit Jahren im Vatikan lebte. Dem Vernehmen nach wurde Capozzi unter anderem von Kardinal Giovanni Battista Re, Jahrgang 1934, gefördert, dem Subdekan des Kardinalskollegiums. Re ist ein großer Verehrer des Heiligen Pantaleon, dem Patron von Ravello, und fährt häufig in das Städtchen, um die Feierlichkeiten an »San Pantaleone di maggio« zu leiten. Bei dieser Gelegenheit, so heißt es, habe er Luigi Capozzi kennen und schätzen gelernt und ihn schließlich für einen Posten im Vatikan vorgeschlagen. Capozzis steile Karriere fiel jedenfalls im Vatikan auf. Am 19. Dezember 1992 in Amalfi zum Priester geweiht, kümmerte er sich zunächst um die Seelen der Pfarrei Agerola, einem bevölkerungsreichen Viertel in Neapel und danach um die Fischer in Cetara, einem winzigen, malerischen Dorf an der Amalfiküste, um schließlich auf den Fluren des Staatssekretariats im Vatikan zu landen. »Capozzi hat schon seit Jahrzehnten davon geträumt, zu den hohen Prälaten zu gehören«, erinnert sich lächelnd ein Bekannter von ihm, Pfarrer Patrizio Coppola. »Wir waren zusammen im Seminar, und er kam immer im Talar, er wollte aufsteigen, Karriere machen. Die roten Bischofstrümpfe hatte er schon in der Schublade.«[3]  

Capozzi ist in der Tat weit gekommen: Er ist der Sekretär des Vertrauens von Kardinal Francesco Coccopalmerio, dem Präsidenten des Päpstlichen Rats für die Gesetzestexte, und wurde von diesem sogar als Bischof vorgeschlagen.

Den polizeilichen Ermittlern gelang es nur mit Mühe, die konkreten Fakten von der im Zusammenhang mit dem Präseminar bereits erwähnten Gerüchteküche zu trennen, die sich in diesem Fall auf einen eher unbeliebten Priester der Kurie konzentrierte. Mancher Kardinal oder Nachbar im Palazzo del Sant’Uffizio ärgerte sich nämlich über Capozzis tatsächliche oder angebliche Privilegien. Das fing schon damit an, dass normalerweise nur bedeutende Kardinäle oder Leiter von Dikasterien in dem prestigeträchtigen Haus wohnten. Und dann war da auch noch das PS-starke Auto, das dank SCV-Nummernschild (Stato Città del Vaticano) nicht von der italienischen Polizei durchsucht werden durfte. 

In letzter Zeit brodelte die Gerüchteküche geradezu. Man beklagte sich über eine wachsende Zahl junger Männer, die in Capozzis Wohnung offensichtlich ein- und ausgingen. Die Gendarmerie entschied sich für eine ihrer Meinung nach erfolgversprechende Blitz-Razzia. Eines Abends im April klingelte sie ohne Vorwarnung bei Capozzi. Die Tür ging auf, und die Polizisten standen mitten in einer kokainseligen Schwulenparty. Der offensichtlich nicht mehr ganz klare Geistliche versuchte, die Situation zu erklären, aber es ließ sich nicht mehr viel beschönigen. Bei der Durchsuchung stieß man auf mehrere Gramm Kokain, mit dem Capozzi seine Schwulentreffen in Schwung brachte. Und das ausgerechnet in dem Gebäude, in dem Kardinal Joseph Ratzinger ein Vierteljahrhundert lang die Glaubenslehre erläutert hatte. Wie sich herausstellte, war Capozzi kokainabhängig. Man schickte ihn erst in eine Entzugsklinik und dann für längere Zeit ins Kloster, von wo er noch immer Handynachrichten verschickte. Seine Statusmeldung bei WhatsApp verrät einiges: »Das Leben ist seltsam. Ohne Traurigkeit weiß man nicht, was Glück, ohne Lärm nicht, was Stille und ohne Sehnsucht nicht, was Nähe bedeutet.« Sein langjähriger Förderer Kardinal Coccopalmerio zog sich resigniert in Schweigen zurück und musste mitansehen, wie auch sein eigener Ruf Risse bekam.

In dem kleinen Staat erregt die Nachricht doppeltes Aufsehen: Als wenn nicht allein der bloße Gedanke an Drogen- und Schwulenpartys im Vatikan erschütternd genug wäre, wurde die Durchsuchung unverständlicherweise auch noch monatelange geheim gehalten. Der Papst heißt längst Franziskus, doch die Geheimniskrämerei im Vatikan scheint fast unausrottbar. Wochen über Wochen wussten nur Eingeweihte im Vatikan von der Geschichte. Die Polizisten, die Ärzte in der Entzugsklinik und das Kloster hielten dicht.

Es lohnt sich, sich einmal näher anzuschauen, aus welchen Gründen man so beharrlich schweigt, obwohl das Ansehen der katholischen Kirche, das nach zahlreichen unaufgeklärten und ungesühnten Skandalen ohnehin angeschlagen ist, dadurch nachhaltig beschädigt wird. 

Zunächst verbirgt sich dahinter sicherlich das Bedürfnis, die Kirche und den Papst vor allem zu schützen, was das Vertrauen der Gläubigen erschüttern könnte. Und dass es im Vatikan keine freie und unabhängige Presse gibt, macht die Sache natürlich umso leichter. Sämtliche Medien, ob Fernsehen oder Radio, die Tageszeitung »Osservatore Romano« oder die Presseagentur SIR, sind direkt von der Regierung in Vatikanstadt abhängig. Sie werden also niemals Meldungen verbreiten, die von den zentralen Behörden, allen voran dem Kommunikationssekretariat nicht abgesegnet sind. Da der Vatikan gewissermaßen eine absolute Monarchie ist, werden quasi alle Medien überwacht. Negative Nachrichten über den Vatikan gibt es dort also nicht. Der vatikanische Alltag wird zwar auch von relativ vielen römischen Auslandskorrespondenten aus aller Welt verfolgt und von ebenso vielen »Vatikan-Journalisten«, die auf die einzige Theokratie der Welt spezialisiert sind. Doch abgesehen von den Vatikan-Experten erhalten Journalisten nur mit großer Mühe freie und unabhängige Informationen über die Aktivitäten des Kirchenstaates.

Den besten Beweis hierfür liefert der Prozess vor dem Gerichtshof des Vatikans gegen den Journalisten Emiliano Fittipaldi und mich, der im November 2015 begann und für uns beide mit einem vollumfänglichen Freispruch endete. Wir hatten beide ein Buch über die Machenschaften des Kleinstaats veröffentlicht. Doch Fernsehkameras und Fotografen waren zum Prozess nicht zugelassen. Journalisten konnten die Verhandlung weder im Gerichtsaal noch mittels Streaming im Presseraum verfolgen, sondern mussten sich auf die Zusammenfassungen einiger ausgewählter oder per Los bestimmter Kollegen verlassen. Es wäre wohl lohnenswert, den genauen Gründen für diesen absurden Nachrichtenfilter nachzugehen.

Durch die Geheimhaltung heikler Vorfälle, ob Schwulenpartys oder Unterschlagungen, sollen aber auch Leute geschützt werden, die bestimmten Machtblöcken mit undurchsichtigen Geschäften und Privilegien nahestehen. Der Satz aus dem Matthäus-Evangelium, »… Es muß ja Ärgernis kommen; doch weh dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt …«, ist im Vatikan heute vergessen oder er wird im Alltag verwässert.[4] Einen starken Machtblock im Vatikan bildet unzweifelhaft eine Gruppe, die man seit einigen Jahren – manchmal aber auch zu Unrecht – als Schwulenlobby betitelt.

Schwulenlobby und Postengeschacher 

Luigi Capozzi war in der Kurie für heikle Aufgaben zuständig. So war er etwa im Herbst 2012 als Sekretär von Kardinal Julián Herranz in die Arbeit der Aufsichtskommission der Kardinäle nach dem Vatileaks-Skandal involviert, die auf Wunsch von Benedikt XVI. und kurz vor dessen Rücktritt kritischen Punkten in der römischen Kurie nachging.[5] Schon am 17. Dezember 2012 konnte die Kommission dem Papst zwei Aktenstapel überreichen, in denen sie ein erbarmungsloses Bild der römischen Kurie zeichnete. Es ging um Skandale und Gifte, um Geschäftemacherei, den sorglosen Umgang mit Spenden, um Anzeigen wegen Pädophilie in aller Welt, aber ebenso um Vorwürfe gegen Staatssekretär Bertone, Pro- und Anti-Papst-Seilschaften und die bittere Erkenntnis, dass es im Vatikan eine Schwulenlobby gab. Aber war das wirklich so neu?

In Wahrheit gab es das Homosexuellennetzwerk schon seit einem halben Jahrhundert, und alle wussten davon, auch wenn niemand den Mut fand, es öffentlich zu sagen. Sogar die engsten Mitarbeiter von Johannes Paul II. wussten Bescheid. Der Einzige, der vielleicht nicht ganz im Bilde war, dürfte Benedikt XVI. gewesen sein. Seine rechte Hand Bertone hingegen war bestens über Priester mit homosexuellen Neigungen im Vatikan informiert und erkannte auch, dass diese einen Machtblock bilden könnten. Das zeigt ein vertraulicher Brief vom 8. Mai 2011, den der damalige Generalsekretär des Governatorats, Carlo Maria Viganò, an ihn richtete und der am 27. Januar 2012 von der Tageszeitung »Fatto Quotidiano« veröffentlicht wurde. Darin berichtet Viganò vor seiner Zwangsversetzung als Apostolischer Nuntius in die USA über Korruption und Intrigen, mit denen man ihm schaden wolle. Unter anderem beklagt er sich über einen der treusten Bertone-Anhänger. Wahrscheinlich ahnte er schon, dass seine Zeit in Rom abgelaufen war:

Es ist für mich zwar äußerst heikel, etwas über Doktor Simeon zu sagen, da dieser, wie ich den Medien entnehme, Ihrer Eminenz sehr nahe steht. Doch ich habe Doktor Simeon in meiner Eigenschaft als päpstlicher Gesandter persönlich kennengelernt und musste dabei feststellen, dass er andere (in diesem konkreten Fall einen Priester) verleumdet und außerdem homosexuell ist, wie mir von Prälaten der Kurie und dem diplomatischem Dienst bestätigt wurde. Was diese letzte schwerwiegende Behauptung betrifft, kann ich gern die Namen der Personen, darunter Bischöfe und Priester, nennen, die davon wissen.[6]

Doktor Simeon hat die Anschuldigungen stets entschieden zurückgewiesen und gegen alle Zeitungen geklagt, die daran festhielten. Dank seiner engen Freundschaft mit Bertone, der ihm blindlings vertraute, gelang es ihm aber in jenen Jahren, gemeinsam mit anderen Geistlichen der Kurie mehrere mächtige Kardinäle in wichtigen politischen Fragen zu beraten. Aufgrund des Kommissionsberichts der drei Kardinäle, die dem Problem im Auftrag von Benedikt XVI. nachgingen, ergriffen der Papst und sein Privatsekretär jedoch schließlich Maßnahmen, die dazu führten, dass die Gruppe kurz vor dem Rücktritt des Papstes erste Zersetzungserscheinungen zeigte. Dabei handelt es sich um die berühmte Schwulenlobby aus vier oder fünf Personen, die Benedikt XVI. in seinem geistigen Vermächtnis, den Gesprächen mit Peter Seewald, erwähnt hat. Schade nur, dass auch Papst Franziskus noch über Schwulenpartys mit hohen Prälaten verzweifeln muss. Man fragt sich, ob das Schwulennetzwerk überhaupt jemals zerschlagen wurde.

Angesichts des umfangreichen Berichts ist Benedikt XVI. fassungslos. Auch wenn er immer abgestritten hat, dass das letztendlich der Grund für seinen Rücktritt war, empfand er die Informationen über ein Schwulennetzwerk im Vatikan als bitter. Die Gruppe nehme nicht nur Einfluss auf Ernennungen und Aufgabenverteilung oder die Entscheidungen bestimmter Kardinäle, heißt es in dem Bericht, sondern werde auch in unangemessener Weise »protegiert«, genieße unzulässige Privilegien und schaffe es, ihre Mitglieder an den entscheidenden Machtstellen zu positionieren.

Laut der italienischen Journalistin Concita De Gregorio[7] werden in dem Bericht auch die Orte genannt, an denen man sich mit Strichern traf: Wohnungen im Vatikan, ein Studentenwohnheim oder der Beautysalon »Priscilla«, mit dem Marco Simeon, der getreue Bertone-Anhänger, in Verbindung gebracht werden könne. Benedikt selber räumte ein – allerdings erst nach seinem Rücktritt und vier Jahre nach der Lektüre der Vatileaks-Papiere –, dass es während seines Pontifikats ein Schwulennetzwerk im Vatikan gegeben habe: »Es wurde mir in der Tat eine Gruppe angezeigt, die haben wir inzwischen aufgelöst. Das war eben in dem Bericht dieser Dreierkommission enthalten, die eine Gruppe festmachen konnte, eine kleine, vier, fünf Leute vielleicht, die wir aufgelöst haben. Jedenfalls ist es nicht so, dass es von solchen Sachen wimmeln würde.«[8]

Noch in seinen letzten Amtswochen ordnete Benedikt XVI., wie dann auch Papst Franziskus, als Reaktion auf den Vatileaks-Skandal interne Versetzungen und Beförderungen an, durch die das Schwulennetzwerk zerschlagen werden sollte. Einer der päpstlichen Zeremonienmeister, Francesco Camaldo, und ein Laie wurden entlassen, ohne dass ihre Stellen nachbesetzt wurden, ein Prälat wurde nach Südamerika geschickt, ein Kardinal, der eigentlich in Kürze eine wichtige Rolle einnehmen sollte, in eine andere Organisation versetzt und so ruhig gestellt.

Papst Franziskus versuchte von Anfang an, das dunkle Netzwerk zu schwächen. Schon unmittelbar nach seiner Wahl war im Vatikan eine Diskussion über das Schwulennetzwerk entbrannt, da direkt nach dem Konklave ein Buch des Priesters Andrea Gallo erschien, das ohne Umschweife von einer Schwulenlobby im Vatikan berichtete: »Es gibt starke homosexuelle Seilschaften, Bischöfe, die ihre sexuelle Neigung nicht verstecken und durch Keuschheit sublimieren, sondern durch Machtstreben. Sie wollen, dass ihre Seilschaft noch größer wird, und brauchen darum noch mehr homosexuelle Bischöfe.«[9]

Es gibt vor allem dank Benedikt XVI. eine große Kontinuität zwischen beiden Pontifikaten. Am 23. März 2013 hat sich Papst Franziskus in den Hubschrauber gesetzt, um seinen Vorgänger in Castel Gandolfo zu besuchen und mit ihm zu Mittag zu essen. Ein Foto im »Osservatore Romano« zeigt, wie beide Päpste ins Gespräch vertieft im Salon sitzen. Zwischen ihnen auf dem Tisch liegt ein großer, rätselhafter weißer Karton. Dass sich darin der Vatileaks-Bericht befand, erfuhr man offiziell erst wesentlich später. Benedikt hatte ihn dem Nachfolger persönlich übergeben, um ihn mit den Wunden bekannt zu machen, an denen die Kurie litt. Drei Monate später, im Juni 2013, sollte Papst Franziskus, nachdem er den Bericht offensichtlich gelesen hatte, das erste Mal von einer Schwulenlobby sprechen. Allerdings nicht öffentlich, sondern bei einem Treffen mit Vertretern der Confederación Latinoamericana y Caribeña de Religiosas/os (CLAR). Was er dort sagte, war auf der lateinamerikanischen katholischen Website Reflexión y Liberación zu lesen: »Es gibt im Vatikan eine Schwulenlobby. Es gibt in der Kurie echte Heilige, aber auch eine korrupte Strömung. Das Schwulennetzwerk, von dem man hört, gibt es wirklich. Wir müssen überlegen, was wir dagegen tun können.«

An dieser Stelle drängt sich eine grundsätzliche Frage auf. In dem geistigen Vermächtnis, das Benedikt XVI. Peter Seewald anvertraute, sagt er zwei Mal: »Wir haben die Gruppe aufgelöst.« Das hieße, dass das Netzwerk schon unter seinem Pontifikat, also vor dem 28. Februar 2012 aufgelöst wurde. Doch warum hat Papst Franziskus dann im Juni 2013 gesagt: »Wir müssen überlegen, was wir dagegen tun können.« War die Lobby in neuer Form wieder da, oder war sie nie verschwunden? Da in der Kirche weiterhin das Zölibat gilt und Homosexualität abgelehnt wird, wird dieses Problem immer wieder auftauchen. Ausgerechnet Patrizio Coppola, der Mitseminarist von Luigi Capozzi, führte in mehreren Diözesen eine Umfrage dazu durch:

»In den letzten Jahren habe ich mich näher mit dem Thema beschäftigt. Die Umfrageergebnisse sind, obwohl statistisch nicht repräsentativ, entmutigend: 70 Prozent der Priester sind schwul, nur 20 Prozent leben keusch, die restlichen 10 Prozent sind heterosexuell und leben das auch. Die Homosexualität hat im Vatikan eine Heimat gefunden. Papst Franziskus tut, was er kann, und versucht engagiert, entschieden und mutig, die Schwulenlobby auszuhebeln, aber das ist sehr schwierig. Das Problem bleiben die Priesterseminare, weil dort jeder genommen wird und wir nicht bemerken oder bemerken wollen, dass viele Anwärter schwul sind. Warum das so ist? Vielleicht sehen viele im Priestertum eine Möglichkeit, in dieser etwas heuchlerischen, oberflächlichen Gesellschaft doch noch einen Platz zu finden. Und viele Diözesen nehmen jeden, weil sie keine Priester haben. Man muss sich doch nur einmal eine sehr einfache Frage stellen: Sind die Priester, die aus sehr armen Ländern stammen und dort mit Existenzproblemen kämpfen müssen, überhaupt wirklich alle Berufene und von Jesus dazu bestimmt oder wollen sie vielleicht nur aus Bequemlichkeit Priester werden?«[10]

Papst Franziskus’ Aussage wird auch von einem seiner wichtigsten Mitarbeiter bestätigt, Kardinal Óscar Rodríguez Maradiaga, Erzbischof von Tegucigalpa in Honduras und Koordinator des K9-Rats. In einem Interview für die Tageszeitung »El Heraldo« vom Januar 2016 antwortete er auf die Frage, ob der Vatikan von Schwulen infiltriert sei: »Nicht nur das: Wie selbst der Papst sagt, gibt es so etwas wie eine Schwulenlobby, und der Papst versucht, dem Schritt für Schritt entgegenzuwirken. Man kann die Homosexuellen ja verstehen, und es gibt dazu auch pastorale Regelwerke, aber was falsch ist, kann nicht auf einmal richtig sein.«[11]

In einem anderen Interview vom 19. Januar 2014 gießt Elmar Theodor Mäder, Ex-Kommandant der Schweizergarde, weiteres Öl ins Feuer. Die Schweizergarde, die kleinste Armee der Welt, schützt seit nunmehr fünfhundert Jahren den Papst und die päpstlichen Gebäude. In dem Interview für die Wochenzeitung »Schweiz am Sonntag« sagt der fünfzigjährige Mäder, der dem Heer von 2002 bis 2008 vorstand: »Die Behauptung, es gäbe ein Homosexuellen-Netzwerk, kann ich nicht widerlegen. Meine Erfahrungen sprechen für die Existenz eines solchen.«[12] Er sieht darin sogar »Gefahren für die Sicherheit des Papstes«. Mäder gewährt in dem Interview überraschende Einblicke. Angesichts der aus dem Ruder gelaufenen Situation sah er sich sogar genötigt, seine eigenen Männer höchstpersönlich vor den Aufmerksamkeiten und Annäherungsversuchen einiger Kurienmitglieder zu warnen.

Homosexualität stelle für ihn an sich kein Problem dar, sagt Mäder weiter, aber er »habe auch erfahren, dass viele Homosexuelle dazu neigen, untereinander loyaler zu sein, als gegenüber anderen Personen oder Institutionen«. Er spricht sogar von einer »Art Geheimbund«. »Ob ich einen Homosexuellen befördert hätte? Nein, hätte ich nicht.« Mäder begründet diese heikle Aussage folgendermaßen: »Nicht eigentlich seiner Homosexualität wegen, sondern weil ich im Sicherheitsmetier nur absolut loyale Kader brauchen kann. Das Risiko der Illoyalität wäre mir zu groß gewesen.« Das konnte der Vatikan nicht so stehen lassen, er musste reagieren. Die Aufgabe fiel Becciu zu, der sich in der »Repubblica« dazu äußerte: »Wieder einmal redet man von einer Schwulenlobby im Vatikan und wieder einmal werden keine Namen genannt.« Der Artikel wurde in der Kurie teilweise auch als Zeichen der Schwäche interpretiert. Und mit Sicherheit brauchte man keine öffentlichen Vorwürfe, um die Mitglieder der Schwulenlobby zu identifizieren. Sowohl Benedikt XVI. als auch Franziskus waren detailliert darüber informiert.[13] So bestätigte Papst Franziskus etwa auch im Juni 2013, auf dem Rückflug von Rio de Janeiro, dass es eine Schwulenlobby gebe. Allerdings versuchte er schon einen Monat später, das Problem kleinzureden. »Es wird so viel über die Schwulenlobby geschrieben, dabei habe ich noch keinen gesehen, der mir im Vatikan einen Ausweis mit der Angabe ›schwul‹ präsentiert hätte. Man hört davon, ja. Aber ich denke, man muss hier unterscheiden, ob jemand homosexuell ist, oder ob es um eine Lobby geht. Eine Lobby ist immer schlecht!«

Als der Theologe die Liebe seines Lebens, Eduard, öffentlich vorstellte 

Es ist schon seit Jahrzehnten bekannt, dass es im Vatikan viele Homosexuelle gibt. Doch am 3. Oktober 2015, wenige Tage vor Beginn der Familiensynode, hat sich sogar jemand live vor der internationalen Presse geoutet. Nur wenige Schritte vom Vatikan entfernt stellte Krzysztof Charamsa, polnischer Theologe und Universitätsdozent im Dienst der Glaubenskongregation, Journalisten aus aller Welt seinen Lebensgefährten Eduard vor. »Ich will mich endlich nicht mehr verstecken, ich bin schwul und das ist der Mensch, den ich liebe«, sagte der ehemalige hohe Prälat, der heute in Barcelona lebt. Im Vatikan wird von einigen behauptet, er habe den Zeitpunkt bewusst gewählt, um die Familiensynode im Sinne der berühmten Schwulenlobby zu beeinflussen und eine größere Aufgeschlossenheit für homosexuelle Priester in der Kirche zu erreichen. Kann das stimmen? Sollte auch Charamsa zu der Lobby gehört haben? Charamsa hat seine Haltung erläutert:

Solange ich selbst dem Klerus angehörte, war ich nie Mitglied einer Schwulenmafia oder eines ›geheimen‹ Zirkels. Ich habe auch niemals Kontakt zu solchen Gruppierungen aufgenommen. Vielleicht ist genau das der Grund dafür, dass ich in der Gemeinschaft der Geistlichen isoliert gewesen bin. Ich bin immer zutiefst gläubig gewesen, hielt an einem strengen Wertesystem fest und mied aus diesem Grund ›Seilschaften‹ aller Art. Ich habe nicht einmal wissen wollen, welche anderen Soutanenträger um mich herum schwul waren. Ich wollte mich fern von diesen Menschen halten, die nach außen hin homophob waren und den Homosexuellen das Leben zur Hölle machten, in ihrem Inneren aber so schwul waren wie ich selbst. Ich zog es in der Tat vor, die Existenz anderer schwuler Priester zu ignorieren … Wer mich kennt, weiß, dass ich gar nicht die dazu nötige Fantasie besitze. Das, was ich im Sant’Uffizio miterlebt habe, wirkt wie Science-Fiction, verhüllt von scheinbarer Normalität und Ernsthaftigkeit. Vielleicht werden jene Oberen auch insinuieren, dass eine Schwulenlobby mich einer Gehirnwäsche unterzogen, mich bezahlt und mir einen tollen Job angeboten habe. Die einzige Lobby, mit der ich jemals in Berührung gekommen ist, ist aber jene katholische: Menschen, die ebenso homosexuell wie homophob sind.[14]

Dariusz Oko, Theologe und Dozent an der Universität Johannes Paul II. in Krakau, glaubt Charamsa nicht. Oko kämpft seit jeher gegen Homosexuelle in der Kirche und redet in zahlreichen wissenschaftlichen Artikeln sogar von einer »Homohäresie«. Nach dem Coming-Out von Charamsa hielt er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg: »Ich halte Charamsa für ein Mitglied der von Papst Franziskus erwähnten Schwulenlobby. Meiner Meinung nach ist das in Wahrheit ein geschickt eingefädeltes Komplott, das auf der Synode die Position der polnischen und aller anderen Bischöfe schwächen soll, die sich an die Lehre der Kirche und des Evangeliums halten. Wahrscheinlich soll damit auch der Position der Glaubenskongregation ein Schlag versetzt und erreicht werden, dass Homosexualität in der Kirche akzeptiert wird.«[15] Oko hatte mit zu den Ersten gehört, die von einer Schwulenlobby sprachen. Wie der Internetseite lanuovabussolaquotidiana.it damals zu entnehmen war, behauptete er in der polnischen Zeitschrift »Fronda«, dass »die Kirche von einer mächtigen Schwulenlobby durchsetzt ist, die durch ein System aus Erpressung und Verschwiegenheit Einfluss auf Berufungen und Beförderungen nimmt«.

Auch der deutsche Theologe David Berger spricht klar und deutlich von homosexuellen Gruppen im Vatikan. Berger war 2009 bis 2010 Lektor der Glaubenskongregation und Dozent an der Päpstlichen Akademie des Heiligen Thomas von Aquin, die er nach seinem Coming-Out 2010 sofort verlassen musste. In einem Interview auf der Internetseite Lettera43 sagte er:

Es ist mir im Vatikan oft passiert, dass mir sich jemand näherte, weil er »Kontakt« zu Geistlichen haben wollte. Dann waren da noch die hohen Prälaten mit ihren Sekretären, Chauffeuren und persönlichen Assistenten. Die oft jung und aus Lateinamerika waren. Zu Anfang war ich einfach nur überrascht. Teilweise herrschte im Vatikan ein System aus Geben und Nehmen. Aber was ich in meinen sieben Jahren im Vatikan vor allem gesehen habe, war die weit verbreitete Homosexualität, was natürlich nicht offen ausgesprochen wurde, aber offensichtlich war. Und auch nichts damit zu tun hatte, dass man in der Kurie Karriere machen wollte. Abends ging ich zu den üblichen Schwulentreffs, wo ich nicht selten Geistliche traf. Ich erinnere mich noch gut an den »Hangar«, ein Schwulenlokal in der Nähe der Basilika Santa Maria Maggiore. Oder den Park von Monte Caprino, in der Nähe vom Kapitol. Von dort aus landete ich eines Tages auch in einer Wohnung im Viertel Monte Mario, zu der alle Geistlichen einen Schlüssel hatten. Dort herrschte ein einziges Kommen und Gehen. Man kam und ging, wie man Lust hatte. Homosexualität hat im Vatikan ihren festen Platz, aber ist und bleibt ein Geheimnis, obwohl sie dort noch häufiger ist als an abgelegenen Standorten der Kirche. Ich bezweifele, dass dem Papst [Benedikt XVI., A.d.A.] das ganze Ausmaß wirklich klar war.[16]

Wie Berger sagt, traf man sich in verschiedenen Schwulenlokalen in Rom oder in Privatwohnungen. Dieselben Treffpunkte nennt auch Carmelo Abbate in seinem Buch Sex and the Vatican. Viaggio segreto nel Regno dei Casti über die Gewohnheiten von schwulen Priestern, Geistlichen und Prälaten im Vatikan.[17] Das Buch berichtet von einem jungen Schwulen, der in einer Sauna Sex mit einer Zufallsbekanntschaft hat, einem Geistlichen, wie sich später herausstellt, oder von Priestern auf Partys in einem Lokal in Testaccio, die ihrer Einsamkeit und Alkoholsucht durch zwanghafte Sexgier zu entfliehen versuchen. Denselben Zweck hätten, so Abbate, auch erotische Chat-Gespräche, heimliche Treffen oder das Angucken von Pornofilmen im Internet. Denn wenn diese Priester die Gläubigen verabschieden und die Kirchentür hinter sich schließen, mache sich in ihnen eine große innere Leere breit.

Dass es im Vatikan eine Schwulenlobby gibt, wird also von mehreren Seiten bestätigt, unter anderem von Benedikt XVI., Papst Franziskus oder dem früheren Kommandanten der Schweizergarde. Rolle und Ausmaß der Lobby im Vatikan werden von hohen Prälaten zwar manchmal heruntergespielt, aber es lässt sich nicht leugnen, dass Transparenz, Best-Practice und demokratische Entscheidungsprozesse darunter leiden.[18] Die Vorfälle um Luigi Capozzi zeigen zudem, dass es im Vatikan nach wie vor ein aktives schwules Netzwerk gibt. Das Problem ist also weiterhin aktuell. Warum kam Capozzi in den Genuss der ungewöhnlichen Privilegien? Wer hat sie ihm gewährt und warum? »Die Schwulenlobby«, so Coppola, »beruht auf heimlichen emotionalen, häufig auch sexuellen Beziehungen zwischen homosexuellen Prälaten. Dabei bleibt eine heimliche Beziehung aber auch noch nach ihrem Ende ein Geheimnis und lässt sich – befeuert von widerstreitenden Kräften, die nichts mit dem Evangelium zu tun haben – für kleine und große Vorteile, Einschüchterung und Erpressung nutzen. Weil es niemandem gelingt, das Problem zu lösen, hat sich die Situation im Lauf der Zeit sogar noch verschlimmert.«

Schon zu Zeiten von Paul VI. war bekannt, dass es in der Kurie homosexuelle Neigungen gab. Man sprach darüber nur nicht. Und sie waren auch kein Problem. Zum Problem wurden die Neigungen erst, als es einer Gruppe homosexueller Geistlicher gelang, Einfluss auf Entscheidungen von Mitarbeitern aus dem engsten Umfeld des Papstes zu nehmen. Die Homosexuellen im Vatikan wurden im Lauf der Jahre zu einer Seilschaft, die Hetzkampagnen in Gang setzt, Karrieren befördert und Postenschacherei betreibt.

Auch wenn der Theologe Berger sagt, dass die Homosexualität im Vatikan Anfang der Nullerjahre nichts mit Karrierewünschen zu tun gehabt habe, so war das früher jedenfalls anders. Da wäre etwa der Fall des ehemaligen päpstlichen Zeremoniars Tony Adams, eines heute 65-jährigen amerikanischen Priesters aus Connecticut, der in den 1960er-Jahren, unter Paul VI. und dann unter Johannes Paul II., im Amt für die liturgischen Feiern des Papstes arbeitete. Adams ist schwul, wurde aber, als er vor zehn Jahren seinen Lebensgefährten heiratete, nicht einmal in den Laienstand versetzt, sondern musste lediglich seine Diözese Hartford verlassen. In einem Interview für die »Gazzetta del Mezzogiorno« 2013 erzählt er von trostlosen Verhältnissen:

Alle im Vatikan wussten, was zwischen jungen Priestern und hohen Prälaten passierte, aber alle taten so, als wäre nichts; sie ignorierten das, als hätten sie ein Schweigegelübde abgelegt. Auch ich hatte eine Affäre mit einem wichtigen Kirchenmann, das will ich gar nicht verheimlichen. Ich hoffte, so Karriere zu machen. Er wurde Erzbischof in einer polnischen Stadt, als Karol Wojtyła Papst wurde. Ich dachte, eine Beziehung mit ihm würde meine Karriere im Vatikan beflügeln. Ich war jung, ich gab seinen Annäherungsversuchen nach. Erst später erfuhr ich, dass Wojtyła ihn nicht mochte. Ich war ziemlich ernüchtert und ging nach Connecticut zurück. Ich wollte einen echten Freund und ein eigenes Leben.[19]

Möglicherweise ist es kein Zufall, dass dieser mächtige polnische Bischof, wie der Zeitung zu entnehmen ist, 2012 im Mittelpunkt eines Skandals um sexuelle Belästigung stand: Die Opfer waren junge Seminaristen. Auf einer Italienreise im Oktober 2015 gibt Adams der Mediaset-Sendung La strada dei miracoli ein Interview und auch erneut der »Gazzetta del Mezzogiorno«. Dort ergänzt er seinen Bericht noch um ein weiteres Detail:

Als ich jung war und im Vatikan, wusste jeder, dass viele Priester schwul waren. Alle wussten von den Beziehungen sogar zwischen Kardinälen und jungen Priestern, aber keiner sagte oder tat etwas. Man wusste es eben, das reichte, und man schwieg. Und man versuchte, sich im Vatikan nach oben zu schlafen, auch ich hab das mit diesem polnischen Erzbischof gemacht. Aber ich habe keine Karriere gemacht. Im Gegenteil. Nach dieser Geschichte habe ich begriffen, dass viele Männer in Priesterkleidung weniger Gott als die Macht lieben. Darum habe ich Rom und den Vatikan verlassen und bin nach Connecticut zurückgekehrt, wo ich der Liebe meines Lebens begegnet bin.[20]

Es hat im Vatikan nie ein kirchenrechtliches Verfahren gegen Adams gegeben. Im Jahr 2014 wurde er schriftlich in die Diözese Connecticut bestellt, wo man ihm lediglich nahe-, aber nicht auferlegte, sich in den Laienstand versetzen zu lassen. Er lehnte ab. Er wollte, auch wenn er mit einem Mann verheiratet war, Priester bleiben.

 

Auch diese Geschichte, die weit in die Vergangenheit zurückreicht, verknüpft sich mit den anderen längst vergangenen, aber bis heute unaufgeklärten Vorfällen, die die Zukunft der katholischen Kirche belasten, weil sie wie ein nicht enden wollender Albtraum jeden Moment wieder an die Oberfläche steigen können. Alle Reformmaßnahmen des Papstes werden unter einem dicht gewebten Netz aus Tod, Geld und Sex unweigerlich im Keim erstickt. Solange es nicht gelingt, sich von dem erpresserischen Sumpf der düsteren, ungeklärten Geschichten zu befreien, wird jeder Veränderungswille, unter welchem Papst auch immer, zum Scheitern verurteilt sein.

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