Teil 2   Geld

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Die Gespenster des IOR

Marcinkus’ Spinnennetz

Viele Wahrheiten, allzu viele sind es, die sich wie ein undurchdringlicher Nebel über das IOR legen. Paul Casimir Marcinkus, der langjährige Direktor der Vatikanbank IOR sei ein liebenswürdiger, großzügiger Prälat gewesen, der für jeden ein offenes Ohr gehabt habe, selbst für den bescheidensten Priester, dem er in den heiligen Hallen begegnete. Er sei sozusagen das »Opfer« dreier skrupelloser Laien geworden. Wie sie hießen? Roberto Calvi, Michele Sindona und Licio Gelli. Der Mann Gottes sei von diesem Machtblock verraten worden, der damals außerhalb des Vatikans sein Unwesen trieb. Das System aus Interessen und Allianzen habe ihn erst willkommen geheißen und dann in einer tödlichen Umarmung nicht mehr losgelassen. Dabei sei die Bank des Papstes in eine Reihe unsäglicher Geschäfte verwickelt worden. Viele im Vatikan behaupten, so sei es gewesen. Über die Jahre wurden viele Rechtfertigungen verbreitet, die darauf hinauslaufen, Marcinkus als Opfer erscheinen zu lassen. Oder höchstens als Einzelgänger, der mit der Welt der Kurie nicht viel zu tun hatte, und mit der Kirche schon gar nicht. In Wahrheit liegen die Dinge ganz anders.

Dank bisher unveröffentlichter Unterlagen kann dieses Buch belegen, dass der amerikanische Geistliche innerhalb des IOR und des Vatikans eine absolut bedeutende, zentrale Position einnahm. Marcinkus war nicht nur, wie manche lange geglaubt haben, ein schwarzes Schaf in einer Welt der Guten. Der Prälat war Teil eines Systems, das sowohl innerhalb wie außerhalb der vatikanischen Mauern verbreitet war und auf viele Helfer zählen konnte. Kardinäle, hohe Prälaten und mehrere Persönlichkeiten ersten Ranges innerhalb der Kurie.[1]

Auf der Karteikarte des IOR stand der vollständige Name der Zeichnungsberechtigten für das Girokonto der Missionarinnen der Nächstenliebe: Anjezë Gonxha Bojaxhiu. Ohne Zweifel eine der bekanntesten Persönlichkeiten weltweit, doch nur die wenigsten wissen, wie die albanische Ordensschwester kosovarischer Abstammung eigentlich hieß. Alle Welt kennt sie nur unter dem Namen Mutter Teresa von Kalkutta. Bis zum Dezember 1964 war die Ordensschwester außerhalb Indiens eine Unbekannte. Erst Papst Paul VI. machte die Welt auf sie aufmerksam, als er am Ende seiner Indienreise öffentlich kundtat, man möge das weiße Auto mit offenem Verdeck, das er während seines Besuchs benutzt hatte, Mutter Teresa überlassen. So nahm der Ruhm dieser kleinen, außergewöhnlichen Frau über alle Maßen zu. Ihre unermüdliche Arbeit für die Armen in Indien brachte ihr 1979 den Friedensnobelpreis ein. 2016 sprach Papst Franziskus sie heilig. Zwanzig Jahre nach ihrem Tod ist Mutter Teresa noch immer die beliebteste Nonne der Welt. Dank ihrer aufopfernden Hingabe in den Armenvierteln Kalkuttas bekam sie täglich Opfergaben aus allen Ecken der Welt. Die Gelder wurden in humanitäre Projekte investiert oder füllten die Konten der Missionarinnen der Nächstenliebe, der Ordensgemeinschaft, die sie 1948 gegründet hatte.

Mutter Teresa hält auch andere Rekorde, darunter einen bislang unbekannten: In den Jahren der Präsidentschaft von Marcinkus konnte sie unter den wenigen weiblichen Kunden der Vatikanbank über das mit Abstand größte Konto verfügen. Ausgerechnet in jenen Jahren war sie für die Dollar- und Lira-Einlagen des Kontos der Missionarinnen der Nächstenliebe allein zeichnungsberechtigt. Der Gesamtkontostand bleibt eines der bestgehüteten Geheimnisse des IOR; die Öffentlichkeit hat noch nie Einblick in die Rechnungslegung der Mission von Mutter Teresa erhalten. Doch unter den Angestellten der Vatikanbank waren jene Konten bereits zur Legende geworden: Man raunte sich zu, dass sich dort Jahr für Jahr ein enormer Zinsenberg aufhäufte. Hätte Mutter Teresa ihre Konten aufgelöst oder abgezogen, wäre die Bank möglicherweise in Konkurs gegangen.

Mutter Teresa reiste oft von Bombay nach Rom, um beim jeweiligen Papst vorzusprechen. Die ersten Besuche galten Paul VI., aber vor allem mit Johannes Paul II.,[2] dem Nachfolger Albino Lucianis, der im Konklave vom 16. Oktober 1978 auf den Thron des Petrus gewählt wurde, traf sie sich öfter. Nach der Stippvisite beim Papst begab sich Mutter Teresa dann in die Räume des IOR.[3] Hier erwarteten sie bereits die vertrautesten Mitarbeiter Marcinkus’, um ihr volle Aufmerksamkeit zu widmen. Sie ging allerdings nicht in die Haupthalle, wo sie sich unter Kardinäle, Prälaten, Pfarrer, Geistliche, Mitglieder von Kongregationen und Laien hätte mischen müssen, jene katholische Welt, die vor den wenigen Schaltern der Bank Schlange stand. Die Diskretion verlangte, dass Mutter Teresa von einem Geistlichen empfangen wurde. Daher ging sie direkt zur rechten Hand von Marcinkus, Prälat Donato de Bonis.[4] Dieser empfing sie mit Begeisterung und ging mit ihr hinter verschlossenen Türen die anstehenden dringenden Angelegenheiten durch.

De Bonis beruhigte die Schwester auch, als sie einen Ermittlungsbescheid wegen eines mutmaßlichen Verstoßes gegen italienische Devisenbestimmungen erhielt. Der römische Staatsanwalt Orazio Savia wollte Unregelmäßigkeiten im Umgang mit in den Vatikan überwiesenen Spendengeldern und Devisen nachgehen. Er wollte Licht in eine Welt bringen, die bislang noch nie unter die Lupe genommen worden war, aber seine Ermittlungen verliefen bald im Sand.

Marcinkus und De Bonis hielten die Führung der Bank damals fest in den Händen. Die beiden hatten sich in den 1960er-Jahren über die Arbeit in der Kurie kennengelernt und verstanden sich gut. De Bonis kannte die Bank von Grund auf. Er war 1954 als enger Vertrauter des Kardinals Alberto di Jorio, des ersten Präsidenten in der Geschichte des Istituto per le Opere di Religione eingetreten. Nachdem Paul VI. Marcinkus 1970 zum Präsidenten befördert hatte, machte dieser De Bonis aufgrund seiner profunden Kenntnisse über alle Vorgänge in der Bank zu seinem Generalsekretär. Von jenem Moment an gewann die Achse der Macht Tag für Tag mehr Einfluss. De Bonis kannte sämtliche geheimen Ganglien der Bank. Und in der Kurie wusste er sich geschickt zu bewegen, wobei er zum Jetset der italienischen Filmindustrie eine größere Nähe entwickelte als zu den trostbedürftigen Seelen der Gläubigen, zu den Herrschaften der römischen Palazzi eine größere Seelenverwandtschaft als zu den Armen Mutter Teresas. Als Sohn eines Bankiers und Bruder des Generaldirektors der Banco di Napoli war De Bonis ein Geistlicher der Macht und des mondänen Lebens. Er knüpfte strategische Beziehungen sowohl zur Welt der Politik, von Giulio Andreotti bis Francesco Cossiga, als auch zur Welt des Showbusiness. Ideologische Vorbehalte oder Vorurteile kannte er nicht. »Geld ist immer nur Geld«, hieß es in der großen Halle der Bank schon beim geringsten Anflug von Würde. Der Prälat reichte eine Hand, gab eine Empfehlung und – warum nicht? – bot den Angehörigen des Establishments die Möglichkeit einer Anlage in der Bank des Papstes. Deshalb war alle Welt bereit, ihm den Ring zu küssen: Man huldigte ihm, verherrlichte ihn, machte ihm den Hof. In den Herrenhäusern der römischen Macht hieß das Alter Ego von Marcinkus einfach »Donatino«. Bei Bedarf bot Donatino ganz besondere Finanzdienste an: Willkommen im IOR, der einzigen Offshore-Bank mitten in Rom. Man brauchte nicht in die Schweiz, nach Luxemburg oder nach Monte Carlo zu reisen, es genügte, in die Hauptstadt zu fahren, ein Taxi zu nehmen und am Petersplatz auszusteigen. Noch dreihundert Schritte, und schon war man über die Schwelle der für Normalsterbliche unzugänglichen Vatikanbank gelangt, in der jeder gern ein Konto geführt hätte. Der Grund war ganz einfach: Dank der Lateranverträge sicherte ein gerichtsfester Schutzschild die Tätigkeit der Kunden vor jeder Neugier der Staatsanwaltschaft oder des Fiskus ab. Und als sei das nicht genug, genossen die Angestellten der Bank Immunität hinsichtlich jeder Ermittlung italienischer Behörden. Das Tun und Handeln des IOR durfte von keiner Gerichtsbehörde, auch keiner ausländischen, belauscht oder untersucht werden, es sei denn, sie wandte sich an die vatikanische Gerichtsbarkeit, die jedes Rechtshilfeersuchen regelmäßig abwies.

De Bonis hatte so die Möglichkeit, seinen Kunden ein ausgeklügeltes Netz fiktiver Girokonten anzubieten, die offiziell auf Stiftungen oder auf wohltätige Zwecke lauteten und für Transaktionen aller Art genutzt werden konnten. Bereits 2009 habe ich in dem Buch Vatikan AG erstmals davon erzählt und De Bonis als Schöpfer einer »Parallelstruktur des IOR« für Geldwäsche bezeichnet. Doch die unveröffentlichten internen Unterlagen der Bank, die ich für das vorliegende Buch zusammengetragen habe, lassen endlich eine weitere Schlussfolgerung zu. Nun erweist sich, dass De Bonis dieses Netz schon Anfang der 1970er-Jahre aufgebaut hatte, nachdem er zur Nummer zwei der Bank aufgestiegen war, und nicht erst, wie bisher bekannt, nach dem Niedergang von Marcinkus.[5] Doch das ist nicht nur eine Frage des Datums. Es bedeutet, dass dieses System schwarzer Kanäle bereits zu Zeiten Sindonas und Calvis aktiv war. Der deutlichste Beweis hierfür ist das Konto Nummer 051 1 01538A, das De Bonis als allein Zeichnungsberechtigter am 19. August 1972 eröffnet und auf »Opus Caritatis« ausgestellt hat. Aus der Karteikarte (siehe Anhang) ergibt sich eindeutig, dass das Depot über seine Inhaberschaft mit den Konten Nr. 051 3 06721A (»Fond. A. Alberto«) und Nr. 001 1 12567 (»Opus Pauli«) verknüpft ist. Auf dem Titelblatt der Karteikarte sind nämlich beide Konten mit Bezeichnung und Referenznummer klar aufgeführt. Sie bilden die Eckpunkte des parallelen IOR, eines verzweigten Systems Dutzender von Depots, die auch Jahre später noch dazu benutzt wurden, die größte je aufgedeckte Schmiergeldzahlung in der Geschichte Italiens reinzuwaschen: das Enimont-Schmiergeld, das dunkelste Kapitel des Tangentopoli-Skandals.[6] Es ist nicht einfach, sich in diesem Labyrinth von Transaktionen und sehr ähnlich klingenden Kontobezeichnungen zurechtzufinden. Das Konto »Opus Pauli« hat unter der Kontonummer 001 3 11419F ein fast gleichlautendes Pendant, das auf den Namen »Opus B. Pauli« ausgestellt ist. Im Mai 1978 werden darauf beispielsweise über 2 Milliarden und 858 Millionen Lire gutgeschrieben, die heute nach der Neubewertung des Statistikamtes Istat über 10 Millionen Euro entsprechen würden.[7] Sie stammen aus der Veräußerung einfacher italienischer Staatsanleihen. Doch wer ist der eigentliche Inhaber des Kontos? Das geheimnisvolle und wenig eindeutige »Privatsekretariat« auf dem Buchungsbeleg der Bank – der angesichts des Akronyms SCV (Stato Citta del Vaticano) an das Sekretariat des Staatssekretariats oder des Papstes denken lässt –, oder einer der vielen besonderen Kunden von De Bonis, die um Vertraulichkeit und Anonymität bemüht waren? Wer weiß.

Wenn man die Buchungen jener Jahre näher in Augenschein nimmt, ergibt sich noch ein weiterer wichtiger Aspekt, der zur Aufklärung beiträgt. Je mehr man sich in die Geschichte des IOR der 1970er-Jahre vertieft, desto deutlicher zeigt sich, dass die Bank damals von mehreren Tendenzen geprägt war, die miteinander im Widerstreit lagen. Ein doppelgesichtiger Janus, ein Wesen mit tausend Gesichtern und ebenso vielen Konten, die aus Welten stammten, die eigentlich nichts miteinander gemein hatten. Auf der einen Seite Konten, die dazu dienten, den Hunger in der Welt zu bekämpfen, auf der anderen solche von Männern, die Sindona und der italo-amerikanischen Mafia nahestanden. Nach Weihrauch duftendes Geld vermengte sich mit blutbefleckten Drogengeldern. Neben den Einlagen von Prälaten, religiösen Einrichtungen und Kongregationen machte sich in der Bank auch eine geheime Welt aus Konten und Unterkonten breit, ein der Geldwäsche dienendes System aus dunklen Kanälen für Leute, die ihr Geld vor neugierigen Augen verbergen wollten. Wenn man sich die Kundenliste anschaut, stößt man auf etliche Überraschungen. Damals war einiges anders als heute: In Italien gab es nur lasche Vorschriften gegen Geldwäsche, im Vatikan überhaupt keine. De Bonis liebte es auch, Schauspieler beiderlei Geschlechts ins IOR zu bringen. Er knüpfte Beziehungen und Freundschaften zu Stars wie Alberto Sordi und Sophia Loren, um nur einige der berühmtesten zu nennen, die im Wehrturm der Bank gesichtet wurden. Ging es dabei lediglich um persönliche Freundschaften des Monsignore, oder kamen manche auch in den Genuss eines Sonderkontos?

Schauspieler und Politiker: Ein Konto beim IOR wird niemandem verweigert 

Eine erste verblüffende Antwort ergibt sich aus den Kassenblättern der Bank, die ich für dieses Buch zusammengetragen und geprüft habe. Überweisung vom 19. Januar 1977: Die Marine Midland Bank aus London schreibt einen Betrag in britischen Pfund gut, der heute über 615.000 Euro wert wäre. Er ist für das Konto Nr. 051 3 02113R bestimmt. Auf dem Kassenblatt ist ein überraschender Kontoinhaber eingetragen, einer der berühmtesten italienischen Theaterschauspieler des 20. Jahrhunderts: Eduardo De Filippo. Auch er besaß ein Konto beim IOR, dank seiner Freundschaft zu Prälat De Bonis. Ein Bruder des Geistlichen, Mario de Bonis, erzählte später überschwänglich von der Verbindung zwischen dem Prälaten und dem Schauspieler:

Donato, einer meiner neun Brüder […], der drei Hochschulabschlüsse hat, einen davon in Theologie, und vier Sprachen spricht, verkehrte mit dem großen Komödiendichter, den er sehr schätzte und mit dem ihn kulturell, künstlerisch und geistig vieles verband. Eduardo und Donato liebten sich wie Brüder.[8]

Schade, dass Mario De Bonis bei sämtlichen Feiern zu Ehren seines Bruders außer Acht ließ, dass Letzterer vor allem die rechte Hand von Marcinkus war. Dabei konnte ihm das nicht entgangen sein. Er hatte selbst mit dem IOR zu tun, und zumindest einmal brachte er ein Geldköfferchen vorbei. Dies ergibt sich zumindest aus den geheimen Archiven der Bank. 1978, wenige Tage vor Weihnachten, zahlt Mario de Bonis auf das Konto seines Bruders mit der Nummer 001 6 02477W gut 55 Millionen Lire ein, die heute 181.000 Euro entsprechen. Alles in bar, natürlich.[9]  

In seinen Erzählungen konzentriert Mario sich allerdings lieber auf andere Aspekte:

Ein schwarzes Schaf, er? Ach woher! Als Kind war er bei den Prozessionen Ministrant. Man sah ihm die Berufung an, er liebte Jesus sehr. Dann kam das Seminar in Potenza (als stellvertretender Rektor und als Rektor), später Salerno. […] Mein Bruder hat drei Päpsten gedient, er hat Werke hinterlassen, keine leeren Worte. Er hat nicht einen Stein vererbt! Er war sehr wohltätig. Er mochte die jungen Leute, sein ganzes Leben lang hat er Gutes getan. Er hat immer verteilt und nie genommen, in den heutigen Zeiten hätte er den Nobelpreis verdient. Luigi Bisignani hat gesagt, wie es wirklich war: »Donato de Bonis war stets ein ehrlicher Geistlicher, ein echter Priester in Christus.«[10]

Der »Priester in Christus« stand auf der Kommandobrücke des IOR, einer Bank, die sich von schwindelerregenden Geldströmen mitreißen ließ, von enormen Geldflüssen unklarer Herkunft, die jahrelang über ein weitverzweigtes Kontennetz verteilt wurden. Die gigantischen Beträge waren das Ergebnis von Devisenspekulationen (vor allem Dollar, Schweizer Franken und D-Mark), einem schwungvollen Wertpapierhandel sowie Ankäufen von Goldbarren und Palladium in Mengen, die jeden Edelmetallhändler hätten vor Neid erblassen lassen. 

Palladium ist ein silbrig-weißes Edelmetall aus der Gruppe der Platine. Es ist äußerst wertvoll und wird in erster Linie zur Herstellung von Weißgold verwendet, bei dem das Gold durch Palladium entfärbt wird. Im Vatikan war vor allem Marcinkus sehr davon angetan. Die Nummer eins des IOR verfolgte wie alle Spekulanten die Kurse der Edelmetalle sehr genau. Er hatte eine Vorliebe für Gold und Palladium. Ankauf, Verkauf, Gewinne: Obwohl er gewiss kein Fachmann war, war der Bankier des Papstes von solchen Spekulationen wie gebannt. Er folgte den Empfehlungen der Bankmanager und investierte erheblich. Auch hier können etliche Unterlagen des IOR zu den Buchungsbewegungen auf den Depots des damaligen Präsidenten eindeutig belegen, dass in seinem Geschäftsgebaren Spekulationen und Profitstreben eine zentrale Rolle spielten. Ausgangspunkt sind seine beiden persönlichen Konten (Nummer 001 8 22126, in Lire, und Nummer 051 6 04568, in Dollar), auf denen Marcinkus je nach Lage problemlos die aus dem Verkauf der Edelmetalle erzielten Beträge gutschrieb oder abhob. Am 8. Juni 1976 unterzeichnete er unbefangen das Kassenblatt Nummer 359769, auf dem eine Veräußerung von Gold und Palladium zu seinen Gunsten in Höhe von 135 Millionen Lire verbucht wurde, die heute 627.000 Euro entsprechen würden (siehe Buchungsbeleg im Anhang).

Im IOR des Marcinkus sind Investitionen in Edelmetalle an der Tagesordnung. Wer im Vatikan zählt, spielt mit: Kardinal Sergio Guerri beispielsweise, ein mächtiger Kardinal der römischen Kurie, der Jahre zuvor auf Anweisung von Paul VI. Sindona den Auftrag erteilt hatte, die Beteiligungen des Heiligen Stuhls an verschiedenen italienischen Gesellschaften abzustoßen. Ausgerechnet er kauft am 17. Januar 1980 »Feingold Once troy« im heutigen Wert von 170.000 Euro, die Zahlung erfolgt über sein Konto beim IOR mit der Nummer 051 6 00231. Interessant ist, mit welchen Worten Johannes Paul II. am 17. März 1992 den Kardinal bei dessen Totenmesse würdigte:

In all seinem Tun und Wollen war Kardinal Guerri in erster Linie Priester mit völliger Hingabe an Gott und an die Kirche. Er war geprägt von tiefer und überzeugter eucharistischer Frömmigkeit, verbunden mit Besonnenheit, Weisheit und unbezweifelbaren professionellen Fähigkeiten. Seinen Vorgesetzten stets treu ergeben und gehorsam, arbeitete er voller Hingabe, ohne Zeit und Mühe zu scheuen. Er war ein Mann von wenigen, aber klaren und wirksamen Worten, und als er 1980 das Alter des verdienten Ruhestands erreichte, legte er seine Ämter nieder und begann in Stille seinen dritten und letzten Lebensabschnitt.

Da ist auch Prälat Marcello Magliocchetti, der unter Pius XII. Überzähliger Geheimkämmerer gewesen war,[11] einer der wichtigsten Juristen im Vatikan. Magliocchetti war in der Hauptstadt bestens vernetzt. 1960 zelebrierte er in der Vikariatskapelle der Lateranbasilika die Hochzeit von Renato und Maria Angiolillo, die später wegen ihres Salons Berühmtheit erlangen sollte.[12] So wie alle Kurienmitglieder, die auf sich hielten, verfügte auch Magliocchetti über ein Konto in Lire und eines in Dollar,[13] wobei er häufig Devisengeschäfte tätigte. Für den Herbst 1976 belegen die Unterlagen des IOR einen Dollarankauf im Wert von heutigen 113.000 Euro: nicht schlecht für einen Prälaten, der sich eigentlich dem Recht und der Seelsorge widmet.

Weitere beunruhigende Aspekte ergeben sich aus dem Studium des Kundenportfolios jener Jahre. Michele Sindona war nicht nur Partner und Berater des IOR. Die Mannschaft des skrupellosen sizilianischen Finanziers, Vertrauensmanns von Mafiosi vom Kaliber eines Stefano Bontate, eines Vito Genovese, also der Spitzen der italoamerikanischen organisierten Kriminalität, schöpfte in der Vatikanbank aus dem Vollen: Sie wurde für große internationale Geschäfte ebenso wie für private Transaktionen benutzt. Sindona hatte seine Gewährsleute wohl angewiesen, ihre Konten dort zu eröffnen, und verlangte von Marcinkus und Mennini immer höhere Renditen. Diese gingen offensichtlich gerne darauf ein und ermöglichten Depots, die Operationen abseits neugieriger Augen möglich machten. Allen voran bediente sich die rechte Hand des sizilianischen Bankiers, Pietro Macchiarella, der in der Vergangenheit Generaldirektor der Banca dell’Agricultura gewesen war und den Sindona zum Vizepräsidenten des Verwaltungsrats der Banca Privata Italiana erkor. Am 1. Juni 1974, kurz vor dem Crash von Sindonas Banken, werden von dem Nummernkonto DI 90537 im IOR 40 Millionen Lire in Dollar umgewandelt und auf das Depot Macchiarellas, Nummer 051 3 01560, überwiesen, ein Wert, der heute 257.000 Euro entspricht. Unter den Vertrauten Sindonas hatte Macchiarella vermutlich die besten Beziehungen zum Vatikan, wie er selbst Jahre später vor der Enquetekommission des italienischen Parlaments bezeugen sollte. Er enthüllte, dass Sindona der Democrazia Cristiana, der damals größten italienischen Partei, mit einer Überweisung von 200 Millionen unter die Arme gegriffen hatte, und zwar über den christdemokratischen Politiker Giulio Andreotti und ein Konto bei der Vatikanbank. In der Tat war Andreotti zusammen mit De Bonis für das auf die inexistente Fondazione Spellman lautende Konto zeichnungsberechtigt. Der mit Sindonas Bankrott befasste Ermittlungsrichter Guido Viola schilderte diese Verstrickung von Bündnissen und Mitwisserschaft später so:

Es steht außer Frage, dass um Sindona herum ein ganzes Netz von Protektionen errichtet wurde, das der ohnehin schon schwierigen Arbeit der Ermittler zum Trotz über Jahre darauf ausgelegt war, einen Schutzschirm für den Bankrotteur zu errichten. Sindona hatte ebenso wie viele andere Vertreter der italienischen Finanzwelt in der Hoffnung auf eine künftige Investition unzählige Politiker mit großzügigen Zuwendungen in sein Netzwerk hineingezogen.[14]

Der Trick, das IOR als Schutzschild für ihre Kontobewegungen und auch für persönliche Angelegenheiten zu nutzen, war für die Männer Sindonas von strategischer Bedeutung. Besonders, als durch die Ermittlungen von Gerichts- und Aufsichtsbehörden versucht wurde, Licht in das unter der Protektion von Licio Gelli und Giulio Andreotti errichtete Labyrinth der Finanzkriminalität zu bringen, und das Machtsystem des Bankiers dadurch geschwächt wurde. Denn bei der Vatikanbank würde kein Untersuchungsbeauftragter je nachforschen können. Das beweisen eindeutig die Kontobewegungen, die auch nach dem Zusammenbruch von Sindonas Bank noch stattfanden. Während die Staatsanwaltschaft sich auf die Männer und auf die Banken Sindonas konzentriert und die Zahl der Verhaftungen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen zunimmt, führt diese Welt ihre Operationen über die Konten beim IOR fort. Die vom Heiligen Stuhl geschützten Finanzkanäle werden dazu benutzt, die angehäuften Reichtümer ins Trockene zu bringen.

Der Umfang der ein- und ausgehenden Kontobewegungen ist beeindruckend. Sie gehen auch nach dem 1. August 1974 weiter, als die Banca Unione mit der Banca Privata Finanziaria zur Banca Privata Italiana wird, mit Macchiarella als Vorstand. Im Frühjahr 1975 werden über das Konto der Banca Unione beim IOR zahlreiche Überweisungen in ausländischen Währungen zugunsten des Depots der verschwisterten Banca Privata getätigt, die in der Zwischenzeit der Konkursverwaltung Giorgio Ambrosolis unterstellt worden ist.[15] Es handelte sich um ein undurchsichtiges Buchungssystem, in das Steueroasen, Banco Ambrosiano, andere Institute Sindonas und IOR einbezogen waren: Weder die Finanzpolizei noch die Staatsanwaltschaften oder Konkursverwalter Ambrosoli haben es vermocht, das äußerst komplizierte Netz aus Machtstrukturen und wirtschaftlichen Interessen wirklich nachzuzeichnen.

Gesellschafter und Freunde Sindonas im Vatikan, Sonderkunden im IOR

In diesen Jahren eröffneten auch zahlreiche Personen, die mit Marcinkus und Sindona zu tun hatten, Konten beim IOR. Unter ihnen verdienen der Unternehmer Stefano Falez (Konto Nr. 001 2 01562X) und der italoamerikanische Geschäftsmann Mark Antonucci (Konto Nr. 001 5 90533Q) unsere Aufmerksamkeit: Beide führen direkt in die Verließe der Macht jener Zeit.

Falez ist ein Unternehmer jugoslawischer Abstammung, der am IOR eigene Konten sowie Konten der Gesellschaft Sicar besaß. Interessant sind die Ämter, die er damals innehatte: Alleingeschäftsführer der Immobiliengesellschaft Compagnia San Giorgio, in der Luigi Mennini Vorsitzender des Aufsichtsrats war, und Geschäftsführer der Gesellschaft Brink’s Securmark:

Die Compagnia San Giorgio Spa Real Estate wurde 1951 im Auftrag des Vatikans von dem französischen Priester Georges Roche gegründet, der einen interessanten Lebenslauf vorweisen kann. Er ist Sekretär des Kardinals Eugène Tisserant, eines bedeutenden Bibelforschers und Strategen des Vatikans für die Beziehungen zum kommunistischen Osten. Tisserant war 1965 Oberhaupt des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem, als Licio Gelli, der spätere Meister vom Stuhl der Loge P2, mit dem Titel eines Komtur geehrt wurde. […] Einige der Personen, die die Finanzen der Compagnia San Giorgio verwalteten, sind in äußerst brisante Episoden der jüngeren Geschichte Italiens verwickelt. Nach Recherchen des Journalisten und Historikers Gian Paolo Pelizzaro setzte sich das Rechnungsprüferkollegium des Jahres 1976 aus Steuerberatern zusammen, die alle ihren Sitz in Rom, Piazza Navona 49, bei der Treuhandgesellschaft Fidrev Spa hatten. Fidrev war seit der Gründung beratend für den Inlandsgeheimdienst Sisde tätig und ebenso Mehrheitsaktionärin der Immobiliare Gradoli Spa. Letztere und andere mit ihr verbundene Unternehmen waren Eigentümer einer Reihe von Wohnungen in der Via Gradoli 96, dem Wohnhaus, in dem das Mitglied der Roten Brigaden Mario Moretti während der Entführung Aldo Moros einen Unterschlupf einrichtete. […] Stellvertretender Rechnungsprüfer in der Compagnia San Giorgio ist 1971 ein Kollege Menninis, der Chefbuchhalter des IOR Pellegrino de Strobel. Dessen Bruder Pietro übte 1979 ein ähnliches Amt in einer anderen »katholischen« Gesellschaft aus, der Werttransportfirma Brink’s Securmark.[16]

Antonucci hatte Brink’s Securmark 1972 zusammen mit Sindona gegründet, den er auch als Taufpaten für seinen Sohn David auswählte; Marcinkus höchstpersönlich zelebrierte:

1984 wurde Brink’s Opfer eines aufsehenerregenden und beunruhigenden Raubüberfalls, der den Dieben 35 Milliarden Lire einbrachte. Falez bekleidete damals keine Ämter mehr in der Gesellschaft, erwies sich aber als Eigentümer des Gebäudes in der Via Aurelia, in dem der Überfall stattfand. Einer der Gründer von Securmark, der Vorläufergesellschaft der ausgeraubten Firma, war Mark Antonucci, ein amerikanischer Bürger und Gesellschafter Sindonas bei der Tageszeitung »Daily American«. Sindonas Banca Privata Finanziaria zählt zu den Hauptkunden von Securmark. Vielleicht hatten die Räuber dies im Sinn, als sie in der Redaktion der Tageszeitung »l’Unità« anriefen, um die »proletarische Enteignung« in dem »multinationalen Konzern Sindonas« einzufordern. Ausgedacht hatte sich den Überfall Tony Chichiarelli, ein römischer Fälscher mit weitverzweigten Verbindungen. Unter Nutzung seiner Fähigkeiten als Fälscher hatte er das falsche Kommuniqué Nr. 7 der Roten Brigaden erstellt, das die Polizei zum Lago della Duchessa schickte, um dort vergeblich nach der Leiche Aldo Moros zu suchen.[17] 

Falez seinerseits konnte sich auch in Italien auf sein Gespür für Geschäfte und auf seine hervorragenden Beziehungen verlassen. Einen seiner größten Erfolge verbuchte er, als es ihm gelang, das Hotelsystem von Holiday Inn aus den Vereinigten Staaten nach Italien zu importieren. Dabei ließ er keineswegs das umfangreiche Beziehungsnetz außer Acht, das er in den Jahrzehnten zuvor geknüpft hatte. Vor allem die diplomatischen Ämter hatte er im Blick, und sein besonderes Augenmerk galt dem Malteser Orden, den er zunächst beim Heiligen Stuhl und dann in Belgrad vertrat, bevor er 1992 Botschafter Sloweniens in Vatikanstadt wurde. Sein Sohn Alessandro sicherte das touristische Imperium des Vaters und ebenso die Beziehungen zum Vatikan. Nicht umsonst wurde Falez Junior zum Edelmann seiner Heiligkeit gewählt, was es ihm ermöglichte, die ranghohen Gäste zu den offiziellen Privataudienzen des Papstes mit den Granden der Welt zu begleiten. Als Freund und Gefolgsmann des Politikers Pier Ferdinando Casini hat Falez Junior das von ihm geleitete Hotel Minerva mitten in Rom in einen Salon der katholischen Politik Italiens verwandelt, in dem Kongresse und vertrauliche Besprechungen stattfanden, und zwar zu Zeiten, in denen Casinis Partei für die Regierungsbildung entscheidend war.[18]

Zu Beginn der 1980er-Jahre verlor die Achse Sindona-Calvi, mit dem IOR als Geldautomat, ohnehin ihre Schlagkraft. Sindona, der durch die Ermittlungen unter Druck geriet, täuschte sogar eine Entführung vor, während die Liquiditätskrise der Banco Ambrosiano und das Fehlen von Geldgebern den Kollegen Roberto Calvi in höchste Gefahr brachten. Calvi versuchte seine Bank zu retten, stieß aber überall auf taube Ohren. Dieselben Leute, denen er über die Jahre zu Reichtum verholfen hatte, verweigerten ihm nun jede Unterstützung. Die Ereignisse überschlugen sich, als am 17. März 1981 in der Fabrik La Giole in Castiglion Fibocchi in der Nähe von Arezzo die Mitgliederliste von Gellis Freimaurerloge P2 gefunden wurde. Kaum zwei Monate später wurde Calvi verhaftet, vor Gericht gestellt und wegen Devisenvergehen verurteilt. Ein Machtsystem war dabei, zu implodieren.

Der König des Kokains und die Bank von Nassau: eine unveröffentlichte Zeugenaussage

Als Roberto Calvi am 18. Juni 1982 unter der Blackfriars-Brücke in London erhängt aufgefunden wurde, stand die internationale Finanzwelt unter Schock, während das Machtsystem, dem der Bankier angehörte, versuchte, die aus dem Ruder gelaufene Situation wieder in den Griff zu bekommen. Die ersten Ermittlungen zu Calvis Tod gingen sofort in Richtung Selbstmord. Man kam zu dem Schluss, er habe selbst Hand an sich gelegt, was rasch zur Einstellung des Verfahrens führte. Die Vorstellung, er habe Selbstmord begangen, kam vielen zupass. Vor allem jenen aus der Welt der Banken und der Unternehmen, die endlich die Gelegenheit witterten, sich die Bank unter den Nagel zu reißen. Ebenso der römischen Kurie, die damit einen mittlerweile unbequem gewordenen Akteur verlor, der sich an unzähligen krummen Finanzgeschäften beteiligt hatte oder davon wusste. Aber auch eine eher heterogen zusammengesetzte Front geriet in Aufruhr: Die Kleinaktionäre liefen Gefahr, ihre Ersparnisse zu verlieren. Sie waren verstört und erschreckt. Das galt wohl ebenso für die organisierte Kriminalität von der sizilianischen Cosa Nostra bis hin zur römischen Banda della Magliana, die über Calvi und das IOR Investitionen getätigt hatte und der nun wichtige Ansprechpartner abhandenkamen.

Dabei war eigentlich leicht zu erkennen, dass es sich um Mord handelte: Die Leiche des nicht mehr jungen Bankiers baumelte im Morgengrauen von einem Träger unterhalb der Brücke, mit mehreren Ziegelsteinen in den Taschen von Hose und Jackett beschwert. Eine makabre Inszenierung, um die Ermittler aufs Glatteis zu führen. Was dann auch geschah, wodurch wertvolle Zeit verloren ging, die für die Lösung eines solchen Falles wesentlich gewesen wäre. Jedes Handbuch der Spurensicherung macht deutlich, dass nach einem Mord jede Stunde und jeder Tag zählt, wenn man ein brauchbares Ermittlungsergebnis erzielen will. Ist der Fall nicht innerhalb der ersten 48 Stunden gelöst, wird es kompliziert. In der Tat entpuppte sich dieser gewaltige Fehler bei den ersten Ermittlungen zu Calvis Tod als fatal. Und bis heute ist noch vieles unklar. Dabei war es schier unmöglich, dass sich der Bankier die Ziegelsteine in den Anzug gestopft hatte, dann wie ein trainierter Athlet an dem Gerüst hochgeklettert war, die Schlinge geknüpft und sich dann mit einem Hechtsprung ins Leere gestürzt und so erhängt hatte. Noch dazu, ohne dass die Fingernägel dabei in Mitleidenschaft gezogen wurden. Diese blieben so sauber wie nach der Maniküre: Dieses Detail hat mir der Ermittlungsrichter Otello Lupacchini anvertraut, der die Leiche des Bankiers 1998 exhumieren ließ.

Erst im Herbst 2005 erhob Staatsanwalt Luca Tescaroli nach langen Ermittlungen Anklage gegen eine ungewöhnliche Schar tatsächlicher oder mutmaßlicher Übeltäter, die Calvi gemeinsam beseitigt haben sollen. Leute, die nicht recht zusammenpassen wollen: Da ist der Geschäftemacher Flavio Carboni, aber auch der Boss der römischen Mafia, der Magliana-Bande, Ernesto Diotallevi. Da ist der Kassier der Cosa Nostra Pippo Calò, aber auch der Schmuggler Silvano Vittor. Es ist nur schwer vorstellbar, dass sich diese Männer mit so unterschiedlichem Hintergrund zusammengesetzt haben, um einen Mord zu planen. In der Tat haben die Gerichte diesen Ansatz noch in jeder Instanz verworfen und alle Angeklagten freigesprochen, mit einer klaren Begründung: Es gebe kein Motiv oder es sei zu bruchstückhaft und widersprüchlich, die belastenden Beweise seien nicht ausreichend. Die Staatsanwaltschaft hat ihren Ansatz nie überarbeitet, sondern in den anschließenden Instanzen immer wieder in gleicher Form vorgelegt. Schließlich hat der Kassationsgerichtshof das Verfahren endgültig eingestellt. Alle Angeklagten wurden freigesprochen. Bleibt der Trost, dass wenigstens feststeht, dass man Calvi umgebracht hat. 2011, beinahe dreißig Jahre nach seinem Tod, hat das Oberste Gericht endgültig festgestellt, dass Calvi ermordet wurde. Doch das ist nur eine partielle, bescheidene und unbefriedigende Erkenntnis. Wer hat Calvi umgebracht? In einem unwürdigen Spiel wurden die Fakten manipuliert und die Wahrheit untergraben: Auf jeden Schritt nach vorn folgten zwei zurück.

Im November 2016 stellte die Richterin Simonetta D’Alessandro auch das Verfahren gegen die mutmaßlichen Auftraggeber ein (Gelli, Carboni und den Geschäftemacher Francesco Pazienza), bekräftigte dabei aber die Vermutung, dass Teile von Vatikan, Freimaurerlogen und Cosa Nostra Calvis Ermordung beschlossen hatten, nachdem die Banco Ambrosiano massenhaft Mafiagelder verloren hatte. Damit steht fest, dass sich in IOR und Banco Ambrosiano damals Gelder von italoamerikanischen Mafiaclans mit denen zur Finanzierung der antikommunistischen Dissidenten in Polen kreuzten. Weder konnte Calò für die Sizilianer noch Marcinkus für den Vatikan »das Risiko eingehen«[19], dass der in die Enge getriebene Calvi einem Richter gegenüber gestehen würde, »dass durch illegale Tätigkeiten Mafiagelder in bestimmte Richtungen gelenkt wurden und Geldwäschepraktiken über die Banco Ambrosiano liefen«. Eine eher historische als juristische Betrachtung, die mit jener anderen einhergeht, wonach Calvi ermordet wurde, weil er nicht mehr in der Lage war, enorme Geldbeträge an die Mafia zurückzuzahlen.

Diese Ermittlungen wurden durch die undurchdringliche Mauer noch erschwert, die der Vatikan errichtete. Die beantragte Rechtshilfe wurde regelmäßig verweigert und entsprechende Anträge liefen ins Leere: »Die an den Staat Vatikanstadt gerichteten Rechtshilfeersuchen führten praktisch zu keinerlei Ergebnis«, unterstrich Richterin D’Alessandro.

Würde der Heilige Stuhl beispielsweise die Unterlagen zur Verfügung stellen, die sich in den Archiven des IOR zu den mit Calvi in Italien und im Ausland angestoßenen Vorgängen befinden, könnte man auf Personen und Spekulationen stoßen, die bisher im Verborgenen geblieben sind, auf mögliche Motive für die Ermordung des Bankiers, vielleicht sogar auf die Auftraggeber. Entscheidende Erkenntnisse also, um den Fall zu lösen. Etwa jene zu den Beziehungen mit der Cisalpine Overseas Bank in Nassau auf den Bahamas, die in einigen Überweisungen genannt war, die auf den Kassenblättern des IOR auf Papst Paul VI. verweisen.

Wie umfassend und beunruhigend Calvis Netzwerk war, konnte ich erst einschätzen, als ich nach Buenos Aires flog, wo ich mich mit zwei Bolivianern verabredet hatte: mit Ayda Suárez Levy, Jahrgang 1934, der früheren Frau des Bolivianers Roberto Suárez Gómez, der in den USA »King of Cocaine« genannt wird, und ihrem Sohn Gary. Es ist Ende November 2012. Aus Sicherheitsgründen findet das Treffen in der obersten Etage des NH City Hotels statt, wenige Schritte von der Casa Rosada entfernt. Ein großer, völlig leerer Konferenzsaal bildet den Rahmen. Die Fenster geben den Blick auf die Dächer von Buenos Aires frei. In der Mitte des Raumes stehen nur zwei Stühle, einer für mich und einer für die grazile alte Dame. Als sie mir die Hand gibt, halte ich ihre Höflichkeit für ein Zeichen von Unsicherheit. Ich verbringe fast einen ganzen Tag mit ihr, bald gesellt sich auch ihr Sohn Gary zu uns. Anders als ihre unsicheren Schritte und ihre dem Alter geschuldete Gebrechlichkeit vermuten lassen, verfügt Ayda über ein eisernes Gedächtnis und ist voller Entschlossenheit und Zorn, der nur durch die bürgerliche Etikette abgemildert wird. Nachdem sie ein Leben lang geschwiegen hat, will sie nun über die Hintergründe des von ihrem Mann in Südamerika aufgebauten Imperiums sprechen. Sie hat sich von ihm getrennt, als sie seine Machenschaften entdeckte. Roberto Suárez Gómez stand an der Spitze eines Drogenkartells, das von den amerikanischen Behörden als »General Motors of cocaine« bezeichnet wurde: Das Kartell besaß 250.000 Hektar Weiden und Anbauflächen für Kokain, war in der Lage, in Südamerika einen Staatsstreich zu organisieren, verfügte über Hunderte von Millionen an Narcodollars, über Labore, die in goldenen Zeiten anderthalb Tonnen Kokain pro Tag veredeln konnten, und über ganze Flotten von Flugzeugen und Schiffen, um die Rauschmittel in die USA zu transportieren. Die Macht von Suárez Gómez beruhte auf drei Pfeilern. Zunächst einmal auf einer gnadenlosen Geheimpolizei, die von dem italienischen Faschisten Stefano Delle Chiaie und dem Nazi Klaus Barbie geleitet wurde. Barbie, der Schlächter von Lyon, war nach dem Fall des Dritten Reichs nach Südamerika geflohen und nannte sich dort Klaus Altmann. Zweiter Pfeiler: die Fähigkeit, entscheidenden Einfluss auf die politische Macht zu nehmen, etwa 1980 in Bolivien durch die Finanzierung des Staatsstreichs von General Luis García Meza Tejaola. Und schließlich noch die Allianzen, die für den Vertrieb der Kokainpaste und zur Geldwäsche der eingenommenen Drogengelder erforderlich waren. Was das Kokain betraf, hatte er einen eisernen Pakt mit Pablo Escobar, dem Chef des Kartells von Medellín, geschlossen. Bei dem Thema Geldwäsche lässt mir der Bericht von Ayda Suárez Levy das Blut in den Adern gefrieren:

1980 stellte mir mein Mann in Venezuela Roberto Calvi vor, einen Bankpräsidenten, und sagte mir, Calvi könne in Zukunft für uns bürgen. Mein Mann Roberto war froh und glücklich, Calvi in Venezuela getroffen zu haben, denn bei einem Bürgen dieser Klasse würden die Geschäfte viel besser laufen … mit dem Kokain, denke ich mir, er sagte es nicht ausdrücklich, aber ich stelle mir das vor … Calvi war Gesellschafter meines Mannes … Mein Mann war einmal mit meinem Sohn in St. Moritz gewesen, wo Gunter Sachs [der 2011 durch Selbstmord gestorbene Ehemann Brigitte Bardots, A.d.A.] ihm sagte, Calvi sei gerade sehr verängstigt und er würde sich daher gerne mit ihm besprechen. Sachs sagte, Calvi habe große Probleme mit Pablo Escobar, da dieser das Geld zurückverlangte, das er bei einer Bank in Nassau deponiert hatte. Ich erfuhr, dass sie sich in der Toskana trafen. Mein Mann Roberto sagte Calvi, er müsse die Millionen Dollar der Kolumbianer zurückzahlen, die bei der Cisalpine Overseas in Nassau lagen und Schulden betrafen, die er bei Escobar aufgenommen hatte; dadurch würde sich dieser beruhigen. Klar, wenn Calvi meinen Mann um Hilfe gebeten hat, heißt das natürlich, dass er völlig verzweifelt war.[20] 

Sohn Gary ergänzt: 

Keiner der Kolumbianer oder der Bolivianer hatte Konten beim Ambrosiano, aber fest steht, dass sie bei anderen Banken und Gesellschaften Konten hatten, die mit dem Ambrosiano verbunden waren … Mein Vater sagte mir, Calvi sei sehr stark … Er war Mitgesellschafter und auf seiner Seite, wie ein Partner, der bei einem Geschäft einen Anteil mitverdient aus dem, was du investierst … er verdiente einen Anteil dieses Geldes, das auf die Karibik gekommen war.

Diese Enthüllungen werfen ein neues Licht auf mögliche Beziehungen zwischen Calvi und Vertretern des Medellín-Kartells, die bereits in einem Bericht des FBI erwähnt werden, und die der Sohn des Bankiers, Carlo Calvi, nie abgestritten hat:

Der wesentliche ausländische Standort des Ambrosiano bestand eben aus dem Ambrosiano von Nassau, und wenn dort Drogengelder ankamen, landeten sie wahrscheinlich in Gesellschaften, die von der ausländischen Schwesterbank oder von deren Angestellten treuhänderisch verwaltet wurden. Diese Gesellschaften sind dann wohl der Liquidation entgangen. An diesen Roberto Suárez Gómez kann ich mich nicht erinnern, weil mein Vater eine Menge Gómez kannte, aber es stimmt, dass eine der letzten Reisen meines Vaters nach Venezuela führte.[21]

Sollte zutreffen, was die Witwe von Roberto Suárez Gómez sagt, so ergäbe sich eine beunruhigende Verbindung: Escobar und das Kartell von Medellín hatten bei der Cisalpine Overseas Bank in Nassau, der Auslandsgesellschaft der Banco Ambrosiano, entweder direkt oder über verbundene Treuhandgesellschaften mehrere Depots mit Millionen von Dollar angelegt. Und es handelt sich tatsächlich um die Bank, die denselben Namen trug wie der »Fondo Cisalpine« bei der Vatikanbank IOR, der in Geschäfte über Millionen Dollar zugunsten von Paul VI. verwickelt war. Das haben wir im vorherigen Kapitel festgestellt, und es wirft die Frage auf, weshalb Paul VI. auf diesen Schecks erwähnt wird: Handelt es sich dabei um andere Vorgänge oder besteht doch eine Verbindung?

Im Vatikan danach zu fragen hätte keinen Sinn. Man zieht es dort immer noch vor zu schweigen, da man fürchtet, neue Nachrichten würden der Glaubwürdigkeit des Heiligen Stuhls schaden, die sperrigen Skelette in den Schränken der vatikanischen Paläste würden wieder rasseln. Die angekündigten Bemühungen um mehr Transparenz und sauberes Gebaren spielen hier keine Rolle. Offensichtlich zieht man es vor, die Wahrheit unter der Decke zu halten, wohl wissend, dass man sich auf diese Weise möglichen Erpressungen aussetzt. Denn wer die Wahrheit kennt, kann sie sich für allerlei unlautere Absichten zunutze machen.

Es ist dieselbe Situation wie im Fall der verschwundenen Emanuela Orlandi. Oder vorher noch beim Bankrott von Sindona. Dort war der Kassationsgerichtshof mit der Axt dazwischengegangen und hatte 1990 die meisten Angeklagten wegen Verjährung freigesprochen oder das Strafmaß radikal gekürzt. Mennini beispielsweise sah sich durch das Oberste Gericht von jeder Strafe befreit, da es einen Zuständigkeitsfehler des Gerichts erkannte, das ihn zuvor verurteilt hatte. Mit einem Schlag kam die zweite Reihe jener Unterwelt ungeschoren davon, die nun wieder Luft holen konnte. Dass man diese Taten nie wirklich aufgeklärt hat und sie zu großen Teilen straffrei blieben, hat verhindert, dieses kriminell-finanzielle System an der Wurzel zu packen. Auch wenn Spitzenleute wie Calvi, Marcinkus und Sindona verloren waren, hat der Machtblock es verstanden, sich zu regenerieren und kraft der erhalten gebliebenen Privilegien und der Erpressung jeden Versuch einer Veränderung und Reform bis in unsere Tage hinein zu unterbinden. Das beste Beispiel ist das IOR, das als letzte europäische Offshore-Bank die Regeln gegen Geldwäsche übernommen hat. Nach dem 11. September 2001 und vor allem nach dem anschließenden Druck auf Steueroasen wollte man weltweit die Finanzströme von Al-Qaida unterbinden und Geldwäsche erschweren.

 

Eine letzte Überlegung ist noch hervorzuheben: Die landläufige Meinung, wonach Marcinkus von Sindona und von Calvi hinters Licht geführt wurde, hat endgültig ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Noch deutlicher trifft dies auf die Behauptung zu, dieses Machtsystem habe nichts mit dem Papsttum Pauls VI. und dann Johannes Pauls II. zu tun. Kein Papst sollte den hektischen Finanzgeschäften der Achse Sindona-Marcinkus-Calvi in die Quere kommen. Und nach dem Tod von Johannes Paul I. lief in der Tat alles noch ein Jahrzehnt weiter, bis der Tod wieder eingriff und die Hauptakteure beseitigte. Nach Calvi traf es 1986 Sindona, den man leblos in einer Zelle des Gefängnisses von Voghera auffand, nachdem er einen mit Zyankali versetzten Espresso getrunken hatte. Es blieb Marcinkus, den Papst Johannes Paul II. erst 1989 entließ. Aber auch hier beging man einen eklatanten Fehler. Das Unkraut hatte zu tiefe Wurzeln geschlagen, als dass man es hätte ausrotten können. Der Abgang Marcinkus’ reichte nicht aus, um aus dem IOR eine saubere Bank zu machen, obwohl Johannes Paul II. medial geschickt versuchte, diese Botschaft zu verbreiten. Aber ihm das anzulasten, klingt wie der subtile Versuch, eine weitaus peinlichere Wahrheit unter den Teppich zu kehren: Denn zu viele Geschichten der letzten zwanzig Jahre belegen, dass das System Marcinkus-De Bonis-Mennini und ihr IOR die skrupellosen, anmaßenden oder gar kriminellen Geschäfte mindestens bis 2014 fortsetzte. Auch in diesem Fall übertrafen die Schüler ihre Meister.