Teil 3   Sex

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Die Messdiener des Papstes

Ein geheimer Brief in Franziskus’ Händen

Es ist Mittwoch, der 24. Mai 2017, früh am Morgen. Papst Franziskus hat in der Suite 201 im Gästehaus Santa Marta, wo er seit seiner Ernennung wohnt, das Morgengebet gesprochen und schaut, kurz bevor er den Apostolischen Palast erreicht, noch ein letztes Mal auf die Uhr. Um 8.30 Uhr wird er in der Bibliothek der Papstwohnung den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Donald Trump, treffen. Doch bis dahin ist noch etwas Zeit, und er kann die voraussichtlich heikelsten Themen der Tagesordnung noch einmal durchgehen: Waffen, Klima und Flüchtlingsströme. Einige seiner engsten Mitarbeiter, Geistliche und hohe Prälaten, lassen sich hingegen die Predigt noch einmal durch den Kopf gehen, die Franziskus gestern bei der Frühmesse in der Kapelle von Santa Marta gehalten hat: »Der böse Geist zieht eine ruhige Kirche vor, die keine Risiken eingeht, eine Kirche der Geschäftemacher, eine bequeme Kirche, in der Bequemlichkeit der Lauheit, eine laue Kirche. […] Wenn die Kirche lau ist, ruhig, gut durchorganisiert, wenn es keine Probleme gibt, dann schaut sofort nach, wo Geschäfte gemacht werden.«[1] 

Das Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten dauert genau 29 Minuten, von 8.32 Uhr bis 9.01 Uhr. Nur etwa halb so lange wie die Begegnung zwischen Papst Franziskus und Barack Obama 2014. Die dreißig Minuten, die das Protokoll für Besuche von Staatsoberhäuptern längstens vorsieht, werden von Trump und Papst Franziskus nicht überschritten. Die beiden sind zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Zudem muss Papst Franziskus um 9.30 Uhr schon auf dem Petersplatz sein, wo sich die Gläubigen gerade für die Generalaudienz versammeln.

Einigen Geistlichen in seinem Gefolge geht auch noch eine andere heikle Stelle der gestrigen Predigt durch den Kopf: Der Papst wendet sich dort gegen eine Kirche, die nichts mit Leuten zu tun haben will, die kirchliche Schwachpunkte aufdecken: »Wenn jemand die vielerlei Arten der Weltlichkeit anprangert, dann wird er scheel angesehen. […] Eine Kirche ohne Märtyrer erregt Misstrauen; eine Kirche, die keine Risiken eingeht, erregt Misstrauen; eine Kirche, die Angst hat, Jesus Christus zu verkündigen und die Geister, die Götzen, jenen anderen Herrn, der Mammon heißt, zu vertreiben, das ist nicht die Kirche Jesu.«[2]

Schon wenige Minuten später, nur einen Tag nach dieser Predigt, sollten die Worte des Papstes auf unerwartete Weise wahr werden.

Ob Staatsoberhäupter den Papst treffen oder Pilger an der Generalaudienz teilnehmen wollen, sie müssen beim Präfekten des Päpstlichen Hauses und früheren Privatsekretär von Benedikt XVI., Erzbischof Georg Gänswein, einen Antrag stellen. Das Team von Trump, der an diesem Morgen in der Bibliothek erwartet wurde, hatte das ebenso getan wie ein junger Römer, nennen wir ihn Marco, der an der Generalaudienz teilnehmen wollte. Allerdings heißt er nicht wirklich Marco; das Pseudonym soll ihn davor schützen, unter Druck gesetzt zu werden. Denn er wurde Zeuge von eventuell strafrechtlich relevanten Tatbeständen.

Der junge Mann, der am Priesterseminar studiert hatte, dann aber lieber als Laie Religion unterrichtete, verfolgte in Wahrheit einen ehrgeizigen Plan, bei dem er um- und vorsichtig vorging. So hatte er, um dem Papst näher zu kommen, für die Generalaudienz am Mittwoch zwei Eintrittskarten beantragt: Junge Paare, die an der Generalaudienz teilnehmen, dürfen einige Sätze mit dem Papst sprechen, ihm die Hand küssen und eine Gabe überreichen, die der Papst annimmt und an seine Assistenten weitergibt.

Als der junge Mann die beiden Eintrittskarten für die rechte Seite des Petersplatzes erhalten hatte, eine für sich und eine für seine Begleiterin, schrieb er einen langen, ausführlichen Brief an den Heiligen Vater, mit einer unglaublichen Geschichte, übertrug ihn in sorgfältiger Schönschrift, fügte seine Adresse hinzu und setzte schließlich seine Unterschrift darunter. Doch die schwierigste Hürde lag noch vor ihm: Er musste die Aufmerksamkeit des Papstes wecken und sein Vertrauen gewinnen, damit der den Brief nicht an seine Assistenten weitergab, sondern behielt und später im Stillen las. Wenn ihm das nicht gelang, würde der Brief bei der allgemeinen Post landen, von anderen statt dem Papst gelesen werden, und der Papst würde vielleicht noch nicht einmal etwas davon erfahren.

Darum betrat Marco an jenem Morgen als einer der Ersten die rechte Seite des Petersplatzes und eroberte sich einen Platz in der vordersten Reihe, direkt hinter der weißen Absperrung, die die Gläubigen zurückhält. Wenn der Papst dort vorbeigehen würde, blieben Marco nur wenige Sekunden, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und sich von der Menge der Pilger abzusetzen, die den Papst mit Gaben, bewundernden Worten und Anrufungen überschütteten.

Als der Papst nah genug an der Absperrung war, beugte sich Marco so weit hinüber, dass er ihm etwas ins Ohr flüstern konnte. Doch gleichzeitig sprach er klar und deutlich, damit der argentinische Papst alles genau verstehen konnte. Wir wissen nicht, was die beiden gesprochen haben, aber wenn man die Zigtausend Fotos durchsieht, die der »Osservatore Romano« bei dieser Gelegenheit geschossen hat, kann man über hundert Fotos finden, auf denen die kurze Begegnung festgehalten ist.[3] Zwei wichtige Details fallen darauf ins Auge: wie düster und ernst der Papst blickt, als er den jungen Mann anhört, und dass der Brief übergeben wird. Nach den Fotos zu schließen, hat der Papst das Schreiben nicht an seine Assistenten weitergegeben, sondern vermutlich in den Gürtel seines Talars gesteckt. Zumindest bis dahin hatte Marco seine Mission also erfüllt.  

Mit dem Brief wollte er Papst Franziskus höchstpersönlich darüber informieren, dass es in der einzigen Einrichtung des Vatikans für Kinder und Jugendliche Vorfälle von Einschüchterung, Gewalt und sexuellem Missbrauch gab.

Die Rede ist vom Präseminar St. Pius X., mit Sitz im Palazzo San Carlo, in dem auch hohe Kardinäle und im obersten Stock der frühere Staatssekretär Bertone wohnen. In die Einrichtung schicken Diözesen Jungen im Mittelschulalter, die eine Neigung zum Priesterberuf zeigen. Wenn man angenommen wird, besucht man eine staatlich anerkannte Privatschule im Herzen Roms, wohnt im Kolleg des Vatikans und ist Messdiener im Petersdom. Im Sommer stehen den Messdienern Jungen der letzten Grundschul- und ersten Mittelschulklasse zur Seite, die nach erfolgreicher Probezeit in das Präseminar aufgenommen werden. Das Präseminar setzt sich also aus den Messdienern zusammen, die man bei wichtigen religiösen Handlungen im Petersdom sieht. Als Außenstehender kann man sich vermutlich kaum vorstellen, wie stark ein Kind oder Jugendlicher vom Petersdom, dem vor Gläubigen überquellenden Petersplatz und der Nähe zum Papst beeindruckt oder geradezu überwältigt sein kann.

Doch leider sind ausgerechnet in diesem Präseminar vermutlich undurchsichtige Dinge passiert, über die Marco den Papst informieren wollte, damit die ganze Geschichte, die im Einzelnen noch zu klären wäre, endlich ans Tageslicht kommt.

Ein früherer Schüler des Präseminars, der Pole Kamil Tadeusz Jarzembowski, hatte als Erster von den Vorfällen berichtet. Schon im Juni 2014 wandte er sich mit mehreren Schreiben, die wir auf den folgenden Seiten in Auszügen wiedergeben, an verschiedene Kirchenbehörden. Was er schildert, ist durchaus wahrscheinlich, denn auch andere haben mehrfach davon erzählt. Es obliegt allerdings zunächst den zuständigen Behörden, zu beurteilen, was den Beschuldigten im Einzelnen zur Last gelegt werden kann: ob es sich um ein besonders dunkles Kapitel der Kuriengeschichte handelt oder die Handlungen strafrechtlich bedeutungslos sind. Um Opfer und Täter zu schützen, werden darum im Folgenden, anders als in den Beschwerdeschreiben, nicht die wirklichen Namen genannt. Dazu müssen die Vorfälle erst noch geklärt werden.

Kamil war mit dreizehn in das Präseminar St. Pius X. eingetreten und lebte bis vor wenigen Jahren dort. In einem seiner Schreiben erklärt er:

Im September meines ersten Jahrs am Seminar, als ich also nach den Sommerferien wieder in den Vatikan kam, wies mir der Rektor einen gemeinsamen Schlafraum mit Paolo, einem anderen Schüler, zu. Im Lauf des Schuljahrs, genauer gesagt von Ende September bis Anfang Juni, wurde ich Zeuge sexueller Handlungen, die Antonio trotz meiner Anwesenheit von Paolo verlangte. Zu den sexuellen Handlungen kam es stets gegen 23 Uhr. Wenn alle im Bett lagen, betrat Antonio unseren Schlafraum. Dort kam es dann zu Oralsex, manchmal gingen beide aber auch in einen anderen Raum, um dort weiterzumachen. Antonio hatte freien Zugang zum Präseminar, war bei einigen hohen Prälaten äußerst beliebt und beeindruckte uns Schüler gewissermaßen. Dank seiner engen, vertraulichen Beziehungen konnte er im Präseminar, obwohl er dort keine offizielle Aufgabe hatte, selbstbewusst auftreten. So konnte er die jüngsten Seminaristen (die sich ihm untergeordnet fühlten) einschüchtern und gewissermaßen Macht über sie ausüben. Paolo fühlte sich verpflichtet, Antonios Forderungen nachzugeben, auch, weil er sich unausgesprochen und unterschwellig erpresst fühlte: Hätte sich mein Freund und Mitschüler geweigert, hätte er Probleme mit den Oberen bekommen, oder man hätte ihn vor allem bei den Papstmessen mit einer Nebenrolle im Ministrantendienst »bestraft«.

Aus demselben Grund hatte auch ich Angst und traute mich nicht, mich offen über die Handlungen, deren Zeuge ich wurde, zu beschweren. Hätte ich eindeutig und direkt Stellung bezogen, wäre ich des Seminars verwiesen worden, denn es war mir sehr wohl klar, dass Antonio innerhalb der Hierarchie einen besonderen Schutz genoss. Weil sich die oben genannten Vorfälle aber wiederholten, mich zunehmend bekümmerten und ich zudem befürchtete, das Präseminar verlassen zu müssen, vertraute ich mich meinem Spiritual (und Spiritual des gesamten Seminars), Don Marco, an.  

Kamil Jarzembowski suchte also angesichts von Schikanen und sexuellem Missbrauch nach einem Weg, die Oberen zu entsprechenden Maßnahmen zu bewegen und die unerträgliche Situation im Präseminar zu beenden. Man reagierte allerdings anders als erwartet: Niemand schien die Sache sonderlich ernst zu nehmen. Aber Jarzembowski gab nicht auf:

Auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin unterrichtete dieser [der Spiritual Don Marco, A.d.A.] auch den zuständigen Erzbischof und hierarchisch Höherstehende über die Vorkommnisse. Doch auch das verlief im Sande. Weil ich zunehmend trauriger und einsamer wurde, informierte ich schließlich den Generalvikar Seiner Heiligkeit für die Vatikanstadt, Kardinal Comastri. Er empfing mich auf mein Schreiben hin in seinem Büro und erklärte mir, er habe den zuständigen Bischof informiert. Das überraschte mich, da ich davon ausgegangen war, dass er als Ordinarius der Diözese, in der die genannten Handlungen stattfanden, selber tätig werden würde. Nachdem Comastri die Sache an eine andere Behörde weitergegeben hatte, unternahm er keine weiteren Schritte mehr. Keiner unternahm etwas. Angesichts des anhaltenden Schweigens und der Gleichgültigkeit von Seiten derer, die meiner Meinung nach aus rechtlicher und vernünftiger Sicht hätten tätig werden müssen, wandte ich mich direkt an den Heiligen Stuhl, insbesondere an das Staatssekretariat und die Kongregation für die Glaubenslehre. Letztere teilte mir im September 2014 schriftlich mit, dass der Fall an die zuständige Kongregation für den Klerus weitergegeben werde. Bis heute hat mir gegenüber keine vatikanische Behörde die Vorfälle bestritten.

Kamil hatte sich zum Priester berufen gefühlt, war daher von Polen in den Vatikan umgezogen und voller Vorfreude in das Präseminar eingetreten. Es war eine Welt, die ihn faszinierte. Er fühlte sich als etwas Besonderes. Doch was er in dieser Welt erlebte, ließ sich nicht mit seinen Werten vereinbaren. Seine Beschwerde lief ins Leere:

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass keine der genannten Behörden im Gespräch oder in schriftlichen Mitteilungen erkennen ließ, dem von mir vorgebrachten Fall nachgehen zu wollen. Niemand machte sich die Mühe, die von mir beschriebenen Vorfälle zu überprüfen. Man versuchte im Gegenteil, sie zu ignorieren oder, schlimmer noch, unter den Teppich zu kehren. Dass viele davon wussten, zeigt ein mutmaßlich anonymes Schreiben, in dem man sich ebenfalls über Antonios Taten beschwerte und das unter anderem an das Staatssekretariat, an Kardinal Comastri, geschickt wurde. Ich habe es zwar nicht selbst gesehen, aber Comastri hat mir davon erzählt und gesagt, er könne es mir nicht zeigen, da er es zerrissen habe. In demselben Gespräch teilte er mir auch mit, dass das Staatssekretariat Antonio mit einem Hausverbot für den Petersdom und Vatikanstadt im Allgemeinen belegt habe. Hinsichtlich des skandalösen Verhaltens von Antonio sagte der Kardinal: »Ich will keine Probleme.« Obwohl ich zu meiner und zur Verteidigung der Wahrheit niemals zu übler Nachrede, Gerüchten oder Verleumdungen gegriffen habe, habe ich durch diese Sache psychisch Schaden genommen, was sich in einer anhaltenden schweren Depression äußert. Ich habe darauf vertraut, dass die Institution, der ich angehörte, tätig würde, und von den Behörden, an die ich mich gewandt habe, ein entschiedenes Eingreifen erwartet. Diese ganzen Vorfälle haben bei mir zu einer tiefen Niedergeschlagenheit geführt. Erst als ich das Gymnasium abschloss, ging es mir psychisch wieder besser.[4]

Nächte voller Angst in Bertones Palast

Ich will herausfinden, ob Kamils Anschuldigungen glaubwürdig sind, und beschließe darum, mit ihm zu sprechen. Wir treffen uns in einer Bar in Rom, im Viertel Prati, in unmittelbarer Nähe vom Vatikan. Der junge Mann, geboren in Dzierzgoń, einer Ortschaft nahe Danzig, ist schmächtig, hat einen unsteten Blick und beendet jeden Satz mit einem melancholischen Lächeln. Momentan legt er an der Università La Sapienza, wo er dank eines Stipendiums und finanzieller Unterstützung seiner Eltern Kunstgeschichte studiert, verschiedene Prüfungen ab. Seine Selbstsicherheit, sein Gerechtigkeitswille und sein Wahrheitsdrang beeindrucken mich zutiefst.  

Darf ich unser Gespräch aufnehmen?

Natürlich, ich habe nichts zu verbergen.

Wie lange haben Sie im Vatikan gelebt?

Fünf Jahre lang, aber das ist jetzt schon einige Jahre her.

Wie alt waren Sie, als Sie ins Präseminar eintraten?

Als ich zwölf war, noch in Polen, war ich sehr gläubig. Die Kirche erschien mir wie ein sicherer Ort, ich war in der Kirche meines Viertels Messdiener, und eines Tages sah ich im Fernsehen eine Sendung über das Präseminar. Ich war begeistert: Messdiener beim Papst! Ich habe mir selber Italienisch beigebracht und mich über einen früheren polnischen Seminaristen, Rafał Fleszar, beworben. Ich wurde zur Probe aufgenommen und konnte mit dem neuen Schuljahr im September beginnen. Da war ich dreizehn.

Wo haben Sie gewohnt?

Im Palast San Carlo.

Das ist eines der größten Gebäude in Vatikanstadt. Wo genau?

Das Gebäude hat zwei Teile. Der eine geht auf den Petersdom, Piazza Santa Marta und die Tankstelle, dann kommt ein Hof und dahinter liegt der andere, zur italienischen Grenze hin. Im obersten Stock des ersten Teils hat Bertone seine Wohnung, im zweiten Teil befinden sich die Schlafsäle der Kinder. Mein Fenster ging auf den Hof, ich konnte also die Wohnung von Bertone, die Kuppel und die Wohnung von Kardinal Paolo Sardi sehen, und dann war da noch Prälat Giuseppe Sciacca.

Sie wollten Priester werden?

Ich will etwas vorausschicken: Ich bin schwul, und als Junge wollte ich herausfinden, ob ich berufen bin oder nicht. Später habe ich dann gemerkt, dass ich in mir denselben Mechanismus habe wie viele andere Homosexuelle: Man versucht, einen Teil von sich zu verstecken, das Schwulsein, und wird Priester. Darum gibt es so viele schwule Priester. Es ist immer wieder dieser Mechanismus.

Schwule sind auch heute noch nicht allgemein akzeptiert. Müssten Sie Homosexuellen gegenüber darum nicht etwas nachsichtiger sein?

Nein, eigentlich nicht. Ich habe nichts gegen schwule Priester. Das Problem liegt woanders, in der Lüge: Tagsüber sind diese Leute homophob und nachts lassen sie in den Schwulendiskos alle Hemmungen fallen.

Auch heute noch?

Natürlich. Die Sexualität wird Tag für Tag unterdrückt und von den Priestern im normalen Leben verschwiegen. Die kirchliche Lehre verlangt das Zölibat und hält Homosexualität für eine »Einstellung«, als würde man sich dafür entscheiden. Das ist genauso anachronistisch wie damals, als die Leute partout glauben wollten, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums ist.

Und dann passiert so etwas wie das, was Sie in Ihren Beschwerden beschreiben, sexuelle Handlungen an Minderjährigen im Präseminar?

Ja, das ist wohl das Erschütterndste, was ich jemals erlebt habe, ein ganzes, langes Schuljahr hindurch. Antonio wurde von oben geschützt und hat uns ausgebeutet; durch Übergriffe, psychischen Druck und sexuelle Handlungen.

Wie oft haben Sie gesehen, dass Antonio nachts in den Schlafraum kam?

Also so im Durchschnitt, von Oktober bis Mai sind acht Monate, und im Monat wird er so fünfzehn bis zwanzig Mal gekommen sein, das wären also insgesamt 140 Mal.

Und was passierte dann?

Wir waren im obersten Stock, Antonio wartete, bis alle schliefen, dann lief er über den Flur und kam herein. Ohne ein Wort zu sagen, legte er sich in Paolos Bett und verkehrte sexuell mit ihm. Es war immer nach elf Uhr abends, wenn keine Aufsicht mehr im Schlafsaal war. Als er das erste Mal in unser Zimmer kam, war ich schon fast eingeschlafen und erschrak: »Was machst du hier?«, habe ich gefragt, und ohne zu antworten, zog er die Tür wieder zu und ging. Beim zweiten Mal dasselbe. Beim dritten Mal sagte ich nichts mehr und er schlüpfte in Paolos Bett. Er schrieb Paolo oft SMS-Nachrichten, die wir dann gemeinsam lasen.

Konnte man hören, wenn er kam?

Natürlich. San Carlo war ja früher ein Krankenhaus, alle Räume liegen immer noch rechts und links an einem langen Flur.

Wie alt waren Sie da?

Ich war sechzehn, also noch minderjährig. Das Opfer war siebzehn oder achtzehn. Insgesamt muss man sagen, dass dort nicht gerade eine Arbeits- oder Gebetsatmosphäre herrschte: Immer wieder gab es homosexuelle Anmache.

In Ihren Berichten schreiben Sie, dass es sich nicht um einen freiwilligen Austausch handelte, sondern dass dieser Liebling der Oberen gewissermaßen Zwang ausübte, weil er eine Stellung genoss, durch die er die jüngsten Seminaristen (die sich ihm untergeordnet fühlten) einschüchtern und gewissermaßen Macht über sie ausüben konnte. Paolo fühlte sich verpflichtet, Antonios Forderungen nachzugeben, auch, weil er sich unausgesprochen und unterschwellig erpresst fühlte: Hätte sich mein Freund und Mitschüler geweigert, hätte er Probleme mit den Oberen bekommen oder man hätte ihn vor allem bei den Papstmessen mit einer Nebenrolle im Ministrantendienst »bestraft«.

Genauso war es.

Wie lange hielt er sich in Ihrem Schlafraum auf?

Knapp zwanzig Minuten, die Zeit, die der Oralverkehr dauerte. Manchmal schmiss Paolo ihn raus, weil er nicht wollte. Ich wunderte mich, dass das Ganze ohne irgendwelche Worte oder Gefühle ablief. Es wirkte wie ein echter Akt der Unterwerfung.

Und wenn die beiden einfach ein Liebespaar waren?

Dann wäre Paolo zu Antonio gegangen, woandershin, wo sie allein gewesen wären. Im Gegensatz zu unserem Zimmer konnte man Antonios Lieblingsraum sogar abschließen. Da wären sie ganz für sich gewesen. Ich weiß als Einziger, wie verletzt und unbehaglich sich Paolo damals fühlte.

Und nachts gab es keine Zimmerkontrolle?

Nein, die Aufsicht ging irgendwann schlafen und war weg.

Und was passierte am nächsten Tag?

Nichts, der Wecker klingelte um 6.20 Uhr, um 6.40 Uhr versammelten wir uns zum Gebet, und alle taten, als wenn nichts wäre, das Opfer, der Täter, und auch ich zog mich in mich selbst zurück. Wir hatten auch nie Zeit. Um sieben öffnete schon der Petersdom, wir mussten die Sakristei vorbereiten, und einige halfen bei der Messe. Ich hatte Angst.

Hatte das Opfer Vorteile davon, dass es sich den sexuellen Übergriffen nicht widersetzte?

Nein, tagsüber schien es, als hätte Antonio nur Hass für Paolo, ebenso wie ein anderer Prälat, der sich oft über ihn aufregte und ihn demütigte.

Hat Antonio Sie irgendwann einmal bedroht? Hat er irgendwann gesagt: »Wehe, wenn du was sagst! Kümmere dich lieber um deine eigenen Sachen!?«

Nein, gesagt hat er das nicht, aber das verstand sich von selbst. Das musste nicht ausdrücklich gesagt werden.

Gibt es noch weitere Zeugen?

In unserem Schlafraum waren nur wir drei, aber Paolo hat sich zwei Geistlichen anvertraut. Das haben diese mir selber gesagt, es waren X und Y[5]. Letzterer hat unter anderem versucht, die Vorfälle bei den Oberen anzuzeigen, und wurde dann versetzt.

Als Sie ins Präseminar eintraten, waren Sie dreizehn. War Sexualität schon ein Thema unter den Messdienern, hat man untereinander über Mädchen oder Jungen gesprochen?

Ja, aber das konnte man natürlich nicht offen. Wenn einer beispielsweise in der Schule mit jemandem etwas angefangen hatte, vielleicht sogar mit einem Mädchen – auch wenn das schwer war, weil wir das Präseminar grundsätzlich nicht verlassen durften –, dann konnte er das nicht sagen, weil das ja ein Fehltritt war.

Wie viele Räume gab es für die Messdiener?

Es gab noch mehr Dreibettzimmer wie unseres oder auch Vierbettzimmer, aber es waren nicht alle belegt. Während des Schuljahrs waren vier oder fünf Zimmer belegt.

Also waren ungefähr zwanzig Schüler da oder weniger?

Zu Anfang waren es fünfzehn, dann wurden es immer weniger. Dieses Jahr sind es nur neun.

Ist Ihnen in den ersten Jahren im Seminar irgendetwas Besonderes aufgefallen?

Es gab einiges, was mir undurchsichtig schien. Zu Anfang sprach ich noch nicht so gut Italienisch, aber ich merkte genau, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Beziehung zwischen den Schülern und den Oberen, besonders mit einem davon, schien sehr speziell. Es gab bei den Messdienern zwei Gruppen. Die eine war für Antonio, vielleicht, weil er eine gute Beziehung zu den Oberen hatte. Diese treuen Anhänger waren wie Auserwählte, privilegiert. Die andere Gruppe war gegen ihn, aber ich verstand nicht, warum. 

Welche Beziehung bestand zwischen Antonio und diesem hohen Prälaten?

Antonio entschied quasi alles, und dieser Prälat sagte zu allem Ja, vor allem, wenn es um den Petersdom ging. Und mit den Jahren hat Antonios Macht noch zugenommen.

Antonio sagte also, wer dem Papst als Messdiener dienen sollte?

Ja, er sagte, wer in der Papstmesse dienen sollte, und der Prälat, der ja eigentlich über ihm stand, nickte alles ab. Im Präseminar wussten wir das nicht, man verstand das nicht. Das Verhalten des Prälaten, auch uns gegenüber, war vollkommen unverständlich. Oft widerrief er grundlos Entscheidungen, die uns betrafen, und schien dadurch völlig ungerecht. Und alle ärgerten sich.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Im Präseminar musste man gehorchen und sich auch unnötig demütigen lassen. Im Sommer sagte er etwa, wir würden nach dem Mittagessen ins Schwimmbad gehen, wir sollten uns schon einmal fertigmachen, und wenn wir dann voller Vorfreude mit gepackten Badesachen dastanden, änderte er seine Meinung plötzlich, und wir waren enttäuscht. Natürlich sind das letztendlich Kleinigkeiten, aber so ging das jeden Tag. Diese Leute besitzen nicht die pädagogischen Fähigkeiten für den Umgang mit Kindern; meiner Meinung nach müsste das Präseminar darum geschlossen werden.

War der Ministrantendienst beim Papst begehrt?

Ja, das wollte jeder machen, das war eine hochemotionale Sache, ob bei Benedikt XVI. oder Papst Franziskus. Wir Schüler wussten außerdem, dass man an dieser Schule, außer dem Ministrantendienst beim Papst, nicht viele Chancen hatte.

Wie muss man sich den Alltag in der Schule vorstellen?

Das war kein ruhiges Leben, immer gab es Ungerechtigkeiten. So wurde uns beispielsweise die Post weggenommen …

Wie meinen Sie das?

In dem Seminar gab es ein Postfach für die ankommende Post, aber die Leitung entschied darüber, wer Briefe bekommen durfte und wer nicht. Manche Briefe wurden einbehalten und nicht weitergegeben. Mein Freund Paolo hat einmal auf einen Brief gewartet, der aber nie ankam. Er wusste genau, dass dieser Brief unterwegs war, aber er kam nie an. Und das geschah manchmal mehrmals hintereinander. Irgendwann durchsuchten wir darum die Schubladen der Leitung und entdeckten dort jede Menge gehortete Briefe. Wer das war? Wir hielten einen seltsamen Priester für verdächtig, der alles hamsterte und nie was wegwarf. In seinem Büro hatte er endlose Stapel des »Osservatore Romano«. Und hinten in einer Schublade fanden wir auch Paolos Briefe. Man kontrollierte auch täglich unsere Schränke.

Wer?

Während wir in der Schule waren, wurden unsere Schränke von einem Prälaten kontrolliert. Als ich einmal Grippe hatte und nicht zur Schule gehen konnte, habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Als ich das Zimmer betrat, stand er vor meinem geöffneten Schrank und durchsuchte ihn. Auf mein Erstaunen hin erklärte er mir, er würde bloß gucken, ob die Kleidung in Ordnung sei. Nur sind leider manchmal Sachen von mir verschwunden, die ich dann in seinem Arbeitszimmer wiedergefunden habe.

Kommen wir auf die nächtlichen Besuche zurück. Wann haben sie angefangen? In welche Klasse ging das Opfer?

Paolo war im letzten Schuljahr und hat das Präseminar nach dem Abitur verlassen.

Und davor?

Davor sind andere komische Dinge passiert. Da war zum Beispiel ein Junge, Alessandro (Pseudonym), der seine Homosexualität gern zur Schau stellte. Er hatte eine gewisse Vergangenheit. Man hatte ihn aus mehreren Seminaren geworfen, aber er wollte unbedingt Priester werden. So kam er in das Präseminar und war dort Assistent, auch wenn das eigentlich keine offizielle Stelle war. Ab und zu schloss er sich mit Paolo im Zimmer ein …

Und was passierte da?

Sie massierten sich. Was sonst, weiß ich nicht, aber ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie sie da drin lachten und Sachen sagten …

Es gab also ein Sexualleben oder ein homosexuelles Sexualleben im Präseminar …

Ich bin mir sicher, dass zwischen den beiden etwas war. Kurzum, es gab im Präseminar Sex.

Auch mit Minderjährigen?

Na klar, als sich Antonio und Paolo beispielsweise um Giuseppe (Pseudonym) stritten, waren beide minderjährig, als Paolo und Alessandro sich massierten, war Letzterer volljährig, Paolo aber minderjährig. Zu einem anderen minderjährigen Schüler sagte Antonio immer: »Ich wünschte, du würdest wie Giuseppe werden. Der war mein Kind.«

Dürfte ich bei einer Veröffentlichung seinen richtigen Namen nennen?

Ja, warum nicht, ich werde, bis ich sterbe, für die Wahrheit einstehen.

Was macht Sie so entschlossen?

Diese Leute haben mein Leben ruiniert.

Wieso?

Weil ich früher einmal Ideale hatte, ich war gläubig, sehr gläubig sogar.

Sie sagen das mit einem Lächeln …

Ja. Ich war sehr gläubig. Ich bin hierhergekommen, weil ich wusste, dass ich in meinem Örtchen mit seinen fünftausend Einwohnern im polnischen Norden keine Zukunft hatte. Ich wollte mehr, und darum bin ich hierhergekommen und habe mir selber, ohne jede Hilfe, Italienisch beigebracht. Ich habe an die Kirche geglaubt, weil ich an Gott glaubte, und die Kirche für einen Gläubigen der mystische Leib Christi ist. Ich dachte nicht, dass die Kirche ein so menschliches Gesicht hat, zu menschlich. Das hat mir einmal sogar meine Italienischlehrerin gesagt, der ich mich mit der Zeit anvertraut hatte. Sie brachte das Ganze in einem Satz auf den Punkt: »Du hast den Menschen gesehen.« Sie wollte sagen, ich habe gesehen, wie er wirklich ist. Als ich da war, habe ich sehr schnell gemerkt, wie er wirklich ist. Schon als Kind hatte ich mich immer gefragt: »Muss man überhaupt an Gott glauben, wenn man im Staatssekretariat arbeitet? Nein, muss man nicht, das hat damit gar nichts zu tun. Da geht es nur um Politik, um die Macht von Leuten, die morgens die Messe lesen und abends in die Mucca Assassina [Schwulendisko in Rom, A. d. A.] gehen.

Wieso haben diese Leute Ihr Leben ruiniert?

Als ich mich über die Vorfälle beschwert habe, hat man mich hinausgeworfen. Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen: Ich war im vorletzten Jahr des Gymnasiums, es war der letzte Schultag, ich freute mich über meine guten Noten, nur Dreien, Zweien und Einser. Weil ich, nachdem ich morgens die Kleidung in der Sakristei vorbereitet und gefrühstückt hatte, immer gern in das päpstliche Institut Sant’Apollinare gegangen bin und fleißig war. Ich packte gerade die Koffer und freute mich, meine Eltern in Polen wiederzusehen, als der Prälat ankam, sich in die Tür stellte, mich musterte und sagte: »Du brauchst gar nicht erst wiederzukommen.« Das war für mich ein Schock, wohin sollte ich denn gehen? Ich wollte etwas lernen und die Schule beenden. Wäre ich nach Polen zurückgekehrt, wären all die Jahre am Gymnasium umsonst gewesen. Und das wollte ich nicht. Auch weil ich, was man mir dann auch bestätigt hat, genau wusste, dass man mich nur rauswarf, weil ich den Mund aufgemacht hatte. 

Sie hatten es da noch keinem gesagt …

Doch und wie, erst drei Tage davor dem Kardinal Angelo Comastri, als zuständiger Erzbischof aus institutioneller Sicht der richtige Ansprechpartner. Wenn Comastri zum Abendessen zu uns kam, hießen wir ihn freudig willkommen, als wäre er unser Bischof, was er ja auch war. Der Papst ist ja nicht nur der Bischof von Rom, sondern auch Hirte der Universalkirche und kann sich darum nicht um eine Diözese kümmern. Dafür hat er zwei Vikare, einen im Lateran und einen im Vatikan. Comastri war unser Bischof, zu wem hätte ich sonst gehen sollen?

Darum haben Sie sich mit dem Kardinal getroffen?

Am 6. Juni 2014 habe ich ihm alles erzählt. Er schwieg geschockt. Ich habe ihm gesagt, was in der Nacht passierte, wenn Antonio, obwohl ich auch da war und noch minderjährig, in den Schlafraum kam. Antonio wusste genau, dass er mit dem bedauernswerten Schüler völlig gefahrlos sexuell verkehren konnte, obwohl ich, versteckt unter der Bettdecke, im selben Zimmer lag. Er wusste genau, was passieren würde, wenn ich redete. Und so kam es dann ja auch, man warf mich raus.

Wo haben Sie sich mit dem Kardinal getroffen?

In seinem Büro im Pfarrhaus, gleich neben dem Petersdom. Er bat mich, am Montag darauf noch einmal zu kommen, um ihm die neuesten Vorfälle zu erzählen, und zwar genauer als bisher. Am Frühabend des 9. Juni ging ich also wieder zu Comastri. Aber er sagte mir nur, er hätte den Bischof über alles informiert, und verabschiedete sich sofort. Ich wusste gleich, das war es, und alles war umsonst.

Was wäre passiert, wenn Sie volljährig gewesen wären?

Dass ich minderjährig war, verschlimmert die Sache für Antonio, aber das Entscheidende war eigentlich, dass er das gefahrlos in meiner Anwesenheit tun konnte, weil er im Präseminar eine Machtposition hatte. Er steuerte alles, er hatte Einfluss, Kontakte und Machtmittel.

Ist er ein aggressiver oder arroganter Mensch?

Ja, sehr arrogant, ich halte ihn sogar für gefährlich. Ich habe Comastri gefragt, wieso er nicht, wie anderswo üblich, einen psychologischen Test absolvieren musste, ehe man ihn aufnahm. Und Comastri war mit mir völlig einer Meinung.

Wie hat er sich an diesem Freitag von Ihnen verabschiedet?

Wissen Sie, Comastri ist ein freundlicher Mensch. Er sagte: »Ich gebe dir meinen Segen.« Vielleicht haben wir auch noch ein Ave Maria gesprochen. Mir schien es immer, als ob Comastri über allem »Menschlichen« stand.

Angesichts dieser bedrückenden Dinge hat er Sie also aufgefordert, mit ihm zu beten?

Ja. Ich bat ihn noch, meinen Namen nicht zu nennen. Ich wusste genau, dass ich sonst hinausgeworfen würde.

Meinen Sie nicht, dass Sie ein wenig unüberlegt und auch naiv gehandelt haben?

Ja, bestimmt, aber ich hatte das alles so lange für mich behalten und mich gequält; ich musste das einfach irgendeinem Oberen sagen.

Wieso haben Sie nicht Paolo gebeten, selber tätig zu werden und sich zu beschweren?

In den Jahren danach habe ich Paolo natürlich gebeten, eine Aussage zu machen, weil ich auch Anzeige beim vatikanischen Gericht erstatten wollte. Aber er sagte, er würde niemals freiwillig aussagen, weil er alles einfach nur vergessen wollte. Heute sagt er, er würde aussagen, wenn er vom Gericht vorgeladen würde.

Denken Sie nicht, dass Sie Paolo auch schaden, wenn Sie seine Geschichte an die Öffentlichkeit zerren? 

Im Gegenteil, ich habe immer versucht, ihn, so gut es ging, zu schützen. Ich habe furchtbare Ängste ausgestanden, weil die Situation einfach absurd ist. Ich hatte Angst, irgendetwas zu unternehmen, ich hatte Angst, darüber zu reden, und Angst vor dem, was da passierte, weil mich das als Gläubiger auch in einen seelischen Konflikt stürzte.

Waren Sie gern am Institut Sant’Apollinare?

Ja, obwohl wir nur zwischen einer humanistischen und wissenschaftlichen Richtung wählen konnten. Der Direktor war ein sehr guter Freund von dem hohen Prälaten und kam jeden Freitag mit dem Vizedirektor zum Mittagessen zu uns. Ich erschrak, als ich sah, dass der Schuldirektor sozusagen zu mir nach Hause kam, das ging einfach nicht. In Polen gibt es Gesetze, die jede Beziehung zwischen Schülern und Lehrern, ganz gleich aus welchen Gründen, untersagen. Und die kamen einfach zu uns nach Hause, um über die Schule zu sprechen. Ist das nicht absurd?

Aber das Seminar gab den Schülern auch ein theologisch-kulturelles Zuhause …

Wenn Sie das denken, sind Sie naiv. Nein. Da sind auch noch andere unglaubliche Dinge passiert, die zum Lachen wären, wären sie nicht so traurig.

Worauf spielen Sie an?

Eines Tages hatte der damalige Staatssekretär Bertone im Petersdom die Messe gehalten und kam anschließend in die »Sakristei für die Kardinäle«, einen winzigen Raum, in dem wir Messdiener den Kardinälen halfen, die Paramente abzulegen. Bertone machte ein finsteres Gesicht und fragte den anwesenden Prälaten: »Hat der Priester, der die Messe organisiert hat, auch den Umschlag mitgebracht?« Und der Prälat antwortet, wobei er ein Lachen unterdrücken muss: »Eminenz, ich bin betrübt, aber ich weiß nichts von einem Umschlag.«

Wie ist das zu verstehen?

Wenn Bertone eine Messe hält, dann kommt er nicht etwa gratis. Für eine Messe muss man bezahlen. Darum fragte Bertone ohne Umschweife nach dem Umschlag. Ich stand dabei, ich schwöre, und der Prälat hätte beinah losgeprustet.

Wirklich? Sie wollen also sagen, dass ein Priester, wenn er irgendwo eine Messe hält …

In Polen ist das genauso. Mein Pfarrer hat mir einmal erzählt, dass der Hilfsbischof über tausend Złoty verlangt, das ist ein halbes Durchschnittseinkommen, plus der Kollekte. Für eine Taufe beispielsweise gab es einen festen Preis, plus die Kollekte.

Welches Verhältnis herrschte zwischen den Messdienern des Papstes und den Prälaten?

Die Prälaten haben fast alle Spitznamen, meistens weibliche, Sie verstehen. Manche gehen in Transen-Diskos. Auch einige von den Prälaten, denen wir als Messdiener dienten. Paolo hat sie in der Mucca Assassina gesehen. Einen hat er sogar gegrüßt, und der kam dann später zu ihm und bot ihm Geld an, damit er schwieg.

Was hat Paolo dazu gesagt?

Er hat ihn zum Teufel geschickt und gesagt, er solle sich schämen. Da waren Peinlichkeiten ohne Ende. Bei den Proben zur Papstmesse im Petersdom gab es einen Prälaten, der sich sehr tuntenmäßig gab, er hat sich immer an uns rangemacht, an die Jüngsten, uns angefasst und gelacht: »Oh, du hast noch gar keinen Bart.« Er stand dann unter uns wie eine Diva. Er war anzüglich. Und so war es immer.

Wie alt waren die Messdiener da?

So um die vierzehn.

War das der Einzige, der sich so verhielt, oder gab es auch noch andere?

Unter den Zeremonienmeistern?

Ja.

So anzüglich nicht. Aber es gab andere, bei der Frühmesse. 

Wie waren die?

Tja, es gab da drei, sie hießen »die drei Marien«. Sie hielten die Messe immer gemeinsam. Für mich waren die eindeutig schwul.

War das den Messdienern peinlich?

Ein bisschen, weil sie sehr … doch sie kamen keinem zu nahe, und einmal habe ich einen Prälaten gesehen, nicht nur ich. Als wir eines Abends durch Rom gingen, sahen wir einen Prälaten mit diesen schwarzen Latexhosen.

Und wer war das?

Ich weiß, wo er arbeitet, aber den Namen habe ich vergessen. Und dann gab es noch andere Priester. An einem Samstagmorgen, gegen acht, habe ich einen gesehen, der in sehr eng anliegenden Jeans aus einem fremden Haus in Prati kam. Ich weiß, wo er eigentlich wohnt. Aber dass die Priester im Vatikan Sex haben, ist ja ein offenes Geheimnis, oder die Priester allgemein. Es gibt sogar Statistiken darüber: Über 50 Prozent sind homosexuell, und ich glaube das sofort, weil ich es gesehen habe, ich habe so viele kennengelernt, und im Vatikan ist die Zahl noch höher, das liegt auf der Hand.

Können Sie sich noch an andere Spitznamen erinnern?

Es gab eine »Jessica«, oder einen sehr bösen, rachsüchtigen schwulen Zeremonienmeister des Papstes nannten sie »die Viper«. Ein Kardinal hieß »die Fette«.

Wer war das?

Die Fette ist X, dieser riesige Fettwanst, der auch ein Freund von Y ist.

Und erinnern Sie sich noch an andere? 

Ja, an Prälat [Giuseppe, A.d.A.] Sciacca, aber aus ganz anderen Gründen. Seine Messe war für uns Messdiener ungeheuer beeindruckend, weil er nur eine Viertelstunde brauchte, zwanzig Minuten zum Ankleiden und zur Vorbereitung – aber nicht wie die anderen, nein, er redete mit den Leuten in der Sakristei, er nahm sich Zeit –, dann hielt er die Messe, in Latein – er sprach Latein genauso gut wie Italienisch – und in sieben Minuten war er fertig. Für die ganze Messe auf Latein, mit Lesung und allem, braucht er nur sieben Minuten.

Was wissen Sie noch über Sciacca?

Ich erinnere mich an dieses berühmte Buffet – unter Benedikt XVI. gab es ja diese opulenten Buffets, bis er dann ging. Jedenfalls, als der Wechsel im Governatorat war, als Kardinal [Giovanni, A.d.A.] Lajolo weggegangen und Kardinal [Giuseppe, A.d.A.] Bertello gekommen ist, gab es in den Vatikanischen Museen, genauer gesagt in dem Cortile della Pigna zwei Bankette im Abstand von nur einer Woche. Stellen Sie sich den Pinienhof vor, das ist der Hof mit der modernen Kugel und dem Pinienzapfen von Dante, er ist ja rechteckig, und auf einer Seite war ein riesiges Buffet aufgebaut. Ich hatte so etwas jedenfalls noch nie gesehen. Mit zwei jeweils drei Meter großen Parmesanlaiben, und einer Musikkapelle. Zwei Bankette: eins, als Bertello kam, und das andere, als Sciacca Bischof wurde.

Und wer hat das bezahlt?

Das Governatorat.

Meinen Sie nicht, da irren Sie sich, und er hat es selber bezahlt? Warum gab es die Bankette?

Wieso? Man wollte feiern.

Das war Sciacca? Und da kamen die Kardinäle, die Angestellten?

Ja, alle waren da.

Das hat bestimmt Sciacca bezahlt.

Ich bitte Sie. Das glaube ich nicht. Es gab so viele Bankette, und nach Lajolo ließ Sciacca – genau erinnere ich mich nicht mehr, es war vielleicht zum 25. Episkopat, auf jeden Fall ein runder Jahrestag, Priestertum oder Bischofstum –, er ließ ungefähr zwanzig Bankette ausrichten, wirklich: Es gab eine Messe im Petersdom, die ja jedes Mal etwas kostet, eine Messe im Governatorat und danach immer ein Buffet. Im Governatorat sind ja verschiedene Abteilungen: Eine Messe war für die Ärzte, eine für die Feuerwehrleute, jeder bekam seine Messe.

Was scheint Ihnen im Vatikan am anachronistischsten?

Auf jeden Fall die Geheimnistuerei um die Papstwahl. Der ganze Vatikan weiß doch schon vorher, wer es wird. Als Sciacca Bischof werden sollte, haben sie es ihm zuerst gesagt. Das war noch ganz geheim, aber es wussten schon alle. Wir Messdiener spielten vor den Ernennungen immer so ein Spiel.

Was für ein Spiel?

Das tägliche Bulletin erscheint mittags, aber wir wussten immer schon morgens haargenau, wer Bischof wird. Schon am Tag davor hieß es: »Hast du’s schon gehört? Morgen früh kommt das Bulletin heraus und der und der wird Bischof.« Das wussten wir einfach. Sciaccas Bischofsweihe wurde sogar verschoben, weil er es schon allen erzählt hatte. Er sollte eigentlich einen Monat darauf zum Bischof geweiht werden, aber er wurde dann erst vier Monate später geweiht, weil er allen davon erzählt hatte.

Im Juni 2017 treffe ich Jarzembowski noch einmal auf einer Hotelterrasse mitten in Rom. Die Kuppel des Petersdoms scheint zum Greifen nah. Alles im Vatikan scheint auf den ersten Blick sehr nah beieinander zu liegen, alles scheint einfach und schnell lösbar. Doch in Wahrheit ist jedes Problem dort verdammt kompliziert.

Als es gelang, Papst Franziskus ein Schreiben zu überreichen, schöpfte Jarzembowski neue Hoffnung. Wie auch andere Seminaristen, die unter den Übergriffen und dem Machtmissbrauch litten, hoffte er, die Vorfälle würden endlich aufgeklärt. Wer die Beschwerden unter den Teppich kehrte und im Sande verlaufen ließ, deckte den Missbrauch.

Die Geschichte der katholischen Kirche kennt viele furchtbare Vorfälle von Gewalt und sexuellem Missbrauch an Minderjährigen. Daher sahen sich sogar die Päpste, wie insbesondere Benedikt XVI., zum Eingreifen gezwungen, um das Übel endlich an der Wurzel zu packen. Doch letztendlich war keine der Anstrengungen wirklich erfolgreich, mit schlimmen Folgen: Wenn die Täter ungestraft bleiben, werden sie noch ermutigt, ihre Macht weiterhin zu missbrauchen und andere einzuschüchtern. Und dass die Aufklärungsversuche im Sande verlaufen, zeigt auch, wie schwach die kirchlichen Organisationen im Grunde sind, ganz gleich auf welcher Ebene, ob Diözese oder Kongregation im Vatikan. Bei Problemen verkriecht man sich lieber und übt sich im Nichtstun. Tätig wird man nur im äußersten Notfall. Mit am Ende verheerenden Folgen: Wenn die Mauer des Schweigens doch einmal durchbrochen wird, werden die Gespenster der Vergangenheit so übermächtig, dass sich Verwirrung und Mutlosigkeit breit machen und jeden Reformversuch untergraben. Momentan den von Papst Franziskus. Leider hat bisher noch kaum jemand erkannt, dass das vielleicht der größte anzunehmende Rückschlag ist.