Wer heute von antiker Kunst spricht, muss mit dem Argwohn derer rechnen, die beschlossen haben, dass es »Kunst« und »Künstler« im modernen Sinn vor der Renaissance nicht gab. Vor allem europäische Kunsthistorikerinnen und -historiker vertreten gerne diese Sichtweise, die natürlich rein oberflächlich stimmen mag (und gleichzeitig die vorgeblich universale Einmaligkeit der europäischen Moderne unterstreicht, doch das ist ein anderes Problem). Aber eben nur rein oberflächlich. Im »modernen Sinn« gibt es die Figur des Künstlers und all das, was wir damit assoziieren (Genie, Wahn, Originalität, soziale Außenseiterrolle), natürlich nur in der Moderne. Dass aber auch in der Antike ein ähnliches Kunstverständnis existierte, ist nicht zuletzt durch die römische Kunstgeschichtsschreibung belegt. Wie im vorigen Kapitel erwähnt, betrachteten die Römer die Kunst des antiken Griechenlands als klassisches Vorbild ihrer eigenen Kunst und Kultur. So entstand ein wissenschaftliches Interesse an der Entwicklung der griechischen Kunst.
Die Idee, dass mit der Renaissance eine völlig neue Kunstauffassung entstanden sei, fußt auf einem Gedanken, der einen wahren Kern hat, auch wenn er letztlich einer genauen Überprüfung nicht standhält: Die Kunst der Neuzeit, also der Zeit nach dem Mittelalter, ist demnach gekennzeichnet durch die radikale Befreiung des Künstlers von religiösen und gesellschaftlichen Bindungen. Das Mantra von der Freiheit der Kunst ist tatsächlich ein Gedanke, der im Mittelalter oder in der Antike nicht ohne Weiteres vermittelbar gewesen wäre. Insofern bedeutet die Renaissance und die damit anbrechende Neuzeit wirklich einen Einschnitt.
Die Rhetorik von der Befreiung beinhaltet aber bereits eine Wertung. Neutraler könnte man formulieren, dass Kunst und Religion sich in der Neuzeit zunehmend entkoppeln, um schließlich zu zwei völlig getrennten Systemen zu werden. Vor einem universalgeschichtlichen Hintergrund ist das in der Tat außergewöhnlich, wenn auch nicht einzigartig: Wir haben ja bereits im Fall des Apollo Citarista aus Pompeji gesehen, dass religiöse Belange bei diesem nur scheinbar frommen Götterbild eigentlich keine Rolle mehr spielten.
Der Normalfall in der Geschichte ist der einer engen Verzahnung von Kunst und Religion. Es erscheint fraglich, ob es in den frühen Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte überhaupt Kunst gegeben hat, die nicht religiös war. Denn wohin wir auch blicken, Kreativität und künstlerischer Gestaltungswille zeigen sich zuerst an religiösen Gegenständen, seien es kollektive Ritualorte oder private Heiligtümer. Das gilt im Übrigen nicht nur für die bildende Kunst, sondern auch für Dichtung, Musik und Tanz.
Die klassische Antike macht da keine Ausnahme. Vielmehr lässt sich an ihr dank der schriftlichen Überlieferung rekonstruieren, wie diese archaische Kunstauffassung noch lange in historischer Zeit nachwirkte und schließlich in der christlichen Kunst des Mittelalters fortlebte.
Bis die moderne Forschung sich des religiösen Wesens antiker Kunst bewusst wurde, war es allerdings ein langer Weg. An wenigen Orten wird dies so deutlich wie im Britischen Museum, diesem Monument imperialen Sammeleifers, getrieben von dem Ehrgeiz, in der Hauptstadt des Empire die Kunst der ganzen Welt auszustellen. Zu den kontroversen Erwerbungen gehören die Elgin-Marbles, klassische Marmorwerke, die der Botschafter im Osmanischen Reich Lord Elgin Anfang des 19. Jahrhunderts von der Athener Akropolis mitgenommen und ans Britische Museum verkauft hat. Die Grundlage dafür bot die Erlaubnis der osmanischen Behörden, die damals Athen regierten, »einige Steine abzutransportieren«. Elgin legte das großzügig aus; unter den »Steinen«, die er abtransportieren ließ, befand sich fast der gesamte Fries des Parthenon, des größten Tempels der Akropolis, erbaut im 5. Jahrhundert v. Chr. unter Aufsicht des berühmten Bildhauers Phidias. 18
Die Debatte über die Rückgabe der Elgin Marbles, die von griechischer Seite mit viel Leidenschaft geführt wird, erhielt 2009 frischen Aufwind, als das neue Akropolismuseum in Athen eingeweiht wurde. Dort ließ man nämlich bewusst Platz für die Marmorwerke in London, darunter der Fries des Parthenon. Wer heute das Athener Museum besucht, kann neben zahllosen antiken Objekten unschätzbaren Werts also eine Reihe von Leerstellen bewundern, die besser als jede politische Erklärung kundtun, dass hier noch etwas fehlt!
Abgesehen von der Frage, wo der Fries in Zukunft ausgestellt werden soll (London oder Athen), stellt sich die Frage, wie man solch ein Werk dem Publikum präsentiert. Die Aufstellung in London erfolgte in den Jahren nach dem vom britischen Parlament abgesegneten Ankauf 1816 und spiegelt das damalige Verständnis antiker Kunst wider. Der Fries ist auf Augenhöhe entlang der Wände des Saals ausgestellt. Ganz wie in einer Gemäldegalerie, ist alles darauf bedacht, dem Betrachter den vollen Genuss des Werkes und all seiner Details zu ermöglichen.
Das Problem ist, dass dies überhaupt nicht der antiken Aufstellungspraxis entspricht. Der Fries bekrönte die Außenwände der Cella, des zentralen, von Säulen umstandenen Kultraums des Tempels. Er befand sich damit mehr als 13 m über dem Fußboden, im Schatten der Säulenhallen, die den Tempel umgaben. Um eine vage Vorstellung des 160 Meter langen Frieses zu bekommen, musste man seinen Nacken ziemlich strapazieren; die vielen ursprünglich farbigen Details auszumachen, war praktisch unmöglich.
Als ähnlich verblüffend stellen sich die Giebelskulpturen des Tempels heraus. Im Britischen Museum kann man um sie herumgehen und so die perfekte Ausarbeitung auch der Rückseiten bewundern. Aber in der Antike schmückten diese Skulpturen ja die Giebel des Tempels, 17 m über dem Erdboden. Ihre Rückseite zu sehen, war völlig unmöglich.
Warum investierten die Athener so viel Mühe und Geld in Kunstwerke, die für sie selbst nur eingeschränkt »genießbar« waren? Warum engagierten sie den berühmtesten Bildhauer der Zeit, um Skulpturen zu schaffen, die so aufgestellt wurden, dass sie niemand in all ihrem Detailreichtum würdigen konnte? Warum gaben sie das Geld des Attischen Seebundes, der eigentlich Verteidigungszwecke hatte, für einen Tempel und seinen Bilderschmuck aus? (Man stelle sich zum Vergleich einmal vor, die NATO finanzierte aus ihrem Militäretat ein Museum für zeitgenössische Kunst!)
Die Antwort liegt in dem religiösen Charakter antiker Kunst. Der Tempel und all sein Beiwerk waren der Göttin Athene geweiht; sie gehörten ihr, nicht nur im religiösen, sondern auch im juristischen Sinn. Nichts Unvollkommenes durfte ihr dargeboten werden. Der Fries und die anderen Bildwerke waren daher nicht Kunst in unserem heutigen, auf Kunstkonsum ausgerichteten Sinn, sondern Teil eines durch Weihgaben, Riten und Gebete vollzogenen Dialogs zwischen Menschen und Göttern. Es waren im Grunde »magische« Bilder, d. h. Bilder, denen eine Wirkung jenseits ihrer rein ästhetischen Funktion zugesprochen wurde. Wenn auch kein irdischer Betrachter den Fries in all seinen Einzelheiten wahrnehmen konnte, der Göttin Athene entging kein Detail.
Während man in London den Parthenonfries nach Art einer Gemäldegalerie ausstellte, herrschte in Pompeji noch die Praxis vor, die Wandmalereien aus dem Verputz herauszubrechen und ins Königliche Museum nach Portici bzw. später Neapel zu bringen. Pompeji stellte sich von daher weniger als ein Museum unter freiem Himmel dar denn als eine Art Steinbruch, in dem antike Kunstwerke für die königlichen Sammlungen »abgebaut« wurden. Dabei wurde selektiv vorgegangen: Herausgelöst und abtransportiert wurden hauptsächlich mythologische Wandgemälde, während die sie einrahmende Wanddekoration am Ort verblieb – wo sie dann leider oftmals Wind und Wetter zum Opfer fiel und heute nur noch durch alte Stiche und Beschreibungen bekannt ist.
Nicht zu leugnen ist, dass das Herauslösen der Wandgemälde im 18. und frühen 19. Jahrhundert auch konservatorische Gründe hatte. Man war damals schlicht noch nicht in der Lage, die Fresken vor Ort zu konservieren. Noch heute gehört die Erhaltung der Wandmalereien zu den größten Herausforderungen Pompejis; zusammen mit den Restauratorinnen und Restauratoren des Parks sind wir beständig bemüht, uns über neue Methoden und Ansätze auszutauschen, die uns dabei helfen könnten.
Die Stimmen, die für eine Erhaltung vor Ort plädierten, wurden jedoch über die Jahre immer lauter. Heute werden Fresken und Statuen nur in Ausnahmesituationen vom Fundort entfernt; das Ziel ist – wie exemplarisch am 2020 ausgegrabenen und 2021 dem Publikum erstmals zugänglich gemachten Thermopolium (eine Art antikes Streetfood-Restaurant) zu sehen –, den Zustand von 79 n. Chr. genau wiederzugeben, inklusive der Kochtöpfe und Amphoren, die auf dem Tresen standen bzw. daran lehnten.
Kurioserweise hatte ein italienischer Gelehrter namens Scipione Maffei das angesichts der mittels unterirdischer Tunnel vorangetriebenen Grabungen im nahen Herculaneum bereits 1748, also im Jahr der Entdeckung Pompejis, als Programm formuliert: Welch außergewöhnliches Abenteuer, so Maffei, wäre es, »nicht das ein oder andere Monument, sondern eine ganze Stadt freizulegen«. 19
Auch Goethe, der den Ort während seiner italienischen Reise besuchte, zeigt sich weniger von den in Pompeji geborgenen Kunstwerken als von der antiken Stadt als einer Art Gesamtkunstwerk beeindruckt. Unter dem 13. März 1787 vermerkt er: »Die Häuser sind klein und eng, aber alle inwendig aufs Zierlichste gemalt. Das Stadttor merkwürdig, mit den Gräbern gleich daran. Das Grab einer Priesterin als Bank im Halbzirkel mit steinerner Lehne, daran die Inschrift mit großen Buchstaben eingegraben. Über die Lehne hinaus sieht man das Meer und die untergehende Sonne. Ein herrlicher Platz, des schönen Gedankens wert.« 20
Auch als Goethe einige Tage später, am 18. März, das Museum in Portici besucht, wo die Funde aus Pompeji bestaunt werden konnten (jedoch unter strengem Verbot, Zeichnungen oder Notizen anzufertigen!), versetzt er im Geist das Gesehene sogleich »in die verschwundene Zeit, wo alle diese Dinge zu lebendigem Gebrauch und Genuss um die Eigentümer umherstanden«.
Dabei hat er die »Kleinheit und Enge« der Häuser, die ihm beim Besuch der Grabungen ins Auge fielen, nicht vergessen: »Jene kleinen Häuser und Zimmer in Pompeji erschienen mir nun zugleich enger und weiter; enger, weil ich sie mir von so viel würdigen Gegenständen vollgedrängt dachte, weiter, weil gerade diese Gegenstände nicht bloß als notdürftig vorhanden, sondern durch bildende Kunst aufs Geistreichste und Anmutigste verziert und belebt den Sinn erfreuen und erweitern, wie es die größte Hausgeräumigkeit nicht tun könnte.«
Gewiss, Goethes Zugang ist noch ganz vom ästhetisch-künstlerischen Interesse seiner Epoche geprägt. Doch verweist das Wort vom »Gebrauch« der Gegenstände bereits auf einen weiteren Bedeutungszusammenhang. Goethe bezieht sich hier auf die aus mehr oder weniger alltäglichen Verrichtungen entstehende Erfahrung der antiken Alltagswelt, in der die Gegenstände – seien es nun Kunstwerke oder nicht – ihren Sinn entfalteten.
Innerhalb dieses Horizonts antiker Erfahrung spielte der Ritus eine wesentlich größere Rolle als in unserem modernen Kunstverständnis, zumindest in der Frühzeit der antiken Kulturen. Ursprünglich waren Statuen und Malereien primär Weihgeschenke für die Götter. Wie wir gesehen haben, wurden im Lauf der Antike solche Objekte dann mehr und mehr als Kunstwerke im modernen Sinn wahrgenommen, für die es einen entsprechenden Markt sowie eine eigene Fachliteratur gab. Aber entwicklungsgeschichtlich – und da hat die moderne Kunstgeschichte recht, den Bruch mit der Antike zu betonen – war der Apollo Citarista einem primitiven Tongefäß, das in der Frühzeit Pompejis den Göttern geweiht wurde, viel näher verwandt als einer klassizistischen Statue von der Hand eines Antonio Canova, die zwar äußerlich sehr ähnlich erscheinen mag, aber tatsächlich in einer völlig anderen Erfahrungswelt geschaffen und betrachtet wurde. Auch in den Jahrhunderten der schrittweisen Emanzipation des Kunstbetriebs aus der Sphäre der Religion blieb die ursprünglich religiöse Funktion der Kunst gegenwärtig. Und das lässt sich auch in Pompeji zeigen.
Was Goethe zum wohl bekanntesten Freskenzyklus Pompejis zu sagen gehabt hätte, kann niemand wissen, denn der Fries, welcher der Mysterienvilla an der Landstraße nach Herculaneum zu ihrem Namen verholfen hat, wurde erst 1909 entdeckt. Dargestellt ist, so die gängige Deutung, ein Mysterienritus, wobei Mysterium, mystisch usw. hier nicht im modernen Sinn zu verstehen sind. Der mystes ist im Griechischen derjenige, der in einen den Außenstehenden »verschlossenen« Kult (von myein , etwas verschließen, z. B. Augen oder Mund) eingeweiht worden ist und dessen Geheimnis (mysterium) kennengelernt hat.
Damit ist schon das Hauptproblem der Forschung zu antiken Mysterienkulten benannt: Da die Riten und Gebete geheim zu halten waren, war schon den antiken Zeitgenossen rätselhaft, was da eigentlich vor sich ging. Heute, nach zwei Jahrtausenden, ist es praktisch unmöglich, sich darüber Klarheit zu verschaffen. Die Sache wird dadurch nicht einfacher, dass von dem wenigen, was antike Schriftquellen dazu überliefert haben, ein Teil auf christliche Autoren der Spätantike zurückgeht. Die hatten natürlich kein Wissen aus erster Hand; dazu kommt, dass sie keineswegs unparteiisch waren: Ihr Hauptinteresse zielte darauf ab, den »heidnischen« Glauben herabzusetzen und lächerlich zu machen.
Dabei war aus antiker Sicht das Christentum selbst ein Mysterienkult. Anklänge daran finden sich noch heute, wenn zum Beispiel in der katholischen Liturgie der Priester nach der Wandlung von Brot und Wein spricht: »Geheimnis des Glaubens«, auf Latein: mysterium fidei .
Das gemeinsame Merkmal antiker Mysterienkulte war die Einweihung oder Initiation, welche im Christentum durch die Taufe erfolgt. Einem Mysterienkult beizutreten und in seine Geheimnisse eingeweiht zu werden, setzt einen Willensakt voraus: Man bekennt – oder christlich: »bekehrt« – sich zu den Regeln und Dogmen der Kultgemeinde. Wenn man im Christentum später dazu überging, Neugeborene zu taufen, stellte das natürlich die Idee des Willensaktes auf den Kopf; daher das Bestreben, einen solchen Willensakt durch Erstkommunion, Firmung, Konfirmation, Wiedertaufe usw. gewissermaßen nachzuholen.
Verbunden mit der Initiation ist ein Heilsversprechen: Wer sich an die Regeln und Gebote hält und die vorgeschriebenen Riten befolgt, kann auf Erlösung hoffen. Das Versprechen der Erlösung bezieht sich dabei in antiken Mysterienkulten auch auf das Leben nach dem Tod, jedoch nicht ausschließlich. Vielmehr beginnt mit der Initiation ein »neues Leben«, das Erlösung und Heil schon im Diesseits vorwegnimmt, zumindest teilweise. Trance und mystische Vereinigung – die in der Kommunion erfahrene unio mystica der christlichen Theologie – antizipieren im Hier und Jetzt die transzendente Erlösung der sterblichen Kreatur.
Die Idee des »neuen Lebens« erklärt, warum jede Initiation etwas von einem symbolischen Tod hat: Der Einzuweihende »stirbt«, lässt sein bisheriges Leben zurück, um als Eingeweihter »neu geboren zu werden«. Der antike griechische Schriftsteller Plutarch (1./2. Jahrhundert n. Chr.) verglich die sogenannten Großen Mysterien in Eleusis, nicht weit von Athen, die zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter gefeiert wurden, mit einer Nahtoderfahrung, wie er sie offenbar durch authentische Berichte kannte. Und Apuleius von Madaura (2. Jahrhundert n. Chr.) schreibt in seinem Roman Der Goldene Esel von den Mysterien der ägyptischen Göttin Isis (die übrigens auch in Pompeji einen Tempel und eine florierende Kultgemeinde besaß), dass die Einweihung gefeiert werde »als ein freiwilliger Tod und eine auf Bitten gewährte Rettung« durch die Göttin. 21
Sehr präsent ist der Gedanke des »neuen Lebens« auch in der christlichen Heilslehre – und keineswegs erst durch sekundäre Entwicklungen. Jesus betont diesen Aspekt an verschiedenen Stellen im Neuen Testament, unter anderem in einem der, wie ich finde, eindrücklichsten Verse der Bibel, der gleich zweimal überliefert ist (Matthäus 16,25 und Lukas 9,24): »Wer aber sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer es aber verliert um meinetwillen, wird es finden.«
Als dieser Satz gesprochen und weiterverkündet wurde, um schließlich in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen zu werden, pulsierte in Pompeji noch das Leben. Auf die spärlichen Zeugnisse früher Christen in und um Pompeji werden wir noch zurückkommen. Tatsache ist, dass in der Stadt ein anderer »neuer Gott« an Popularität alle anderen übertraf: Dionysus, in Italien auch als Liber oder Bacchus bekannt.
Dass er »neu« sein soll, mutet erst mal sonderbar an, taucht sein Name doch schon auf bronzezeitlichen Tontafeln des zweiten Jahrtausends v. Chr. aus Griechenland auf. Dionysus war demnach ein uralter mediterraner Fruchtbarkeits- und Vegetationsgott. Aber damit ist nur eine Seite seines Wesens beschrieben. Die andere besteht darin, dass er, so alteingesessen er auch ist, doch fremd bleibt. Dionysus ist der ewige Außenseiter. Er ist nicht Mitglied im offiziellen Klub der zwölf olympischen Götter. Bei Homer und Hesiod, den Dichtern, die »den Griechen ihre Götter gegeben haben«, spielt er keine nennenswerte Rolle. Auch außerhalb des Olymps hat er keinen festen Platz, was sich im Mythos darin zeigt, dass er ständig auf Wanderschaft ist, ein Nomade unter den Göttern. Mit seinem Gefolge aus Satyrn und Mänaden, berauscht von Wein, Trommeln und Flötenmusik, zieht er durch die Lande, erreicht gar das ferne Indien, um seine frohe Botschaft zu verkünden. Er will anerkannt werden von den Menschen – auch das unterscheidet ihn von den olympischen Göttern.
An Apollo, Athena oder Zeus musste niemand »glauben«; die gab es, daran bestand so wenig Zweifel wie an der Existenz von Luft oder Wasser. Anders Dionysus: Er muss sich seine Anhängerschaft gewinnen, dabei nicht selten Widerstände überwinden. Er ist ein »neuer« Gott, weil er immer wieder neu anerkannt werden muss. Theos neos , neuer Gott, heißt er darum in Euripides’ Tragödie Die Bakchen , erstaufgeführt 405 v. Chr. in Athen.
Das Stück erzählt die Geschichte des Königs von Theben, Pentheus, der den Kult des Dionysus samt seinen nächtlichen Orgien ablehnt. Dionysus erscheint darauf in Gestalt eines Fremden vor dem König und stellt ihn zur Rede. Pentheus bleibt stur, will sogar mit Waffengewalt gegen die Anhängerschaft des Gottes vorgehen, bezahlt jedoch schließlich seine ablehnende Haltung mit dem Tod: Von Dionysus überredet, schleicht er sich als Frau verkleidet ins Gebirge, um das Treiben der in dionysische Trance verfallenen Frauen der Stadt, der »Bakchen«, zu beobachten. Die Frauen, darunter Pentheus’ Mutter Agaue, entdecken ihn auf einem Baum sitzend und reißen ihn im Wahn in Stücke. Die Szene ist im Haus der Vettier, das wir im vorigen Kapitel bereits kennengelernt haben, im danach benannten »Pentheus-Zimmer« abgebildet.
Euripides’ Bakchen gehörten zu den populärsten Tragödien der Antike und werden auch heute noch gern gespielt. Das Stück war weit über die Grenzen Griechenlands bekannt – sicherlich im römischen Italien, wie nicht zuletzt das Haus der Vettier zeigt, aber auch in Parthien und Armenien, wie eine Überlieferung zum Tod des römischen Generals Crassus beweist.
Crassus, reicher, aber glanzloser Dritter im Bündnis mit Caesar und Pompeius, trachtete danach, mit militärischen Leistungen aufzuwarten, die nicht hinter seinen beiden Kollegen zurückstanden. Zum Vergleich: Caesar war gerade dabei, ganz Gallien zu unterwerfen, eine Fläche, die ungefähr dem heutigen Frankreich und Belgien entspricht. Um das zu übertrumpfen, griff Crassus den mächtigsten Gegner an, der sich damals finden ließ: das Partherreich, dessen Zentrum im heutigen Iran liegt. Doch das Unternehmen ging schief. Im Jahr 53 v. Chr. wurden Crassus’ Legionen bei Carrhae geschlagen, kurze Zeit darauf verlor er selbst das Leben. Sein abgeschlagener Kopf wurde dem Partherkönig Ordoses II. nach Artashat, der Hauptstadt des mit ihm verbündeten armenischen Reiches, gebracht, wo der Bote mit der makabren Trophäe eintraf, als der König gerade einer Theateraufführung beiwohnte. Es heißt, ein Schauspieler habe den in die Saalmitte geworfenen Kopf des Crassus spontan aufgehoben und die Verse rezitiert:
»Aus den Bergen bringen wir
Eine frisch geschnittene Ranke in den Palast,
Eine glänzende Jagd.« 22
Das sind die Worte, mit denen in Euripides’ Bakchen Pentheus’ Mutter Agaue den Kopf ihres Sohnes, den sie im Wahn noch nicht als solchen erkannt hat, im Königspalast von Theben präsentiert.
Ungefähr zur selben Zeit, zu der in Artashat König Ordoses Euripides’ Versen gelauscht haben soll, ist der Wandfries in der Villa der Mysterien entstanden, in dessen Zentrum Dionysus und Ariadne thronen. Der Fries ist nämlich dem zweiten Stil der pompejanischen Wandmalerei zuzuordnen, stammt also aus der Zeit zwischen 80 und 15 v. Chr., wie im vorigen Kapitel erläutert. Details lassen vermuten, dass er ungefähr zwischen 50 und 30 v. Chr. geschaffen worden ist.
Sowohl die Beliebtheit der Bakchen als auch der Mysterienfries in Pompeji spiegeln die zentrale Rolle wider, die Dionysus trotz oder vielmehr wegen seiner Außenseiterrolle in der antiken Welt einnahm. Denn wer sich in sein Gefolge einreihte, konnte auf Erlösung von irdischen Sorgen und Kümmernissen hoffen. Lysios , der (Er)lösende, ist einer seiner Beinamen. Da dieses Versprechen sich tendenziell an alle Menschen richtete, gleich, welcher Nation oder welchem Geschlecht sie angehörten, ja sogar die in der Antike als »Untermenschen« geltenden Sklaven mit ansprach, ging die Begeisterung für den Dionysuskult durch alle gesellschaftlichen Schichten.
Der Kult des Dionysus, der zahllose lokale Ausprägungen hatte, fungierte dabei als eine Art Sammelbecken für allerlei mystische Strömungen und Initiationsriten, die sich seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. ausbreiteten. Eine der prominentesten von ihnen wurde auf den mythischen Sänger Orpheus zurückgeführt, der gleichsam als Prophet des Dionysus erscheint. Die Verbindung zwischen Orpheus und Dionysus drückt sich dabei nicht, wie sonst üblich, im Mythos aus (die beiden sind weder verwandt, noch kreuzen sich ihre Wege), sondern vielmehr in der rituellen Praxis, wie sie sich durch mehr oder weniger kreative Umdeutungen im Lauf der Zeit entwickelte.
Im Haus des Orpheus in Pompeji ist Orpheus beim Musizieren dargestellt, umringt von wilden Tieren, die gebannt seiner Musik lauschen. Der göttliche Sänger wusste durch seine Musik alle Sprach- und sogar Gattungsgrenzen zu überwinden.
Vor den Toren Pompejis hatte Dionysus einen alten Tempel, dessen Giebelrelief ihn zusammen mit Ariadne darstellt. Die Giebelskulpturen sind heute im Antiquarium, dem Museum des Parks, ausgestellt. Aber sein Kult florierte wohl noch mehr als in dem öffentlichen Tempel in den zahllosen privaten Kultgemeinschaften und Vereinen, die es in Pompeji gegeben haben muss und auf die sowohl der Mysterienfries als auch das namengebende Wandbild im Haus des Orpheus hinzudeuten scheinen.
Was aber erklärt die Faszination, die Dionysus offenbar auf die Menschen nicht nur in Pompeji, sondern in der ganzen römischen Welt und darüber hinaus ausübte? Um das zu verstehen, müssen wir uns anschauen, was die traditionellen Religionen den Menschen der antiken Welt zu bieten hatten.
Keine Bekehrung, keine eingeschworene Kultgemeinde, keine Erlösung. Im Vergleich mit den Initiationskulten wie dem des Dionysus, aber auch mit dem Christentum, lässt sich das spirituelle Angebot der traditionellen Religionen Griechenlands und Roms auf diese Formel bringen. Wir haben es bei den alteingesessenen Gottheiten also mit einem Defizit an Heilsversprechen zu tun, das sicherlich wesentlich zum Erfolg des »neuen Gottes« – sei es nun Dionysus oder der christliche Gott – beigetragen hat. Menschen, die auf der Suche nach dem waren, was man heute als persönlichen Glauben oder spirituellen Weg bezeichnen würde, wurden bei den traditionellen Religionen des Mittelmeerraumes einfach nicht fündig.
Die Kulte Alt-Italiens gehen auf vorgeschichtliche Zeit zurück. Damals, so können wir aus späteren Überbleibseln archaischer Riten schließen, gab es keine Trennung zwischen Welt und Göttern, Weltlichem und Heiligem. Religiöses Handeln war so fest in der Alltagswelt verankert, dass gar kein Gedanke an Religion als etwas »Überweltliches« aufkommen konnte. Die Präsenz von Gottheiten wurde in allem gesehen: in Quellen, Flüssen, Bergen, Bäumen. Aber auch Haus, Feld und Stall, ja selbst Krieg und Herrschaft unterstanden je eigenen Gottheiten, Schutz- und Naturgeistern. Besondere Bedeutung kam außerdem den Ahnen zu, die an ihren Gräbern verehrt wurden und die eine Mittlerfunktion zwischen Menschen und Göttern einnahmen.
Relikte dieser archaischen Religionsformen begegnen uns einerseits in der schriftlichen Überlieferung. James Frazer hat die Quellen dazu in seinem 1890 erstmals erschienenen Buch Der goldene Zweig ausgewertet. Das Werk enthält teils fragwürdige Verallgemeinerungen und Spekulationen, doch seine anhaltende Popularität über die Fachgrenzen hinaus zeigt, dass Frazer einen Nerv getroffen hat. Wer das Buch liest (oder auch, was ich sehr empfehle, sich den stark davon beeinflussten Anfang von Pasolinis Spielfilm Medea ansieht), wird mit der im Kern richtigen Erkenntnis konfrontiert, dass die antike Religion ganz unklassische Wurzeln hat. Viel mehr als an das Idealbild der marmorweißen Antike erinnert sie an Rituale und Bräuche sogenannter »primitiver« Naturvölker. Was uns die Texte der klassischen Zeit überliefern, ist bereits eine Weiterentwicklung dieser urtümlichen Wurzeln von Religiosität, die inzwischen an das Leben in den immer weiter wachsenden Städten angepasst worden war.
Aus den zahlreichen Beispielen, die zeigen, dass die traditionelle Religion den meisten Menschen der klassischen Zeit nur noch wenig sagte, sei hier ein besonders krasses zitiert: die römischen Flamines (Singular: Flamen ). Das waren die Priester der wichtigsten Gottheiten des römischen Staates, insgesamt fünfzehn an der Zahl: drei Flamines maiores (»Großpriester«) und zwölf Flamines minores (»Kleinpriester«). Doch geht man die Namen der Götter durch, denen sie dienten, stellt man fest: Kaum einer ist aus historischer Zeit näher bekannt! Die obersten Staatspriester Roms dienten Gottheiten, von denen man in den meisten Fällen wenig mehr als den Namen kennt. Von zwei der Flamines minores ist sogar gänzlich unbekannt, welchen Göttern sie zugeordnet waren. Die drei großen Flamines dienten Jupiter, Mars und Quirinus – so weit, so gut. Schwierig wird es bei den kleinen Flamines. Sie waren zuständig für die Kulte von: Carmenta, Ceres, Falacer, Flora, Furrina, Palatua, Pomona, Portunus, Vulcan, Volturnus . Wer hier wenig Vertrautes findet: Keine Sorge, abgesehen von Ceres, der Göttin der Felder und des Getreides (vergleichbar der griechischen Demeter), und Vulcan, dem Feuer- und Schmiedegott, sind diese Namen auch gestandenen Altertumswissenschaftlern kaum geläufig.
In den meisten Fällen lässt sich der Charakter der Gottheiten aus dem Namen erahnen: Flora (»Blume, Blüte«) zum Beispiel war wohl mit dem Frühling verbunden. Portunus (verwandt mir porta , »Tür«, und portus , »Hafen«) war der Gott der Tore und Grenzen, aber auch der Häfen und des Viehs, einem der wichtigsten Handelsgüter der Frühzeit. Pomona kommt von pomum , »Apfel, Frucht« (das Wort lebt fort in »Pommes frites«, frittierten Erdäpfeln , wie man auf Schwäbisch zu Kartoffeln sagt).
Es handelt sich also um Gottheiten, die mit Natur, Landwirtschaft und dörflichem Leben verbunden waren. In Rom haben sich Spuren dieser urtümlichen Religion erhalten, weil das Dorf zur Welthauptstadt wurde. Ähnlich müssen wir uns auch die archaischen Kulte am Vesuv vor der Gründung Pompejis um 600 v. Chr. vorstellen, nur dass hier viel weniger schriftliche Quellen überlebt haben.
Die beiden ältesten Heiligtümer der Stadt – das des Apollo beim Forum und das der Athena/Minerva nahe dem Theaterviertel – weisen den Einfluss der Etrusker auf, die sich zu jener Zeit in Kampanien an verschiedenen Orten ansiedelten (Capua, Pontecagnano) und auch maßgeblich an der Gründung der Stadt Pompeji beteiligt waren. Die frühen Inschriften Pompejis, bei denen es sich um Widmungen an die Götter handelt, sind ausnahmslos in etruskischer Sprache verfasst. Grabungen in einem Heiligtum außerhalb der Stadtmauern (»Fondo Iozzino«), durchgeführt unter der Leitung meines Vorgängers Massimo Osanna, haben das noch mal eindrücklich bestätigt: Seit 2014, als die neuen Grabungen begannen, sind zu den 15 bereits bekannten etruskischen Inschriften aus dem Apollo-Heiligtum mehr als siebzig dazugekommen. Pompeji ist damit der Ort mit den meisten etruskischen Inschriften außerhalb Etruriens.
Die Tempel und Kulte der neuen Stadt, die das Leben in kleinen Weilern und Dörfern zu Füßen des Vesuv ablöste, sind also Teil eines tief greifenden Umbruchs. Etrusker und Griechen gaben die Richtung vor, die Zeichen der Zeit standen auf Modernisierung und Urbanisierung (Stadtwerdung, Übergang zur Stadtkultur). Dazu gehören auch der Gebrauch von Schrift, der hier erstmals in Pompeji fassbar wird, sowie der Bau neuer Tempel. Ihre bunten Tondächer wurden von etruskischen und griechischen Künstlern gestaltet, umherwandernden Vorboten des neuen Zeitalters. Es ist das Zeitalter der Stadt, die ganz neue Formen von Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Kultur und Religion hervorbringt. Das urtümlich Archaische der Religion verblasste in den neumodischen Bauten und Statuen, lebte aber umso stärker in den Ritualen fort.
Deutlich wird das am Heiligtum von Fondo Iozzino vor den Mauern Pompejis, das ich bereits erwähnt habe. Das Heiligtum lag auf einem kleinen, von Schilf umstandenen Hügel nahe bei der Mündung des Flusses Sarno (lat. Sarnus ), der die Küste mit dem bergigen Inland verband. Der Fluss in seiner Gänze wurde als etwas Heiliges angesehen, verkörpert durch den Flussgott gleichen Namens, der auf einem bemalten Hausaltar Pompejis (Haus des Sarnus-Altars) als bärtiger Riese abgebildet ist.
Das Heiligtum von Fondo Iozzino bestand aus einem ummauerten Bezirk. Ein Tempel wurde dort nie errichtet. Die klassische Vorstellung, dass der Tempel als »Wohnung des Gottes« in keinem Heiligtum fehlen darf, entwickelt sich erst relativ spät; nach archaischer Vorstellung »wohnten« die Gottheiten in Bergen, Flüssen, Quellen, im Himmel, auf dem Meeresgrund oder unter der Erde. Wie nach den neuen Grabungen vermutet wird, war Letzteres im Heiligtum von Fondo Iozzino der Fall. Dafür sprechen die zahlreichen Gefäße, die, Unterseite nach oben, auf der Erde liegen gelassen wurden. Sie enthielten Wein, wie chemische Untersuchungen gezeigt haben. Hier wurde also Wein in die Erde gegossen; die Gefäße blieben nach dem Ritual liegen, gewissermaßen zur Erinnerung.
Solche Riten deuten auf Göttinnen und Götter, die man sich als in der Erde wohnend vorstellte. Dadurch hatten sie zum einen eine besondere Verbindung zum Reich der Toten, standen zum anderen aber auch für die Fruchtbarkeit der Erde. Den Gottheiten einen Teil der Ernte darzubringen, zumal eines solch kostbaren und prestigeträchtigen Produkts, wie es der Wein darstellte, war für bäuerliche Gesellschaften der Frühzeit eine Art notwendiges Tauschgeschäft: Man gibt den Naturgeistern und -göttern einen Teil von dem, was sie wachsen lassen, zurück, um auch in Zukunft auf ihr Wohlwollen rechnen zu können. Neben Trankopfern und dazu benutzten Gefäßen wurden im Heiligtum von Fondo Iozzino auch andere Geschenke an die Götter gefunden: Waffen, griechische Ölgefäße, Schmuck und – viel später, in einer Zeit, da in Pompeji schon griechische Kunst und Kultur um sich griffen – eine Reihe wunderschöner Tonstatuen, die vermutlich der hier neben einem männlichen Partner verehrte Göttin (vielleicht Ceres?) dargebracht wurden und heute im Antiquarium Pompejis zu besichtigen sind.
Am Beispiel dieser Geschichte lässt sich mit Händen greifen, welches der ursprüngliche Zusammenhang antiker Kunst war: Die Statuen stehen funktional betrachtet in direkter Nachfolge der unscheinbaren Tongefäße aus dem späten 7. und 6. Jahrhundert v. Chr., die den Göttern geschenkt worden waren.
Die ganze Tragweite dieser Beobachtung wurde mir erst nach dem Studium klar, als ich nach Italien ging und begann, mit Massimo Osanna zusammenzuarbeiten – damals hätte sich keiner von uns träumen lassen, dass ich ihm eines Tages als Leiter des berühmten Archäologieparks nachfolgen würde.
Anfang 2007, nachdem ich mein Studium in Berlin abgeschlossen hatte, jobbte ich als »Hiwi« (Wissenschaftliche Hilfskraft) am Deutschen Archäologischen Institut (DAI) in Rom. Konkret ging es um die Mitarbeit bei einem Projekt zur Vermessung der archäologischen Überreste Gabiis, einer alten Stadt in der Umgebung Roms, von der heute nur noch verstreute Ruinen zeugen. Außerdem war ich auf der Suche nach einem Thema für meine Doktorarbeit. Auf einem vom Institut veranstalteten Kongress, wo ich das Mikrofon hin und her zu tragen und Kaffee in den Pausen auszuschenken hatte, lernte ich Osanna kennen, der damals an der Universität der Basilikata im süditalienischen Matera lehrte und zusammen mit einem Kollegen aus Rom ein eigenes Forschungsprojekt in Gabii angestoßen hatte.
In einer der Pausen nahm ich meinen Mut zusammen und sprach ihn an, fragte, ob es eine Möglichkeit gäbe, bei dem neuen Projekt mitzuarbeiten. Für mich überraschend, hörte er sich geduldig an, was ich ihm während der paar Minuten in meinem unvollkommenen Italienisch erzählte. Ich solle ihm mal meine Magisterarbeit und meinen Lebenslauf schicken, sagte er zum Abschluss.
Noch eine Probe war zu bestehen: Ich durfte einen Monat lang mit den italienischen Doktoranden und Studenten in Gabii ausgraben. Das war als Privileg zu verstehen; ich musste dafür unbezahlten Urlaub am Deutschen Archäologischen Institut nehmen. Gelohnt hat es sich trotzdem, denn ich hatte zwar schon in Italien ausgegraben, aber noch nie in einem rein italienischen Team. Für mich war das nicht nur aus professionellen Gründen aufschlussreich. Ich fand das zwischenmenschliche Klima viel entspannter als auf deutschen Grabungen, bei denen ich mitgearbeitet hatte, weniger von Konkurrenzdenken geprägt.
Ob das einer objektiven, statistischen Untersuchung standhielte, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls bestärkte diese Erfahrung in mir das Gefühl, in Italien irgendwie besser reinzupassen. Tatsächlich sagen mir Freunde, die mich sowohl als »Deutschen« als auch als »Italiener« kennen, dass ich in der italienischen Fassung wesentlich extrovertierter wirke, obwohl ich die Sprache ja erst als Erwachsener gelernt habe. Aber ich merke selbst, dass ich im Deutschen dazu tendiere, über den richtigen Ausdruck nachzugrübeln, während ich auf Italienisch einfach losplappere. Durch den Satzbau (Verb nicht am Ende wie im Deutschen, Adjektive nach dem Nomen) kann man erstaunlich lange Sätze improvisieren, sodass man fast das Gefühl hat, die Sprache spricht sich wie von selbst.
Als ich 2020 die italienische Staatsbürgerschaft erhielt, spielten praktische Gründe für mich dabei eigentlich gar keine Rolle. Die Justizdebatte um die direttori stranieri , die ausländischen Direktoren, war schon längst vom höchsten italienischen Verwaltungsgericht zugunsten der internationalen Öffnung des Museumswesens entschieden worden. Vielmehr handelte es sich für mich, als mir der Bürgermeister den Eid auf die italienische Verfassung abnahm, um eine Herzensangelegenheit, so pathetisch das klingen mag. Ich hatte das Gefühl, dass die doppelte Staatsbürgerschaft dem entsprach, was ich lebte.
Dreizehn Jahre zuvor war ich erst mal froh, als Osanna, offenbar mit meinem Einsatz zufrieden, mir dabei half, Zugang zu den Funden aus dem sogenannten Ostheiligtum von Gabii zu erhalten, die bei einer Ausgrabung in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts aus der Erde geholt worden waren und seither im Depot der Denkmalbehörde in Kisten schlummerten. Ich wollte die Frühzeit dieses kleinen Heiligtums vor den Mauern der antiken Stadt untersuchen, um so etwas darüber herauszufinden, wie die archaischen Riten des vorgeschichtlichen Italien an die sich wandelnden sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen angepasst wurden. Was wird aus bäuerlichen Agrar- und Naturkulten, wenn aus verstreuten Weilern eine Stadt wird – eine Stadt, die zwar aus unserer heutigen Sicht eher einem großen Dorf gleicht, aber als neue Siedlungsform damals trotzdem einen radikalen Umbruch markierte.
In dem Heiligtum gab es einen kleinen Tempel, ein rechteckiger Bau, dessen einzige Zier aus bemalten Dachziegeln bestand. Der wurde aber erst am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. errichtet, also am Ende der Zeitspanne, mit der ich mich beschäftigte. Von den vorangehenden Jahrhunderten, in denen Gabii sich aus verstreuten Bauernhütten zur Stadt entwickelte, zeugten außer spärlichen Fundamentresten eines älteren Tempels lediglich Scherben von Tongefäßen, die zu Ritualen im Heiligtum verwendet wurden und anschließend dort als »Ritualmüll« verblieben. Was einmal durch Gebrauch beim Ritus »heilig« wurde, durfte den Bezirk der Gottheit nämlich nicht mehr verlassen – das erklärt auch die Fundsituation im Heiligtum von Fondo Iozzino vor den Mauern Pompejis, wo sich aus den Funden die jahrhundertelange Geschichte des Kultortes nachvollziehen lässt.
Nach zwölf Monaten Arbeit im Depot der Denkmalbehörde in Gabii umfasste meine Datenbank 23 800 Objekte, 95 Prozent davon Tonscherben. Ich hatte über 600 Zeichnungen gemacht und in den Museen und Bibliotheken der Umgebung unzählige Vergleichsstücke dokumentiert. Meine Frau zieht mich noch heute damit auf, dass ich einmal nach der Arbeit noch mal den Weg von Rom nach Gabii mit der Vespa zurückfuhr, nur um das Profil einer einzigen Scherbe zu überprüfen, für die ich einen neuen Vergleich gefunden hatte. Als 2008 unsere Tochter geboren wurde, waren wir eben nach Berlin zurückgekehrt: Beim Einschlafen in unserer kleinen Kreuzberger Wohnung begleitete sie allabendlich das Klicken der Maus meines Laptops, an dem ich die 600 Bleistiftzeichnungen in Vektorgrafiken umwandelte.
Das sind vermutlich so Sachen, die Archäologen in den Augen der Welt als wunderliche Käuze erscheinen lassen, die über eine unscheinbare Tonscherbe in Begeisterung geraten oder sich wegen einer ungenauen Datierung eines Fachkollegen echauffieren. Wozu die Aufregung? Die Antwort hat wieder mit dem »Motor« zu tun, der uns antreibt. Und der oft – aus eigenem Verschulden – der Außenwelt verborgen bleibt.
Streng genommen war ich nie ein »Schüler« von Massimo Osanna. Ich habe weder bei ihm studiert, noch war er mein »Doktorvater«. Trotzdem ist er für mich das gewesen, was die Italiener einen maestro nennen. Denn durch die Zusammenarbeit mit ihm – bei Lehrveranstaltungen, Ausgrabungen, Publikationen und im Denkmalschutz – habe ich unendlich viel gelernt. Vor allem, dass Archäologie etwas ist, das letztendlich der Gesellschaft zugutekommen muss; dass wir auf dem Wissen, das wir anhäufen, nicht sitzen bleiben dürfen, sondern die Menschen, die durch Eintrittstickets oder Steuergelder unsere Arbeit erst ermöglichen, daran teilhaben lassen müssen. Dann, dass Archäologie, heute mehr denn je, Teamwork ist, was nicht ohne Respekt für andere Fächer geht, auch jenseits der klassischen Altertumswissenschaften: Restaurierungswissenschaft, Architektur, Geologie, Chemie, Botanik usw.
Aber durch Massimo Osanna habe ich auch den Ansatz kennengelernt, der mich als »Motor« durch die 23 800 Tonscherben aus Gabii getragen hat: Archäologie als Religionswissenschaft. Damit war ich in meiner Ausbildung nur marginal in Berührung gekommen. In Italien hingegen ist dieser Zweig der Archäologie viel stärker entwickelt.
Tatsächlich ist es unmöglich, antike Kunst und Kultur zu verstehen, wenn man sie nicht als Teil einer Welt begreift, in der buchstäblich alle Aspekte des Lebens durch religiöse Riten strukturiert wurden. Der Ritus ist wie eine eigene Sprache, die alle Bereiche der Gesellschaft gliederte und deren Grammatik und Vokabular untrennbar mit dem verbunden sind, was sich in dieser Gesellschaft kommunizieren lässt. Für uns heute ist nicht nur die »Sprache« des antiken Ritus schwierig zu entschlüsseln; als Kinder einer Zeit, in der Riten kaum noch eine Bedeutung haben, fehlt uns auch die entsprechende Grammatik fast völlig. Antike Rituale zu verstehen, ist daher ungefähr so, als wollte man als Taubstummer Klavierspielen lernen.
Niemand weiß das besser als die Religionswissenschaft, ein winziges Orchideenfach, dessen Vertreterinnen und Vertreter die Begeisterung der italienischen Archäologie für den antiken Ritus mit einem gewissen Argwohn betrachten. Kann aus der Übersetzung der komplizierten »Sprache« des Ritus etwas werden, wenn sie Archäologen anvertraut wird, die auf materielle Hinterlassenschaften spezialisiert sind?
Die Diskussion darüber wird schnell hitzig, vor allem, wenn sie nicht in der kühlen Atmosphäre des Vorlesungssaals, sondern bei einem Glas korsischem Wein geführt wird. Paris an einem regnerischen Tag Anfang April 2022: Vormittags habe ich an der École Pratique des Hautes Études einen Vortrag zu dorischen Tempeln gehalten, Kritik und Einwände werden dort akademisch höflich verpackt. Abends im korsischen Restaurant im 5. Arrondissement geht es zur Sache. Dabei sind Gabriella Pironti, gebürtige Neapolitanerin und Professorin für antike griechische Religionsgeschichte in Paris, und Claude Pouzadoux, Archäologin, die zehn Jahre lang ein französisches Forschungszentrum in Neapel geleitet hat und gerade etwas wehmütig in den kalten Norden zurückgekehrt ist. Wir sprechen Italienisch, erst über dies und das, dann über Mysterienkulte, wie sie nach gängiger Lesart auch auf dem Fries der Mysterienvilla in Pompeji dargestellt sind.
Gewisse Attacken sind nur unter Freunden statthaft, weil sie da als Vertrauensbeweis gelten können. Nach anfänglichem Geplänkel (Hat es Sinn, von antiken Mysterienreligionen zu sprechen? Alle stimmen überein: nein, höchstens von Mysterienkulten ), holt Gabriella zum Überraschungsschlag aus. Das Problem sei, dass die meisten Archäologen nicht einmal den antiken Polytheismus richtig verstanden hätten, ihn unbewusst als Nebeneinander von Monotheismen konzipieren. Unbeeindruckt von der Komplexität, die auch scheinbar einfache Figuren wie Hera und Zeus auszeichne, stürzten sie sich auf Mysterienkulte, die sie überall nachweisen wollen, vom Tauchergrab in Paestum bis zur Mysterienvilla in Pompeji. Schuld daran sei der Katholizismus. Tatsächlich habe nirgendwo die Suche nach der spirituellen Dimension antiker Religion so bedenkliche Auswüchse gezeitigt wie auf der italienischen Halbinsel, der Urheimat des Katholizismus. Obwohl (oder gerade weil?) ich Wahlitaliener bin, fühle ich mich direkt angesprochen, ist mir Italien doch nicht zuletzt durch die Archäologie antiker Rituale zur Heimat geworden. Es sind solche Momente der Verunsicherung, die wahre Forschung ausmachen: Momente, in denen hinter gewohnten Ansichten plötzlich der »Balken im eigenen Auge« erahnbar wird – also die subjektiv-biografische Prägung, durch die wir die Antike wahrnehmen. Weniger die höflich distanzierten Fragen und Kommentare morgens im Vorlesungssaal als vielmehr die Konfrontation mit der eigenen Geschichte abends beim Korsen, wenn persönliche Erinnerung (als Kind in der Kirche, die grellrot gemalten Wunden am Kruzifix, Weihrauch in der Luft, der schwäbische Singsang der Fürbitten …) und wissenschaftliches Suchen sich überlagern (Warum die Mysterienvilla? Gibt es nichts Wichtigeres in Pompeji?).
Diese Momente, die uns mit der Antike in Berührung bringen, weil das Ausgegrabene plötzlich mit unserer eigenen Weltsicht in Wechselwirkung tritt; Momente, zu denen dieses Buch Mut machen möchte, auch weil ich mir in meiner Ausbildung mehr Ermutigung dazu gewünscht hätte.
Bei meiner Lehrtätigkeit an der Universität Neapel versuche ich manchmal, die Studentinnen und Studenten dazu anzustiften – mit gemischten Resultaten. Wer einen Archäologiekurs besucht, rechnet normalerweise nicht damit, mit Persönlichem konfrontiert zu werden, und natürlich soll auch niemand dazu gedrängt werden. Ich denke schlicht, dass es ohne das sowieso nicht geht – Stichwort: der Motor, der uns antreibt. Also besser offen damit umgehen, die schädlichsten Komplexe sind die verdrängten.
Ideal wäre demnach, sich dem jeweiligen Interessengebiet mit dem Bewusstsein seines eigenen inneren Motors anzunähern. Dieses Bewusstsein hilft auch enorm, einmal seine Meinung zu ändern, wenn sich neue Einblicke ergeben, denn: Sind die inneren Triebfedern erkannt, kann man sie auch loslassen, wenn sie sich nicht als konstruktiv erweisen.
Dass ein reflektiertes, sprich: die eigenen biografischen und kulturellen Prägungen anerkennendes Verhältnis zur Vergangenheit der einzig sinnvolle Ansatz jeder historischen oder kunsthistorischen Forschung ist, kann ein Gedankenexperiment leicht verdeutlichen. Wollte man Gabriella Pirontis Einwand während unserer Diskussion beim Korsen missverstehen, könnte man zum Schluss gelangen, dass es am besten sei, weder Katholik zu sein noch sonst irgendwelche potenziellen Interessenkonflikte hinsichtlich der objektiven Erforschung der Antike zu haben. Aber konsequent zu Ende gedacht, würde das bedeuten, dass wir uns gerade mit dem beschäftigen müssten, was uns am wenigsten berührt. Idealerweise wäre das in unserer globalisierten Welt ein ganz anderer Planet – jedoch nur, solange noch keinerlei Austausch stattgefunden hat, denn sobald wir diesen Planeten kennenlernen würden, ergäben sich neue »Interessenkonflikte«. Die Vorstellung ist natürlich absurd. Als Individuen und als Gesellschaft kommen wir gar nicht umhin, unseren Interessen, d. h. unserem inneren Motor, zu folgen, wenn wir die Vergangenheit erkunden. Objektivität kann nur aus der kritischen Diskussion im Miteinander erwachsen – und bleibt ein Ziel, dem sich geisteswissenschaftliche Forschung bestenfalls annähern kann.
Die Mysterienvilla ist dafür ein besonders beredtes Beispiel, denn die Deutung des Frieses, dem der Komplex seinen Namen verdankt, ist bis heute umstritten. Seine Ausgrabung ist das Werk eines der größten Direktoren Pompejis: Amedeo Maiuri. Im Jahr 1924 wird er, damals 38 Jahre alt, Soprintendente alle antichità (»Denkmalaufseher«) für ganz Süditalien, eingeschlossen Pompeji und das Archäologische Nationalmuseum in Neapel, in dem viele Funde aus Pompeji aufbewahrt werden. Er wird dieses Amt bis 1961 bekleiden, zwei Jahre später verstirbt er. In der über 250-jährigen Geschichte der Grabungen hat er in der bisher (und hoffentlich noch für lange Zukunft) dunkelsten Stunde Pompejis das Ruder geführt: Am 24. August 1943 beginnen alliierte Luftstreitkräfte mit der Bombardierung Pompejis und umliegender Orte. Ihr Ziel ist, im Vorfeld der Landung der alliierten Truppen am Golf von Salerno, südlich von Pompeji, die deutschen Stellungen entlang der Küste zu dezimieren.
Am Morgen nach der ersten Bombennacht schickt Maiuri folgendes »Phonogramm« per Telefon ans Ministerium in Rom:
»Gestern Abend vierundzwanzigster um zweiundzwanzig Uhr während eines Fliegerangriffs auf die Nachbarorte der Vesuv-Region wurde Grabungsgelände von Pompeji von drei Bomben getroffen: Eine ist aufs Forum gefallen, eine in das Haus des Romulus und Remus mit erheblichen Gebäudeschäden; eine dritte ins Antiquarium gefallen mit sehr schweren Schäden an den archäologischen Objekten, nur teilweise wiederherstellbar. Da Luftangriffe andauern und stärker werden, halte ich es für notwendig, Intervention neutraler Staaten zu erbitten, auf dass auf blinde und brutale Gewalt verzichtet werde, die Pompeji zu zerstören droht, heiliges Denkmal der ganzen zivilisierten Menschheit. Habe am Ort persönlich Schäden in Augenschein genommen und Wiederherstellungsmaßnahmen getroffen. Melde vorbildhaftes Verhalten des Wachpersonals der Nachtschicht.« 23
Maiuri weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass dies erst der Anfang ist. Der Nachrichtendienst der Alliierten geht davon aus, dass die deutschen Truppen, die Italien nach dem Sturz des Duce und Hitler-Verbündeten Benito Mussolini okkupiert haben, die Grabungsstätte als Unterstand und Munitionslager nutzen. Die Information wird sich nach der Landung als falsch herausstellen.
Bis zur Ankunft der alliierten Streitkräfte am 29. September 1943 fallen zirka 170 Bomben auf Pompeji, besonders betroffen sind die der Küste zugewandten Areale zwischen Porta Marina und Porta Ercolano. Doch auch landeinwärts gelegene Gebäude wie das Haus des Loreius Tiburtinus oder das Haus der Venus in der Muschel werden in Mitleidenschaft gezogen. Maiuri tut, was er kann, um bewegliche Funde in Sicherheit zu bringen, wird im Laufe der Angriffe sogar selbst am Bein verletzt.
Spuren der Bomben sind noch heute sichtbar: Im Haus des Fauns ist ein Bombensplitter als mahnendes Zeugnis im Nebenatrium sichtbar liegen gelassen worden. Auch 2021 begonnene Ausgrabungen im Haus der Bibliothek haben Bombenkrater in den Mosaikfußböden zutage gebracht. In eines der Mosaiken, das zum benachbarten Haus gehört, war wie zur Mahnung an uns Nachkommende ein Spruch eingefügt: litigare noli , Streitet nicht! Was viele nicht wissen: Auch die Schola Armaturarum , das Gebäude, das 2010 einstürzte und damit einen internationalen Skandal um Pompeji auslöste, der ausschlaggebend für die anschließende Rettungsaktion im Rahmen des »Großprojekts Pompeji« war – auch dieses Gebäude war Opfer der Weltkriegsbomben geworden. Das war sicherlich nicht der einzige Grund für den Einsturz, doch hat es zweifellos eine Rolle gespielt.
Die Mysterienvilla, obgleich dem Meer zugewandt, bleibt verschont – nicht aufgrund irgendeiner »Intervention neutraler Staaten«, sondern wohl aus Zufall: Am Abend des 18. September gehen einige Bomben in der unmittelbaren Umgebung der Villa nieder. Nicht auszudenken, wenn der einzigartige Mysterienfries vernichtet worden wäre! Bei aller Zerstörung, die die Bomben in Pompeji angerichtet haben, dürfte das auch für Maiuri ein Lichtblick in der Finsternis gewesen sein. Denn in gewisser Weise ist er der Entdecker der Villa. Das mag seltsam klingen, wenn man bedenkt, dass der Saal mit dem Mysterienfries, also das Highlight des ganzen Komplexes, schon 1909/10 ausgegraben wurde – 15 Jahre vor Maiuris Dienstantritt in Pompeji.
Doch mit der Entdeckung ist das so eine Sache in der Archäologie. Selten bis nie ist sie das Werk eines Einzelnen, Archäologie ist Teamwork. Man denke an eine Statue, die im Boden liegt: Vom Arbeiter oder Studenten auf Grabungspraktikum, der sie buchstäblich aus der Erde holt, zum Schnittleiter, d. h. der Person, die für einen Grabungsabschnitt verantwortlich ist, bis zum Grabungsleiter, Professor oder Direktor, der vielleicht nur alle paar Tage auf der Grabung vorbeischaut, aber sich das Ganze ausgedacht und die Geldmittel dafür beschafft hat – wem gebührt die Ehre, der Entdecker zu sein? Und wie verhält es sich in Fällen, in denen die wirkliche Entdeckung erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Grabung stattfindet?
In Pompeji sind wir derzeit in Zusammenarbeit mit Universitäten und Forschungszentren damit beschäftigt, Tausende von Funden zu katalogisieren, die vor langer Zeit aus dem Boden geholt wurden – oft sind die Ausgräber längst verstorben. Die eigentliche Entdeckung ist hier nicht so sehr der Moment, in dem ein Objekt – sei es nun eine Statuette, eine Münze oder eine Tonscherbe – aus der Erde geholt und – erdverkrustet, unrestauriert und quasi unkenntlich – in eine Fundkiste geschmissen wird. Vielmehr erfolgt sie in dem Moment, in dem das Objekt gereinigt, untersucht und in einen weiteren Zusammenhang eingeordnet wird. Erst dann kann es die Informationen preisgeben, die über seine Bedeutung Auskunft geben.
Ähnliches, wenn auch in viel größerem Maßstab, gilt für die Entdeckung der Mysterienvilla. Am 29. April 1909 beginnt ein gewisser Aurelio Item, ausgestattet mit offizieller staatlicher Genehmigung, auf seinem Privatgrundstück mit der Ausgrabung und stößt bald auf den Saal mit den Mysterienfresken. Die Arbeiten, die rasch und ohne die heute übliche sorgfältige Dokumentation der Schichtabfolge (Stratigrafie) durchgeführt werden, dauern wenig mehr als zwei Wochen: Am 16. Mai desselben Jahres ist erst mal Schluss. Eine zweite Kampagne dauert von Oktober 1909 bis Januar 1910, dann ist die Genehmigung abgelaufen. Am Ende ist, außer dem Mysteriensaal, nur ein ganz kleiner Teil der Villa ans Licht gebracht – ein Umstand, der allen möglichen Spekulationen zum ursprünglichen Kontext des Frieses den Boden bereitet.
So kommt es, dass der Mysteriensaal, der sofort – auch außerhalb der Archäologie – Furore macht, in den folgenden Jahren überaus kontrovers gedeutet wird. Der Fries ist wie ein Puzzleteil – ein wunderschönes, ohne Frage –, doch der Rest vom Puzzle fehlt. Man kann sich da jede Menge Puzzlemotive ausmalen, in die der Teil passen würde, aber es bleiben Gedankenspiele.
Eine erste, summarische Veröffentlichung des Frieses stammt aus der Feder des damaligen Direktors von Pompeji, Giulio De Petra. Der war allerdings ausgerechnet wegen privater Ausgrabungen antiker Villen in der Umgebung Pompejis ins Schussfeuer geraten. Von 1900 bis 1906 war er daher sogar seines Amtes enthoben worden. Vorgeworfen wurde ihm ein zu laxer Umgang mit privaten Grabungen, der zum Verkauf kostbarer Fundstücke und Wandfresken ins Ausland führte. Einige dieser Schätze zieren noch heute die Säle des Louvre oder des Metropolitan Museum of Art in New York.
In das Jahr der Entdeckung der Mysterienvilla fällt denn auch ein Gesetz, das private Ausgrabungen auf italienischem Boden verbietet. Die Mysterienvilla, anfangs nach dem Besitzer des Grundstücks »Villa Item« genannt, steht also an einer Wasserscheide des italienischen Denkmalschutzes. Der Staat muss hier beweisen, dass er es besser als die Privatleute kann. Das wird man auch zwischen den Zeilen von Maiuris umfassender Publikation der Villa von 1931 lesen können. Ziel ist nicht nur, die antiken Gebäude in ihrer Gänze zu erhalten und wissenschaftlich zu erschließen, anstatt sie auszuplündern und die Funde in alle Welt zu verscherbeln (um die verbleibenden Ruinen oft anschließend wieder zuzuschütten); die Landvillen im Umland Pompejis sollen auch dem Publikum zugänglich und vermittelbar gemacht werden.
Mit der Mysterienvilla nimmt somit eine Auseinandersetzung ihren Anfang, die noch heute ausgefochten wird und der wir im Verlauf des Buches noch begegnen werden: Auf der einen Seite stehen Privatleute, die auf ihren Grundstücken – heute natürlich illegal, häufig mittels unterirdischer Tunnelsysteme – antike Villen ausplündern, um Fresken und Funde auf dem internationalen Kunstmarkt zu verkaufen. Auf der anderen Seite steht die staatliche Archäologie, die solchem Vorgehen natürlich Einhalt gebieten muss – die aber gleichzeitig, jedenfalls nach meiner Meinung, die Pflicht hat, darüber hinausgehende Perspektiven aufzutun: Wenn wir als Gesellschaft in Denkmalschutz und Forschung investieren, was können Denkmalschutz und Forschung der Gesellschaft zurückgeben?
Maiuri hat dieses Problem erkannt und offenbar auch wirksam zu vermitteln gewusst. Wie er im Vorwort der Publikation der Villa dankend erwähnt, wurden die Ausgrabungen zwischen 1929 und 1930, die fast die ganze Villa ans Licht brachten, von einer Bank, der Banco di Napoli , finanziert. Es handelt sich meines Wissens um den ersten Sponsor im modernen Sinn in der Geschichte der Grabungen von Pompeji. Als 2014 mit der Reform des italienischen Museumswesens, in deren Zug erstmals ausländische Direktoren ernannt wurden, auch neue Voraussetzungen für solche Formen der Kulturfinanzierung geschaffen wurden, konnte man dabei also auf einen über achtzigjährigen Vorläufer zurückblicken. Heute, nach den Einbußen im Ticketverkauf, die der Archäologische Park von Pompeji während der Pandemie hinnehmen musste, ist die Arbeit mit privaten Sponsoren wichtiger denn je.
Fundraising ist allerdings neben Bilanzrecht, Personalführung und Kommunikation einer der Aspekte, mit denen meine Generation im Studium nicht im Entferntesten in Berührung gekommen ist. Gleichzeitig ist es ein relativ neuer Sektor im italienischen Museumswesen: Maiuris Pionierarbeit in der Mysterienvilla blieb erst mal ein Einzelfall.
Als ich Ende 2015 nach Paestum kam, war das daher wie ein Sprung ins Wasser ohne Schwimmkurs – nicht nur für mich, sondern auch für die Fundraising-Abteilung, die wir aus dem Boden stampften. Auf meiner ersten Veranstaltung im Museum von Paestum, einer Lesung antiker Texte, war einer der lokalen Mozzarella-Produzenten im Publikum (Paestum ist die Urheimat der Mozzarella).
Nach der Lesung sprach ich ihn einfach an, erwähnte, dass wir den Saal mit dem berühmten Tauchergrab dringend renovieren müssten, im Teppich prangten riesige Löcher. Finanzielle Hilfe sei sehr willkommen. Er musterte mich kurz und fragte dann, was das ganze Projekt kosten solle. Ich sagte, fünfzigtausend. Er antwortete, er wolle mal sehen, ob er das nicht alles übernehmen könne. Später gestand er mir, dass er die Entscheidung da schon getroffen hatte, aus dem Bauch heraus.
Externe Experten halfen uns, in die Materie einzudringen – und bestätigten mehr oder weniger, was wir erlebt hatten: Vertrauen und persönlicher Kontakt sind das A und O beim Fundraising. Es geht darum, Werte zu vermitteln, mit denen sich Unterstützer identifizieren können und durch die sie an einem Projekt teilhaben. Das heißt aber auch: das Museum öffnen, transparent sein, deutlich machen, wo es mangelt und wo Hilfe greifbare Resultate bringt. Wer um Spenden bittet, kann das nicht vom hohen Ross aus tun, auf dem manche staatliche Kulturschaffende gerne sitzen. Fundraising hat daher auch mit der Haltung zu tun, mit der eine Institution den Menschen entgegentritt – immer, denn eine Haltung, wenn sie authentisch sein soll, kann man nicht zum Sponsorentreffen anlegen wie einen Umhang. Je höhere Werte eine Institution verkörpert – kulturell, sozial, ethisch –, je interessanter wird sie für potenzielle Sponsoren. Für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung zum Beispiel, die in Pompeji eine Priorität darstellt, haben wir bislang keinen Cent bekommen. Dennoch wäre ohne diese Projekte, die auch von der Museumsbelegschaft ein gewisses Umdenken verlangten, vermutlich insgesamt weniger Unterstützung von privater Seite gekommen.
Im Ganzen sind es – verglichen etwa mit US-amerikanischen Museen, die den Großteil ihres Haushalts aus privaten Mitteln finanzieren – keine exorbitanten Summen, die wir einwerben. Aber es ist ein Anfang. Und auch kleine Beträge aus der Region sind bedeutsam, weil sie, anders als Steuergelder, Ausdruck einer bewussten Teilhabe sind.
Die Erstveröffentlichung der Mysterienvilla von De Petra machte den Fries schlagartig bekannt. Aber was ist darauf eigentlich zu sehen? Viele Archäologinnen und Archäologen meinen, dass der Fries als einheitliche Komposition zu lesen ist, die, zur Tür blickend, an der rechten Wand (Nordwand) beginnt und im Uhrzeigersinn um den ganzen Saal läuft, unterbrochen von einem großen Fenster in der Südwand und den zwei Eingängen. Dargestellt sind junge Frauen in verschiedenen Stadien eines Rituals. Ein Junge beim Lesen (vielleicht von Gebeten?) und Opfergaben sind Thema der Nordwand, die zentrale Ostwand zeigt – unter den Augen von Dionysus persönlich, thronend neben einer weiblichen Gefährtin (Ariadne oder Selene) – die bevorstehende Enthüllung eines unter einem Tuch versteckten Gegenstandes (ein typisches Element verschiedener Mysterienrituale), es folgen rituelle Auspeitschung und auf der Südwand nackter, sprich: dionysisch entfesselter, Tanz; auf der anderen Hälfte der Südwand und auf den beiden Anten der Westwand sind eine von kleinen Eroten begleitete Braut bei der Hochzeitsvorbereitung und eine auf einem Sessel thronende Matrone zu sehen.
Abgesehen von dem zu enthüllenden Gegenstand, wohl eine Skulptur eines erigierten Penis, ein typisch dionysisches Symbol, lässt das rituelle Auspeitschen an einen dionysischen Ritus denken: Der antike Schriftsteller Pausanias, der im 2. Jahrhundert n. Chr. Griechenland bereiste, erwähnt einen Tempel des Dionysus in Alea auf der Peloponnes, in dem »jedes Jahr ein Fest mit dem Namen Skiereia gefeiert wird; und zu diesem Anlass, auf Geheiß eines Orakels aus Delphi, werden Frauen ausgepeitscht«. 24 Desgleichen ist ekstatischer Tanz zu Flöten und Zimbeln, wie auf dem Fries abgebildet, charakteristisch für dionysische Riten, in denen Frauen und Männer in Trance geraten. Dabei spielt der Wein, Hauptattribut des Dionysus, eine entscheidende Rolle. Die Art, wie der Gott sich auf seinem Thron im Zentrum des Frieses fläzt, lässt erahnen, dass er ebenfalls nicht mehr ganz nüchtern ist. Aber auch die Macht der Musik sollte man nicht unterschätzen: Nicht zufällig erscheinen auf dem Mysterienfries allerlei Musikinstrumente. Neben den Zimbeln in den Händen der Tanzenden werden Leier und Panflöte gespielt. Und ebenso wenig dürfte es Zufall sein, dass Paulus im ersten Korintherbrief, wenn er auf die Hohlheit paganer Riten anspielt, dionysische Zimbeln (kymbala) als Metapher für eine sinnentleerte Religiosität benutzt. Offenbar wurde von christlicher Seite besonders der dionysische Kult als potenzielle Konkurrenz wahrgenommen.
Es war jedoch nicht erst das Christentum, das sich mit Dionysus schwertat. Wie erwähnt, bezeugen die Bakchen des Euripides, dass bereits im klassischen Griechenland der Kult des Dionysus mit Widerstand zu kämpfen hatte. Wie viel schwerer musste er es da bei den sittenstrengen Römern haben! Deren Verhältnis zur griechischen Kultur war, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, seit jeher gespalten. Das spiegelt sich auch im Götterhimmel wider. Während Apollo, Gott der Harmonie und Wahrheit, schon im 5. Jahrhundert v. Chr. in der Tiberstadt problemlos eingebürgert wurde, war Dionysus’ Integration in Rom und Italien ein überaus komplexer und langwieriger Vorgang.
Anders als Apollo, der seinen griechischen Namen in Rom behält, wird Dionysus mit einem archaischen Fruchtbarkeitsgott identifiziert, der jedoch auch spezifisch römische Züge trägt: Liber , wörtlich »der Freie«, der mit der Feldgöttin Ceres (welcher im Griechischen Demeter entspricht) verbunden ist. Das Paar Liber/Ceres deckt natürlich ein ganz anderes Feld ab als Dionysus/Ariadne: Wir sind hier im Bereich traditioneller Agrarkulte, die mit dem innovativen, teils visionären Wesen des »neuen Gottes« und seiner ursprünglich sterblichen Partnerin Ariadne nicht viel gemein haben. Dazu kommt, dass Liber als Teil der sogenannten plebejischen Trias aus Liber, Ceres und Libera (eine weibliche Form von Liber) sozial konnotiert wird. Er ist ein Gott der plebs , des gemeinen Volks, abschätzig ausgedrückt, des Pöbels. Auch das unterscheidet ihn vom griechischen Dionysus, der zwar ebenfalls beim Volk beliebt war, dessen Kult aber in Athen, Theben und anderen Städten durchaus Sache der staatstragenden Eliten war.
Das Spannungsverhältnis zwischen Dionysus, im Lateinischen oft auch Bacchus genannt, und traditioneller römischer Religion kulminiert schließlich in einem veritablen Skandal, in dessen Verlauf Köpfe rollen – sowohl aufgrund von Todesurteilen römischer Gerichte als auch durch Selbstmorde darin verwickelter Frauen und Männer. Die Chronik des Skandals, die der römische Geschichtsschreiber Livius in Buch 38 seines Werks liefert, liest sich wie ein Krimi: Geschrieben wird das Jahr 186 v. Chr. Eine gefährliche Sekte hat sich, ausgehend von einem »namenlosen Griechen, der nach Etrurien gezogen war«, in Rom und Italien ausgebreitet; der ursprünglich auf Frauen begrenzte nächtliche Ritus (nach Bacchus als »Bacchanal« bezeichnet) wird durch das Wirken einer Priesterin aus Kampanien auch für Männer geöffnet. Bald sind alle Schichten davon erfasst, von den Sklaven bis zum römischen Stadtadel.
Die Geschichte enthält alle Elemente der Berichte über Pseudo-Gurus, die heute immer wieder an die Medien gelangen. Die Religion ist nur ein Vorwand, eigentlich geht es um Geld und Sex. Siegel und Testamente werden gefälscht zum Zweck persönlicher Bereicherung. Junge Männer werden in den Kult eingeweiht, um sie hörig zu machen und ihnen ihr Vermögen abzuknöpfen. Wer nicht mitmacht oder gar droht, auszusteigen, wird kurzerhand ermordet (die Schreie der Opfer, so Livius, wurden übertönt von »Trommeln und Zimbeln«). Vor allem aber arten die bacchischen Riten bei nächtlicher Musik und Weingenuss in regelrechte Orgien aus, bei denen nicht nur Frauen und Männer übereinander herfallen, sondern während derer es auch – für römische Verhältnisse äußerst problematisch – zu gleichgeschlechtlichem Sex zwischen freien Bürgern kommt.
Der Mysteriencharakter der Riten erleichtert die Geheimhaltung, sind doch die Eingeweihten überzeugt, gegen göttliches Gebot zu verstoßen, sollten sie etwas vom hier Gesehenen preisgeben. Nur eine zufällige Begebenheit führt schließlich dazu, dass einer der beiden römischen Konsuln des Jahres 186 v. Chr., ein gewisser Postumius, dem Treiben auf die Schliche kommt. Doch da waren nach Schätzung von Livius bereits mehr als 7000 Frauen und Männer in den Kult eingeweiht, teils aus höchsten Kreisen. Der Senat, dem Postumius referiert, ist entsetzt. Besonders die Einweihung junger Männer erregt Besorgnis. Sollen etwa auf solche Weise verdorbene Burschen, fragt Postumius die versammelten Senatoren, römische Soldaten werden? Der Konsul versäumt es nicht, darauf hinzuweisen, dass von Religion im traditionellen Sinn nicht die Rede sein könne und dass somit religiöse Bedenken beiseitezuschieben seien. Wenn der Staat in Gefahr ist, hört die Frömmigkeit auf, zumal es sich nach Postumius um eine prava religio , eine »verkehrte Religion« handelt: »Nichts ist gefährlicher!«
Die Reaktion der römischen Obrigkeit fällt entsprechend hart aus – obwohl nicht wenige der Opfer der nun einsetzenden Verfolgung aus der römischen Oberschicht selbst stammen:
»Die Zahl der Hingerichteten übertraf die der ins Gefängnis Geworfenen und belief sich auf eine enorme Zahl an Männern und Frauen aus beiden Ständen. Die für schuldig befundenen Frauen wurden ihren Verwandten oder Vormündern zum privaten Strafvollzug übergeben; wo niemand da war, die Strafe zu vollziehen, wurden sie öffentlich hingerichtet. Die nächste Aufgabe der Konsuln bestand darin, alle Bacchuskulte zu unterdrücken, zuerst in Rom, dann in ganz Italien. Nur althergebrachte Altäre und geweihte Bilder waren davon ausgenommen. Der Senat verabschiedete ein Dekret, dass fürderhin weder in Rom noch in Italien Bacchuskulte existieren dürften.« 25
Eine Bronzetafel mit einer Abschrift des Senatsdekrets de Bacchanalibus (»über die Bacchuskulte/riten«) wurde 1640 bei der kleinen kalabrischen Ortschaft Tiriolo gefunden; heute wird sie im Kunsthistorischen Museum Wien aufbewahrt.
Im Text des Bacchanaliendekrets wird ausdrücklich festgelegt, dass das Verbot sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich gilt. Damit schien die Deutung des in Pompeji entdeckten Mysterienfrieses vorgegeben. Theoretisch war das 186 v. Chr. erlassene Verbot im 1. Jahrhundert v. Chr., als der Fries geschaffen wurde, immer noch gültig. Sollte es sich demnach bei dem Saal mit dem Mysterienfries um eine private Kapelle handeln, in der die alten Riten trotz des Verbots weitergefeiert wurden? Ein Geheimraum vor den Toren der Stadt, wo sich die Adepten des Bacchuskultes nachts zu ihren Riten versammelten, ähnlich wie später die frühen Christen in den Katakomben vor den Toren Roms? Und, ausgehend davon: Ist der Fries als verschlüsselte Botschaft zu lesen, als eine Art dionysisches Bekenntnis, das die geheimen Inhalte des Initiationskultes den Eingeweihten bei ihren Versammlungen vor Augen führte?
Die Jahrzehnte nach der Entdeckung des Saals mit dem Fries waren für diese Fragen besonders empfänglich. Angesichts der Auswüchse des modernen Kapitalismus und mehr noch des sinnlosen Massensterbens im Ersten Weltkrieg war die Vernunftgläubigkeit der Aufklärung ins Wanken geraten. Was ist aufklärerische Rationalität wert, fragten sich damals viele, wenn sie zu den Schlachtfeldern und Hungertoten des Krieges führt oder sie zumindest nicht zu verhindern vermochte?
Neue Ausdrucksformen von Kunst, aber auch von Spiritualität (man denke z. B. an die Anthroposophie) betonen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grenzen des rationalen Denkens und bewerten Irrationales und Übersinnliches neu.
Kunstgeschichte und Archäologie bleiben davon nicht unberührt. Die meisten Archäologen können zwar einstweilen mit den abstrakten Malereien eines Gustav Klimt oder mit Picassos kubischen Bildern wenig anfangen, aber auch sie sind auf der Suche nach neuen Deutungsmustern für scheinbar längst Bekanntes. Mystische und symbolische Deutungen haben Konjunktur; die Entdeckung des Mysterienfrieses fällt in eine Zeit, die auf solch ein Bildwerk nur gewartet zu haben scheint.
Maiuri reagiert auf diese Entwicklung mit Skepsis. Als Sohn eines Staatsanwalts in der süditalienischen Provinz bleibt er einem aufklärerischen Humanismus verbunden. Das wird ihn im Übrigen auch davor bewahren, mit einer anderen Ausdrucksform des neuen Irrationalismus zu stark auf Tuchfühlung zu gehen: dem Faschismus. Obwohl Maiuri über die ganze Zeit des italienischen Faschismus (1922 bis 1943) in verantwortlicher Position in Neapel und Pompeji wirkt, kann er nach dem Zweiten Weltkrieg seine Tätigkeit nach kurzer Unterbrechung fortführen.
An vielen Publikationen zur Mysterienvilla stört den detailverliebten Archäologen und Grabungsdirektor vor allem, dass zu gewagten geistesgeschichtlichen Deutungen ausgeholt wird, wo doch noch nicht einmal der Plan des Gebäudekomplexes bekannt ist, zu dem der Mysteriensaal gehörte. Da wird von geheimen Kultkapellen fantasiert, während der Saal als isoliertes Stückwerk eines noch auszugrabenden Komplexes daliegt – und aufgrund von Witterung, Unzugänglichkeit und mangelnder Denkmalpflege Schaden zu nehmen droht! Nicht einmal eine sachgerechte fotografische und zeichnerische Dokumentation des Jahrhundertfundes liegt vor.
Die neuen Grabungen, die Maiuri zu einem »Entdecker zweiten Grades« der Mysterienvilla machen werden, wollen als Antwort auf die eben genannten Probleme verstanden sein, wie Maiuri in der Publikation der Grabungen von 1931 klarstellt: Verbesserung der Erhaltungsbedingungen, Erstellung einer angemessenen Dokumentation und Klärung der räumlichen und geistesgeschichtlichen Einbettung des Frieses. 26
Im Rückblick kann man wohl sagen, dass alle Ziele erreicht wurden; ja, Maiuris »Operation Mysterienvilla« ist aus meiner Sicht ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie Forschung, Denkmalpflege und Kulturvermittlung zusammenspielen sollten. Wenn heute die Villa Teil des Besucherparcours von Pompeji ist, so ist das Maiuris Vision zu verdanken. Speziell die Rekonstruktion der Dächer ist auf seinen Ansatz zurückzuführen, wenn auch teils erst nach seiner Zeit verwirklicht.
So kann man im Atrium, dem zentralen Hofraum, das antike Dach mit seiner charakteristischen Öffnung (impluvium) als Rekonstruktion bewundern. Das schützt nicht nur Fresken und Mosaiken vor der Witterung, sondern vermittelt den Besucherinnen und Besuchern auch eine Vorstellung von Räumlichkeit, Akustik und Lichteinfall in einem 2000 Jahre alten Gebäude. Zwar würden wir heute nicht mehr Betonträger verwenden, wie das nach dem Krieg üblich war (bei Maiuris erster Restaurierung wurde mit Holzbalken gearbeitet, ganz wie in der Antike), denn die schweren Betonelemente führen zu zahlreichen Problemen und sind weniger haltbar, als man anfänglich hoffte. Doch die Grundprinzipien, die hier zur Geltung kamen – Rekonstruktion der antiken Dachstruktur, aber für alle als moderne Zutat erkennbar –, finden noch heute bei der Restaurierung archäologischer Monumente Anwendung.
Auch wer sich heute wissenschaftlich mit der Villa beschäftigt, kommt nicht an Maiuris Werk vorbei. Indem er die Villa fast vollständig freilegen ließ, hat er dem Fries seinen ursprünglichen Kontext zurückgegeben. Ich sage »fast vollständig«, da ein kleiner, zur antiken Zugangsstraße hin gelegener Teil noch immer der Ausgrabung harrt. Dieses Stück wurde nicht enteignet und verblieb in Privathand; die Besitzer errichteten darauf ein Häuschen mit Garten, das bis 2020 bewohnt war. Erst dann gelang es dem Archäologischen Park Pompeji, das Grundstück zu enteignen, sodass wir in den kommenden Jahren die Ausgrabung, die Maiuri begonnen hat, endlich zum Abschluss bringen werden. Allerdings muss dafür erst das Häuschen abgerissen werden.
Wie wichtig der Kontext für die Archäologie ist, haben wir ja schon am Beispiel der Apollo-Statue aus dem Haus des Citarista gesehen. Der Begriff Kontext stammt ursprünglich aus der Sprachwissenschaft und ist uns im Grunde allen geläufig. »Willst du mit mir gehen?«, kann ein Kindergartenkind das andere fragen, wenn die Gruppe paarweise Hand in Hand die Straße überqueren soll; einige Jahre später hat der Satz eine ganz andere Bedeutung.
Ähnlich verhält es sich mit dem Mysteriensaal: Nur wenn wir wissen, in welchem »Text« der »Satz« steht, sprich: in welchen architektonischen Kontext der Raum mit dem Fries eingebettet ist, erschließt sich seine Bedeutung. Maiuris Folgerungen nach Abschluss der Grabungen lassen es nicht an Deutlichkeit fehlen: Der Komplex ist eine typische Vorstadtvilla; der Mysteriensaal (Maiuri nennt ihn »oecus« ) fügt sich ohne Probleme in eine Kategorie von zur Meerseite gelegenen Wohnräumen ein, wie wir sie ähnlich sowohl in derselben Villa als auch in vielen anderen römischen Villen finden. Mehr noch: Der Saal ist durch eine Nebentür direkt mit einem Schlafraum mit zwei Alkoven (Bettnischen) verbunden, in dessen Dekoration dionysische Themen aus dem Fries wiederkehren – offensichtlich einer der Schlafräume, die der Hausherr und seine Frau nutzten, je nach Jahreszeit.
Lesen wir, was Maiuri selbst dazu sagt: »Alkoven und oecus bildeten also einen einheitlichen Komplex innerhalb der herrschaftlichen Wohnräume der Villa. Schon allein auf Grundlage der beiden von uns vorgestellten Pläne der vorrömischen und römischen Phase des Gebäudes ist es unmöglich, ernstlich zu unterstellen, dass diese Räume im Südwest-Trakt der Villa vom Rest abgesondert worden seien, um heimlich okkulten religiösen Zeremonien zu dienen, oder dass sie gar eine Art Kapelle oder Versammlungsort für die Mitglieder einer exotischen, vom Staat nicht geduldeten Religion gewesen wären; denn sowohl der Raum mit den Alkoven als auch der ›oecus‹ öffnen sich frei zur Vorhalle hin und von dort zu den Terrassen und zum Garten. Kein wie auch immer geartetes Mysterium konnte diesen Raum umhüllen, der so gestaltet war, dass man von seinem Inneren eine wunderschöne und weite Aussicht auf die Landschaft, Berge und Meer hatte, und den seine weite Tür und sein großes Fenster unmöglich vor den indiskreten Blicken der Sklaven und der anderen Mitglieder des Haushalts hätten schützen können.« 27
Eine andere, einfachere Erklärung des Frieses täte daher not. Diese liefert Maiuri nach eingehender Analyse denn auch in seinem Buch. Das Thema sei, gewiss, dionysisch, jedoch mit einer wichtigen Eigenheit: Die Frauen verschiedenen Alters, die im Zentrum der Riten stehen, seien als Bräute und Matronen zu sehen; die Riten im Zusammenhang mit der Initiation junger Frauen in Vorbereitung auf die Heirat. Ja, angesichts des familiär-intimen Kontextes des Saals sei es wahrscheinlich, dass die Heirat des Besitzers und seiner Gemahlin der Anlass war, diesen Privatraum mit einem Thema auszuschmücken, von dem wir wissen, dass es für die Frauen der Oberschicht eine wichtige Rolle spielte. Denn, so argumentiert Maiuri weiter, das Verbot von 186 v. Chr. sei zwar unseres Wissens nie offiziell aufgehoben worden, doch zeigten zahllose Beispiele gerade auch aus Kampanien, dass dionysische Kultvereine und Priesterschaften längst wieder aufgeblüht waren. Im Bacchuskult gab es auch Priesterinnen, die gewöhnlich aus den angesehenen Familien der Stadt stammten; die Hausherrin der Mysterienvilla war vermutlich eine solche. Kurz gefasst also: Der Fries zeigt Mysterienrituale, aber nicht für eine geheime Kultgemeinschaft, sondern als offen sichtbare Willkommensdekoration für die frisch verheiratete Hausherrin, die vielleicht selbst ein dionysisches Priesteramt ganz offiziell versah. 28
Maiuri hat nicht nur die Diskussion über den Mysterienfries auf eine neue Grundlage gestellt. Er hat auch Größe auf einem anderen Feld bewiesen. Er machte nämlich keinen Hehl daraus, dass seine Deutung des Frieses in wesentlichen Punkten von einer Kollegin vorweggenommen worden war: Margarete Bieber, die bereits das Thema Hochzeit – aus Sicht der Braut – als zentralen Gegenstand des Frieses identifiziert hatte. 29
Um zu verstehen, was an Maiuris Würdigung von Biebers Vorarbeiten bemerkenswert sein soll, muss man wissen, dass die Archäologie damals noch ein reiner Männerverein war. Schon unter männlichen Kollegen ging es oft wenig fair zu; die Tendenz, sich mit fremden Federn zu schmücken, die Beiträge anderer herunterzuspielen oder ganz unter den Teppich zu kehren, scheint leider zur DNA des homo academicus zu gehören. Wie schwer musste es da eine Frau haben, die gleich eine Reihe von roten Linien des Männerklubs überschritten hatte.
Margarete Bieber, am 31. Juli 1879 im westpreußischen Schönau geboren (heute Przechowo, Polen), war eine der ersten Frauen, die an einer deutschen Universität in Klassischer Archäologie promoviert wurde. Auch bei der Lehrbefugnis für den universitären Unterricht schritt sie voran: Sie war die erste Frau, die die Habilitation für das Fach Archäologie erhielt, und die dritte Frau überhaupt, die sich in Deutschland habilitierte. Das Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts war ein weiterer Rekord. Es wird seit 1859 an herausragende Absolventen der Archäologie vergeben, denen es das Bereisen von archäologischen Stätten und Museen in aller Welt ermöglicht – ohne Zwang, wissenschaftliche Resultate zu produzieren, wie beispielsweise Artikel oder Bücher. Die Aufgabe besteht einfach im Bereisen und Beschauen antiker Stätten und Museen. Als jemand, dem das Privileg zuteilwurde, dieses Stipendium zu bekommen, kann ich nur betonen, wie wichtig es gerade in unserer leistungsversessenen Zeit ist, eine solche Möglichkeit des scheinbar unproduktiven Reisens und Lernens zu bewahren – ich zehre noch heute von den Eindrücken, Erkenntnissen und Erfahrungen während der sechs Monate, die mich rund ums östliche Mittelmeer führten.
Margarete Bieber brauchte zwei Anläufe, um das Stipendium zu bekommen – einfach deshalb, weil sie eine Frau war. In ihren Memoiren erinnert sie sich, dass der damalige Vorsitzende der Limeskommission, Ernst Fabricius, anlässlich ihrer ersten Bewerbung 1908 gesagt haben soll, solange er Direktor am Deutschen Archäologischen Institut sei, »wird keine Frau je ein Stipendium bekommen!« 30 Im Jahr darauf klappte es dann trotzdem, aber Widerstände blieben bestehen. Aufschlussreich ist die Schilderung ihres Treffens mit den anderen Stipendiaten des Jahres 1909 in Athen:
»Als die Stipendiaten eintrafen, bemerkte ich bald, dass ich geächtet werden sollte. Sie steckten die ganze Zeit zusammen, aber niemand beachtete mich. Ich beschloss, das Institut zu verlassen und in eine Pension zu ziehen. Schließlich brach der jüngste und begabteste der Kollegen, Rodenwaldt, das Eis und stattete mir einen Besuch ab. Ich empfing ihn freundlich, lud ihn zu Kaffee und Kuchen ein, und da er deutsche Lieder singen und ich Klavier spielen konnte, mietete ich eines, und wir hatten nette gemeinsame Musikabende, außerdem gute fachliche Diskussionen. Dann kamen, einer nach dem anderen, auch die übrigen und machten mir ihre Aufwartung. Sie wurden zu den Musikabenden eingeladen, und bald bildeten wir eine nette kleine Familie. Ich war die Mutter von fünf Adoptivsöhnen. Von da an wollten sie nicht mehr ohne mich reisen. Wir machten Ausflüge in ganz Griechenland, und sie überschütteten mich mit ihrer Aufmerksamkeit.« 31
Ablehnung schlug Bieber auch in Milet entgegen, wo sie die vom Deutschen Archäologischen Institut durchgeführten Grabungen besuchte. Zwar empfing sie der Grabungsleiter Wilhelm Dörpfeld freundlich, doch Professor Erich Pernice, der an den Grabungen teilnahm, notierte anschließend in sein Tagebuch: »… besonders schauerlich war die Anwesenheit von Frl. Bieber.« Allein die Tatsache, dass eine Wissenschaftlerin eine Grabung besuchte, entsetzte offenbar manche Herren!
Während des Ersten Weltkriegs, als die Universitätsassistenten reihenweise zum Militärdienst eingezogen werden, holt Biebers Mentor Gerhard Loeschcke sie als Vertretungsdozentin an die Berliner Universität (die heutige Humboldt-Universität). Doch als Loeschckes Nachfolger Ferdinand Noack das Ruder übernimmt, ist er, wie Bieber sich erinnert, »erbost, eine Frau vorzufinden«. Nicht nur die Lehrtätigkeit hat ein Ende; Noack untersagt der Kollegin auch, die wissenschaftlichen Einrichtungen und Sammlungen des Instituts zu nutzen. 32
Die Porträts dieser Männer – Loeschcke, Noack, Rodenwaldt – zierten übrigens noch das Berliner Institut für Klassische Archäologie, als ich dort in den 2000ern studierte. Ein Porträt von Margarete Bieber suchte man vergeblich. Und erst nach meiner Studienzeit, fast hundert Jahre nach Biebers ersten Lehrveranstaltungen, wurde die erste Professorin für Klassische Archäologie an die Humboldt-Universität berufen.
Für Biebers Bemühen um berufliche Anerkennung war Maiuris Würdigung ihrer Arbeit daher sehr wertvoll. Von der Habilitation bis zur Berufung auf eine Professur in Gießen waren noch einige, teils demütigende Rückschläge hinzunehmen; nicht wenige männliche Kollegen entbehrten der Souveränität Maiuris und versteckten ihre Frauenfeindlichkeit hinter abschätzigen Bemerkungen zu Biebers wissenschaftlicher Leistung, die indes international mehr und mehr anerkannt wurde.
Als sie es dann geschafft hat, im Jahr 1933, wird sie noch vor offiziellem Dienstantritt aus dem Staatsdienst entlassen. Grund ist ihre jüdische Abstammung. In Amerika fängt sie noch mal von vorn an, hat auch da gegen Vorurteile anzukämpfen. 1978 verstirbt sie in New Canaan, Connecticut. Noch 1977 hatte sie – als 98-Jährige! – ein Forschungsstipendium vom National Endowment for the Humanities erhalten. Auch damit dürfte sie einen Rekord aufgestellt haben.
Schade, dass einer der jüngeren Beiträge zur Mysterienvilla Bieber nur ganz am Rande erwähnt, obwohl er ihren Ansatz fortführt. Der französische Archäologe und Historiker Paul Veyne hat in einem 1998 erschienenen Buch argumentiert, dass das eigentliche Thema des Frieses die Hochzeit aus Sicht der Braut sei. 33 Von dionysischen Mysterien, so Veyne, könne nicht die Rede sein. Allenfalls handele es sich um humoristische Zitate, aber keineswegs um ernst zu nehmende Hinweise auf Mysterienkulte. Der Korb mit dem verborgenen Gegenstand auf der Ostwand sei der einzig sichere Hinweis auf dionysische Mysterien im ganzen Fries. Abgebildet ist das Getreidesieb, liknon auf Griechisch, in dem ein Phallus versteckt war. Beim Ritus spielten diese beiden Gegenstände eine zentrale Rolle, die heute nicht mehr genau verständlich ist. Wie dem auch sei – nach Veyne handelt es sich um eine bloße Allegorie: Die Entdeckung des im Sieb versteckten Phallus durch eine junge Frau spiele auf die Entjungferung in der Brautnacht an.
Dionysus sei daher hier nicht in seiner Rolle als Mysteriengott abgebildet, sondern als populärer Schutzherr von Sinnenfreude, Fruchtbarkeit und Wohlstand. Nicht mystische Frömmigkeit spreche aus dem Fries, sondern überquellende Lebensfreude, gemischt mit Doppelsinn und Humor. So verkörperten die Satyrn und Silene, also die spitzohrigen Waldgeister aus dem Gefolge des Dionysus, hier einfach die männlichen Hochzeitsgäste bei Musik und Trank; eine Mänade, die einem Zicklein die Brust gibt, sei als Allegorie einer zur Hochzeit geladenen Mutter zu verstehen, die ihren Säugling dabeihat.
Was erst einmal befremdlich anmuten mag, macht Veyne Punkt für Punkt an Vergleichsbeispielen aus der antiken Welt deutlich. Besonders wichtig ist ihm der Vergleich des Mysterienfrieses mit einem Fresko, das in den Vatikanischen Museen aufbewahrt wird, bekannt als »Aldobrandinische Hochzeit«.
Die Parallelen, die Veyne aufdeckt, reichen bis in unscheinbare Details: So weist er beispielsweise auf eine Schreibtafel hin, die in sonderbar aufrechter Position auf der Armlehne des Sessels der »Matrone« steht, der rechts der Tür abgebildeten Mutter der Braut. Dabei handelt es sich nach Veyne um den Ehevertrag. Eine ähnliche Tafel findet man auf dem Fresko in den Vatikanischen Museen. In Pompeji wurden etliche solche Tafeln gefunden, sie haben sich wundersamerweise erhalten, obwohl sie aus Holz sind. Die meisten von ihnen enthielten Pacht- und Kaufverträge, in manchen Fällen handelte es sich auch um Schuldscheine.
Paul Veyne präsentiert seine detailreich untermauerte These als »ketzerisch«. In Wirklichkeit spitzt er zu, was Margarete Bieber schon 1928 vorschlug: keine Mysterien, sondern einfach eine originelle, streckenweise in humorvolle Allegorien verpackte Darstellung einer Hochzeit – aus Sicht der Braut, aber gemalt von Männern für Männer. Die lachten vielleicht über die erschrockene Jungfrau angesichts des Penis im Getreidesieb unterm Tuch – für den antiken Humor waren solche Machospäße nicht untypisch.
Die Villa, so Veyne, müsste daher nicht Mysterienvilla heißen, sondern besser »Hochzeitsvilla«. Überhaupt, die Sache mit den Mysterien. Veyne widmet ihnen ein eigenes Kapitel in seinem Buch – nur um zu zeigen, dass sie keine nennenswerte Rolle spielten. Mysterien hätten wenig oder nichts mit Orgien, Philosophie oder Spiritualität zu tun. Vor allem aber: Die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, die oft als Parallele zur christlichen Religion aufgefasst wird, werde völlig überbewertet. Es handle sich dabei nur um einen eher nebensächlichen Aspekt. Daher, urteilt Veyne, waren die Mysterienkulte »auch keine Vorwegnahme des Christentums mit seinen ›Mysterien‹ und seiner ganz eigenen Religiosität, es sei denn, man unterstellt, dass beim Thema ›Mystik‹ alles ein und dasselbe ist«. 34
Da wären wir also wieder beim Korsen in Paris und Gabriellas Einwand. Geht, wer hier Mysterien sieht, möglicherweise abendländisch-christlicher Vorprägung auf den Leim?
Ich würde erstens erwidern, dass die Rolle des Todes in den antiken Mysterienkulten nur scheinbar nebensächlich ist. Sicher – nicht immer ist vom Tod die Rede. Aber im Grunde dreht sich alles um ihn. Dionysus ist laut mystischer Tradition der Gott, der zerfleischt, gegessen und wiedererweckt wird. Das Mysterium des Lebens erwächst aus seiner Endlichkeit – und aus der Möglichkeit, sie zu überwinden.
Zweitens würde ich den Spieß argumentativ umdrehen und fragen: Ist der Versuch von Veyne und anderen, Christentum und Mysterienkulte säuberlich zu trennen, um nur ja keine Parallele zwischen den beiden zuzulassen, unbewusst nicht viel christlicher als die angeblich christlich geprägte Interpretation des Frieses als Mysteriendarstellung? Lässt sich dieser Versuch, das Christentum als eine Spezialreligion zu präsentieren, die rein gar nichts mit anderen zeitgleichen Mysterienkulten gemein hat, nicht in eine Tradition stellen, die stets darauf bedacht war, die christliche Religion als etwas Einzigartiges und außerhalb der Geschichte Stehendes darzustellen? Sie damit loszulösen aus dem Kontext der Geschichte des antiken Mittelmeerraums und ihr die universalgeschichtliche, globale Bedeutung zu verleihen, die sie als absolute, göttliche Wahrheit für sich beansprucht?
Dass die Botschaft Jesu etwas mit dionysischen Orgien oder der heilspendenden Isis zu tun haben soll, hört mancher Kirchgänger vielleicht nicht gern. Und auch Paul Veyne ist bei seiner harschen Ablehnung jeder Analogie zwischen Christentum und Mysterienkulten vielleicht unbewusst einem Impuls aus seiner Kindheit im katholischen Aix-en-Provence gefolgt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe Paul Veyne nicht persönlich kennengelernt und habe keinen objektiven Grund, so etwas zu vermuten – nur die Frage nach dem eigenen Antrieb veranlasst mich zu solchen Spekulationen (denn um nichts anderes handelt es sich) … und der Verdacht, dass auch andere nicht ohne Motor unter der Haube durchs wissenschaftliche Leben fahren.
Einen dezenten Hinweis auf seinen Motor gibt Veyne übrigens in einer Kapitelüberschrift: »Ein dionysischer Sommertagstraum«. Hinter der wissenschaftlich korrekten Haube aus all den Argumenten und Daten dringt hier der Sound des Motors durch. Paul Veynes Buch zu lesen, bedeutete für mich, den Mysterienfries einmal nicht als mystisches Trauerspiel, sondern als Shakespeare’sche Komödie zu verstehen. Oder noch besser: ihn zu betrachten und dabei als Hintergrundmusik nicht schicksalsschwere Klänge zu hören (sagen wir: Brahms’ »Deutsches Requiem«), sondern Mendelssohns Vertonung von Shakespeares Sommernachtstraum . Auch hier weiß ich nicht, inwieweit mein Eindruck sich mit den persönlichen Beweggründen des Autors deckt. Jedenfalls hat mich Veynes Buch angesteckt, gewissermaßen meinen wissenschaftlichen Motor angekurbelt: Ich habe es in zwei Tagen verschlungen. Das heißt nicht, dass mich alle seine Argumente überzeugen, im Gegenteil, in etlichen Punkten bin ich anderer Meinung. Aber der Mann kann fahren, und als Leser fährt man gerne eine Runde mit.
Das Gleiche gilt allerdings für einen seiner Landsleute, den Archäologen Gilles Sauron, der im selben Jahr – 1998 – ein Buch zum Mysterienfries veröffentlicht hat, das ins andere Extrem ausschlägt. 35 Sauron zieht noch mal alle Register, um der mystischen Interpretation des Frieses Geltung zu verschaffen. Sein Buch erschien kurz nach dem von Veyne, und man kann die beiden Texte als eine Art Dialog oder Streitgespräch lesen. Oder als ein Konzert, in dem Brahms und Mendelssohn gespielt werden – man kann einen der beiden mehr schätzen, ohne den anderen zu verachten.
So ist es auch in der Archäologie. Unsere Deutungen sind Annäherungsversuche an eine komplexe Realität, die längst vergangen ist. Sich dogmatisch auf eine Lesart zu versteifen, ist das Falscheste, was man tun kann. Denn Sauron untermauert seine These mit nicht weniger detailreichen und ausgefeilten Argumenten, als Veyne es tut. Ein Beispiel aus vielen: Das Paar im Zentrum der Nordwand, gewöhnlich als Dionysus und Ariadne interpretiert, deutet Sauron als Dionysus und Selene, die Mutter des Gottes. Das macht er unter anderem daran fest, dass die weibliche Gestalt genau in der Mittelachse der Wand thront, während Dionysus buchstäblich »unter ihr« steht bzw. liegt. Ein solcherart ins Bild gesetztes hierarchisches Verhältnis, so Sauron, passe nicht zum Liebespaar Dionysus/Ariadne, wohl aber zur Darstellung einer Mutter mit ihrem Sohn. Und wenn man genau hinguckt, beobachtet er, so kann man sehen, dass kurz unter der Lücke, durch die leider der obere Teil von Selene/Ariadne verloren gegangen ist, die Hand der Thronenden zu sehen ist, wie sie einen Stoffzipfel umklammert. Diese Geste, wie Sauron anhand von Vergleichen zeigt, ist typisch für mütterliche Figuren, sogenannte Matronen, die auf diese Weise sicherstellen, dass ihr Schleier nicht wegflattert.
Wie jetzt also? Ist die Archäologie mehr als hundert Jahre nach Entdeckung des Frieses immer noch nicht in der Lage, eine klare Antwort zu geben? Nein, ist sie nicht. Vielleicht werden zukünftige Entdeckungen ähnlicher Bildwerke uns Klarheit verschaffen, vielleicht wird die Diskussion auch noch hundert Jahre andauern.
Das bedeutet nicht, dass wir den Anspruch auf Objektivität aufgeben. Aber Objektivität ist, zumindest in den historischen Wissenschaften, niemals das Privileg eines Einzelnen: Sie entsteht vielmehr aus dem abwägenden Gespräch, aus dem Hin und Her der Argumente, aus wissenschaftlichen Duellen wie dem zwischen Veyne und Sauron, bei denen sich niemand ernstlich wehtut, aber alle eine Menge dazulernen.
Und hinter alldem brummen die Motoren, die jede und jeden von uns antreiben, uns auch ins Getümmel zu stürzen und mitzustreiten. Aus meiner eigenen Erfahrung will ich es mal so ausdrücken: Am Anfang eines wissenschaftlichen Buches oder Artikels steht oft so eine blitzartige Intuition, wie sie Paul Veyne vielleicht mal beim Anblick des Mysterienfrieses hatte: Was, wenn wir das alles mal mit Mendelssohns Sommernachtstraum unterlegen? Die Argumente kommen danach. Achtung: Das heißt nicht, dass man sich als Wissenschaftler*in vom Gefühl leiten lassen darf. Nicht leiten lassen, aber tragen, das ja. Wenn dann die Argumente in eine andere Richtung weisen, kann man umlenken und sich anderswohin tragen lassen.
Probieren Sie es mal selbst aus, heute geht das dank Smartphone ja ganz einfach: Stellen Sie sich in Pompeji vor den Mysterienfries und suchen Sie sich den Soundtrack aus, der für Sie am besten dazupasst. Brahms, Mendelssohn, Bach, Mozart … oder Thelonius Monk, Pink Floyd, Bob Marley, Billie Eilish … Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Und wer weiß, vielleicht ist Ihr persönlicher Soundtrack ja Grundstein einer neuen Lesart des Frieses – die dann natürlich argumentativ auszutesten wäre.