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Nietzsche

Entblößung ist keine feststehende, eher die am meisten geschichtliche Form der Feststellung – oder besser, der Darstellung – von wahren Sachverhalten.

Einer der geschichtlichen Prozesse, von denen dabei Aufschlüsse erwartet werden können, ist der der Überbietung physischer durch psychische Entblößung; auch der Fremdentblößung durch Selbstentblößung. Um sich das klar zu machen, muß man auf die Bescheinigungen von Kühnheit achten, mit denen einschlägige Akte und deren Beschreibung auftreten.

Für Nietzsche war noch die französische Moralistik so etwas wie die Bestimmungsmacht für die Rücksichtslosigkeit psychischer Entschleierung. Wo er den Namen La Rochefoucauld als eines Meister[s] der Seelenprüfung nennt, scheint er den Eindruck einer äußersten Zumutung von Durchblick bis in den psychischen Hintergrund ohne jede Gène zu haben. Angesichts dessen kommen ihm die Zweifel: Bedenken, ob psychologische Beobachtung dieses Grades wirklich zu den Erleichterungsmitteln des Daseins, ja auch nur zum reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhaltung gehören kann.[1] Abzuwägen ist dagegen das Recht des Widerwillens gegen die Zergliederung menschlicher Handlungen, das Recht auf eine Art Schamhaftigkeit in Hinsicht auf die Nacktheit der Seele.[2] Sie fordert Respekt, sofern man nicht in verächtlicher Abwendung von allem guten Glauben an den Menschen, verkörpert durch Rousseau als den Gegenspieler der Moralistik, der Erzeugung eines mehr oder weniger gesunden Mißtrauens in die menschliche Natur im allgemeinen und im besonderen den Vorzug geben zu müssen glaubt.

Der psychologische Irrtum, der in der Bewunderung der Helden Plutarchs vorherrschen mag, habe zwar nicht die Wahrheit, aber vielleicht den Nutzen für die Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft auf seiner Seite. Der Zuschauer der psychologischen Szene – mit ihren Mißachtungen eines bis ins Heuchlerische reichenden Selbstschutzes – ist nicht ganz unähnlich dem Zuschauer 8des Kunstwerks, dem die schöne Lüge jedes Recht gegen die reinste Wahrheit haben zu können nachgesagt wird. Solche Leute wie jene französischen Meister der Seelenprüfung, die in der Tugend nichts anderes sehen als das von den Leidenschaften vorgeschobene Trugbild, in dessen Namen man ungestraft tun zu können meint, was man ohnehin will, feiern ein Schützenfest, bei dem nur ins Schwarze getroffen wird – aber in’s Schwarze der menschlichen Natur.[3]

Auf alles dieses folgt ein trotziges Trotzdem. Der Menschheit wird damit auferlegt, die Peinlichkeiten der psychologischen Sektion an sich zu erdulden wie an anderen ansehen zu müssen, aber Nietzsche hat sich doch zuvor die Rechtsposition jenes Zuschauers genau genug angesehen, um seinen Leser den Vorbehalt nicht vergessen zu lassen, es sei die menschliche Natur, in deren Zentrum getroffen und seziert würde, um nur endlich mit der Axt an die Wurzel ihrer metaphysischen Bedürfnisse zu kommen: … endlich verwünscht vielleicht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Menschen zu pflanzen scheint.[4]

Die Gefährlichkeit des Weges, der mit der moralistischen und dann der psychologischen Hintergrundbefragung des Menschen beschritten wird, ist von Nietzsche in einem einzigen Satz beschrieben worden, der bei jeder Art von anthropologisch einschlägiger Philosophie wieder zu Rate gezogen werden sollte: So macht man der Reihe nach den Menschen für seine Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und endlich für sein Wesen verantwortlich.[5]

Will man sich die Zwiespältigkeit in Nietzsches Einstellung zur psychologischen Rücksichtslosigkeit der Entblößung, mehr als ein Jahrhundert später, vergegenwärtigen, tut ein Blick auf Sigmund Freud das Seinige. Man darf dabei vergessen, daß Freud Nietzsche gelesen, aber diese Lektüre in Besorgnis um die Unvorgedachtheit des Eigenen eingestellt hatte – wo und nach wieviel, bleibt ungewiß. Darum geht es nicht, sondern um den Vergleich der Legitimationen.

Für Nietzsche ist es schwierig genug, den psychologischen Zu9griff mit dem Interesse der Wahrheit oder dem an der Wahrheit zu begründen. Ihm muß der Verdacht genügen, die Verschonung vor dem Rigorismus der Erkenntnis habe etwas mit der Verwahrung gegen den Abbau einer Metaphysik zu tun, die insgesamt nur die Funktion einer Abschirmung der Sonderstellung des Menschen in der Welt und unter dem Patronat seines Gottes hatte. Anders mochte man nicht an das Sanctuarium dieser Metaphysik herankommen als durch schonungslose Verkleinerung, durch Entrousseauisierung des Menschen. Mit diesem Mißtrauen, mit diesem Verdacht ließ sich nicht viel an Menschenunfreundlichkeit rechtfertigen.

Ganz anders bei Freud, der den großen Schutzschild der Therapie vor die Neugierde seiner Theorie hält. Freilich nicht ohne häufige Durchlässigkeiten für den skeptischen Blick dessen, der dem geborenen Theoretiker bei seinen Langzeitexpeditionen ins Innere den therapeutischen Eros nicht recht zubilligen mag. Aber diese Schutzvorrichtung war immerhin so leistungssicher, daß Aussagen von einer Zumutungsintensität abgedeckt wurden, die bei Nietzsche gar nichts Vergleichbares hat und haben kann, ihn in den milden Schein der Harmlosigkeit entrückt. Die therapeutische Funktion war das Vehikel einer theoretischen Entblößung des Menschen ohnegleichen, machte ihn hilflos gegen die Kränkung jedes Selbstbehauptungswillens seines Ranges in der Welt und gegen die Zerstörung der etwa damit gekoppelten Metaphysik.

Man wird drei Hauptgebiete unterscheiden können, auf denen die metaphorische Grundannahme der Einkleidung, Verhüllung und Verkleidung zu der Möglichkeit der entsprechend destruktiven Verhaltensweise hinleitet, solche Behinderungen des Zugangs, Einblicks und Zugriffs wegzuschaffen und das jeweils Verbleibende als Entblößung, Unverstellung, Aufrichtigkeit, schließlich Wahrheit auszugeben. Wahrheit ist dann immer das Negat dessen, was sie zuvor entzogen und verhindert hatte.

Diese drei Gebiete sind: die Kritik an der Rhetorik als einer Einführungsform, deren die Wahrheit bedarf, oder einer Verhüllungsform, deren sich die Unwahrheit bedient; die Aufklärung als Abbau aller Arten von Vorurteilen im weitesten Sinne, die sich der Geist geschaffen hatte, um zu der Annehmlichkeit einer günstigen Ansicht von der Stellung des Menschen in der Welt und unter der Obhut wohlgesinnter Götter zu gelangen, oder die durch Suggestion von Personen und Institutionen eingeführt und durchgesetzt 10werden konnten, um Macht über die Gemüter zu erlangen; die Moralistik und Psychologie als Enttarnung der reellen Motive menschlicher Handlungen und Zustände, Durchdringung vordergründiger Wohlanständigkeit und bürgerlicher Reputation.

Was die Leistung der Aufklärung angeht, hat Nietzsche – den man einen Aufklärer wird nennen dürfen – die historische Epoche dieses Namens in ihrem Erfolg und ihren Methoden zurückhaltend beurteilt. Die Aufklärung sei der Bedeutung der Religionen nicht gerecht geworden; daran sei nicht zu zweifeln. Aber ebenso habe die romantische Umkehrung der Religionskritik die Sache nicht getroffen, wenn sie den Religionen das allertiefste Verständnis der Welt zuschrieb, in welchem sich eine Erkenntnis verborgen hätte, die die Wissenschaft nur des dogmatischen Gewandes zu entkleiden habe, um dann in unmythischer Form die »Wahrheit« zu besitzen.[6] Kurz gesagt: die Religion als Allegorie der wissenschaftlichen Wahrheit, herkommend aus einer uralten Weisheit. Daß zu dieser alle moderne Wissenschaft nur wieder zurückkehren müsse und auch könne, sofern sie sich der Norm der Wahrheit füge, eingekleidet in die der Menge der Menschen zugängliche Verständnisform, das sei allerdings nicht die Art von Rücksicht, die in der Kritik an der Aufklärung geltend gemacht werden dürfe. Unzutreffend sei eben, daß es in der Geschichte nicht eine Frage des Besitzes der Wahrheit, sondern eine Sache ihrer Mitteilung und ihrer Annehmlichkeit gewesen wäre, was allein die Unterschiede zwischen der neueren Wissenschaft und der älteren Weisheit in ihren Vorurteilsformen bewirkt habe.

Als Vertreter dieser Auffassung sieht Nietzsche vor allem Schopenhauer, der darin nichts anderes als ein allzu folgsamer Schüler seiner Lehrer gewesen sei, welche allesammt der Romantik huldigten und dem Geiste der Aufklärung abgeschworen hatten.[7] Die philosophische Deutung der Religion als Einkleidungsform einer urtümlichen und tieferen Weisheit über die Welt sei nicht einmal die genuine Selbstdeutung der Religion, sondern deren Selbstverteidigung aus einer Zeit, in welcher sie schon an sich selbst gezweifelt hätte und es nichts als ein Theologenkunststück[8] gewesen sei, sie zur Allegorie einer sonst unverständlichen Wahrheit zu machen.

11Eine Entblößung des verborgenen Sinnes von seinen zeitbedingten Einkleidungen, um zu derselben Wahrheit wie der durch Wissenschaft zugänglichen zu gelangen, kann es also nicht geben. Zwischen Religion und wirklicher Wissenschaft gibt es keine Kontinuität der Beziehung, weder Freundschaft noch Feindschaft: sie leben auf verschiedenen Sternen. Der gegenteilige Eindruck, den bestimmte Philosophien erweckt hätten, die einen religiösen Kometenschweif in die Dunkelheit ihrer letzten Aussichten hinaus erglänzen ließen, mache alles verdächtig, was von ihnen als Wissenschaft ausgegeben werde: es ist diess Alles vermuthlich ebenfalls Religion, wenngleich unter dem Aufputz der Wissenschaft.[9] Hier ist die Umkehrung des Anspruchs der Aufklärung zu erkennen gefordert, den natürlich oder künstlich gewachsenen Vorurteilen zu Leibe zu gehen, um an deren Stelle und auf deren freigelegtem Platz neue Erkenntnisse zu errichten; die nach der Aufklärung entstandenen Philosophien erzeugten künstliche Surrogate jener historischen Gebilde, indem sie statt einer ästhetischen eine theoretische Rhetorik betrieben.

Was der Sache nach immer noch oder wieder Mythos sei, stelle sich in der Ausdrucksweise der Wissenschaft dar und rechtfertige so jene Mythen, die zu dieser Sprache noch keinen Zugang gehabt hatten. Was unter dem Theorem der Säkularisierung als Umwandlung der Religion in Wissenschaft erscheint oder erscheinen soll, ist also für Nietzsche seinem Antrieb nach ein rhetorisches Manöver, das sich eben nur des modischen Aufputzes der Wissenschaft bedient, um immer noch dasselbe wie zuvor an sein Publikum heranzubringen.

Dies mag eine obsolete Thematik sein. Was nicht hinfällig an ihr geworden ist, wäre die Einsicht, daß es eine wissenschaftliche Rhetorik, daß es Wissenschaft als Rhetorik – und nicht nur die erst jüngst aufgeblühte Rhetorik als Wissenschaft – gibt. Sie benutzt das Repertoire der Nacktheit der Wahrheit, wie es sich für Wissenschaft gehören soll, um den Aufputz übersehen zu lassen, in dem sich die alten Metamorphosen der Götter neuerdings darbieten. Es gibt keinen nackten Proteus.

Der Typus des dekuvrierenden Psychologen, den Nietzsche vor Augen hat, ist noch immer der der Moralistik des La Rochefoucauld. Es ist eine Psychologie, die – wie empirisch sie sich immer 12geben mag: als Kunst der Menschenkenntnis – deduktiv aus einem Vernunftbegriff entwickelt ist: dem der Selbsterhaltung. Seine gedachte Grenzaussage wäre: Selbst ein Gott kann nur gut sein, wenn es gut für ihn ist. Wem das als frivole Verhöhnung erscheint, der muß zur Kenntnis nehmen, daß genau dies der Sinn des theologischen Attributs der vollkommenen Selbstgenügsamkeit und Unbedürftigkeit Gottes ist. Die Moralistik hatte nichts anderes getan, als dies, was über das absolute Wesen offen und zu seiner Ehre gesagt werden konnte, als den wahren Hintergedanken bei allem menschlichen Verhalten bloßzustellen. Es ist ein und derselbe Vernunftbegriff, der dort und hier die Deduktionen reguliert; nur die Bewertung der abgeleiteten Prädikate ist dort und hier unterschiedlich. Was Nietzsche als das Motto aller Reflexionen des Moralisten aufnimmt – der Satz La Rochefoucaulds: Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés –, stammt, mit einer winzigen Änderung, von Augustin; man wäre bereit, ihn als Säkularisat einer christlichen Demutsgebärde hinzunehmen. Die kleine Differenz stört jedoch bei dieser Zuordnung, denn bei Augustin war dies kein demütiges Selbstbekenntnis gewesen, sondern der rhetorische Ausdruck des Abscheus vor den Heiden. Von denen hatte der Kirchenvater gesagt, ihre Tugenden seien verkleidete Laster. Wahrheit sollte einmal als der natürliche Zustand der Welt gedacht werden. Sie wurde erkannt und war erkannt worden, bevor sie wurde; also war sie erkennbar. Das hieß ontologische Wahrheit. Sie wurde erkannt und konnte weiter erkannt werden, denn sie war erkennbar; das hieß logische Wahrheit. Jedoch kann das kaum der Wahrheitsbegriff einer Epoche sein, die mit List und Tücke, Gerät und Methode, Arbeit und Lebensopfer begonnen hatte, der Natur einiges an Erkenntnis zu entreißen, mit der allmählich aufdämmernden Einsicht, daß jede dieser Erkenntnisse das Bedürfnis nach weiteren Erkenntnissen nach sich zog. Wahrheit war nicht mehr die natürlichste Sache von der Welt, sondern geradezu deren Gegenteil: die reine Unnatürlichkeit. Was für die Natur im allgemeinen gilt, gilt auch für den Menschen. Er ist der hinterhältigste Repräsentant dessen, was es mit dem Ganzen auf sich hat. Nicht mehr nur von ihm kommt die List, eine verschlossene und träge Natur bis in ihre Hintergründe aufzubrechen, sondern die List kommt von dem her, was sich ihm vorenthält. Sogar er selbst sich selbst. Daß Bewußtsein nur eine Oberfläche – eine schillernde noch dazu – ist, 13verdanken wir zu wissen nicht erst Freud; wenn dies zu wissen etwas Dankenswertes sein sollte.

Die Spannweite der Aussagen Nietzsches über die entblößte, ihres Schmucks beraubte Wahrheit erscheint zunächst groß, reduziert sich dann aber auf einen Tenor, der schon die Erwartungen des Jahrhunderts der Aufklärung auf die bloße Wahrheit als Zweifel oder als Selbstbewußtsein der Stärke begleitet hatte: den Begriff der Erträglichkeit. Läßt sich die Wahrheit ertragen? Oder ist sie gar dazu da, uns – nach einem erst von Max Weber ausgesprochenen Postulat – erfahren zu lassen, was wir aushalten können? Bei Nietzsche ist die Thematik überwiegend ästhetisch gefaßt: Die Wahrheit ist häßlich – weshalb sollten wir sie ertragen, wenn es die Kunst gibt? Diese allerdings ist durch die ihr dadurch zugewiesene Funktion, der Häßlichkeit der Wahrheit zugunsten des Genießbaren entfliehen zu lassen, zugleich schon auf den negativen Wahrheitswert der Lüge verwiesen.

In einer kleinen Aufzeichnung über die Ethik Schopenhauers und den ihr gemachten Vorwurf des Mangels imperativer Form schreibt Nietzsche: Das ›allgemeine Wohl‹ ist nicht die Sphäre der Wahrheit; denn die Wahrheit verlangt gesagt zu werden, auch wenn sie hässlich und unethisch ist.[10] Daß sie es überhaupt sein kann, daß die hervortretende Wahrheit nicht das Wohlgefallen und die ethische Zustimmung finden könnte, ist schon hier eine fraglose Voraussetzung. Ist das nur angelernter Pessimismus oder hat es mit Erfahrungen des jungen Philologen zu tun, der in diesem Jahr 1868 an seiner Dissertation arbeitet? Es hat, wie ich meine, mit der Enttäuschung des zunächst begeisterten Philologen zu tun, der in einem Brief vom Frühjahr 1867 beanstandet, daß es seiner Disziplin an der erhebenden Gesammtanschauung des Althertums fehle, und der ganz unbefangen den Anspruch auf Genuß an dem erkennen läßt, was Resultat einer längst als Arbeit erkannten Bemühung sein soll: Wann, frage ich, haben wir doch einmal jenen reinen Genuß unsrer Alterthumsstudien, von dem wir leider oft genug reden. … überhaupt [ist] unsere ganze Art zu arbeiten entsetzlich.[11] Die 100 Bücher, die vor ihm auf dem Tisch ständen, erscheinen ihm als Repräsentanten eines Faches, dessen Vertreter ebenjenen Genuß verhindern, den 14ihnen ihr durchaus als ästhetisch aufgefaßter und metaphorisch vorgestellter Gegenstand gewähren müßte, aber nicht gewährt, weil sie sich zu nahe vor das Bild stellen und einen Oelfleck untersuchen anstatt die großen und kühnen Züge des ganzen Gemäldes zu bewundern und – was mehr ist – zu genießen.[12] Dies also die Erwartung, mit der Nietzsche an seinen Lebensplan eines wissenschaftlichen Berufes herantritt.

Diesem frühen Satz entspricht eine etwa zwei Jahrzehnte spätere Aufzeichnung, die man einmal dem Entwurf von 1887 eines »Willens zur Macht« zugeordnet hatte. Inzwischen ist, was Anlaß zu Schopenhauers Pessimismus gegeben hatte, das Erprobungsfeld des Menschen als des Stärkeren geworden. Als solcher erweist er sich zumal in der Kunst: Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist selbst schon ein Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht … Den Einwand mit dem neuen Realismus der Goncourts und Zolas wendet Nietzsche zur Bestätigung seiner These: Die Dinge sind hässlich, die sie zeigen: aber dass sie dieselben zeigen, ist aus Lust an diesem Hässlichen[13] Mochte man für den jungen Nietzsche noch daran zweifeln, sein Unwille richte sich gegen die alte Verbindung der Transzendentalien des Wahren, Guten und Schönen, so ist die Unerträglichkeit der Wahrheit in der Spätzeit zum Kriterium dafür geworden, daß die Philosophie solchem nicht ausweiche und sich an die Kunst als Beweis dafür halte, wie man mit dem Befund der Häßlichkeit der Wahrheit fertig werde: An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen ›das Gute und das Schöne sind Eins‹; fügt er gar noch hinzu ›auch das Wahre‹, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist hässlich. Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn.[14]

Ein Weg ist zu Ende gegangen, nicht nur der Nietzsches: Der vormalige Schmuck der Wahrheit, der ornatus vere dicendi, hat sich unter dem Titel »Die Kunst« verselbständigt und beweist diese Autonomie gerade und am schärfsten dadurch, daß er sich zur Gegenoption der Wahrheit hypostasiert. Das bedeutet nun, daß die Wahrheit trotz ihrer Häßlichkeit nicht mehr zugedeckt zu werden braucht. Etwas anderes ist geschehen: eine Änderung der Optik, 15ein Blickwechsel. Die Wahrheit wird übersehen, weil die Aufmerksamkeit von etwas in Anspruch genommen ist, was sich als nicht nur abendfüllend erwiesen hat: dem Gesamtkunstwerk. Zwar ist sein genießender Zuschauer noch nicht der Übermensch, aber daß er unter Mißachtung der Realität der genußfreudige Zuschauer dieser Kunst sein kann, ist der stärkste, wenn nicht einzige Beweis dafür, daß er auch der Übermensch sein könnte.

Insofern stammen alle ästhetischen Theorien, die im Kunstwerk so etwas wie das Vorerlebnis eines endgültigen Menschheitszustandes erkennen lassen wollen, von Nietzsche ab. Auch wenn sie die nackte Wahrheit eines Tages als schön geworden unterstellen wollen, um ihre Pflicht zum Realismus nicht zu vernachlässigen.

Die Kunst, die das Leben trotz der Häßlichkeit der Wahrheit zu bejahen Anlaß gibt, ist als autonome Kunst die letzte metaphysische Realität am Ende der Metaphysik. Sie ist nicht mehr die Verschleierung des Unerträglichen. Darin nimmt sie etwas vorweg, was es noch nicht gibt. Aber das, was es gibt, muß es doch auch geben können als Bedingung der Erreichbarkeit eines anderen. Nietzsches Kulturtheorie macht seine Kulturkritik tragbar. Man übertreibt nicht zu sagen, das eine sei schon im Hinblick auf das andere konzipiert. Mannigfaltige Formen der Verschleierung sind die Grundlage aller Kultur, eben einer Kultur, die auf eine vorläufige Form des Menschen bezogen ist, noch nicht fähig zu letzter Härte.

Die Welt der Artefakte läßt die blanke Not, die hinter ihrer Erfindung ursprünglich steckt, nicht in Erscheinung treten und macht daraus ein Spielen mit dem Ernste.[15] Die Auffassung der Kultur als einer Schutzvorrichtung des Menschen vor sich selbst ist der neuzeitlichen Staatstheorie und ihrem Vernunftbegriff der Selbsterhaltung nachgebildet. Darin liegt auch der Ursprung des Gedankens der Sublimierung: Verfeinerung ist nur die Vermeidung der Metapher der Verkleidung. Bei Nietzsche heißt es: Jede Art von Cultur beginnt damit, dass eine Menge von Dingen verschleiert werden.[16]

Diese Schutzvorrichtung des Menschen vor sich selbst ist ihrer16seits schutzbedürftig. Ihre Bedrohung, ihre Feindin ist die Wahrheit, vor allem natürlich die Wahrheit über sie selbst. Diese Wahrheit wird von der Erkenntnis, von der Wissenschaft produziert. Und die härteste aller Fragen, die hier entsteht, ist die, ob es erlaubt sei, der Wahrheit die Menschheit zu opfern. Ohne Unwahrheit gibt es weder Gesellschaft noch Kultur, und deren Schutz liegt im Begriff der verbotenen Wahrheit.[17] Für diese verwendet Nietzsche erneut – nämlich zur Verdeutlichung dessen, daß es sich um einen Schutz des Schutzes handelt – die Metapher der Verkleidung: Verboten ist die Wahrheit, die das antastet, was jenen Schutz der Kultur sanktioniert, das also, was gerade die eudämonistische Lüge verhüllt und maskirt.[18] Die kulturelle Verhüllung bedarf der Verhüllung; als nackte Verhüllung wäre sie der Enthüllung preisgegeben. Eine Kultur, einmal so gesehen, ist ein Zwiebelschalensystem.

Nietzsches Dilemma ist, daß alles, was er hier sagt, immer zugleich das trifft, was er sagt: Es ist seine eigene Gleichgültigkeit gegen den Bestand der Welt, in der er lebt, zugunsten einer unbekannten Welt, in der er nicht mehr zu leben braucht.

Wahrheitsstreben hat einen destruktiven Zug, ist vergleichbar dem, was bei Freud sehr viel später Todestrieb heißen wird: Wahrheit tödtet – ja tödtet sich selbst (insofern sie erkennt, dass ihr Fundament der Irrthum ist).[19] Erkenntnis zerstört die Voraussetzungen, unter denen sie selbst betrieben werden kann; insofern ist sie immer reflexiv. Der Konflikt zwischen Selbsterhaltung und Wahrheitsstreben ist ausdrücklich als tragisch bezeichnet. Schon in der »Geburt der Tragödie« hatte Nietzsche die eine der Voraussetzungen von Selbsterhaltung, die Handlungsfähigkeit, vor Augen, wenn er sagt: Die Erkenntnis tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch IIlusion[20]

Sie ›macht‹ dies durchaus noch auf der Linie eines als dionysisch benannten Pessimismus: Erkenntnis bedeutet, die Unbetroffenheit und Unwandelbarkeit der Dinge durch die Handlung zu erfassen, die Lächerlichkeit oder Schmach der Zumutung, an der Welt etwas tun zu sollen. Da liegt die Ähnlichkeit des dionysischen Menschen 17mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln [21] Der Kern der Tragödie ist, daß die tiefste Einsicht, die sie enthält, ihrer Wirkung nach selbst tragisch ist: die rücksichtsloseste Aussage gegenüber dem Menschen, die es gibt und geben kann, ist die in der Tragödie als Zitat des Bakchylides ausgesprochene Erkenntnis, es wäre für den Menschen besser, nicht geboren zu sein. Daß dies ausgesprochen werden kann, eröffnet erst den tragischen Konflikt einer Enthüllung: Verleitung zur Seinsresignation, zum Lebensverzicht. Auch zum Verzicht, so etwas zu denken, was hier noch nicht gedacht wird: den Übermenschen. Er wird die Antwort auf das Kernstück der Tragödie sein; nicht nur der Typus, der jene Wahrheit über den Menschen aushält, sondern der, dem sie gleichgültig ist – und wieder zuerst durch die Kunst.

Damit ist das Schema vorgegeben, das sich für Erkenntnis im strikten und neuzeitlichen Sinne nur wiederholt: für die Wissenschaft. Vielleicht die wichtigste Voraussetzung für Nietzsches Bewertung der wissenschaftlichen Erkenntnis ist sein im Hintergrund gehaltenes Axiom, daß wir verachten, was wir durchschauen. Die Enthüllung führt nicht in die Tiefe der Dinge, sondern nur an eine andere Oberfläche, die für das Letzte genommen wird, weil sie zugleich den Weg zu Weiterem versperrt. Die nackte Wahrheit enttäuscht. Weil sie nackt ist, hat sie keine Ausrede und keinen Vorbehalt mehr an dem, was sie noch verbergen könnte. Die wissenschaftliche Erklärung, ans Ziel gekommen, bestimmt sich immer wieder durch diese metaphorische Situation: Wir verachten alles, was sich erklären lässt. Irgend eine Dummheit hat sich überraschen lassen und stand nackend da vor ihrem Erklärer.[22] Eine Artemis – wie wird sie ihren Jäger Aktaion strafen?

Eng damit hängt ein weiterer Aspekt zusammen: die Nichtigkeit des Wahrheitsbesitzes. Sie steht vor allem unter dem Stichwort der Langeweile. Wieder in der Metaphorik der Entblößungen: Durchschauen durch das vergängliche Netz und den letzten Schleier – das wäre die grosse Müdigkeit und aller Schaffenden Ende.[23] Der Antagonismus zwischen Wahrheit und Kunst besteht in 18der Vermeintlichkeit der Befriedigung der theoretischen Wünsche, die aufs Durchschauen gerichtet waren. Zur Verachtung tritt die Ermattung.

Es gibt keine Liebe zur Wahrheit. Was in ihr gemeint und erwartet war, erweist sich nur als so etwas wie der behindernde Ersatz für ein phantastisches Verhältnis zur Welt, also sowohl für die Metapher als auch für die Kunst: Kalt auf die Dinge sehen, so dass sie nackt und ohne Flaum und Farbe daliegen – das nennt sich ›Liebe zur Wahrheit‹, und ist nur die Ohnmacht zu lügen.[24]

Der Student Nietzsche geht zuerst mit ruchlosen Gedanken über die Wissenschaft um, an deren Pflanzstätte er sich aufhält. 1867 notiert er sich Sätze von dieser Art: Die Wissenschaft hat etwas Todtes.[25] Die Griechen, ein von ihm für gesund erklärtes Volk, hätten Wissenschaft nur in geringem Grade gekannt. Auch müsse der Volksführer wissen, daß die Masse mit diesem Element nicht zu sehr gedrängt werden dürfe. Er nennt das, Bedürfnisse durch Anschauungen zu zersetzen, statt die Bedürfnisse so umzubilden, daß die Suche nach ihrer Befriedigung der Menge überlassen bleiben kann. Solche Umbildungen seien ohnehin nur mit Maß möglich; beim Branntweintrinker vielleicht die, seinen Sinn auf Bier und Politik zu lenken. Von allen Umbildungen, also auch der religiösen Bedürfnisse in sittliche, der politischen in wohltätige, gilt der Hauptsatz: Aber langsam. Dies alles zielt eher auf rhetorische als auf wissenschaftliche Leistungen. Für die Wissenschaft sei aber immerhin nützlich, ihr ihren ›überaus herrlichen‹ Mantel etwas vom Leibe zu ziehn.[26] Ein erster vorsichtiger Gebrauch der Entblößungsmetapher. Auch auf ihn darf die im Zusammenhang stehende Vorschrift der Langsamkeit bezogen werden.

Ein erstaunlich konsistenter Zug an Nietzsches Fortbildung der Metapher ist, daß er die Aufmerksamkeit von der durch Entblößung bewirkten Nacktheit ablenkt auf die Hüllen, die dabei gefallen sind. Um zu begreifen, was eine Welt ohne Wissenschaft, eine Welt vor der Theorie ist und sein kann, muß man sie ohne den Schatten des Sokrates denken. Es ist eine Welt mit dem Recht auf Verkleidung, mythologisch gesprochen: auf Metamorphose. Insofern sind die Griechen das Gegenstück zu allen Arten von Reali19sten, die in aller Verhüllung nur die Provokation zur Entblößung, in allem Äußeren nur den Leitfaden zum Inneren, in allem Vordergründigen nur die Anweisung zum Hintergrund sehen. Und darin erkennen wir uns zweifellos wieder. Für die Griechen vor Sokrates war, folgt man Nietzsche, die ganze Natur gleichsam nur Verkleidung, Maskerade, eben Metamorphose des immer Menschengestaltigen, gleichgültig ob Menschlichen oder Göttlichen, gewesen. Wenn aber der Mensch selbst der Kern der Verhüllung ist, in der er sich unendlich vielfältig darstellt und verausgabt, entfällt das Motiv, in dem Satz, alles sei Metamorphose, noch eine Herausforderung zur allseits beliebt gewordenen Entlarvung zu sehen. Die Griechen haben in ihrer Mythologie die ganze Natur in Griechen aufgelöst … Der Gegensatz von Wahrheit und Erscheinung war tief in ihnen. Alles Metamorphosen.[27] Es ist der Einfluß des Sokrates, der sich gleich einem in der Abendsonne immer grösser werdenden Schatten über die Nachwelt und in alle Zukunft hinaus ausgebreitet hat und gegen den die Kunst neu geschaffen werden muß, Kunst im bereits metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne.[28]

Um die geschichtliche Urheberschaft des Sokrates für den Untergang der Tragödie auch als datierbare Gleichzeitigkeit festzuhalten, muß der Ursprung der Theorie dem Thales von Milet, der dafür noch kurz zuvor herausgehoben worden war, genommen und dem ebenso schriftlosen Lehrer des Plato und damit Vorvater des Platonismus zugeschrieben werden. Sokrates ist der Typus des theoretischen Menschen und damit der einer vor ihm unerhörten Daseinsform.[29] Die tödliche Rivalität der Theorie mit der Tragödie, allgemeiner: der Wissenschaft mit der Kunst, liegt tief begründet in der Gleichartigkeit dessen, was sie gewähren: ein unendliches Genügen am Vorhandenen. Für Verfahren und Erlebnis bei beiden Antagonisten dient die Metaphorik der Entblößung, um im Ähnlichen die Differenz zu beschwören: Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes Lustziel in dem 20Prozess einer immer glücklichen, durch eigene Kraft gelingenden Enthüllung.[30] Der theoretische Mensch, der Nachsokratiker, enthüllt nicht um der Blöße, sondern um der Hülle willen. Sie ist das Präparat der Wirklichkeit, das ihm bleibt, wenn er diese vergißt: Es gäbe keine Wissenschaft, wenn ihr nur um jene eine nackte Göttin und um nichts Anderes zu thun wäre.[31]

Abstrakt ist das seit langem so ausgesprochen, daß erst der Verzicht auf die Substanz Wissenschaft möglich macht; und das hieß schon immer: Verzicht auf den Anspruch, an Gottes Blick auf die Welt teilzuhaben. Dieser Blick allein ist es, für den die nuda veritas etwas Unüberschreitbares bedeutet. Der Theoretiker wie der Künstler hat es nie mit dem Letzten einer Entblößung zu tun; das ist ihnen gemeinsam. Was sie unterscheidet, ist der Verzicht, der Asketismus des Theoretikers, den Nietzsche im Tragödien-Traktat mit denen vergleicht, die ein Loch gerade durch die Erde graben wollten: von denen ein Jeder einsieht, dass er, bei grösster und lebenslänglicher Anstrengung, nur ein ganz kleines Stück der ungeheuren Tiefe zu durchgraben im Stande sei, welches vor seinen Augen durch die Arbeit des Nächsten wieder überschüttet wird, so dass ein Dritter wohl daran zu thun scheint, wenn er auf eigne Faust eine neue Stelle für seine Bohrversuche wählt.[32]

Die Metaphorik der Entblößung und das Gleichnis der Erddurchbohrung lassen sich einander genau zuordnen. Die Entblößung hat immer ein nächstes Ganzes vor sich, mag es auch seinerseits wieder die Hülle eines nächsten Ganzen sein; während jene Bohrungen im Verhältnis zu ihrem abstrakten Programm der Totalbohrung ein bloßes Nichts bleiben.

Es nimmt sich aus, als hätte Nietzsche Hegels Jenenser Dissertation von 1801 »De Orbitis Planetarum« gelesen. Man müsse zwar anerkennen, schreibt Hegel dort, daß die mathematisch verfahrende Astronomie Newton am meisten verdankt, doch müßten wir auch das physikalische Gewand, mit dem er die mathematischen Berechnungen bekleidet hat, von diesen wieder wegnehmen und müssen es der Philosophie überlassen, zu untersuchen, was an ihm Wahres sei. Eine so metaphorisierende Übersetzung rechtfertigt freilich der lateinische Text der Dissertation nicht; er spricht von der physica 21species, qua mathematicas rationes induit; diese aber sei davon abzutrennen, und es sei von der Philosophie zu untersuchen, quid ei veri insit.[33] Was man bei einem Gewand doch wohl darauf beziehen muß, was nach Abtrennung der Hülle als in dieser enthalten übrig geblieben, nicht darauf, was an dem Gewand selbst an Wahrem geblieben sei.[34]

Die Gegenstellung der Wissenschaft zum asketischen Ideal – repräsentiert in ihrer Teilnahme an der Religionskritik als der Bestreitung der Voraussetzungen christlicher Askese – ist nur scheinbar; in Wirklichkeit stehen Wissenschaft und Askese auf demselben Boden: dem der Ueberschätzung der Wahrheit. Dies macht sie zu Bundesgenossen, so daß der Widerspruch der Wissenschaft nicht das Ideal selbst trifft, sondern nur dessen Aussenwerke, Einkleidung, Maskenspiel.[35] Es gibt daher auch, in umgekehrter Richtung, nur den Widerspruch gegen beides.

So sehr es der historischen Erfahrung widerstrebt – die Wissenschaft, die jahrhundertelang die Last der Religionskritik getragen hatte, muß nun genau wie das, was sie kritisiert hatte, getroffen werden. Denn ihre Kritik war nur auf das Symptom gerichtet gewesen. Die Gemeinsamkeit letzter Voraussetzungen verhinderte, an den Kern der Sache heranzugehen. Dann aber wird ein Platz frei gemacht für eine Instanz, die dem Stoß ins Innere der Weltverzichte seine Energie und sein Recht verschaffen könnte. Fast zwangsläufig ist das Resultat: Da es die Wissenschaft nicht mehr sein kann, die den Weltglauben verteidigt, muß es die Kunst werden, weil es sonst nichts anderes werden kann: die Kunst, in der gerade die Lüge sich heiligt, der Wille zur Täuschung das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft [36] Plato habe das gewußt, als er sich gegen Homer stellte; das zeichnet ihn aus als den größten Kunstfeind, den Europa bisher hervorgebracht habe.

22Dies ist eine der wichtigsten, die überraschendste Wendung, die der europäischen Aufklärung überhaupt noch gegeben werden konnte: Fortan wird sie nicht mehr von der Wissenschaft getragen, sondern von der Kunst, und dies vor allem oder gar nur, weil sie es ist, die das gute Gewissen verschaffen kann, an dessen Mangel zu einem guten Teil die historische Aufklärung gescheitert war.

Die Differenz illustriert sich an der Metapher: Die Wissenschaft hatte sich bei ihrer Kritik an Einkleidung und Maske eben in der Verhüllung verfangen – etwa aus Unerfahrenheit mit solcher Travestie? Folgt man dieser Zusatzannahme, dann ist es die uralte Fähigkeit zur List, die die Kunst zurückgewinnt. Sie verbindet den Willen zur Täuschung mit dem guten Gewissen, das man braucht, um sich dieser Gegnerschaft gewachsen zu zeigen. Wieder ist Nietzsche, im Unter- oder Hintergrund, verschworen mit dem Urfeind des christlichen Realismus, dem gnostischen Doketismus, der den Gott und seinen Gegenspieler, den Heilsbringer und den Verführer, letztlich mit denselben Mitteln arbeiten läßt, einander zu überspielen. Damit ist auch für die Geläufigkeit im Gebrauch der Metaphorik der Einkleidung und des Maskenspiels der letzte Bezugsgrund berührt. Nietzsches Sicherheit im Aufspüren dessen, was dem Christentum wirklich zuwider wäre, ist seine Vertrautheit mit dem, was dessen Realismus – entstanden aus der Negation seiner Häresien – aufgebaut hatte.

Wie der Doketismus aller Spielarten sich die Einschleichung des Soter in den Kosmos vorgestellt hatte, so stellt Nietzsche sich das Eindringen des Gegentypus in die Welt der Weltverneinung vor unter der Metapher der Verkleidung – der Verkleidung in die vertrauten Figuren ebenjener Weltabwendung: Die Contemplation ist in vermummter Gestalt, in einem zweideutigen Ansehn, mit einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten Kopfe zuerst auf der Erde erschienen: daran ist kein Zweifel … der philosophische Geist hat sich zunächst immer in die früher festgestellten Typen des contemplativen Menschen verkleiden und verpuppen müssen, als Priester, Zauberer, Wahrsager, überhaupt als religiöser Mensch, um in irgend einem Maasse auch nur möglich zu sein: das asketische Ideal hat lange Zeit dem Philosophen als Erscheinungsform, als Existenz-Voraussetzung gedient[37]

23Damit rückt die ganze Geschichte der Philosophie in den überraschendsten Verdacht, Vorspiegelung und Vorspielung dessen zu sein, was ihre Intention, am Ende herauszutreten, unerkannt und unerkennbar bleiben ließ: insofern nämlich die längste Zeit Philosophie auf Erden gar nicht möglich gewesen wäre ohne eine asketische Hülle und Einkleidung, ohne ein asketisches Selbst-Missverständnis.[38]

Im Hintergrund ist als implizite Metapher der doketistische Christus erkennbar, der vergessen haben mußte, daß er Gottes Sohn war, um glaubwürdig das menschliche Geschick erleiden zu können. Nicht anders die Philosophie; sie wiederholt nicht die Geschichte der Priesterbetruge vor aller Aufklärung, sondern arbeitet emsig daran zu glauben, was sie darstellen soll, um sich eines Tages gegen das wenden zu können, was sie eben nur dargestellt hatte. Die Philosophie ist die verborgene, sich verbergende Wahrheit, die sich gegen die Geschichte, im Fleische wandelnd, schützen muß. So war der nächtlich unter den Sternen wandelnde und derart die Theorie der Sterne begründende Protophilosoph Thales von Milet, der in die Zisterne stürzte, ein verkleideter Heilsbringer der Philosophie, der sich nur im Schutz der Nacht unbedacht zu erkennen gab, weil er sich ungesehen glaubte. Da verhöhnte ihn die thrakische Magd. Ein Fall von Unvorsichtigkeit, fast tödlich schon am Anfang der philosophischen Geschichte.

Die Nähe der Kunst zur alten List des Doketismus – oder auch nur der rhetorischen Einkleidung der vertretenen Sache – gibt dem Eindringen in das Verständnis der Kunst nur das eine seiner Muster vor, das ihre Potenz im Widerstreit gegen den Asketismus von Religion wie Wissenschaft erklärt. Der andere Aspekt ist, daß ebendiese Täuschung ihren trügerischen Einschlag verliert, sobald sich zeigt, daß es gar nichts anderes gibt als das, was zunächst als Lüge erschien. Die Wahrheit ist erlogen. Wäre sie es nicht, gäbe es nichts – außer dem Nichtigen, versteht sich.

Das zweite Buch der »Fröhlichen Wissenschaft« beginnt mit einem Stück, das nach der Überschrift »An die Realisten« gerichtet ist. Sie meinten, vor ihnen allein stehe die Wirklichkeit entschleiert, und sie wären vielleicht der beste Teil davon. Er redet sie an – im ironischen Plural – als die geliebten Bilder von Sais, selbst ihrer Ent24schleierung sicher: Er verspottet ihre uralte Illusion von ›Wirklichkeit‹, die doch von aller menschlichen Zutat gar nicht mehr zu befreien sei. Auch und gerade die Natur: Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran ›wirklich‹?[39] Es gibt keine Wirklichkeit für uns, und keine Ernüchterung, die sie sich erzwingen könnte. Das liegt nicht an einem erkenntnistheoretischen Mangel des Organs, sondern es ist das Sediment der Geschichte.

Was diese Wahrheitslage bestimmt, ist, daß die Namen zu dem geworden sind, was für uns ist. Uns liegt an den Namen daher unsäglich mehr als daran, was die Dinge sind. Der Ruf, Name und Anschein, die Geltung, das übliche Maass und Gewicht eines Dinges – im Ursprunge zu allermeist ein Irrthum und eine Willkürlichkeit, den Dingen übergeworfen wie ein Kleid und seinem Wesen und selbst seiner Haut ganz fremd – ist durch den Glauben daran und sein Fortwachsen von Geschlecht zu Geschlecht dem Dinge allmählich gleichsam an- und eingewachsen und zu seinem Leibe selber geworden; der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast immer zum Wesen und wirkt als Wesen.[40]

Der Doketismus hat seine ursprüngliche Funktion, die List des Heilbringers, immer schon vergessen und ist zur Geschichte selbst geworden. Gegen sie kann der Realismus ihrer Spätlinge nicht aufkommen. Von der Geschichte gibt es keine Ernüchterung. Sie ist das Gesamtkunstwerk, vor das sich ›der Künstler‹ gestellt sieht und dessen umfangender Suggestion er selbst längst erlegen ist.

Die Verschärfung der Metapher zum Einwachsen der Kleider in den Leib, diesem unheimlichen Stoffwechsel zwischen dem Organischen und seinen Hüllen, erklärt in letzter Instanz – aus der Geschichte heraus: als Genese –, weshalb es Nacktheit nicht gibt und die Metaphorik der nackten Wahrheit nur in immer weitere Täuschungen verwickelt.

Diese Gleichsetzung des Schemas von Doketismus und Geschichte hat auch einen anthropologischen Aspekt: das Sich-verstellen-können des Menschen, sogar als seine ›Kunst‹, als Schauspielerei. Das Problem des Schauspielers habe ihn am längsten beunruhigt, schreibt Nietzsche im letzten Buch der »Fröhlichen Wissenschaft«, daran die Falschheit mit gutem Gewissen, darüber hinaus: die Lust an der Verstellung als Macht, das innere Verlangen in eine Rolle und Maske. In einen Schein hinein. Auch seine Er25klärung ist der zeitgenössischen Anthropologie eingepaßt, denn dieses Phänomen des Schauspielers sieht er aus einem Ueberschuss an Anpassungs-Fähigkeiten aller Art hervorgehen, die ihrer nächsten Funktion des engsten Nutzens entbunden seien. So sei allmählich eine Befähigung freigeworden, den Mantel nach jedem Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, die Meisterschaft einer einverleibten und eingefleischten Kunst auszuüben.[41] Auch hier, und hier exemplarisch, wandert der Schein ins Sein hinein, setzt sich auf die Vakanz des Substantiellen. Eines der schönsten Paradoxe Nietzsches, nicht mehr nur als Moralistik, sondern als anthropologische ›Metaphysik‹: das Wesen der Überanpassung, im Hängen des Mantels nach jedem Wind, hört auf, dieser etwas Hängende zu sein, um selbst das Gehängte zu werden.

Die Entschleierung des Bildes von Sais ist für Nietzsche die Metapher für den zum Wahnsinn gewordenen Eros der nackten Wahrheit. In diesem Wahnsinn kommt eher Geschmacklosigkeit als Unmoral zum Vorschein. Jedenfalls liegt die Zukunft nicht in dieser Gewaltsamkeit, weil jede Zukunft mehr als die Geschichte hat, die wir schon haben, und sie nicht abwerfen kann: Und was unsre Zukunft betrifft: man wird uns schwerlich wieder auf den Pfaden jener ägyptischen Jünglinge finden, welche Nachts Tempel unsicher machen, Bildsäulen umarmen und durchaus Alles, was mit guten Gründen versteckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen wollen. Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur ›Wahrheit um jeden Preis‹, dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit – ist uns verleidet: dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief … Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht[42]

Derselbe Text dieses »Epilog« steht schon in der Vorrede zur Neuauflage der »Fröhlichen Wissenschaft« von 1886, einschließlich des erneuten Ausrufs der Bewunderung für die Griechen. Sie seien oberflächlich gewesen – aus Tiefe! Und es findet sich dort schon der wiederum für Nietzsche an der Ausfächerung der Metapher spezifische Gedanke der Scham: Heute gilt es uns als eine Sache der 26Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles verstehn und ›wissen‹ wolle.[43] Dazu, ausdrücklich als Wink für Philosophen bezeichnet, die Geschichte von dem kleinen Mädchen, das seine Mutter fragt, ob es wahr sei, daß Gott überall zugegen sei, und auf die bejahende Antwort entgegnet, sie finde das unanständig: Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat.

Mit diesem Element ist bei Nietzsche immer verbunden, daß die Scham eine weibliche Auszeichnung sei. Das erlaubt die Herstellung der Beziehung zur alten Allegorie von der Wahrheit als weiblichem Akt: Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?[44] Im griechischen Mythos ist Baubo die Frau des ersten Menschenpaares, also die Eva des Mythos, zu der die über den Raub der Tochter untröstliche Demeter kommt.

Nicht weniger aufschlußreich ist die Feststellung, daß diese Aussage über die Wahrheit nur eine Spezifikation der allgemeineren Formel Vita femina aus dem vierten Buch der »Fröhlichen Wissenschaft« – vier Jahre vor dem sogleich heranzuziehenden fünften geschrieben – wäre, wo es um Verschleierungen letzter Schönheiten und die seltene Gunst des Blicks auf sie geht. Nicht nur muß der Wolkenschleier vor solchen Gipfeln weichen, es muß auch die Seele des Betrachters selber den Schleier von ihren Höhen weggezoqen haben. Deshalb die Seltenheit der Konjunktion, deshalb auch die Intensität ihrer Wirkung: – was sich aber uns enthüllt, das enthüllt sich uns Ein Mal! Schließlich mag diese Seltenheit der begünstigten Augenblicke nichts anderes als der stärkste Zauber des Lebens selbst sein: Es liegt ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm, verheissend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib![45] Die Wahrheit wäre nur eines der Mittel dieser Koketterie der Vita femina mit den jederzeit Lebensflüchtigen, sie zu bannen, ohne sich ihnen je preiszugeben. Dann wäre auch verständlich, daß ›Wissenschaft‹ eine Intensitätsform dieses Bestehens auf Enthüllung ist, die sich mit dem Zauber des Lebens letztlich nicht verträgt. Nietzsche hatte da ein präzises Bild von dem, was ›rechte Frauen‹ empfänden 27und nicht anders goutieren könnten. Ihnen allen ginge Wissenschaft wider die Scham. Es sei ihnen dabei zumute, als ob man damit ihnen unter die Haut, – schlimmer noch! unter Kleid und Putz gucken wolle.[46]

Die mittelalterliche Diskriminierung der theoretischen Neugierde – als der verwegenen Einblickssuche in den göttlichen Wahrheitsvorbehalt – hat bei Nietzsche eine neue sexualisierte Metaphorik gefunden, die der Vita femina. Das Leben verlöre seine Macht über uns, ließe es sich als ›Wahrheit‹ durch Wissenschaft stellen. Die Wissenschaft zerstört, im Maße ihres Erfolgs und Fortschritts, den Reiz dessen, was für sie Geheimnis zu sein aufhört und ihr nur durch seine Verweigerung die Größe ihrer Anstrengungen abgenötigt hatte. Wissenschaft steht im Kontext der europäischen Kultur und ihrer Anthropologie.

Der Europäer, meint Nietzsche, könne jener Maskerade durchaus nicht entbehren, die Kleidung heisst.[47] Der nackte Mensch bedeute im allgemeinen bei den Europäern, und nicht einmal nur den Europäerinnen, einen schändlichen Anblick. Der Grund sei aber nicht, daß Bosheit und Niederträchtigkeit, das schlimme wilde Tier in uns, vermummt werden müsse; umgekehrt ist Nietzsches Gedanke, daß wir gerade als zahme Tiere ein schändlicher Anblick sind und die Moral-Verkleidung brauchen. Da geht die anthropologische Aussage über die Unerträglichkeit der Nacktheit – vorgestellt am Gedankenexperiment einer fröhlichen Tischgesellschaft, die sich durch die Tücke eines Zauberers plötzlich ausgekleidet sähe und dabei sowohl ihren Frohsinn als auch ihren Appetit verlöre – unvermerkt in die Metapher über: Nicht nur Kleidung im reellen Sinne, sondern die Moral als Form des Verhaltens, als Reglement, als Institution, verhüllt eine Nacktheit, die gerade nicht in der wilden Ursprünglichkeit und Bosheit einer tierischen Natur besteht, sondern in der Entstellung ursprünglicher Tierhaftigkeit durch Zähmung, durch Domestikation, durch Entblößung von den Mitteln des Kampfes ums Dasein.

Wir genieren uns, nicht die zu sein, die wir sein könnten. Wir verhüllen diesen Sachverhalt durch eine förmliche Verkleidung, die den Eindruck erzeugt, sie gebe uns genau das Aussehen, das wir uns für uns erträumt hätten. Die Bekleidung macht aus der 28Erscheinung der Degeneration und Dekadenz den Ausdruck des Kulturaufstiegs, der Selbstformung, der Wunscherfüllung. Wir seien nicht böse genug, um uns sehen lassen zu können, als ob wir sicher wären, von selbst schön zu sein: Der Europäer verkleidet sich in die Moral, weil er ein krankes, kränkliches, krüppelhaftes Thier geworden ist, das gute Gründe hat ›zahm‹ zu sein, weil er das Herdentier ist, Angst und Langeweile ihn erfüllen, während er, hätte er die Furchtbarkeit des Raubtiers, jene moralische Verkleidung[48] nicht nötig hätte. Moral ist Aufputz des Mängelwesens, um es mit einem Stichwort der moderneren Anthropologie, ein halbes Jahrhundert nach Nietzsche aufgenommen, zu sagen.

In der Vorrede zur zweiten Auflage der »Fröhlichen Wissenschaft« von 1886 hat Nietzsche diesem Grundgedanken des gleichfalls 1886 neu hinzugefügten fünften Buches »Wir Furchtlosen« eine nachholende Verallgemeinerung gegeben. Sei es nicht die Degeneration des Leibes gewesen, die sich Ethik mit einer negativen Fassung des Glücksbegriffs, Endzustände ästhetischer oder religiöser Art, Abseitsstellungen und Transzendenzen, ausgedacht habe, um damit etwas zu bewirken, was man später ›Kompensation‹ nennen sollte? Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit – und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständnis des Leibes gewesen ist.[49]

Nietzsche ist sich nie ganz schlüssig geworden, wie sein letztinstanzliches Urteil ausfallen sollte: Als Moral, sogar als Philosophie, ist der schöne Schein die Kunstfertigkeit des gezähmten Haustiers, die Schändlichkeit seines Abfalls vom Urstand der Tierischkeit nicht sehen zu lassen, sich selbst nicht sichtbar zu machen; als Kunst ist der Schein des Schönen die Fertigkeit, von der nackten Wahrheit abzusehen und sich im Genuß das Leben und die Welt bejahbar zu halten. Die Lüge legitimert sich als Kunst, und damit letztlich durch ihre Totalität und Dichtigkeit. Die Kunst der Lüge kann dagegen jämmerliche Vorläufigkeit sein und bleiben, und das betrifft Nietzsches Zwiespältigkeit gegenüber der Rhetorik.

In einer Aufzeichnung über Cicero von Anfang 1874 ist das 29Verhältnis von Kunst und Rhetorik einerseits als das einer fundamentalen Differenz beschrieben, andererseits als Zugehörigkeit der Rhetorik zur Ausbildung von Kunst: Jede Kunst hat eine Stufe der Rhetorik.[50] Sie hat diese Stufe, insofern sie auf den Affekt und auf das große Publikum rechnet. Cicero zeige, daß der ästhetische Mangel auf einem moralischen beruht; wobei nicht erkennbar wird, ob die Unverträglichkeit seiner theoretischen Skepsis – und zwar vom harten platonisch-akademischen Schultyp – mit seiner stoischen Ethik gemeint ist, deren Rigorismus als der einzige Zweck erscheint, der die Mittel heiligt. Für diesen Fall bedeutet Rhetorik, daß man in ihr das eine wie das andere zurückstellen und verstecken muß: die Skepsis wie den moralischen Rigorismus. Daher ist Cicero der Erfinder eines verhüllenden Stils, eines rhetorischen Ornamentalismus: Cicero der decorative Mensch eines Weltreichs … Seine politischen Thaten sind Decoration. Er verwendet alles, Wissenschaften und Künste, nach ihrer decorativen Kraft. Erfinder des ›Pathos an sich‹, der schönen Leidenschaft. Die Cultur als verhüllende Decoration.[51]

Unklar bleibt bei Nietzsches Blick auf Cicero, was dessen rhetorische Dekoration eigentlich verhüllt. Nicht dieselbe Frage ist, was verhüllen zu müssen sie selbst sich klar werden kann. Eine Antwort geht auf das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität; Unehrlichkeit sei am häufigsten in der sich als objektiv verstehenden Kunst: Es ist sehr selten, dass einer als Künstler wirklich seine Subjectivität herausstellt: die meisten verstecken sie durch eine angenommene Manier und Stil.[52] Für die Rhetorik kann das nicht ohne weiteres gelten. Ihren auf Wirkung bedachten Willen, der alles andere als Mittel zu diesem Zweck unterwirft und heiligt, verbirgt sie nicht: Die Rhetorik ist deshalb ehrlicher, weil sie das Täuschen als Ziel anerkennt.[53]

Aber erliegt Nietzsche da nicht der Doppeldeutigkeit des Namens ›Rhetorik‹? Als Lehre von der Beredsamkeit muß sie darin ehrlich sein, das Ziel der Täuschung auch dann einzugestehen, wenn sie sich dessen gewiß ist, nur der Verbreitung der Wahrheit zu dienen, weil sie sich dessen nicht gewiß ist, daß die Akzeptanz 30der Wahrheit ihrer Qualität entspricht. Als Ausübung jener gelehrten und erlernbaren Kunst kann die Rhetorik nicht ehrlich sein, die Täuschung als ihr Ziel anzuerkennen, weil sie, was ihr Ziel ist, durch diese Anerkennung zugleich unerreichbar machen müßte. Deshalb gilt für sie, was für die Kunst gerade Einwand gewesen war: Sie will gar nicht die Subjectivität ausdrücken, sondern einem gewissen Ideal von Subject, dem mächtigen Staatsmann u.s.w., wie ihn sich das Volk denkt, entsprechen.[54]

Der andere große Rhetoriker der Philosophie ist – oder besser: wird – Schopenhauer. Wie Nietzsche es sieht, ist er einer, der sich durch einen zu frühen Geniestreich festgelegt hat und dann fürchtet, sich durch Weiteres widersprechen zu müssen. Er sieht, daß der Wille nicht leistet, was er leisten soll, weil er nicht weiß, was er will, und daher die Welt als Vorstellung unmöglich hervorgebracht haben kann. Ein bloßer Wille ins Dasein sei ein Wille ins Blaue, nicht mehr als ein leeres Wort.

Da setzt der Bedarf an Rhetorik ein: als Selbstverteidigung gegen das bessere Wissen von der Nichtigkeit der ersten Erfindung. Es ist schwer zu sehen, warum Nietzsche das Recht auf Täuschung und Selbsttäuschung nicht auch Schopenhauer zubilligt, das er in Ermangelung der Wahrheit doch für die einzige Form hält, das Leben zu verteidigen. Da geht ihm die Enthüllung vor, an der sich leicht ablesen läßt, daß sein Begriff von ›Wahrheit‹ überwiegend die bloße Bedeutung von ›Wahrhaftigkeit‹ hat. Er wird damit reduziert auf jene Wurzel der neuzeitlichen Wahrheitsthematik, die Descartes mit seinem indirekten Beweis für die Möglichkeit der Wahrheit auf dem Umweg über die Wahrhaftigkeit (veracitas) Gottes bloßgelegt hatte. Schopenhauer gehöre zu denen, die nicht um jeden Preis erkennen, sondern um jeden Preis ihr Lied singen wollen.[55]

Nur: Was hätte er erkennen können und folglich sollen? Die Wahrheit des dogmatischen Skeptikers – der doch auch aus der platonischen Akademie kam und nur ihre absolute Transzendenz der Wahrheit zu Ende dachte –, daß wir die Wahrheit nicht haben und nicht haben können? Aber das rechnet Nietzsche, wie schon die antiken Gegner der akademischen Skepsis, dazu, auch eine Wahrheit haben zu wollen. Die moderne Situation ist grundlegend anders: Das neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine 31Ueberzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: dass wir die Wahrheit nicht haben.[56] Was aber kann dann der Vorwurf an Schopenhauer heißen, seine Leidenschaft für die Erkenntnis war nicht gross genug, um ihrethalben leiden zu wollen: er verschanzte sich?[57] Was ist es aber dann, was die Rhetorik zu verkleiden hat?

Man kann die Schwierigkeiten, die sich einer Interpretation Nietzsches entgegenstellen, nur als durch den Aspekt bedingte auflösen. Einmal geht es darum, auf Rhetorik als Phänomen zu stoßen, ihre Funktion in bezug auf das, was sie verbirgt oder verbergen könnte, analytisch zu erkennen. Das ist etwa im Verhältnis zu Schopenhauer so. Zum anderen geht es darum, sich selbst den Gebrauch von Rhetorik zu sanktionieren: ihn freizuhalten von den Vorwürfen, die man als Kritiker überall dort angebracht hat, wo Rhetorik schon verwendet worden ist – allemal als Indiz einer Schwäche. Will man sie selbst gebrauchen, stellt man die Fragen nach der Subjektivität, die sich hinter ihr versteckt, nicht. Dann gilt nur die Frage nach der Wirkung dessen, was man durch sie induzieren will: Ach, es ist unmöglich, mit der Sprache der Wahrheit zu wirken: Rhetorik ist nöthig; das heisst die Gewohnheit, nur bei gewissen Worten und Motiven bewegt zu werden, regiert und verlangt die Verkleidung der Wahrheit.[58]

Schließlich gibt Nietzsche auch noch eine Antwort auf die Frage, woher die Textilien kommen mögen, mit denen die Wahrheit sich verkleidet. Er bezieht diese ganze Metaphorik noch auf das Niveau des folgenreichsten Gleichnisses in der Geschichte der Philosophie: auf das Höhlengleichnis Platos. Nur daß in dieser Höhle keine Schatten mehr, sondern Gespenster, verkleidet in die Gespinste aus den Wünschen der Menschen, begegnen. Wünsche, das heißt hier: wie die Wahrheit beschaffen sein müsse, damit man sie annehmen könne. Dazu gehört eine Art Anthropomorphismus der Wahrheit. Denn für Nietzsche steht fest, daß wir mit Gedankendingen nicht anders verkehren können als mit Menschen. Aus dieser Neigung muß die Furcht hervorgehen, die jeweilige Erkenntnis könne in der Dienstbarkeit jener Wünsche aufgehen: das Ich, euer ganzes liebens- und hassenswürdiges Ich! – als ein Es, das Es der Objekte, der Welt. Gedankendinge, angetan mit aller Wünschbarkeit: 32Fürchtet ihr nicht in der Höhle jeder Erkenntniss euer eignes Gespenst wieder zu finden, als das Gespinnst, in welches die Wahrheit sich vor euch verkleidet hat?[59]