Im Maße, wie das Wahre eine neue Erreichbarkeit durch Wissenschaften angenommen zu haben schien, wuchs auch das Bedenken an der Erträglichkeit der Wahrheit für den Menschen. Man tut diesem Bedenken kein Unrecht, wenn man in ihm zunächst ein Hineinragen des Mittelalters in die Neuzeit sieht, die nur etwas menschenfreundlicher formulierte Auffassung, die ganze Wahrheit über das Ganze sei dem Urheber dieses Ganzen vorbehalten und menschliche Neugierde daher in dem Umfang Überschreitung einer geschöpflichen Beschränkung, wie Verborgenheit und Zugangserschwernis die natürliche Entzogenheit der Gegenstände erkennen ließe. Dennoch ist es eine nicht nur äußerliche Umformung des Grundgedankens, wenn primär nicht an die Übergriffe gegenüber einer fremden Majestät gedacht wird, sondern an das Aushaltenkönnen und die Glücksangewiesenheit des Menschen. Zwar mochte dieser in seiner Ursprünglichkeit in die Welt gesetzt worden sein, um an deren Wahrheit teilzunehmen, doch vielleicht nur im Einzugsbereich einer durch Nähe und Zugänglichkeit für ihn gekennzeichneten Zweckmäßigkeit. Durfte daran gedacht werden, daß der Mensch in seinem Glück beeinträchtigt sein könnte, gerade durch den Vorbehalt von Wahrheiten, die sich seinen natürlichen Organen und Mitteln entzogen, sogar im Verdacht standen, auf ewig entzogen bleiben zu müssen – und dies sogar im Umfang des größten Teils aller auch nur denkbaren Erkenntnisse? Solange der Mensch als Mitte der Welt hatte vorgestellt werden können, war es ganz zwangsläufig, in dieser Position einerseits die bevorzugte Stellung des kosmischen Zuschauers anzunehmen, andererseits eben daraus zu folgern, daß es Wesentliches und Wichtiges außerhalb der Reichweite dieser Position und seiner Organe nicht geben werde. Das Sichtbarkeitspostulat der Astronomie und der Naturerkenntnis insgesamt war der natürliche Ausdruck für die Annahme einer Zweckmäßigkeit der Welt insgesamt, des Menschen als eines begünstigten Teiles und Teilhabers dieser Welt. Als dieses Axiom durch neue Instrumente, Verstärker der organischen Fassungskraft, zerstört war, gab es auch für die aus ihm 58fälligen Folgerungen keine Stütze mehr. Die Welt sah nicht so aus, als sei es bei ihrer Erschaffung auf den Wahrheitsbesitz und das Glück des Menschen im weitesten Sinne angekommen. Das ließ sich sogar negativ verschärfen: Angekommen sei es vielmehr auf das Gegenteil, den Menschen in der Welt ratlos und glücklos sich vorzufinden, ein Stück Geworfenheit, um sich desto schneller und gründlicher einer Bestimmung zu erinnern, die sich unter den Wahrheiten und Schönheiten der Welt jedenfalls nicht finden ließ. Die Vermutung oder gar der Verdacht, die Wahrheit könne so etwas wie eine Krankheit sein oder das, was man als für Kinder unzuträglich hintan hielt, läßt eben zu, daß Bestimmung des menschlichen Geistes mit derart von Wahrheiten nichts zu tun hat, die in der Welt entweder allzu leicht oder allzu umständlich aufgefunden werden konnten.
Bayles großer »Dictionnaire« läßt sich in Anwendung des dargelegten Musters verstehen als der Nachweis, daß außer der Natur auch die Geschichte nicht so eingerichtet sei, als wäre es auf Unterrichtung des Menschen über die für ihn wesentlichen Wahrheiten, zumal die Wahrheiten über sich selbst, angekommen. Wie die räumliche Distanz im Weltall dem Menschen ein für allemal den Zugang zu Gegenständen der Natur entzog, so erwies sich nun auch die Entfernung in der Zeit als eine unüberwindliche Schranke der Erkenntnis, ein verzerrendes und verzehrendes Medium für jeden auf die Ereignisse und Zustände der Vergangenheit gerichteten Blick. Aber hier war noch mehr im Spiel, nämlich der Mensch selbst als der Übermittler dessen, was sich da an Fakten über die Zeit vorgeblich sollte erhalten haben, und dieser Mensch war, wie sich nun zeigte, noch schlimmer als jener von Descartes versuchsweise eingeführte genius malignus mit seinen undurchdringlichen Täuschungen über die Welt. Der Mensch als historisches und Tradition schaffendes wie bewahrendes Wesen erwies sich schon deshalb als noch verhängnisvoller, weil er sich keineswegs um die Erkenntnis gleichgültiger Sachverhalte brachte, sondern sich mit schöner Beharrlichkeit die Voraussetzungen seiner Selbsttäuschung und Selbstgefälligkeit an die Hand lieferte, die Neigung zu seinen geschichtlichen Verfehlungen und Verirrungen noch dadurch verstärkte, daß er ihnen aus der Vergangenheit Legitimationen zulieferte. Hier gab es allerdings ein Gegenmittel, das zwar jenes Medium der großen Zeitdistanzen nicht durchlässiger machte, aber 59wenigstens verhinderte, sich den Täuschungen hilflos ausgeliefert zu sehen. Dieses Gegengift war eben die Kritik.
Ihre Wahrheiten waren von einem neuen Typus. Sie bestanden in dem Übermaß der negativen Urteilsqualität, so oder so könne es nicht gewesen sein, obwohl es so und so überliefert worden war, ohne daß diese skeptische Enthaltung Aussicht auf Entscheidung geboten hätte, wie es denn nun wirklich gewesen war. Zu einem großen Teil werden die Wahrheiten der Aufklärung von diesem Typus sein. Auf die cartesische Regel, alle Vorurteile beiseite zu tun, folgt zumindest für die menschliche Geschichte nicht die Erfüllung der Verheißung auf dem Fuße, man würde statt dessen solidere Erkenntnisse erlangen können. Die Fragestellung nach der Zuträglichkeit der Wahrheit ist im frühneuzeitlichen Zusammenhang herausgetreten aus dem alten Zwiespalt zwischen Philosophie und Rhetorik, der es entweder mit der Unabhängigkeit aller menschlichen Verhaltensregelungen von der Wahrheit zu tun hat oder mit einer besonderen Vermittlungsbedürftigkeit der Wahrheit, ihrer Eingängigkeit mehr als ihrer Zuträglichkeit.
Die frühneuzeitliche Fragestellung kreist, wie so vieles andere nach Descartes, um die Frage, in welchem Grade der Mensch überhaupt Anspruch auf eine sich ihm wahrhaftig, also wahrheitsfähig zeigende und darstellende Welt hat. Ich erinnere daran, daß Leibniz die Existenz einer unserer Erkenntnis entsprechenden Welt für nicht beweisbar hielt, sobald man einmal die Erwägung eines trügerischen Gottes oder eines mit dem Leben selbst identischen Traumes eingeführt hätte. Für Leibniz krankt der cartesische Beweis für die reelle Existenz der vom Menschen erfahrenen Welt an der Voraussetzung, daß alles andere ein Betrug wäre. Dem widerspricht Leibniz: Betrogen wäre nur der, der aus der Welt als Traum erwachte und auf seinen Traum dann als ein irreales Gebilde zurückblicken müßte; betrogen wäre nur der, der nicht mit der vollkommenen Konsistenz einer in sich stimmigen Erfahrung zu leben hätte. Aber sowohl ein Traum als auch die fiktive Reizung unserer Sinnesorgane könnten ein Maß von Vollkommenheit haben, die uns jede Enttäuschung ersparte – und dann erst wäre die Wahrheit, nämlich das Erwachen und das Aufdecken des Truges, das eigentlich Unerträgliche, die Bloßstellung der Vergeblichkeit des Lebens und seiner Inhalte. Dies ist zugleich der angenommene Grenzwert für die Unzuträglichkeit der Wahrheit: die absolute 60Widerlegung jeder möglichen und wirklichen Erfahrung von der Welt.
Aber sonst? Es könnte eine durchaus wohlmeinende Gottheit sein, die dem Menschen ersparte, überhaupt jemals zu erfahren und zu wissen, daß es entweder nichts gibt oder eine von unseren Bewußtseinsinhalten so abweichende, zu ihnen so andersartige Welt, daß alle Erkenntnis auf Einbildung beruhte. Descartes’ systematische Voraussetzung, aus dem Begriff der Vollkommenheit Gottes und damit seiner Wahrhaftigkeit müsse sich ableiten lassen, daß der Mensch keinesfalls im ganzen oder in wesentlichen Teilen seiner Erkenntnis von der Welt getäuscht werden könne, oder anders gesagt: daß Erkenntnis möglich sein müsse. Aber gerade die Vollkommenheit und Güte Gottes könnten es erfordern und also auch vorgesehen haben, den Menschen über die Bedingungen seines Lebens und den Zustand der Welt oder deren Nichtexistenz unaufgeklärt zu lassen, ihm die nackte Wahrheit gnädig zu verhüllen. Unsere vermeintliche Erfahrung wäre dann so etwas wie die göttliche Rhetorik, mit der uns das Schlimmste erspart würde, um uns dennoch zu dem Ziel gelangen zu lassen, dessen Erreichung nach theologischen Prämissen jedenfalls nicht von der Erkenntnis der Natur und den daraus gewonnenen Folgerungen abhängig ist und abhängig sein kann. Ein ungesicherter Erkenntnisbegriff läßt die Heilssorge viel eher als absolute Größe des menschlichen Daseins erscheinen, der Zweifel begünstigt die Konzentration auf sie.
Mit diesem Zusammenhang hat es Bayle im Artikel »Rimini« seines kritischen Wörterbuchs zu tun. Es wird daran erinnert, daß nach dem Zeugnis des Alten Testaments es durchaus nicht unvereinbar mit der Vollkommenheit Gottes ist, Menschen zu verblenden, wie den Pharao, oder sie zu falschen Aussagen zu inspirieren, wie bei Propheten. Die Unwahrheit als Mittel der göttlichen Fürsorge für den Menschen ist jedenfalls nicht absolut auszuschließen. Aber auch in dieser Richtung ist jeder Schritt gefährlich: Verhält sich dieser Gott gegenüber allen Menschen, wie gegenüber dem Pharao, nicht wie ein Arzt gegenüber seinen Kranken oder wie ein Vater gegenüber seinen Kindern? Das eben seien doch solche Personen, welche man aus Klugkeit und zu ihrem eigenen Wohl betrügen mag und gerade dadurch nicht betrügen kann: Ce sont des personnes que l’on trompe très-souvent et avec sagesse, et pour leur pro61fit.[1] Der Vergleich mit dem Verhältnis von Arzt und Krankem ist bedenklich, denn auf die bloße Hilfsbedürftigkeit der Menschheit darf es nicht ankommen, weil diese letztlich immer dem Schöpfer zur Last fiele, der dann zugleich den Ursprung und die Krankheit zu verantworten hätte. Der Gedanke ist eben gegen die Tradition nur mit Schwierigkeit zu denken, Wahrheit müsse überhaupt nicht zu den Bedürfnissen und zu den Bedingungen des Glücks für den Menschen gehören, könne ihn in deren Erreichung vielmehr ablenken und behindern, weil Wahrheit etwas für dieses Wesen Fremdartiges – mythisch ausgedrückt: nur einem Gott Zukommendes – sei. All dies vorausgesetzt, wäre es Weisheit, die Wahrheit nicht nackt sehen zu lassen, weil es zumindest fraglich ist, ob der Mensch die Kraft besitzt, ihr standzuhalten, würde sie ihm vorgewiesen: Aurions-nous bien la force de contempler la vérité si Dieu nous la presentoit toute nuë? Nicht nach der Macht der Wahrheit ist gefragt, sondern nach der Kraft derer, die es mit ihr zu tun bekommen könnten. Gottsched übersetzt: Würden wir wohl die Stärke haben, die Wahrheit zu beschauen, wenn sie uns Gott ganz nackend vorstellte?[2]
Bayle zitiert einen Satz aus den Einwänden zu den Meditationen des Descartes: Si Deus puram nobis ostenderet veritatem quis eam oculus, quae mentis acies sustinere valeat?[3] Das Problem ist noch nicht als das einer Aufklärung gestellt, die Menschen an Menschen und für Menschen betreiben, sondern als Grundfrage der Erkenntnistheorie: Muß es Erkenntnis geben und ist sie wirklich, wie Descartes meinte, die einzige Bedingung zum sicheren Vollzug des menschlichen Lebens? Bayle sah in der nackten Wahrheit eher die kritischen Einschnitte, die schmerzliche Verluste an der Geschichtssubstanz der Menschheit bewirken würden. Und von diesem Typus ist, was die Aufklärung als Problem der Erträglichkeit von Wahrheit mit sich zu führen haben wird.