62VIII
Pascal und die Frühaufklärung

Jede Enthüllung ist relativ auf den Grad der Verhüllung, den sie voraussetzt. Nicht immer unterstellen diejenigen, die Enthüllungen betreiben, denen, die verhüllt haben, die Absicht der Verhüllung; immer aber den Grund, daß etwas der Verhüllung bedürftig war und nun in den Grad seiner vollen Sichtbarkeit versetzt werden soll. Die Ausnahme ist, daß die Verhüllung – der Schein über dem Sein, die Prätention vor der Realität – ausdrücklich behauptet und gerechtfertigt wird durch eine Theorie des Scheins, die ihn zum Ausdruck der Verlegenheit angesichts einer Kontingenz macht, die sich so oder so geben muß, niemals aber als sich selbst darstellen zu können gewiß ist.

Das Verhältnis der Aufklärung zu Pascal ist nicht nur das der Auseinandersetzung mit dem Exponenten des Christentums in seiner paulinischen Gestalt und seiner Anstrengung zu dessen rationaler Verteidigung; der Aufklärer sieht sich auch in der Vertretung der endlich enthüllten Wahrheit von Natur und Mensch gegen einen Denker, der sich ihrer Verhüllungen sehr wohl bewußt war, sich deren sogar bediente, und sie – um im Paradox zu reden – als die nackte Notwendigkeit des Menschen in seiner nur theologisch beschreibbaren Lage verteidigte.

Die Nacktheit des Menschen ist für Pascal die nach dem Sündenfall entdeckte Verlegenheit und jede daraufhin fällig gewordene Art der Bekleidung Ausdruck sowohl für deren Notwendigkeit als für deren Beliebigkeit. Kann der Mensch sich erst einmal nicht so geben, wie er ist, aus welchen Gründen auch immer, ist jede Form, in der er sich gibt, als solche kontingent, anfechtbar, unbegründet, austauschbar. Jede faktische Kleidung ist sekundär gegenüber der Funktion, selbst wenn diese die Metapher der Scham sein sollte, als die Max Scheler sie erkennen wollte.[1] In diesem Sachverhalt liegt der Irrtum beschlossen, die Faktizität der Form lasse die Wahl der Formlosigkeit offen, die Kontingenz der Bekleidung mache die Entkleidung zur rationalen und schlechthin natürlichen Kon63sequenz. Es ist als geschichtliches Grundproblem das der sozialen und politischen Ordnungen: Wenn keine Ordnung rational voll verteidigungsfähig und aus den menschlichen Bedürfnissen ableitbar ist, bietet sich der anarchische Ausweg als unmittelbar einsichtig an, die Ordnungslosigkeit könnte der vorzuziehende Zustand sein.

Diese Lösung liegt allerdings geschichtlich dann besonders fern, wenn die Ordnungslosigkeit als Endzustand der Auflösung von Ordnungen gerade durchlitten worden und damit die Erfahrung der kontingenten Zwangshaftigkeit von Ordnungen in weite Ferne gerückt war. Dies gilt für die Epoche Pascals (1623-1662). Frankreich ringt nach einem Jahrhundert schwerer Verluste an Gehalt und Form, äußerster Entkräftung der Institutionen und Gesetze des staatlichen Lebens, am Rande chaotischer Auflösung um neue Formen; in der Sprache Pascals: Ordnungen.

Dazu gehört die Aufrichtung eines vorbildlichen Menschentypus in der Gestalt des ›honnête homme‹. Das von Heinrich IV. politisch und von Franz von Sales geistig und geistlich begonnene Werk zielte auf die beständige Einheit zwischen politischer Aktion, Einstellung der geistigen Elite und Richtung des Glaubens.[2] Unzweifelhaft schien, daß die Erscheinung der zu erneuernden Lebensform aus einer erneuerten inneren Seinsverfassung unmittelbar hervorgehen und sie adäquat darstellen sollte: Ethik und Ästhetik versuchen hier einmal völlig übereinzustimmen.[3] Die Möglichkeit einer solchen Einheit von Geist und Form, die Begründung der Autorität als Ausstrahlung substantieller Festigkeit, ist gerade das, was im Brennpunkt der Zweifel Pascals steht oder was, um es anders zu sagen, bei ihm die Deutung der konstitutiven menschlichen Notlösung bekommt. Der Mensch ist nackt; aber das ist nicht seine ganze Wahrheit. Seine Wahrheit ist, daß er ohne den verhüllenden Schein einer allen Anspruch aufs Wesentliche abwehrenden Verkleidung zugrunde geht.

Es sei eine plaisante chose, daran zu denken, daß es Leute auf der Welt gibt, die erst allen Gesetzen Gottes und der Natur abgesagt und dann sich selbst Gesetze gemacht haben, denen sie peinlich gehorchen, 64wie zum Beispiel die Soldaten Mohammeds, die Diebe, die Häretiker usw. – und ebenso die Logiker.[4] Ein Modell der Situation des Menschen, der eine ursprüngliche und ihm zugemessene Ordnung, die Gesetze Gottes und der Natur (les lois de Dieu et de la nature), hinter sich gelassen hat, um sich unter den Zwang der Erfindung uneinsichtiger Regeln und Institutionen zu begeben, deren Durchsetzung allein mit Gewalt möglich, aber auch zur Existenz nötig ist. Die Entbindung vom Gesetz des Ursprungs schafft zwar Freiheit, aber nicht die Freiheit vom Gesetz überhaupt. Der eigenen Gesetzlichkeit muß er sich exactement unterwerfen, wie einem komplizierten Ritual einer unbekannten Kultur, bei dem alle in peinlicher Besorgnis mitmachen zu sehen dem Weisen einen vergnüglichen Anblick gewährt. Das ist zunächst nur ein Stück Moralistik; so sind nun einmal die Leute, fern im Orient die Soldaten des Propheten, hier in Paris die Logiker von Port-Royal mit ihrer Pedanterie. Man bedenke, daß dem Liebhaber des Kalküls und der errechenbaren Zweckmäßigkeit das verlorene Paradies auch quantitativ ideal erscheinen mußte: nur ein Gesetz, das einzuhalten war – nach dessen Brechung zahllose.

In einer anderen Pensée bezieht sich Pascal auf Ciceros Pflichtentraktat, wo die Fragwürdigkeit der menschlichen Ordnungen nach skeptischer Manier mit dem Ungenügen der Erkenntniskraft begründet wird: von dem verum ius könnten wir eine solida et expressa effigies nicht gewinnen, weil es sich durch die Transzendenz seiner Idealität uns entzieht. Aus der platonischen Überentferntheit der einsichtigen Norm macht Pascal die Zeitenferne des verlorenen Urzustandes der Menschheit: Veri iuris. Wir haben davon nichts mehr (nous n’en avons plus); hätten wir es noch, hielten wir es nicht für eine Regel der Gerechtigkeit, den Sitten seines Landes zu folgen. Man ist auf die Macht verfallen, weil man das Gerechte nicht finden konnte.[5]

Pascal nutzt die Doppeldeutigkeit des französischen ›trouver‹ dahingehend, daß man, da man die Gerechtigkeit nicht ›wiederfinden‹ konnte, die Macht habe ›erfinden‹ müssen: c’est là que ne pouvant trouver le juste, on a trouvé le fort. Der Mensch hat verspielt, was er hatte; nicht verfehlt, was er überhaupt nicht haben kann. An die Stelle des Verlorenen tritt eine règle de justice, ein Moment 65der Setzung, des Spielregelhaften, dem man sich um der Ordnung des Spiels willen unterwirft. Und nicht nur diesem unmittelbar, sondern auch der Instanz, die seine Einhaltung allein durchsetzen kann: der politischen Macht. Sie ist die Lösung einer dem Muster nach skeptischen Situation. Sie bedient sich nur zu ihrer Erklärung der Sündigkeit des Menschen, ohne dadurch zu deren Strafe erklärt werden zu müssen.

Scheinhaftigkeit ist zwar nicht das Wesen der menschlichen Natur, wohl aber die Antwort des Menschen auf seine Weltlage. Aber so unvereinbar das nackte Chaos mit der menschlichen Selbsterhaltung ist, so unerträglich ist die nackte Macht als Ordnungsfaktor. Was sie erträglich macht, ist nach Pascal die menschliche Einbildungskraft.

Da alle Menschen herrschen wollen, aber nicht alle, sondern nur einige es können, muß die Einbildungskraft dafür sorgen, daß die Zufälligkeit der dadurch bedingten Verschiedenheiten (différents degrés) – die also nicht Verschiedenheiten der Natur sind – ihre Anstößigkeit verlieren: c’est là où l’imagination commence à jouer son rôle. Bis dahin überwältigt die Gewalt die Tatsachen (le pouvoir force le fait), nun erhält sich die Macht durch Einbildungskraft bei einer bestimmten Partei: in Frankreich bei dem Adel, in der Schweiz bei den Bürgern usw. Die Bande (les cordes), die uns mit diesem oder jenem Stande in Ehrfurcht verbinden, bestehen nur in unserer Einbildung.[6] Eine andere, aus nur drei Worten bestehende Pensée formuliert diesen wichtigsten Sachverhalt so: Obéissance – de fantaisie.[7]

Der Glaube, die Phantasie müsse mit der Freiheit im Bunde sein, ist nicht jederzeit geteilt worden. Der Schlachtruf, die Phantasie solle an die Macht kommen, wäre von Pascal als Paradox oder als Trivialität genommen worden, keinesfalls als ein Stück Revolution. Die Phantasie war immer schon an der Macht, zumindest an ihr beteiligt; und würde es immer bleiben. Sie war, was einzuspringen hatte, wenn es dem Menschen mangelte: an Wissen als Mythos, an Einsicht als Rhetorik, an Ordnung als Ausstattung der Macht zur vorgestellten Statthaftigkeit.

Die imaginativen Fakten, die sie schafft, verteilen sich: über den Raum als die verschiedenartigen sozialen und politischen 66Institutionen, über die Zeit als das, was Pascal ohne weiteres mit der Mode vergleichen kann: Comme la mode fait l’agrément, aussi fait-elle la justice.[8] Die Gerechtigkeit, die die Mode macht, ist die Verschleierung des Mangels an jener Gerechtigkeit, die in der Idee ihren Platz hat. Die Mode überläßt das, was gefällt und angenehm ist, nicht der Willkür und, obwohl sie als tyrannisch empfunden werden kann, bewahrt sie uns auch vor allzu anstrengenden und zeitraubenden Überlegungen darüber, was uns den anderen nicht allzu mißfallend machen könnte. Gelegentlich erscheint gerade das erstrebenswert – und dann erfährt man wiederum erst durch die Mode, wogegen man zu verstoßen hat.

Die Ordnung von Machtverhältnissen durch Stimmenmehrheiten hat für Pascal keinen Vorrang an Rationalität. Auch ihre Vernunft ist die der Ordnung überhaupt: Die einzigen allgemeinen Regeln sind die Gesetze des Landes für die alltäglichen Angelegenheiten, für die übrigen die Mehrheit (sc. der Stimmen). Woher kommt das? Von der Macht, die darin liegt (de la force qui y est). Da man nicht habe erreichen können, daß Macht aus dem Gehorsam gegenüber der Gerechtigkeit kommt, hat man bewirkt, daß es gerecht sei, der Macht Gehorsam zu erweisen. Das Wortspiel mit Ermächtigung der Gerechtigkeit und Rechtfertigung der Macht ist sprachlich nur schwer zu erhalten: ne pouvant fortifier la justice, on a justifié la force.[9]

Gerechtigkeit hat zwei Schwierigkeiten: einmal die Erkenntnis dessen, was in einer gegebenen Lage gerecht ist, und dann das Anerkenntnis dessen, was durch jene Erkenntnis als gerecht befunden worden ist, durch die Betroffenen. Das erste Problem, das der distributiven Entscheidung, ist das geringere im Vergleich zum zweiten: dem der Akzeptation von gerechten Entscheidungen auch durch den, der sich benachteiligt fühlt. Pascal sieht hier die Wurzel sogar der Bürgerkriege; sie seien unvermeidlich, wenn man Verdienste belohnen wolle, denn alle werden sagen, sie seien dessen würdig. Das Übel, das von einem Wirrkopf zu befürchten ist, der nach der Erbfolgeordnung in einem Rang nachrückt, sei weder so groß noch so unausweichlich wie das der inneren Kämpfe, die aus dem Streben nach Belohnung von Verdienst, dem récompenser 67les mérites, entständen. Die Verdunkelung des Selbsturteils erweist sich als noch bedrohlicher denn die, anderen gerecht zu werden.

Die Mehrheit also bekommt nicht recht, sie hat es schon, indem sie die Macht hat; sie manifestiert nur durch das Institut der Mehrheit, daß sie sie hat. Nichts läßt darauf schließen, daß sich auch die Vernunft in der Mehrheit manifestiert; sie tut es mittelbar, weil es unvernünftig wäre, der Macht nicht recht zu geben. Die Anhänglichkeit an Bestehendes hat kein anderes Vernunftprinzip als dieses. Sind etwa die alten Gesetze und alten Meinungen von gesünderer Vernunft? Keineswegs, aber sie sind die einzigen; et nous ôtent la racine de la diversité.[10] Nicht also nur die Gesetze, Sitten, Gewohnheiten und Institutionen, sondern denen zuvor schon die Meinungen – und nicht erst im Aggregatzustand der Überzeugungen und des Glaubens – sind im Schutz ihres Alters (und das heißt doch immer: in der Gunst des Ausgestorbenseins der anderen) ein Friedensvorteil der Gegenwarten. Die Vergangenheit hat keine Autorität: auch nicht die der überlegenen Weisheit. Sie hat den einen und einzigen Vorteil, Vergangenheit zu sein und die Differenzen in Dunkel zu hüllen, aus denen eine Setzung, eine Institution, eine Meinung als überlebende hervorgegangen ist. Das Altertum ist gnädig mit uns, weil es die Streitigkeit von Meinungen für uns absolviert hat. Dennoch ist es nicht die herrschende Meinung, die herrscht: La force est la reine du monde, et non pas l’opinion. – Mais l’opinion est celle qui use de la force. – C’est la force qui fait l’opinion …[11]

Mit der Apologie der Meinung mündet Pascals Denken in eine umfassendere Verteidigung der Äußerlichkeit, der Oberfläche, des Scheins an der Erscheinung. Wenn er von den Opinions du peuple saines spricht – und er spricht gern davon –, zielt er auf die Vorliebe des Volkes für das Äußere, für den Aufzug, sogar für die Aufmachung. Das läßt ihn mit Entschiedenheit seinem großen stilistischen Vorbild Montaigne widersprechen, der mit dem Pathos des Moralisten hinter die Erscheinung, durch den Schein hindurch zu sehen lehren will. Pascal hat auch da die knappste Formel des Widerspruchs: Ce n’est pas une simple superficie.[12] Es sei schon spaßhaft, wie Montaigne nicht sieht, daß der Unterschied im Äußeren, im 68Daherkommen, in Bekleidung und Aufzug zumal, liegt. Es ist verwunderlich: man will nicht, daß ich einen Menschen auszeichne, der in Brokat daherkommt und von sieben oder acht Lakaien geleitet wird! Und doch: Er wird mich prügeln lassen, wenn ich ihn nicht grüße; cet habit, c’est une force.[13] Pascal provoziert, indem er das Äußerlichste am Äußeren hervorhebt; aber er will weit weg von jedem moralischen Realismus argumentieren. Die kürzeste Pensée aus diesem Komplex zählt nur noch das Gefolge: II a quatre laquais.[14] Pascal ist darin ein moderner Mensch, ein Prototyp des empirischen Soziologen: einer, der die Dinge zählbar macht.

Nietzsches Respekt vor Pascal hat mit dessen Fähigkeit zu zählen etwas zu tun. Vom verächtlichen Alltagschristen sagt er einmal, er sei eine erbärmliche Figur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei zählen kann [15] Man darf vermuten, daß Nietzsches Affinität zu Pascal auf dem Eindruck des Arguments der Wette beruht: auch die Ideen vom Übermenschen und von der Ewigen Wiederkunft verlangen höchsten Einsatz auf äußerste Ungewißheiten, so wie bei Pascal das endliche Leben auf das unendliche Heil ein rationaler Einsatz gewesen sein sollte, wie gering seine Chance auch sein mochte. Wenn die Christen an den ewigen Vorteil wirklich glaubten, schreibt Nietzsche im Zusammenhang der Verachtung des Alltagschristen, müßten sie einen erkennbar höheren Einsatz auf Erreichung dieses Gewinns durch Preisgabe vorläufiger Güter und zeitlicher Bequemlichkeiten wagen. Und der Übermensch ist eine Figur des äußersten Risikos, des gewagtesten Kalküls. Der Spieltheoretiker Pascal, dem sein eigenes Wette-Argument am Ende suspekt geworden war, so daß er es ausschied aus dem Apologie-Komplex – dieser Kalkulator war es, der weiter als bis drei zählen konnte.

Alle seine Voraussetzungen hat Pascal zusammengefaßt in einem Gleichnis von Nacktheit und Bekleidung, das er in seinen »Drei Abhandlungen über den Stand der großen Herren«[16] den Mächtigen seiner Zeit vorträgt, um ihnen die Rechtsgrundlosigkeit ihres Ranges vor Augen zu führen, sie zur Erkenntnis ihrer wahren Lage zu bringen. Ein Mann wird vom Sturm an eine unbekannte Insel 69verschlagen, deren Bewohner ihren König vermissen. Man wird sich den Schiffbrüchigen nackt vorstellen müssen, obwohl Pascal das Wort vermeidet, da nur die Ähnlichkeit im Körperbau und Gesicht mit dem verschwundenen König die Insulaner veranlaßt, den Unbekannten für ihren König zu halten und ihn in seiner Würde anzuerkennen.

Bis hierher könnte dies eine Geschichte der Frühaufklärung sein, die sowohl die Irrtumsfähigkeit der Menschen in ihren wichtigsten Belangen als auch die Zufälligkeit der von ihnen verteilten Würden zu veranschaulichen hätte. Pascal interessiert sich nicht für die Aufklärungsbedürftigkeit der Inselbevölkerung; er betrachtet den inneren Zwiespalt des dorthin Verschlagenen. Zunächst ist dieser unsicher, wie er sich entscheiden soll; dann jedoch überläßt er sich der Gunst seines Schicksals, empfängt die ihm erwiesenen Ehrungen und läßt sich als König behandeln. Aufgeklärt ist er in doppelter Weise: Er achtet das Bedürfnis seiner neuen Untertanen, einen König zu haben und keine Zweifel an diesem; doch vergißt er nicht, was nur seiner Erinnerung gehört: die Kontingenz seiner Investitur. Er gibt sich mit Sicherheit als König, weil er die Folgen des Zweifels ahnt, den jede Unsicherheit wecken müßte; die Kenntnis seiner wahren Geschichte bestimmt sein Selbstbewußtsein, das er verbergen muß. Er hat zwei Gedanken: den einen, durch den er mit dem Volk verkehrt, den anderen, durch den er mit sich selbst verkehrt. Die nackte Wahrheit ist nicht Sache einer allgemeinen Aufklärung.

Wie gute Gleichnisse in der Geschichte des Denkens sonst auch, hat Pascals Geschichte einen Hintergrund von unausgeschöpfter Vieldeutigkeit. Ein verschwundener König, der die Erinnerung und Sehnsucht seines Volkes bewegt – danach wird nicht gefragt. Sollte er die symmetrische Entsprechung des Schiffbrüchigen gewesen sein, indem er mit dem Bewußtsein der Zufälligkeit seiner Würde nicht fertig geworden war? Sollte er die destruktive Konsequenz aus der Kontingenz seines Selbstbewußtseins gezogen haben, sein Königtum zu verlassen, um nur noch das zu sein, was ihm sein Bewußtsein zu rechtfertigen schien? Dann aber auch der, der die Weisheit der Rücksicht auf die Bedürfnisse der anderen hatte vermissen lassen. Sollte er die anderen zum Preis seiner Selbstaufklärung gemacht haben? Dann also auch das Schicksal und die Zweifel des nackten Schiffbrüchigen, der statt seiner König werden mußte 70und dem es seine Vernunft nicht gestattete, nur vernünftig zu sein.

Der verschwundene König war in die Nacktheit geflüchtet, der aus dem Schiffbruch zum Königtum Aufgestiegene hatte auf sie verzichtet. Weisheit ist die Fähigkeit, die Äußerlichkeit ertragen zu können, ohne sich selbst zu betrügen: der inneren Aufrichtigkeit zu trotzen – Aufklärung als das, was ertragen werden muß, nicht als das, was man die anderen ertragen läßt. Den Hintergedanken hinter dem Ausgesprochenen (la pensée de derrière) nicht nur zu entdecken, sondern damit zu leben und leben zu lassen, ist das kunstvolle innere Spiel, von dem nichts sichtbar werden darf. Gerade der Vordergrund der Nichtigkeiten ist gut begründet (toutes ces vanités très bien fondées).

Es versteht sich, daß die Rede von ›Aufklärung‹ bei Pascal keinen Antagonismus von Vernunft und Religion bedeuten kann. Dennoch tritt die Metaphorik des Lichtes gerade in einem Schema der sich jeweils aufhebenden Stufen von Weisheit zutage. Das Volk ehre Personen von Adel, während die demi-savants sie verachten, weil sie den bloßen Zufall der Geburt im Auge haben. Die Weisen ehren jene aus dem Hintergedanken der Vernunft. Die Frommen wiederum verachten die Vornehmen und mißachten die ihnen gleichgültige Erwägung der Weisen, auf einer neuen Stufe der Aufklärung freilich (par une nouvelle lumière). Sie denken, wird man interpolieren müssen, nicht an den Zufall der Geburt, sondern an die Gleichgültigkeit des Ranges vor ihrem Gott.

Aber damit ist die gradation nicht ausgeschöpft: Was ein vollkommener Christ heißen darf, ehrt wiederum aus einer höheren Erleuchtung heraus (par une autre lumière supérieure) jene, die auch die Weisen achten. So lösen sich die Aspekte in der Stufenfolge ab; und für Pascal ist dies auch das Maß von ›Aufklärung‹, das keiner dem anderen abverlangen oder aufzwingen darf: selon qu’on a de lumière.[17] Der Weise und der vollkommene Christ teilen das Optimum an Aufklärung oder Erleuchtung, aus welcher unterschiedlichen Quelle ihnen dieses Licht auch zukommen mag. Verborgen bleibt freilich dem Weisen, was dem Frommen offensteht: Der Gehorsam hat unter den Torheiten der Menschen den letzten Grund seiner guten Begründung darin, daß diese Untertänigkeit den Menschen von Gott verordnet ist, um sie zu strafen.[18]

71Es ist der Hinterkopf, wo die Aufklärung stattfindet, nahezu noch ununterschieden von der Erleuchtung – wenn man einmal zugesteht, daß Hintergedanken im Hinterkopf gehalten werden. Es sind Gedanken, die nicht nur auf die nackte Wahrheit sinnen, sondern auf die Folgen, die sie hat, wenn es nicht mehr oder noch nicht selbstverständlich ist, daß die Wahrheit in jedem Fall recht hat. Das Gegenteil einer reinen Vernunft ist eine Vernunft der Wirkungen: Raison de effets. Von ihr als einer lokalisierbaren Denkform sagt Pascal: II faut avoir une pensée de derrière, et juger de tout par là, en parlant cependant comme le peuple.[19]

Diese Art zu denken ist weder rhetorisch noch dialogisch; sie ist monologisch. Weshalb denn auch die »Drei Abhandlungen über den Stand der großen Herren« an kein Publikum gerichtet sind, sondern einem ungenannten einzelnen Fürsten ins Gewissen gesprochen. Er soll seine Hintergedanken bekommen oder aufklären; alles verändert sich, wenn er an seine Geschichte als die des nackten Schiffbrüchigen denkt. Einsamkeit ist die Grundform, in der sich die Vernunft realisiert. Insofern sie das ist, macht sie noch ihre gnädigen Verhüllungen vernünftig. Es ist die Nacktheit, die die Bekleidung rechtfertigt.

Aufklärung dagegen drängt auf nackte Wahrheit. In der Rücksichtslosigkeit, sie zu erreichen, steckt die Voraussetzung einer Umkehrung, die für den der Vernünftigung vorhergehenden Zustand zwischen Einkleidung und Verkleidung nicht zu unterscheiden gestattet. Wenn die Wahrheit nur nackt ihr Recht hat, ist jede Bekleidung eine Verkleidung und eo ipso im Unrecht.

In der Konsequenz dieser Identität von Wahrheit und Unmittelbarkeit hin zu ihrer reinen Gestalt wird nicht nur das Wahre nackt, sondern auch schließlich das Nackte wahr. Bekleidungen müssen demonstrativ erkennbar machen, daß sie keine Verkleidungen sein wollen. Die ausgesuchte Dürftigkeit des Aufzugs kann versichern, daß da einer nicht in die Kategorie derer gehört, die mehr zu sein vorgeben als sie sind.

Der Verdacht, die Meinungen könnten wechseln wie der Geschmack, die Weltansichten wie die Moden, setzt der frühen Aufklärung mehr zu als die vergangene und die noch nicht vergangene Finsternis; denn er läßt sie sich selbst als eine mögliche Formation 72von Meinungen, eine mögliche Mode, eine Laune der Geschichte verstehen. Daß sie das nicht sein würde, konnte noch keine Entscheidung der Frühaufklärung sein.

Daher – zwei Jahrzehnte nach Pascals Tod – die Bemühungen des jungen Fontenelle, die ästhetische Durchsetzung des neuen Wissens und den möglichen Wandel solcher Formen von Durchsetzung zu unterscheiden vom Fortschritt dessen selbst, was da durchzusetzen wäre. In einem seiner »Totengespräche«, unter den Dialogen der antiken Schatten mit den modernen, läßt er Sokrates zu Montaigne sagen: Les habits changent, mais ce n’est pas à dire que la figure des corps change aussi.[20] Das Verhältnis von Kleidung und Körpergestalt ist das des Unbeständigen und Beständigen, der zufälligen Umstände und der notwendigen Substanz.

Noch fürchtet der Aufklärer nicht, was unter den Bekleidungen sitzt könne die bleibende Narrheit der Menschen sein, die sich in Ernsthaftigkeiten verkleidet. Gottsched hat das aufs körnigste übersetzt: Die Kleidermoden wechseln ab; aber deswegen ändert sich die Figur des Leibes nicht. Die Artigkeit und die Grobheit, die Wissenschaft und Unwissenheit, ein höherer oder geringerer Grad[21] eines ungekünstelten Wesens, die Ernsthaftigkeit, oder die Neigung zum Scherze, das alles sind an den Menschen gleichsam nur auswendige Dinge (ce ne sont là que les dehors de l’homme), und diese verändern sich sehr oft; aber das Herz ändert sich nicht. Da hat Gottsched die eine Hälfte des Satzes im Original, sogar die schönere Hälfte, unterschlagen: mais le cœur ne change point et tout l’homme est dans le cœur.

Das erweckt Vertrauen, läßt Sokrates als den Liebhaber der menschlichen Natur erscheinen. Aber es geht zu Lasten des Bildes von der Geschichte. Denn Fontenelle läßt Sokrates fortfahren: In einem Jahrhunderte ist man unwissend; aber es kann Mode werden, gelehrt zu seyn. Man ist auch uneigennützig; aber ganz ohne Eigennutz zu seyn, das wird wohl niemals Mode werden. Unter der wunderwürdigen Menge von Menschen, die in hundert Jahren gebohren werden, hat die Natur vieleicht zwey oder drey Dutzende von vernünftigen Leuten, welche sie auf dem ganzen Erdboden vertheilen muß; und Du begreiffst wohl, daß dieselben nirgend so häufig bey einander sind, um die Tugend und Redlichkeit zur herrschenden Mode zu 73machen.[22] Montaigne möchte von Sokrates noch wissen, ob denn wenigstens die paar vernünftigen Leute gleichmäßig über die Zeit verteilt würden oder ob es gewisse Zeiten gebe, die mit ihnen besser versorgt wären als andere. Die Antwort des Sokrates ist kryptisch und ausweichend: Die Natur handelt allezeit sehr ordentlich; aber wir urtheilen nicht so, wie sie handelt.[23]

Ungefragt bleibt, ob der Mangel der menschlichen Gattung an vernünftigen Individuen der Grund ist für die Regelungen, die die Unvernunft der Moden und Meinungen schafft. Aus Pascals metaphysischem Paradox der vernünftigen Unvernunft ist ein quantitatives Problem geworden: Sind die Vernünftigen zu rar auf der Welt oder sind sie gerade häufig genug, um durch einen kleinen Eingriff zu ihrer Organisation – etwa in Akademien? (noch weiß der junge Literat und Liebling der Boudoirs nicht, daß eine Akademie sein Lebensschicksal werden sollte) –, durch Zentralisierung der Intelligenz in Paris etwa, ihr Ungewicht zur Dominanz zu verstärken. Aufklärung ist einerseits eine Sache des literarischen Stils, andererseits eine der institutionellen Disziplin, von der Akademie bis zur Enzyklopädie.